Der deutsche Kaufmann in der Wüste: Amerika und Polen

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Vorlesung Geopolitik 4
(Gustav Freytag II)
Der deutsche Kaufmann in der Wüste: Amerika und Polen
Darf man nun Grundbesitz und Landwirtschaft gegen Geldwirtschaft und Industrialisierung,
Rothsattel gegen Ehrenthal setzen? Ja, man muß es sogar, nur ist mit dieser Opposition
Gustav Freytags epischer Roman nicht erschöpfend beschrieben. Die Welt, die er entwirft, ist
viel komplexer. Sie ist auch nicht auf anti-semitische Ressentiments zu reduzieren, die ich
freilich im letzten Abschnitt besonders pointiert habe, um die verhängnisvolle Verschmelzung
des angelsächsischen cants, des „Betrugs in der Maske des Rechts“, und des pragmatischen
Kapitalismus mit dem Judentum vorzuführen. Veitel und Ehrenthal haben sich jedenfalls als
entschiedene Agenten der Deterritorialisierung erwiesen, sie betreiben die Aufhebung der
alten Verbindung von Recht und Raum in Gestalt des Familiengutes der Rothsattel. Ich werde
nun Rothsattel und seine Finanziers verlassen und den Schwerpunkt auf die Protagonisten der
Handlung T. O. Schröter legen: also auf Schröter, Anton Wohlfahrt und Friedrich von Fink,
deren Weltsicht keinesfalls auf die zuvor akzentuierte Unterscheidung ehrenvollen Adels von
ehrenrührigem Plutokratentum einzuschrumpfen ist. Man wird vielmehr sehen, daß einige
Motive ihres Handelns sie gleichfalls zu Protagonisten der Deterritorialisierung machen,
deren produktive Elemente die Kaufleute nicht übersehen. Wäre ganz Deutschland verjunkert
wie Ostelbien, es gäbe weder Welthandel noch Fortschritt, weder Gewinn noch
Strukturwandel. Es wäre also eine sehr ungenaue Lektüre, welche die gleichsam
„zersetzende“ Bewegung der Deterritorialisierung als jüdisch ausgäbe und den deutschen
Vertretern der Handlung die Wiedererrichtung von Ordnung und Ortung zuwiese. Land und
Meer stehen, wie Friedrich Balke gezeigt hat, nicht in einem Verhältnis des Gegensatzes,
sondern einem der „Dialektik“.1 Im Glossarium spricht Schmitt von einer „Hochzeitsnacht
der Gegensätze“ (S. 157).2 Deleuze und Guattari sprechen von einem „Interaktionsfeld“ der
„Koexistenz und Konkurrenz“ (S. 494). Der Unterschied von jüdisch und deutsch ist folglich
keineswegs eins mit der Differenz von Deterritorialisierung und Reterritorialisierung. Man
muß weiter differenzieren: Meine Vermutung ist, daß die deutschen Händler politisch für
„Kerbung“ sind, ökonomisch aber für Mobilisierung,3 also in gewisser Weise zugleich für das
Empire und den Staat eintreten, als Kapitalisten wollen sie das Empire, als Bürger lieben sie
den Staat. Güter und Kapitalien sollen zirkulieren, während der Kaufmann Anton genoß, „wie
fest sein Leben in den Mauern des großen Hauses Wurzeln geschlagen hatte.“ (S. 354) Das
Netz des Welthandels hat ein sicher verankertes Zentrum, ähnlich wird später Fink Ordnung
1
2
3
Balke, Der Staat nach seinem Ende, S. 342.
Vgl. Balke S. 350f.
Das macht sie zu Kritikern des adeligen arbeitslosen Einkommens (Rothsattel) wie des unproduktiven,
gehorteten Geldes (Sturms Schatztruhe).
