Teilleistungen a) inhaltlich Teilaufgabe ANFORDERUNG: der Schüler/die Schülerin 1 1 Sachgerechte Analyse des vorgelegten Quellentextes: Der Hauptakzent der Untersuchung wird durch die Fragestellung auf den Gedankengang und die Argumentationsweise des Redners gelenkt. Mit der Kennzeichnung der Quelle als öffentliche Rede lassen sich Überlegungen zu möglichen Adressaten verbinden (eigene Anhängerschaft, Bundestagsfraktion; Regierungskoalition; deutsche Öffentlichkeit; ausländische Regierungen), wobei durch diese analytische Trennung der Argumentation des Redners jeweils unterschiedlich zu gewichtende Intentionen zuzuschreiben wären. (AFB I) A) Kommunikative Struktur 1. Art der Quelle: Öffentliche Rede, Primärquelle gekürzt 2. Adressaten: amtierende sozial-liberale Regierung unter BK Brandt, CDU/CSU-Fraktion im BT (Opposition) Regierungen der Westmächte, SU, DDR 3. Autor/Redner: CSU-Bundestagsabgeordneter Guttenberg, ehemaliger Staatssekretär im Bundeskanzleramt, während des 3. Reiches Offizier der Wehrmacht, dem Widerstand zuzurechnen 4. Ort: Bonn, Plenarsaal 5. Zeit: 27. Mai 1970 6. Anlass: Bundestagsdebatte zu den Ostverträgen, speziell den Moskauer Verträgen 7. Thema: Ablehnung des Vertragsabschlusses zwischen BRD und SU B) Analyse Zentraler Gegenstand der Rede: Freiheit und Selbstbestimmungsrecht aller Deutschen: damit bezieht er die Deutschen in der DDR und den ehemaligen Ostgebieten ein, für die die gleichen Rechte beansprucht werden, wie für die Deutschen in der BRD. (Z. 4f) Freiheit und Selbstbestimmungsrecht sind für ihn keine Floskeln, sondern Aufforderung im Sinne aller Deutschen zu handeln („Kern und Auftrag aller konkreten deutschen Politik“ Z. 12): Präambel des GG von 1949 (politisches Dogma) Verstärkung durch Gleichsetzung: ein „Handeln gegen das Freiheitsrecht aller Deutschen“ ist gleichzeitig ein „Handeln gegen den Frieden in Europa“: damit greift er die Regierungskoalition an er setzt sie politisch und moralisch unter Druck, in der Formulierung seiner Kernthese: „Wer Unterdrückung legitimierte, der ermunterte die Unterdrücker und damit die Friedensstörer." Dagegen grenzt Guttenberg denjenigen positiv ab, der „für seine und seiner Nachbarn Freiheitsrechte einsteht" und damit zur Stärkung der Kräfte beitrage, „die in Wahrheit den Frieden tragen". (Z. 24) zur Verstärkung der Argumentation stellt er einen historischen Vergleich an: Mit Hinweis auf die Politik Hitlers, der „durch brutale Gewalt, wenn auch zunächst ohne Blut, Grenzen in Europa zu seinen Gunsten" verrückt habe, „um dann die europäischen Demokratien einzuladen, feierlich und durch Vertrag diese Unrechtsgrenzen zu achten" (Z. 25-28), fragt Guttenberg nach dem Unterschied zwischen dieser Politik und der Politik Moskaus. Diese besteht nach seiner Ansicht darin, dass die Sowjetunion auf deutschem Boden und in anderen Ländern Europas „Unrechtsgrenzen" errichtet habe, deren Respektierung und Unabänderlichkeit nun von Moskau gefordert werde. Für sich die CSU lehnt Guttenberg eine Anerkennung solcher mit Gewalt herbeigeführten Realitäten ab. Danach wendet sich Guttenberg mit einer zweiten rhetorisch gemeinten Frage an die anwesenden Parlamentarier: „Ist hier einer, der ernsthaft vorbringen wollte, dass Unrecht dadurch Recht würde, dass es Jahre, ja Jahrzehnte dauert?" Indem er sich besonders an die Adresse der SPD-Fraktion richtet, konkretisiert er seine Frage dahingehend, ob denn einer der Abgeordneten bereit wäre, „seinen Frieden mit Adolf Hitler zu machen, wenn es diesem Mann gelungen wäre, 37 Jahre durchzuhalten." (Z. 46 f) Diese Frage beantwortet der Redner unmittelbar selbst mit einem entschiedenen, dreifachen Nein und betont, dass es aus dem gleichen Grunde „keine Anerkennung für neues Unrecht auf deutschem Boden" geben könne. (Z. 48) anschließend warnt Guttenberg davor, dass auch und gerade der „gefährlich irren" könne, der dem Frieden zu dienen glaube und „sich verleiten ließe, einer militanten totalitären Ideologie" in gleicher Weise zu begegnen wie dies unter Demokraten üblich sei. An diese Warnung, die