Nebukadnezzar brennt Jerusalem nieder Ölbild von Juan de la Corte, 17. Jh. 28 DIE HEILIGE SCHRIFT DER JUDEN Ich bin der Herr, dein Gott AKG Als die Babylonier im 6. Jahrhundert v. Chr. Jerusalem zerstörten, nahmen sie den Israeliten das Zentrum ihres Kultes. Die schufen sich einen neuen Tempel: die Hebräische Bibel. 29 DIE HEILIGE SCHRIFT DER JUDEN Von KRISTINA MAROLDT s muss ein furchtbares Schlachten und Wüten gewesen sein: Feuersbrünste fegten durch die Gassen. Pfeile bohrten sich in Häuser und Menschenleiber. Tausende wurden ins Feindesland verschleppt oder erschlagen. Als das Heer des babylonischen Kö- E nigs Nebukadnezzar im Sommer 587 v. Chr. endlich vom Königreich Juda und seiner Hauptstadt Jerusalem abließ, war vom stolzen Bergstaat nicht mehr viel übrig: Jerusalems Häuser, der Königspalast sowie der Tempel des Nationalgottes Jahwe waren zerstört, die Felder ringsum verwüstet, die Söhne des Königs ermordet, Priester und Politiker deportiert. Davon erzählt das zweite Buch der Könige, und das bestätigen auch archäologische Funde. Der König selbst darbte geblendet in babylonischer Gefangenschaft. „Mit dieser großen Katastrophe“, schreibt der israelische Archäologe Israel Finkelstein, „hätte die religiöse und nationale Existenz des Volkes Israel zu Ende gehen können.“ Doch die Israeliten überlebten und schufen aus ihrer Erfahrung im Exil wichtige Teile das Werks, das die Welt bis heute prägt: Die Hebräische Bibel, der Tanach, im Christentum mit leicht abweichendem Kanon als Altes Testament übernommen. Eine Schrift voller Glaubenssätze und Rechtsvorschriften, aber auch abenteuerlicher Geschichten und Poesie. Es gab verschiedene Überlieferungen und Übersetzungen der Hebräischen Bibel; Anzahl und Reihenfolge ihrer Bücher variierten je nach Zählweise. Seit dem 1. Jh. n. Chr. stand der Kanon des Tanach fest. Er besteht heute aus 39 Büchern, angeordnet in drei Hauptteile: Der erste Teil, die Tora (hebräisch: „Weisung“), erzählt in den fünf Büchern Mose, auch Pentateuch genannt (griechisch: „fünf Buchrollen“), die Geschichte des Volkes Israel von der Erschaffung der Welt bis zum Tod des Mose: Genesis, GETTY IMAGES Zehn Gebote (Dekalog) der Samariter Inschrift 2. Jh. v. Chr., Nablus 30 SPIEGEL GESCHICHTE 6 | 2014 BIBEL+ORIENT MUSEUM FRIBOURG / EPD Aschera-Büste ca. 750–620 v. Chr. Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium, so heißen die Bücher, berichten von der Schöpfungsgeschichte und den Erzeltern des Volkes Israel, vom Auszug aus Ägypten, von der Wanderung der Israeliten durch die Wüste und der Verkündung des göttlichen Gesetzes durch Mose. Der nächste Teil, Nebiim (hebr.: „Propheten“), enthält die Propheten Josua, Richter, das erste und zweite Buch Samuel sowie das erste und zweite Buch der Könige. Sie beschreiben zunächst, wie es den Israeliten in ihrer neuen Heimat ergeht: Wie sie den Jordan überqueren und Kanaan einnehmen, wie ihre beiden Königreiche Israel (im Norden) und Juda (im Süden) wachsen, schließlich von Assyrern und Babyloniern erobert werden und ein Teil der Bewohner rund 50 Jahre im Babylonischen Exil verbringt. Die „hinteren Propheten“ Jesaja, Jeremia, Ezechiel sowie das Zwölfprophetenbuch enthalten Heilsorakel, Mahnungen und Verurteilungen. Der letzte Teil schließlich, die Ketubim (hebr.: Schriften), besteht aus 13 Büchern mit Predigten, Gedichten, Gebeten und Psalmen; darunter das Hohelied und das Buch Rut. Sie spiegeln Freude und Not, zeugen von Verehrung und