nach Polen bringen und auf das Schloß der Rothsattel zentrieren (S. 548), wo auf unsicherem
Boden quasi ein Staat errichtet wird, der für die innere Sicherheit sorgt und nach Außen
verhandelt und sogar Krieg führt. Der Staat als klassischer Souverän soll für Ruhe, Sicherheit
und Ordnung sorgen, für Rechtssicherheit und die Heiligkeit der Verträge,4 doch darf aus
Sicht der Händler zugleich keine Grenze, kein politisches Programm, keine Art von Kerbung
des Raums dem Handel im Wege stehen. Freytags Händler entsprechen in gewisser Hinsicht
den „Nomaden“ Deleuzes und Guattaris, denn sie eignen sich den Raum nicht an, sondern
interessieren sich nur „für die Verkehrswege und deren Sicherheit“. 5 Der Nomade, heißt es in
den Tausend Plateaus, verkehrt zwischen „Relaistationen“ (S. 523), eine Kerbung des Raums,
wie es die „Hauptaufgabe des Staates“ ist (S. 531), ist dazu nicht nötig. Im Gegenteil: Heute
seien es die „mulinationalen Konzerne“, die eine „Art von deterritorialisiertem glattem
Raum“ erzeugen, „in dem die Besetzungspunkte und Austauschpunkte völlig unabhängig von
den klassischen Wegen der Einkerbung werden“ (S. 681). Dies mag so sein, doch wird man
zu ergänzen haben, daß diese „Besetzungspunkte“ oder Relais bestimmten Anforderungen zu
entsprechen haben, denselben, wie die Mega-Cities der Globalisierung, die allesamt
Eigenschaften des Staatsapparates sind (vgl. 532f). Jedes Relais des nomadischen Kapitals
setzt mithin Energien der Territorialisierung und Kerbung frei.
„Die Tendenz den Weltmarkt zu schaffen, ist unmittelbar im Begriff des Kapitals selbst
gegeben“, schreibt Marx 1857 in den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“
(Berlin 1953, S. 311). Die Händler wollen sozusagen als deutsche Staatsbürger die Wacht am
Rhein und an der Neiße, aber als Kapitalisten ungehemmten Fluß der Waren- und Geldströme
über alle Grenzen hinaus. 1855, während die imperialistischen Nationalstaaten der
Jahrhundertmitte, vor allem England und Frankreich, in den schier unendlichen
Expansionsräumen Asiens, Australiens und Afrikas neue Grenzen ziehen und Schranken
errichten,6 dringt das Kapital in einer Gegenbewegung auf die Verwandlung der ganzen Welt
in einen buchstäblich grenzenlosen Investitions- und Handelsraum. Staat und Kapital
verfolgen also durchaus unterschiedliche, synchronisierungsbedürftige Interessen. „Der
Imperialismus schafft so für das Kapital eine Zwangsjacke“, meinen Hardt und Negri, es seien
nämlich „die durch die imperialistische Politik geschaffenen Grenzen, die zu einem
bestimmten Zeitpunkt die kapitalistische Entwicklung und die volle Entfaltung des
Weltmarkts blockieren. Das Kapital mußte schließlich den Imperialismus überwinden und die
Schranken [...] zerstören.“ (S. 246) Bei der weiteren Lektüre von Soll und Haben, dieser
großen Bilanz des 19. Jahrhunderts, werden wir also auf den Unterschied zwischen den
Akteuren des Nationalstaats und den Protagonisten des Weltmarkts zu achten haben, zumal
sie oft Händler oder Weltmann und Patriot zugleich sind wie Wohlfahrt und Fink.
4
Vgl. Niels Werber, Vor dem Vertrag. Probleme des Performanzbegriffs aus systemtheoretischer Sicht, in: Uwe
Wirth (Hrsg.), Theorien der Performanz, Frankfurt/Main 2002, S. 366-382.
5 Balke, S. 369, Deleute / Guattari S. 522f.
6 Auch dies ist ambivalent, denn nicht nur die Räume müssen gesichert werden, sondern zuallererst die Wege
dorthin. Vgl. Balke 369.
2
Das dritte Buch des Romans setzt ein mit der „Revolution in Polen“ und ihren
Konsequenzen für Handel und Staat:
„Ein böses Jahr kam über das Land, ein plötzlicher Kriegslärm alarmierte die deutschen Grenzländer im
Osten, darunter auch unsere Provinz. Die furchtbaren Folgen eines heftigen Landschreckens wurden
schnell fühlbar. Der Verkehr stockte, die Werte der Güter und Waren fielen, jeder suchte das Seine zu
retten und an sich zu ziehen, viele Kapitalien wurden gekündigt, große Summen, welche in
kaufmännischen Unternehmungen angelegt waren, kamen in Gefahr. Niemand hatte Lust zu neuer
Tätigkeit, Hunderte von Bändern wurden zerschnitten, welche die Menschen zu gegenseitigem Nutzen
durch lange Zeit verbunden hatten. Jede einzelne Existenz wurde unsicherer, isolierter, ärmer.“ (S. 265)
Die unsichtbaren Fäden des Welthandels sind zerschnitten, das Netzwerk, das „jeden
einzelnen [...] mit der ganzen Welt“ verbindet, ist zerrissen. Der Einzelne ist nun isoliert. Das
Kapital gerät „in Gefahr“, die ungeheuren finanziellen Risiken des Welthandels, die von
ökonomisch nicht zu kontrollierenden politischen Umständen abhängen, werden
offensichtlich. Der Kaufmann Schröter erlebt diese politische Beeinträchtigung seines
Geschäfts vollkommen unpolitisch als Störung der Ökonomie. Nicht die Desorganisation
staatlicher Territorien beunruhigt ihn, sondern die Gefährdung der nomadischen
Relaisstationen des Welthandels.