zugleich eine Kennzeichnung der Sowjetunion darstellt, mit der die Bundesregierung zum Zeitpunkt der Rede in außenpolitischen Vertragsverhandlungen steht, schließt der Redner den an die Adresse des Bundeskanzlers formulierten Vorwurf an, seine Regierung befinde sich auf „Anerkennungskurs", in dessen Konsequenz sogar ein Zerbröckeln des Schutzes durch die NATO sowie die sowjetische Vorherrschaft über ganz Europa drohe (Z. 59f). Im letzten Abschnitt des Redeauszugs wendet sich Guttenberg direkt an den Bundeskanzler Brandt und fordert diesen dazu auf, nicht weiterhin von der „Gleichberechtigung zwischen diesem freien Deutschland hier" und dem „kommunistischen Zwangsregime" in der DDR zu 25 8 + 17 AFB 2 3 2 3 reden. Außerdem verwahrt sich Guttenberg dagegen, dass diejenigen als „unbelehrbare kalte Krieger" verschrien würden, die Terror und Mord an der Berliner Mauer beim Namen nennen. Abschließend erinnert der Redner daran, dass die erste deutsche Demokratie deshalb zu Ende gegangen sei, weil damals „die Grenzen zwischen demokratischer Rechtsstaatlichkeit und totalitärem Verbrecherregime verwischt wurden". (Z. 73-75) Hier soll in knapper Form die neue Deutschland und Ostpolitik der sozial-liberalen Bundesregierung als der Problemzusammenhang gekennzeichnet werden, vor dessen Hintergrund die Quelle zu verstehen ist. Folgende Aspekte können angesprochen werden: Verdeutlichung des Grundansatzes der Regierung Brandt; Zusammenhang der neuen Ost- und Deutschlandpolitik mit dem Entspannungsprozess im Ost-West-Verhältnis; deutscher Beitrag im Sinne von Friedenssicherung und Entspannung in Europa. (AFB II) Die Quelle steht in Zusammenhang mit der neuen Ost- und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition nach deren Regierungsantritt im Jahre 1969. Unter der Führung von Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) und Außenminister Walter Scheel (FDP) setzte eine neue ostund deutschlandpolitische Phase ein. Kerngedanke dieser Politik war das Konzept „Wandel durch Annäherung", das von Egon Bahr bereits 1963 entwickelt worden war, nachdem sich nach der Berlin- und der Kuba-Krise (1961 bzw. 1962) die Strategie einer Entspannung im Ost-WestVerhältnis durchzusetzen begann. Zielsetzung deutscher Außenpolitik sollte die Aufgabe der überholten und als realitätsfern angesehenen „Politik der Stärke" (Adenauer) sein, statt dessen „Politik der kleinen Schritte“. In einem Klima der Entspannung sollte auch der Kontakt zu den osteuropäischen Staaten aufgenommen werden, der bisher an der Hallstein-Doktrin gescheitert war. Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR kam für Brandt nicht in Frage, anerkannt werden müsse allerdings der Charakter der besonderen Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten. Da es ohne eine Einigung mit der Sowjetunion über einen Gewaltverzicht und die Anerkennung der durch den Zweiten Weltkrieg entstandenen Grenzen zu keinen erfolgreichen Verhandlungen mit Ost-Berlin, Warschau oder anderen Staaten im sowjetischen Machtbereich kommen konnte, hatten die Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und der der Sowjetunion Vorrang. Wie aus dem Datum der Rede Guttenbergs zu entnehmen ist, fand diese während der noch laufenden Verhandlungen mit der Sowjetunion und im Vorfeld der Unterzeichnung des Moskauer Vertrages statt. Die Position der CDU/CSU-Opposition war, wie dies auch in der Rede Guttenbergs zum Ausdruck kommt, von dem Grundsatz geprägt, dass das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes uneingeschränkte Geltung besitze. Dabei wurde jegliche Vereinbarung mit undemokratischen Regierungen abgelehnt, die die Aufgabe von Rechtspositionen und von für unabdingbar gehaltenen moralischen und politischen Grundsätzen zur Folge haben würde. Während nach Ansicht der Regierungskoalition die Ostverträge Voraussetzung und Grundlage für Zusammenarbeit und Frieden in Europa waren und durch sie dem weiteren Auseinanderleben beider deutscher Staaten entgegengewirkt und Verbesserungen im Interesse der Menschen erzielt werden