Besinnung im Volk Israel. Das Neue Testament beeindruckt durch die Jesus-Wunder, aber auch in der Hebräischen Bibel geht es schon ziemlich fantastisch zu: Über 90-jährige Frauen bekommen Kinder, Menschen werden von Fischen verschluckt und wieder ausgespuckt, Zehntausende irren jahrzehntelang durch die Wüste. Trotzdem galt im jüdisch-christlichen Glauben fast anderthalb Jahrtausende lang: Was in der Bibel steht, hat sich auch so zugetragen. Die Texte waren die Worte Gottes, übermittelt und niedergeschrieben von den Personen, nach denen sie benannt sind. Erst im 17. Jahrhundert bezweifelten die ersten Gelehrten, dass Mose den eigenen Tod tatsächlich so detailliert schildern konnte, wie man es im Deuteronomium, dem fünften Buch Mose, nachlesen kann. Und je genauer man daraufhin die Bibel untersuchte, desto häufiger stieß man auf Doppelungen und Widersprüche, gegensätzliche Behauptungen, unterschiedliche Stile, völlig verschiede- ne Gottesbezeichnungen; mal hieß er Jahwe, mal Elohim, mal beschriftet Gott die Gesetzestafeln, mal Mose. Damit war klar: An dem Mammutwerk hatten über Generationen hinweg immer wieder neue Autoren mit den unterschiedlichsten religiösen und politischen Intentionen gearbeitet. Texte und Textblöcke waren ergänzt oder gestrafft, umformuliert oder neu kombiniert worden. Erst im 1. Jh. n. Chr. scheinen sich Umfang und Anordnung der Schriften verfestigt zu haben. Um 93 n. Chr. berichtet der römische Historiker Josephus Flavius als Erster von einem unveränderlichen jüdischen Bücherkorpus. Ein Anlass für die Kanonisierung mag die Übersetzung der Schriften ins Griechische gewesen sein: Die sogenannte Septuaginta wurde bis 150 v. Chr. in Alexandrien gefertigt und im 1. Jh. n. Chr. als Kanon von der christlichen Gemeinde akzeptiert. Davon setzte sich die jüdische Gemeinde mit einem eigenen Kanon ab. Doch was war in den Jahrhunderten zuvor geschehen? Die Entstehung der Hebräischen Bibel kann man nur aus der Geschichte Israels heraus verstehen: eines winzigen Volkes, das gegen Ende des 13. Jh. v. Chr. am östlichen Rand der antiken Mittelmeerwelt Erwähnung fand, als politische Verschiebemasse abwechselnd von Ägyptern, Assyrern, Babyloniern, Persern, Griechen oder Römern erobert und beherrscht wurde. Es lebte umgeben von einer Vielzahl von Kulturen wie der arabischen, teilweise in intensivem Austausch. Assimilation oder Abgrenzung – das war die Frage, die sich den Israeliten immer wieder stellte. Und um die es auch in der Bibel immer wieder geht. Doch vergleicht man die Berichte aus Tora oder Propheten mit dem, was historische oder archäologische Quellen über die ersten Jahrhunderte Israels ent- hüllen, fällt zunächst einmal auf: Allzu genau nahmen es die Verfasser der Bibel mit der Wirklichkeit offenbar nicht. Das fängt schon mit dem Ursprung des Gottesvolks an: Archäologen sind sich heute relativ sicher, dass die meisten Israeliten von den Bewohnern der Küstenstädte Kanaans abstammen. Als diese Gegend um 1200 v. Chr. nach dem Rückzug der Ägypter aus Palästina einen wirtschaftlichen Niedergang erlebte, wanderte ein Teil der Städter ins kaum besiedelte Bergland und bildete mit den dort in Sippen lebenden Nomaden Stämme. Aus denen entwickelten sich ab dem 10. Jh. v. Chr. dann bäuerlich geprägte Stammeskönigtümer – „Das Alte Testament wollte niemals ein Kompendium der Geschichte Palästinas sein.