„Bei Gott, solche kriegerische Krämpfe sind für den Verkehr ohnedies unbequem genug, sie lähmen jede
nützliche Tätigkeit des Menschen, und doch ist’s diese allein, welche ihn davor bewahrt, ein Tier zu
werden. Wenn aber ein Geschäftsmann sich noch mehr stören läßt, als nötig ist, so begeht er ein Unrecht
gegen die Zivilisation, ein Unrecht, das gar nicht wiedergutzumachen ist.“ (S. 281)
Die Zivilisation lebt nur im und durch den Handel, der Krieg hemmt den Verkehr, daher ist er
lästig und unbequem. Schröter ist kein Hegelianer, Fortschritt denkt er sich ganz friedlich
techno-ökonomisch, nicht kulturell-kriegerisch. Die entstehenden Verluste werden aber
vielleicht (eine These des Herrn Specht) kompensiert werden durch künftige Geschäfte, denn
„bei jeder Insurrektion würden ungeheure Kolonialwaren verbraucht, die Firma werde ein
glänzendes Geschäft [...] nach der Grenze machen“ (S. 269) Politisch gesehen, treiben jedoch
die deutschen Höfe, Dörfer und Städte im Meer der Revolution wie Schiffbrüchige. Die
„Insurgenten“ haben sich bewaffnet und ein „Polenreich“ ausgerufen. Wir schreiben das Jahr
1846. „Warensendungen“ und Depots werden geplündert, Relais und Verbindungswege sind
in Gefahr, das Netzwerk des Welthandels funktioniert offenbar doch nicht ganz ohne Ruhe,
Sicherheit und Ordnung, der Händler braucht den Soldaten.
„In unserem Staat wurden schleunigst Truppen zusammengezogen und nach der Grenze geschickt,
dieselbe militärisch zu besetzen. Unaufhörlich führten die Dampfwagen der neuerbauten Eisenbahn
Soldaten ab und zu, überall rasselte die Trommel; die Straßen der Hauptstadt füllten sich mit Uniformen.“
(S. 265)
Aber nicht nur der Staat und sein Militär reagieren. Die Handlung Schröter hat zwei
„Karawanen“ mit bereits bezahlten Waren im Wert von einigen 10.000 Talern „in
Feindesland“ (S. 266f). Schröter persönlich begibt sich mit Anton an die Grenzen, um die
Waren zu sichern. Die „Hauptmacht des Geschäfts“ zieht mit gehißter „Kriegsfahne“ in den
3
Kampf (S. 270), Seite an Seite mit der Armee, so scheint es, denn mit im Zug sitzen die
„Soldaten“ (S. 272).7 Wohlfahrt hat sich eigens mit Pistolen bewaffnet, man hält ihn sogar für
einen Offizier, weil er so schneidig aussieht (S. 286), aber der Prinzipal nimmt ihm seine
Waffen ab und entlädt sie (S. 272f). Er erläutert Anton den Unterschied zwischen seines
ökonomischen Kampfes und der militärischen Expedition Preußens:
»Es ist besser, wir beschränken uns auf die Waffen, die wir zu gebrauchen gewöhnt sind«, bemerkte er
gutmütig, indem er Anton die Pistolen zurückgab, »wir sind Männer des Friedens und wollen nur unser
Eigentum zurückhaben. Wenn wir es nicht dadurch erhalten, daß wir andere von unserem Recht
überzeugen, so ist keine Aussicht dazu. Es wird dort drüben viel Pulver unnütz verschossen werden, alles
Ausgaben, welche nichts einbringen, und Kosten, welche Land und Menschen ruinieren.« (S. 273)
Schröter will zwar durchaus „Waffen“ benutzen, aber eben nicht Pistolen, sondern andere
Mittel. Der gegen Ende des Jahrhunderts gängige ideologische Unterschied zwischen den
Typen des Händlers und des Soldaten (Werner Sombart) bahnt sich hier an. Direkt hinter der
Grenze, auf russischer bzw. polnischer Seite, erspähen Schröter und Wohlfahrt einen riesigen
Frachtwagen der Handlung. Sie erhalten vom preußischen Militär Erlaubnis, die Grenze zu
passieren. Das Militär selbst unternimmt nichts, um das Eigentum zu sichern (S. 275). Nicht
einmal Eskorte erhalten die beiden, aber Schröter meint, es sei „besser so“, denn „wir wollen
als friedliche Leute unsere Waren wiederholen und fürchten die Herren dort nicht, wollen sie
aber auch nicht reizen. Haben Sie die Güte, Herr Wohlfart, Ihre Pistolen zurückzulassen, wir
müssen den Bewaffneten zeigen, daß uns der Kriegsapparat nichts angeht.“ (S. 276) Dem
„Heer“ gehen die Waren nichts an (S. 275), umgekehrt interessiert der Kaufherr sich nicht für
den „Kriegsapparat“ (S. 276). Unbewaffnet, ostentativ Zigarre rauchend, beginnen die beiden
Kaufmänner ihren „Einmarsch in das feindliche Gebiet“ (S. 276). Den „Wilden“ (S. 276), die
sie beim Wagen treffen, bietet der Prinzipal „Biergeld“ an, worauf sie ihm willfährig die
„Karawane“ überlassen (S. 277), die dann ohne Zwischenfall die Grenze erreicht. Nach dem
die preußische Armee ein „kriegerisches Zeremoniell“ der Parolen und Kontrollen aufgeführt
hat, wird die Grenze auch passiert (S. 278).