sollten, sprach die Opposition von einem „Anerkennungskurs" (so auch Guttenbergs Vorwurf in seiner Rede, Z. 58) und von einem „Ausverkauf deutscher Interessen". Sie fürchtete, dass mit diesen Verträgen die Oder-NeißeLinie endgültig als Westgrenze Polens und die DDR als zweiter deutscher Staat anerkannt würden. Kritische Auseinandersetzung mit der Argumentation des Redners. Dies schließt auch eine Kennzeichnung (und möglicherweise Bewertung) der Argumentationsweise des Redners mit ein, sollte sich aber vorrangig auf die inhaltlichen Aussagen und Positionen des Redners beziehen. Da Guttenberg mehrfach mit historischen Vergleichen arbeitet und den geschichtlichen Verlauf wie er ihn sieht, für seine aktuelle politische Argumentation einsetzt, sollte auf diese historischen Vergleiche und ihre Stimmigkeit in besonderem Maße eingegangen werden. Die von Guttenberg in seiner Rede vertretene Position kann zum einen am Maßstab der (vermuteten) Realisierbarkeit ihrer Prinzipien und Forderungen gemessen werden, zum andern kann aus heutiger Sicht und damit im Wissen um die tatsächlich eingetretenen historischen Entwicklungen, insbesondere die Wiedervereinigung Deutschlands 1990 argumentiert und über Guttenbergs Auffassung geurteilt werden.(AFB III) Der Abgeordnete Guttenberg argumentiert in seiner Rede von einem sehr grundsätzlichen Standpunkt aus und vertritt die Prinzipien der Freiheit und Selbstbestimmung sowie das Ziel einer Wiedervereinigung in Freiheit. Damit versucht der Redner einen hohen moralischen Anspruch, wenn nicht gar die Höherwertigkeit der eigenen Position zu vermitteln. Zugleich arbeitet er dadurch stark polarisierend. Zur Unterstützung seiner Argumentation verwendet Guttenberg an zentraler Stelle seiner Ausführungen einen historischen Vergleich, aufgrund dessen er einen Analogieschluss für das politische Handeln in der Gegenwart zieht. Der historische Fall, aus dem Guttenberg seine „Lehre" für die gegenwärtige Politik („Wer Unterdrücker legitimierte, der ermunterte die Unterdrücker und damit die Friedensstörer." Z. 21f) ableitet, ist die aggressive Außenpolitik Hitlers im Fall der Tschechoslowakei 1938/39. Guttenbergs Vergleich zwischen der Hitlerschen Außenpolitik und der Außenpolitik der Sowjetunion ist aufgrund der völlig unterschiedlichen historischen Situation ebenso 30 30 problematisch wie die angedeutete Gleichsetzung der Appeasement-Politik der Westmächte im Jahre 1938 mit der Ostpolitik der Bundesregierung 1969/70. Eine solche Gleichsetzung der aggressiven und auf rassenideologischen Grundlagen basierenden Außenpolitik Hitlers mit der Machtpolitik der Sowjetunion zur Zeit des Kalten Krieges ist so nicht haltbar und ist als Polemik zu werten, um die Politik der SPD moralisch ins Unrecht zu setzen. Um eindringlich zu verdeutlichen, dass Unrecht auch nach vielen Jahren seinen Charakter als solches nicht verlieren kann, nimmt der Redner ein weiteres Mal auf einen historischen Vorgang Bezug, mit dem er zugleich an eine das Selbstverständnis der seit 1969 regierenden Sozialdemokraten zutiefst berührende historische Erfahrung erinnert: Wenn der Redner die SPD als die Partei anspricht, die die „Ehre für sich in Anspruch nehmen" dürfe, „unter Hitler Tausende von Märtyrern gestellt zu haben" (Z. 44) spielt er damit ganz konkret auf die parlamentarische Auseinandersetzung um das Ermächtigungsgesetz im März 1933 an. An diese historische Rede, die letzte freie Rede im Reichstag, erinnert Guttenberg die Sozialdemokraten im Deutschen Bundestag, um damit ihre gegenwärtige Politik, die Guttenberg zufolge auf die Anerkennung eines Unrechtsregimes auf deutschem Boden hinausläuft, als nicht vereinbar mit dem eigenen Selbstverständnis und den Grundsätzen der Sozialdemokraten erscheinen zu lassen. Das Heranziehen historischer Vorgänge ist ein legitimes Mittel der Argumentation, soweit die historischen Tatsachen nicht einseitig und verzerrt wiedergegeben werden. Dies allerdings tut Guttenberg hier. Auch wenn er an die Gründe für den Untergang der Weimarer Republik erinnert, die er darin