“ SPIEGEL GESCHICHTE 6 | 2014 31 später die israelitischen Staaten Juda und Israel. Also gab es gar keine Flucht aus Ägypten? Keine Wanderung durch die Wüste? Keine Eroberung Kanaans? Alles historisch nicht belegbar. Genau wie das Großreich von David und Salomo mit seinem glanzvollen Zentrum Jerusalem: Auf dem Gebiet der angeblichen Königsstadt gab es nach den Erkenntnissen von Archäologen im 10. Jh. höchstens eine knapp fünfeinhalb Fußballfelder große Siedlung mit rund tausend Einwohnern. Ein Dorf als Schaltzentrale eines Großreichs? Die deutsche Bibelwissenschaftlerin Angelika Berlejung hält das für „logistisch ausgeschlossen“. Doch wieso setzt sich die Bibel über historische Tatsachen hinweg? Das Alte Testament, schreibt Berlejung, sei „kein Kompendium der Geschichte Palästinas, und wollte es auch niemals sein“. Es handele sich um den „Geschichtskommentar“ eines theologischen Entwurfs, der Material gezielt ausgewählt habe, „um die Gründe für den Untergang der Staaten Israel und Juda anzugeben und die Fundamente für den erwarteten oder erhofften Neubeginn zu legen“. Die Zeit, in der Israel eine solche Erklärungshilfe am dringendsten brauchte, war jene rund um das Babylonische Exil im 7. bis 5. Jahrhundert v. Chr. Es war eine stürmische Epoche. 722 v. Chr. hatten die Assyrer Samaria erobert, die Hauptstadt von Israel, des nördlichen der beiden israelitischen Staaten, Israel wurde assyrische Provinz. Das Südreich Juda hingegen, vormals im Schatten des prosperierenden Nachbarn vor sich hin darbend, erlebte einen rasanten Aufschwung. Innerhalb weniger Jahrzehnte hatte sich möglicherweise die Bevölkerung Jerusalems auf 12 000 Menschen vervielfacht. Rings um die mit einer gewaltigen Mauer befestigte Stadt entstanden weitere Städte und Verwaltungszentren, eine öl- und weinverarbeitende Industrie. Aus einem abgeschiedenen Kleinststaat wurde plötzlich ein aufstrebendes Königreich mit einer multiethnischen Bevölkerung und reichen Handelsbeziehungen in entfernte Länder. Auch die judäische Götterwelt war äußerst mannigfaltig. Neben Jahwe wurden zahlreiche andere Gottheiten verehrt, etwa die Meeresgöttin Aschera. Das missfiel national gesinnten Priestern und Propheten. Um 700 v. Chr. verschaffte sich deshalb eine neue religiöse Bewegung zunehmend Gehör. Sie forderte: Nur Jahwe allein darf noch verehrt werden! Vermutlich war das die Geburtsstunde einer der wichtigsten Schriften der Hebräischen Bibel: des Deuteronomiums. Es berichtet, wie Mose dem Volk Israel das göttliche Gesetz verkündet, dass das Leben Israels und seine Beziehung zu Gott fortan regeln soll. Das wichtigste Gebot lautet: 1350 – 250 v. Chr. Israels Urgeschichte nach 961 Mit der Gründung des Ersten Tempels – später seit etwa 1350 Frühe Spuren von hebräischer Besiedelung in Palästina lassen auf Sippen- und nach 1300 Pharao Ramses II. herrscht in Ägypten. In seiner Zeit könnte die biblische 1208 Auf einer Stele des Pharaos Merenptah, die einen Sieg über westliche Feinde Stammesverbände schließen, die dann gegen Angreifer als Volkseinheit auftreten. Mose-Geschichte spielen. feiert, wird erstmals Israel erwähnt – als eines von etlichen im Osten unterworfenen Gebieten. 1350 v. Chr. Kulturen der alten Welt 32 1150 um 1379 Ägyptens Pha- rao Amenophis IV. nennt sich „Echnaton“ – seine gewagte Betonung des Sonnenkults, die einem Monotheismus nahekommt, bleibt für Ägypten Episode. 