„Staat bedeutet Souveränität. Aber die Souveränität herrscht nur über das, was sie
verinnerlichen, sich räumlich aneignen kann.“8 Der Staat errichtet Grenzregimes. Der
kommandierende Offizier der Einheit erklärt, ihm sei die „Absperrung des empörten Landes
als der nächste Zweck unserer Aufstellung angegeben“ (S. 280). Den Großteil seiner Waren
vermutet Schröter aber hinter der geschlossenen Grenze, in der „insurgierten Hauptstadt“ (S.
280). Er will also dorthin reisen, um seine Investitionen zu schützen, doch der Rittmeister will
ihm nicht gestatten, „die Grenze zu passieren“ (S. 280). Die Szene ist eine umfassende
Allegorie des Verhältnisses von Nationalstaat und Empire, von klassischer Souveränität und
Kapital, wie Hardt und Negri es beschreiben.9 Der Welthandel braucht als seine
7
Schröter als Kriegsmaschine und die Truppen als Armee eines Staates. Vgl. Deleuze / Guattari, Tausend
Plateaus, S. 492.
8 Deleuze / Guattari, Tausend Plateaus, S. 494.
9 Die also literarische Muster ausschreiben? Vgl. auch Balke, S. 369.
4
Voraussetzung den Staat als Garanten für Ruhe, Sicherheit und Ordnung, als Hüter der
Verträge und des Eigentums, doch bringt der Kapitalist zugleich den Staat, der dies nur auf
seinem Territorium vermag, in Verlegenheit, da er die Grenzen dieses Territoriums nicht
respektieren will, weil aller Handel Welthandel sein will, es einen „universellen Staat“ aber
nicht gibt.10
Staat oder Empire
Es ist kein Wunder, daß ausgerechnet Fichte, den wir in der ersten Vorlesung schon als
Geopolitiker eines deutschen oder germanischen Reiches kennengelernt haben, versucht hat,
diesen Widerstreit zwischen Politik und Ökonomie aufzuheben in einem Gebilde, das er den
„Geschlossenen Handelsstaat“ (Tübingen 1800, S. 2) genannt hat. Ich gebe Ihnen hier seine
Kurzdefinition:
„Den juridischen Staat bildet eine geschlossene Menge von Menschen, die unter denselben Gesetzen und
derselben höchsten zwingenden Gewalt stehen. Diese Menge von Menschen soll nun auf gegenseitigen
Handel und Gewerbe unter und für einander eingeschränkt, und jeder; der nicht unter der gleichen
Gesetzgebung und zwingenden Gewalt steht, vom Antheil an jenem Verkehr ausgeschlossen werden, sie
würde dann einen Handelsstaat, und zwar einen geschlossenen Handelsstaat bilden, wie sie jetzt einen
geschlossenen juridischen Staat bildet.“
Fichtes Vorschlag läuft auf eine völlige Isolierung hinaus. Alles, was konsumiert wird, soll
auch im Land produziert werden. Es gibt nur Binnenhandel. Alle, die nicht Staatsbürger sind,
werden aus allen Verkehrsverhältnissen ausgeschlossen. Deutschland als geschlossener
Handelsstaat wäre eine Inklusionszone mit striktestem Grenzregime. Reich und Empire wären
deckungsgleich und hätten dasselbe Innen und Außen. Friedrich Naumann greift in seinem
Entwurf eines deutschen „Mitteleuropas“ 1915 diesen Gedanken auf. Das von England von
allem „Auslandsverkehr“ abgeschnittene Reich realisiere soeben, mitten im Krieg, den
„Geschlossenen Handelsstaat“, den „kühnen Traum des deutschen Philosophen Fichte, der
durch Schicksal und Volksanlage bei uns im Kriege sich verwirklichte.“ (S. 135) Mitteleuropa
werde nolens volens ohne Weltverkehr existieren, als Großraumordnung und
Großraumwirtschaft zugleich. Der Raum muß freilich groß genug sein, um alle nötigen
Ressourcen zu enthalten, und schon bei Naumann ist nicht zu übersehn, daß das deutsche
Mitteleuropa weitaus größer sein wird als das Deutsche Reich, plus Österreich-Ungarn, groß
genug, um die eine oder andere Ölquelle in Osteuropa noch mit einzuschließen. Fichte freilich
hatte für die Schließung des Handelsstaates „den Besitz des rohen Stoffes vorausgesetzt“, den
man zur Produktion der nötigen Güter braucht (Der geschlossene Handelsstaat, S. 143), damit