sieht, dass damals in einer „geistig-moralischen Verwirrung" (Z. 72-75) die Grenze zwischen demokratischer Rechtsstaatlichkeit und totalitärem Verbrecherregime verwischt worden sei, überzieht er den historischen Vergleich in einer Weise, die die Sachverhalte verzerrt Auch in der zum Zeitpunkt seiner Rede gegebenen Situation scheint der Redner eine solche „geistigmoralische Verwirrung" ausmachen zu wollen, und zwar offenbar auf Seiten der Regierungsparteien, denen er ja ebenfalls eine Verharmlosung eines, wie der Redner glaubt, „totalitären Verbrecherregimes" in Gestalt der DDR-Führung vorwirft. Es muss nach der Durchsetzbarkeit der von ihm in seiner Rede vertretenen Prinzipien gefragt werden. Vor dem Hintergrund der weltpolitischen Lage und der auf Entspannung ausgerichteten Politik der Großmächte musste möglicherweise eine unverändert auf den bisherigen Grundsätzen beharrende bundesdeutsche Politik, wie G. sie fordert, bereits kurzfristig zu einer Isolierung und damit einer weiteren Verschlechterung der bundesdeutschen Verhandlungsposition führen. Die bundesdeutsche Ostpolitik stand möglicherweise auch unter einem erheblichen Zeitdruck, da zentrale Bestandteile der bisherigen deutschen Position wie der Alleinvertretungsanspruch im Ausland, insbesondere in den Ländern des Westens, zusehends auf Widerspruch stießen. So bestand die reale Gefahr eines einseitigen Vorgehens der Westmächte, was zu einer Zerstörung von Verhandlungspositionen geführt hätte, die zur Sicherung grundlegender Interessen Bonns erforderlich waren. Betrachtet man die Position Guttenbergs vor dem Hintergrund der weiteren Entwicklung und insbesondere der 1990 erreichten Wiedervereinigung, gewinnt die Frage nach der Bewertung bzw. nach dem Wert der damaligen sozial-liberalen Ostpolitik eine Dimension, die für den zeitgenössischen Betrachter in dieser Weise nicht erkennbar war. Die neue Ostpolitik, die nach 1969 im Rahmen einer allgemeinen Ost-West-Entspannung in die Tat umgesetzt wurde, führte innerhalb kurzer Zeit, zwischen 1970 und 1973, zu vertraglichen Regelungen zwischen der Bundesrepublik und Moskau, Warschau sowie Prag und bildete die Voraussetzung für ein Vier-Mächte-Abkommen über Berlin sowie den Grundlagenvertrag mit der DDR, in denen die bestehenden Grenzen anerkannt, der Status Westberlins gesichert und Maßnahmen zur Zusammenarbeit vereinbart wurden. Die neue Ostpolitik leistete auf diese Weise einen wichtigen Beitrag zur Entschärfung des Ost-West-Konflikts. Nachdem die Außenpolitik Konrad Adenauers zu einer Integration der Bundesrepublik in das westliche Bündnis geführt hatte, machte die neue Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel einen Ausgleich mit der Sowjetunion und den in ihrem Machtbereich befindlichen Staaten Mittel- und Osteuropas möglich. Erst vor diesem politischen Hintergrund war zusammen mit einer Reihe weiterer Faktoren die spätere Zustimmung der Sowjetunion zu einer deutschen Wiedervereinigung überhaupt zu erreichen. Summe: 85 b) Darstellungsleistung Der Schüler/ die Schülerin 1 strukturiert seinen / ihren Text schlüssig, stringent und gedanklich klar 2 verwendet eine präzise und differenzierte Sprache mit einer adäquaten Verwendung der Fachterminologie 3 schreibt sprachlich richtig sowie syntaktisch und stilistisch sicher 4 verbindet die Ebenen Sachdarstellung, Analyse und Bewertung sicher und transparent, belegt seine Aussagen durch angemessene und korrekte Nachweise (Zitate u.a.) und verknüpft die Ergebnisse der Quellenanalyse in der Bearbeitung der Interpretationsaufgabe mit Aussagen über den historischen Kontext Summe der Punkte 25 30 30 Lösungsqualität 4 4 3 4 15 Note sehr gut plus sehr gut sehr gut minus gut plus gut gut minus befriedigend plus befriedigend Punkte 15 14 13 12 11 10 Erreichte Punktzahl 95-100 90-94 85-89 80-84 75-79 70-74 9 65-69 8 60-64 Note befriedigend minus ausreichend plus ausreichend ausreichend minus mangelhaft plus mangelhaft mangelhaft minus Punkte Erreichte Punktzahl 7 6 5 4 3 2 55-59 50-54 45-49 39-44 33-38 27-32 1 20-26 ungenügend 0 0-19