950 nach 1200 Schwere Angriffe der sogenannten Seevölker schwächen das mächtige Reich der Hetiter in Kleinasien und bedrohen wiederholt auch die Pharaonen. um 1000 Das aufstrebende Reich der Phönizier im Gebiet des Libanon und Syriens wird zur Handelsmacht mit Verbindungen und Kolonien bis ins westliche Mittelmeer. König Salomo zugeschrieben – ist laut Bibel die staatlich-religiöse Einigung Judas auf dem Höhepunkt. V.L.N.R.: JÜRGEN LIEPE; PHOTOS12 / INTERFOTO; AKG DIE HEILIGE SCHRIFT DER JUDEN Kanaanitischer Wettergott Baal Bronzefigurine, ca. 12. Jh. v. Chr. „Ich bin der Herr, dein Gott … Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Zwar sollte es noch lange dauern, bis die Israeliten Baal und anderen endgültig abschworen. Der Monotheismus des Judentums, dem später auch Christentum und Islam folgen, findet in dieser frühen Schrift jedoch seinen Ausdruck. uch die besondere Beziehung zwischen Jahwe und Israel wird im Deuteronomium klar definiert: Jahwe ist der Gott Israels, und Israel ist das Volk Jahwes und als solches verpflichtet, seine Gesetze einzuhalten. Der Ort dieser Verehrung soll der Jerusalemer Tempel sein. Das erwies sich aber schon bald als schwierig. Denn während Juda eine wirtschaftliche und kulturelle Blüte erlebte, verschob sich mal wieder das Gefüge der Weltmächte: Skythische Nomadenstämme hatten das assyrische Reich so geschwächt, dass es sich aus Palästina zurückzog. Kurz gewannen die Ägypter wieder an Einfluss, doch um 605 v. Chr. wurden sie von den Babyloniern zurückgedrängt. Die Truppen aus dem südlichen Mesopotamien eroberten Jerusalem zum ersten Mal 598/97 v.Chr., deportierten den König und ersetzten ihn durch einen loyalen Vasallen. Als der frech einen Aufstand anzettelte, machte König Nebukadnezzar II. 587 v.Chr. kurzen Prozess: Das Reich wurde in wenigen Monaten verwüstet. Rund 20 Prozent der Bevölkerung, darunter die Königsfamilie und der Großteil der intellektuellen Elite, wurde nach Babylonien deportiert; ren? Doch wie konnte man Jahwe überhaupt angemessen verehren ohne den Jerusalemer Tempel, den einzig legitimen Ort des Jahwe-Kults? Vor diesem Hintergrund, so glauben viele Forscher, veröffentlichten noch während des Exils ehemalige Hofbeamte eine detaillierte Geschichte des Volkes Israel – von den letzten Tagen der Wüstenwanderung bis zur Exilzeit. Dabei wurde eine ganze Reihe älterer Texte verarbeitet und die Frage nach dem Warum der Katastrophe sehr klar beantwortet: Israel und seine Anführer waren gegenüber Gott wiederholt ungehorsam gewesen. Also hatte Gott das Exil herbeigeführt – als Strafe für die Unfähigkeit und den Unwillen Israels, sein Gesetz einzuhalten. Ob es sich bei dem sogenannten Deuteronomistischen Geschichtswerk tatsächlich um einen einheitlichen Text handelt, wird heute wieder bezweifelt. Auf jeden Fall lieferte die Schrift Israel nicht nur eine theologische Begründung für das Exil, sondern löste auch das Problem des zerstörten V.L.N.R.: ALAMY / MAURITIUS IMAGES; BPK; BILDAGENTUR-ONLINE/LESCOURRET; AKG A 841 Nach mehreren Angriffen aus Assyrien, vor allem durch König Salmanassar III., wird das Nordreich Israel tributpflichtig, 722 erobert und danach ein Satellitenstaat. 