ist seinem Konzept der Auftrag eingeschrieben, vor dieser Schließung erst einmal dafür zu
sorgen, daß alle nötigen Rohstoffe innerhalb der Grenzen zu finden sind, damit sie dann
vorausgesetzt werden können – die Alternative wäre unproduktive Stagnation, kristallisiertes
10
Deleuze / Guattari, Tausend Plateaus, S. 494.
5
Rechnen mit den Beständen, Posthistoire. Es ist gar kein Wunder, daß der große Kenner des
deutschen Idealismus und bekennende Faschist Alfred Bäumler Fichte 1938 einen
„imperialen Denker“ genannt hat.11 Das nationalsozialistische Programm der
Großraumwirtschaft, genannt „Neue Ordnung“,12 läßt sich über die Mitteleuropa-Idee des
Liberalen Naumann bis zum Handelsstaat Fichtes zurückführen. Die optimale Ausdehnung
des geschlossenen Handelsstaates ist selbstredend eine globale. In der Globalisierung der
Weltherrschaft kämen Empire und Imperium zur Deckung. An der Schwierigkeit, Empire und
Imperium zur Deckung zu bringen, laborieren heute die USA.
Man könnte vom Paradox des Staates sprechen, denn als „juristischer Staat“ wird er immer
seine Grenzen sichern und sein Inneres befrieden und kerben, während er als „Handelsstaat“
notwenig imperialistisch sein und seine eigenen Grenzen ständig aufheben und verschieben
muß. Diese doppelte Bewegung hat vielleicht als erster José Ortega y Gasset in seinem
wichtigen Essay über den „Aufstand der Massen“ (1929, Stuttgart 1947) beschrieben. Der
Abschnitt, den ich zitiere, ist für Fragen der Geopolitik äußerst relevant:
„Man lege zu irgendeiner Zeit einen Schnitt durch einen Staat, der in Wahrheit ein Staat ist [also England,
Frankreich oder Deutschland und nicht neugeschaffene Kleinstaaten], und man wird die Einheit einer
Lebensgemeinschaft finden, die auf diese oder jene materielle Eigenschaft gegründet zu sein scheint, von
der die statische Interpretation sagen wird, eben sie schaffe den Staat, auf Blut, Sprache, »natürliche
Grenzen«. Aber wir bemerken alsbald, daß diese Menschengruppe mit Gemeinschaftsangelegenheiten
beschäftigt ist, fremde Völker erobert, Kolonien gründet, sich mit anderen Staaten verbündet; das heißt,
daß sie das scheinbare Prinzip ihrer Einheit unausgesetzt zu überwinden trachtet. Es ist [...] der wahrhafte
Staat, dessen Einheit gerade in der Überwindung jener gegebenen Einheit besteht. Wenn jener Trieb zur
Weiterbildung nachläßt, geht es mit dem Staat zu Ende“ (S. 108)
Der Staat erweitert unentwegt sein Territorium und begründet rückwirkend seine Einheit. Das
Fundament eines Staates liege keineswegs in vorab gegebenen „statischen“ Größen wie
Sprache, Blut, Boden oder Nationalität, vielmehr verdanke sich jeder moderne Staat gerade
der „Überwindung der engen Bluts- und Sprachgemeinschaft“. Vor ein paar Jahrhunderten, so
Ortega, gab es weder Frankreich oder Spanien noch Deutschland, sondern nur unzählige
„kleinere Nationen“ mit differenter Sprache, eigener Kultur, zahllosen Streitgebieten und
ihren eigenen „natürlichen Grenzen“ (S. 111). Die Entwicklungstendenz, die Ortega hier
unterstellt, ist die eines „Triebs zur Weiterbildung“, und das heißt: eines Triebes unentwegter
Expansion mit nachträglicher – sagen wir – Naturalisierung. Erst post hoc kann dann
behauptet werden, daß Kastilien und Aragon eben schon immer spanisch waren oder Masuren
und Tirol deutsch. Einst hatte aber Kastilien Krieg geführt, um nicht Aragon zu werden, oder
die Hannoveraner, Sachsen und Schlesier, um nicht preußisch zu werden. Da Ortega 1929
einen europäischen Markt mit „fünf- bis sechshundert Millionen Menschen“ als nächstes
Etappenziel dieses Trends zur expansiven „Weiterbildung“ im Auge hat (S. 99), könnte man
dann eben sagen, Deutsche, Franzosen, Spanier und Engländer seien ja schon immer
11
12
Das Dritte Reich und seine Denker, Berlin 1959, S. 267.