750 um 800 Die Entste- hung der homerischen Epen Ilias und Odyssee beendet für die griechische Zivilisation das mythische Zeitalter. eine nationale Katastrophe. Zwar war das Leben im Exil durchaus erträglich: Die Israeliten wurden als geschlossene Gruppen in verschiedenen Städten angesiedelt, durften sich lokal selbst verwalten und ihre Religion ungehindert ausüben. Viele von ihnen erwarben Häuser und Sklaven, gingen Berufen nach. Rechtlich waren sie den Einheimischen gleichgestellt. Trotzdem hatten sie aus ihrer Sicht alles verloren: Ihre Häuser und die Gräber ihrer Vorfahren, ihre Hauptstadt, ihren Tempel, die politische Unabhängigkeit ihrer Dynastie. Wie hatte Jahwe das zulassen können? Das zweite Problem waren die vielen Götter Babyloniens: Sollte man sich assimilieren und sich unter den Schutz der fremden Gottheiten stellen? Oder versuchen, die eigene Religion und Kultur zu bewah- 587/86 Mit der zweiten Zerstörung Jerusalems durch den babylonischen König Nebukadnezzar II. und dem bis 515 Unter persischer Herrschaft kehrt die judäische Elite zurück. Die Einweihung des Untergang des Staates Juda beginnt Zweiten Tempels die Exilzeit. markiert das neue Selbstbewusstsein. 550 753 Auch wenn die Gründung Roms eine Sage bleibt – die damals in Mittelitalien heimischen Etrusker treten mit Pferd und Streitwagen selbstbewusst gegen ihre Nachbarn auf. 458 Die legendenhaft überlieferte Rückkehr des Propheten Esra aus Babylon gilt als Schlüsseldatum für den Abschluss der Tora, in der Weltbild und Kultregeln Israels festgeschrieben sind. seit etwa 300 Die heiligen Schriften der Juden werden ins Griechische übertragen. Dieser Septuaginta-Text bildet später die Grundlage für das Alte Testament der Christen. 350 480 Die Abwehr der Perser unter Xerxes führt zur Blütezeit der griechischen Stadtstaaten wie Athen, Sparta, Korinth oder auch Syrakus auf Sizilien. 323 Nach dem Tod Alexanders des Großen zerfällt sein Weltreich. Die hellenistische Kultur lässt eine religiös-kulturelle Kontaktzone zwischen Asien und Südeuropa entstehen. 33 DIE HEILIGE SCHRIFT DER JUDEN Tempels: Die Gläubigen werden aufgefordert, Worte aus dem Gesetz auf die Türpfosten aller Häuser in Israel zu schreiben – ein Brauch, der bislang nur in Heiligtümern praktiziert wurde. Jetzt konnten dadurch auch gewöhnliche Häuser in heilige Orte verwandelt werden; ein Tempelersatz war gefunden. Doch noch fehlte die passende Vorgeschichte Israels. Die lieferten einige 34 Jahre später wohl Angehörige des deportierten Priestermilieus: Aus den Sagen über die Schöpfung der Welt und die Erzeltern Israels, die unter der judäischen Landbevölkerung schon länger erzählt worden waren, und einem vermutlich aus dem untergegangenen Nordreich stammenden Bericht über den Auszug aus Ägypten und die Eroberung Kanaans formten sie eine durchgehende Erzählung und veröffentlichten diese auf einer Buchrolle. Mit ihrem Bericht über die Anfänge Israels wollten die Priester bestimmte Riten legitimieren, die die Exilanten in Babylonien eingeführt hatten. Durch die Beschneidung, das Einhalten des Sabbats und bestimmte Speiseregeln wollte man sich von den Einheimischen abgrenzen. Die „Priesterschrift“ behauptet, SPIEGEL GESCHICHTE 6 | 2014 NATHAN BENN/OTTOCHROME/CORBIS Sephardische Tora-Rollen Portugiesisch-Israelitische Synagoge Amsterdam werk kam es dann wahrscheinlich kurz nach dem Exil. 539 v. Chr. hatten die Perser Babylonien erobert, auch Juda war persische Provinz geworden. König Kyros II. erlaubte den Exilanten die Rückkehr nach Jerusalem und ordnete den Wiederaufbau des Tempels an. Zwischen den Rückkehrern und den in Palästina zurückgebliebenen Israeliten kam es zum heftigen Streit darüber, wer den Bau leiten sollte. Die Rückkehrer siegten – und bestimmten fortan die Ausrichtung des Jahwe-Kults. Nicht nur die in Babylonien eingeführten Riten wurden nun fester Bestandteil der Gemeinschaft um den Zweiten Tempel. Auch das Eheverbot zwischen Israeliten und Nichtisraeliten, der Monotheismus und die Bildlosigkeit des Kults galten als göttliches Gesetz. Der Hohepriester sorgte für die Einhaltung der Gebote. Auch die Geschichte des „Gottesvolkes“ sollte nun in verbindliche Formen gegossen werden: So wurde die Priesterschrift mit der Verkündung des Gesetzes durch Mose verknüpft und der erste Teil der Hebräischen Bibel geschaffen, die Tora. Für die Israeliten wurde dieser Text zum „portativen Vaterland“, schreibt der deutsche Bibelwissenschaftler Thomas Römer: „Denn die Tora konnten die Nachkommen der exilierten Juden, die im Ausland ... blieben, genauso gut lesen und befolgen wie die im Land lebenden Juden.“ Die Sorge um die nationale Zukunft trieb das gebeutelte Volk dennoch weiter um. Schon im Exil hatte die Priesterelite versucht, der Ungewissheit mithilfe von Prophetien aus dem 8. Jh. v. Chr. Herr zu werden: Nach der Rückkehr in die Heidie Riten seien bereits in der sagenhaf- mat, so der Tenor dieser nun verschriftten Zeit der Vorfahren entstanden – so lichten Sprüche, erwarte Israel unter der Herrschaft Jahwes eine glanzvolle erhielten sie besondere Autorität. Zur Verbindung von Priesterschrift Zukunft. Zusammen mit dem zweiten und Deuteronomistischem Geschichts- Teil des Deuteronomistischen Ge- schichtswerks, den Büchern Josua bis zum zweiten Buch der Könige, in denen ebenfalls eine Reihe von Propheten auftreten, bildeten diese Heilsverheißungen, die „Propheten“, später den zweiten großen Teil der Hebräischen Bibel. Da die Umstände aber nie so recht zu den Weissagungen passen wollten, korrigierte man die Prophetien mehrmals. Immer weiter wurden Umsturz und Jüngstes Gericht hinausgeschoben. Schließlich verlagerte man das ersehnte goldene Zeitalter sicherheitshalber ans Ende aller Tage. ie Israeliten hatten nun ein Werk geschaffen, das ihnen sowohl erlaubte, ihren Frieden mit der Vergangenheit zu schließen, als auch nach vorn zu blicken. Die Gegenwart hingegen blieb eine Herausforderung. 332 v. Chr. hatte Alexander der Große Palästina und Ägypten erobert, aus der persischen Provinz Jehud war die griechische Provinz Judäa geworden. Und wieder lief Israel Gefahr, seine Identität einem übermächtigen Gegner preiszugeben. Diesmal waren es die Kultur und die Götterwelt der Hellenen, die viele Israeliten in ihren Bann zogen. Der Makkabäeraufstand ab 166 v. Chr. bekämpfte diese „Überfremdung“ mit Waffengewalt. Einen friedlicheren Weg, so die These des Schweizer Bibelwissenschaftlers Albert de Pury, ging hingegen eine Gruppe pharisäischer Schriftgelehrter: Um mit der gefeierten Nationalliteratur der Griechen mithalten zu können, habe man kurzerhand einen hebräischen Literaturkanon zusammengestellt. Vom Liebeslied bis zur Novelle sei von jeder Gattung ein Meisterwerk aufgenommen worden. Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70 n. Chr. und der Entstehung des rabbinischen Judentums sei daraus dann der dritte und jüngste Teil der Hebräischen Bibel entstanden: Die „Schriften“. Es ist eine Entstehungstheorie von vielen, doch liest man dieses Werk – wie es inzwischen die meisten Forscher tun – als meisterhaft komponiertes Dokument israelitischer Selbstvergewisserung, dann erscheint ein nationaler Dichtungskanon als krönender Abschluss ungemein logisch. ■ D Das Eheverbot zwischen Israeliten und Nicht-Israeliten und der Monotheismus galten als göttliches Gesetz. SPIEGEL GESCHICHTE 6 | 2014 35