Vgl. Ralph Giordano, Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte. Die Pläne der Nazis nach dem Endsieg, Köln
2000, S. 226ff.
6
Europäer gewesen. „Rasse, Sprache, und Scholle“ (S. 112) standen schon dem Nationalstaat
immer nur im Wege, der diese Differenzen überwinden mußte, um aus kleinsten politischen
und ökonomischen Gebilden einen großen Territorialstaat zu formen. Heute stünden „Rasse,
Sprache, und Scholle“ Europa im Wege. Man müsse als Historiker alle „Prinzipien
biologischer und geographischer Art“ als „Triebkräfte“ der Geschichte verbannen, denn
bislang sei noch jede Grenze oder Barriere von neuen Verkehrsmitteln und Techniken
überwunden worden (S. 111). Autos, Eisenbahnen und Flugzeuge haben den sog. natürlichen
Binnengrenzen Europas jeden Sinn geraubt – Carl Schmitt hat dasselbe Phänomen eine
„Raumrevolution“ genannt und die Bildung von Großraumordnungen prognostiziert. In „Soll
und Haben“, wo Telegraphen, Eisenbahnen und Dampfschiffe Hauptrollen im Weltverkehr
spielen, kann Fink behaupten, es gebe keine große Entfernungen mehr auf Erden (S. 262). Er
unterscheidet nur noch die alte von der neuen Welt, genau wie Ortega, der neben Europa nur
noch Amerika gelten läßt.
Leider sagt Ortega nicht explizit, welches denn das das Prinzip der Grenzüberwindung sein
soll, aber es wird ohnehin sehr klar, wenn man sich an seine Vision eines europäischen
Binnenmarktes erinnert, der den amerikanischen übertreffen würde. Es sind Ökonomie und
Technik, die sich hier als grenzüberwindende Kräfte erweisen. Mit den Worten Hardts und
Negris: Der Nationalstaat setzt Schranken, die das Kapital und die von ihm mobilisierte
Technik auf dem Weg zum Weltmarkt und zu weiteren Profiten durchbricht (S. 248). Man
denke als Beispiel nur an die unerhörte Expansion des Internets, an dessen Kontrolle bislang
jeder Nationalstaat gescheitert ist. Ortega hat Nation, Boden, Blut und Sprache als
„Geheimkräfte“ der Historiker verspottet, doch wollte er an der Macht dieses „Mythos“ nicht
zweifeln (S. 111). Es handelt sich eben um starke Kräfte, gerade weil sie nur Mythen sind.
Die Entwicklung der nächsten Jahre wird die Lebendigkeit und Tödlichkeit dieser Blut-undBoden-Mythen gleichermaßen erweisen. Ortegas Überlegungen aber übernehmen wir für
unsere Lektüre die These, daß der Staat seine Einheit unentwegt untergräbt, indem er den
expansiven Linien eines Handels folgt, dem alle Grenzen ein Hindernis sind und „Rasse,
Sprache, und Scholle“ ad acta legen möchte. Als reterritorialisierende Gegenbewegung
wirken nach wie vor Nation, Boden und Blut.
„Kann Sie denn nichts bewegen, diese Reise zu unterlassen“, fragt der Rittmeister den
Kaufherrn.
»Nichts«, erwiderte der Kaufmann, »nichts als das Gesetz.«
»Liegt Ihnen denn soviel an den Frachtwagen, daß Sie Ihr Leben dafür in die Schanze schlagen wollen?«
frug der Rittmeister nicht ohne inneres Mißfallen.
»Ja, Herr Rittmeister, ebensoviel, als Ihnen daran liegt, Ihre Pflicht zu tun; es hängt für mich mehr an dem
Besitz dieser Frachtwagen, als ein geschäftlicher Vorteil. Ich muß hinüber, wenn mich nicht ein
unbedingtes und unwiderrufliches Verbot der Staatsregierung daran hindert. Diesem würde ich mich
zuletzt nicht entziehn, ich werde aber alles versuchen, für mich eine Ausnahme zu erwirken.« (S. 280f)
Nicht nur Itzig und sein Berater Hippus interessieren sich für die Ausnahme – der ehrgeizige
Händler und der größenwahnsinnige Jurist errichten eine vollständige Theorie der
7
Rechtslücken oder „Schlupfwinkel“ (S. 93) –, auch Schröter setzt auf den Ausnahmefall. Und
die Ausnahme wird gemacht. Die Order, „die Grenze für jedermann zu verschließen“ (S.
280), so wie es sich für einen geschlossenen Handelsstaat gehörte, wird vom Handel
überwunden, der Interessen außerhalb des Staates verfolgt. Der Rittmeister fügt allerdings
hinzu, daß das Militär selbst „spätestens in drei Tagen in Feindesland“ einrücken werde (S.
281). Aber der Handel führt, der Staat folgt auf der Grundlage eines souveränen
„Interventionsrechts“.13 Genau nach diesem Schema hatten in der Schilderung Postls die USA
Texas genommen. Kurz hinter der Grenzen werden Anton und Schröter erst einmal von
polnischem Landsturm festgenommen und in die Hauptstadt eskortiert.
Man kann nicht einmal sagen, die beiden Kaufleute würden polnisches Territorium
betreten, denn Polen ist von Deutschland aus gesehen Meer: Es ist eine „Gegend, wo der Sand
unter den Beinen wegläuft wie Wasser [...]; dieses Land ist [...] nicht fest genug“. (S. 411) Für
Anton ist Polen eine „Wüste“ (S. 411). Ob Wasser oder Wüste, Polen hat glatte Räume.
Schon in unserer Melville-Vorlesung ist deutlich geworden, daß in diesen Räumen die
Chancen wie die Risiken steigen. Wenn Sie die Implikationen dieser Metaphorik verfolgt
haben, dann kann es Sie ebenfalls nicht überraschen, daß Polen auch ohne Revolution ohne
„Ruhe, Sicherheit und Ordnung“ ist, denn dies ist glatten Räumen eigentümlich. Die „Polizei
muß dort mangelhaft sein“ (S. 486), erfahren wir aus berufenem Händlermund über das
polnische Gebiet. Tatsächlich ist sogar die „oberste Polizei“ von den niedrigsten Dieben kaum
zu unterscheiden (S. 440f). Im Verlauf des Romans, werden die Polen den schönen Ehrentitel
„Insurgent“ führen: Meuterer, Feinde der Ordnung, Empörer, Umstürzler, Plünderer, Diebe,
kurz: eine „Kriegsmaschine“. Sie sind die Piraten der polnischen See – und das Gegenteil des
Leviathan, den sie jagen und zerlegen. Die Polen treten daher beinahe immer in Massen auf,
sie sind führerlose Masse oder nomadische „Meute“,14 rebellisch und anarchisch per se, so
weit entfernt von der Bildung eines festen Staates wie sonst nur Herders Indianer und Hegels
Amerikaner. „Die Masse“, schreibt Ortega, kam „zur Welt, um geführt, beeinflußt, vertreten,
gegliedert zu werden – [...] um nicht länger Masse zu bleiben [...]. Aber es ist ihr nicht
vergönnt, dies alles aus eigener Kraft zu tun.“ (S. 76) Die Masse braucht daher notwendig
„höhere Instanzen“ und „Eliten“, die sie gliedert und formiert (S. 76). Dies ist in Gustav
Freytags Polen nicht der Fall. Es gibt zwar eine privilegierte Oberschicht, doch hat sie
keinerlei Einfluß auf das Volk außer den, es „es durch den Druck der rohen Masse“
auszusaugen (S. 273). Zwischen dem Adel und dem Krakusen steht nur die Peitsche, nicht
irgendein politisch ausbaufähiges Verhältnis der Repräsentation. In Polen herrscht „Gewalt“,
also im Grunde der Naturzustand, in dem der Stärkere dem Schwachen so lange befiehlt, bis
die Machtverhältnisse sich ändern. Wenn Anton sich in Polen auf etwas beruft, was „stärker
ist als die Gewalt, nämlich [...] unser Recht und Gesetz“, dann hält man ihm zunächst nur den
„Lauf einer Doppelflinte“ entgegen (S. 434). Der Kriegszustand in Polen und Staatlichkeit
13
14
Vgl. Empire, S. 33.
Deleuze / Guattari, Tausend Plateaus, S. 491.
8
schließen sich gegenseitig aus.15 Daß „Recht und Gesetz“ unabhängig von der Bewaffnung in
Polen nicht respektiert werden, ist eine Lehre, die Anton in Polen schnell ziehen wird. Es
herrscht das Recht des Stärkeren, also gar kein Recht, sondern die nackte Gewalt eines
„Gesellschaftszustandes“, der „sich gegen den Staat richtet und ihn verhindern soll“.16 In
Polen schwimmen die deutschen Güter und Dörfer im glatten Raum wie die Pequod oder die
Leviathan auf den lawless seas.
Es gibt in Polen keinen Staat, also auch keine Bürger, nur, mit Freytags Wort, „Banden“
(S. 277) und „Bandenführer“ (S. 278). Der Führer der polnischen Insurgenten wird vom
Erzähler tatsächlich „Häuptling“ genannt (S. 288). „Häuptlinge“ führen die plündernde
Kriegsmaschine der „Insurgenten“ an (S. 265). Es ist kein Zufall, daß sie keine Uniformen
tragen, ihre Waffen verstecken und wie Partisanen kämpfen. Aus Sicht von Deleuze und
Guattari sind all dies Indizien dafür, in den Polen eine nomadische Gruppierung oder eben
„Bande“ zu sehen (S. 490f). Der „große Mensch“ Leviathan existiert hier nicht. Zwischen
müßiggehenden „Edelleuten“ und „leibeigenen Bauern“ gibt es, da sind sich Schröter und
Wohlfahrt einig, keinen „Bürgerstand“, und das heißt: „sie haben keine Kultur, fuhr der
Kaufmann fort, es ist merkwürdig, wie unfähig sie sind, den Stand, welcher Zivilisation und
Fortschritt darstellt und welcher einen Haufen zerstreuter Ackerbauer zu einem Staate erhebt,
aus sich heraus zu schaffen.“ (S. 273) Genau wie die Amerikaner finden die Polen nicht aus
der „Zerstreuung“ im Raum zu einem wirklichen „Staat“. Polen könne nicht den geringsten
Anspruch machen, aus eigener Kraft einen „zivilisierten Staat“ zu bilden. Selbstverständlich
nicht, denn die Polen sind in ihrer Wüste Nomaden oder Partisanen. Schröter dagegen führt
diese zivilisatorische Insuffizienz umstandslos auf rassische Mängel zurück. Er behauptet: „Es
gibt keine Rasse, welche so wenig das Zeug hat, vorwärtszukommen, und sich durch ihre
Kapitalien Menschlichkeit und Bildung zu erwerben, als die slawische.“ (S. 273) Das
Äußerste, wozu die Slawen fähig seien, sei die „halbe Barbarei der privilegierten Freien und
der leibeigenen Arbeiter“ (S. 273). Der Barbar kennt weder Polis noch Polizei.17 Es gibt keine
Bürger, also auch keinen Staat. Vor allem gibt es keinen Rechtsstaat, es gibt nur vergängliche
Momente der Herrschaft durch persönliche Autorität, wie die eines polnischen Offiziers, der
Schröter und Wohlfahrt in der Hauptstadt begleitet und unterstützt; und es gibt eine temporäre
Beziehung von Gebot und Gehorsam durch Bestechung. „Wir bezahlen Euch gut“, verspricht
Schröter (S. 291), es gebe „Biergeld“. – „Ich lasse Standrecht über euch halten“, droht der
polnische, polyglotte Edelmann und Offizier seinen Landsleuten (S. 293). Die Polen werden
durch das Zuckerbrot des Kaufherrn und die Peitsche des Offiziers dazu gebracht, Wagen,
Ladungen, Pferde und Fuhrleute der Schröterschen Karawane zusammenzubringen, durch
„eine Mischung von Drohungen und Versprechungen“ (S. 294). Die Frachtbriefe, Siegel und
Markierungen, die die Eigentumsverhältnisse der Ladung ausweisen, spielen keine Rolle. Die
„Hieroglyphen“ der „Herrschaft“ (S. 30) mögen im gekerbten Raum von Gewicht sein, in den
15
16
17
Vgl. Deleuze / Guattari, Tausend Plateaus, S. 490.
Deleuze / Guattari, Tausend Plateaus, S. 490.
Balke S. 292.
9
Freihäfen, Zollhäusern und Lagerhallen der norddeutschen Zollunion, aber nicht im glatten
Raum der polnischen Wüste.
Fink nennt Polen vollkommen konsequent eine „slawische Sahara“ (S. 526), eine Wüste.
Zur Bedeutungshof des mittelhochdeutschen Wortes „wüeste“ gehören „Wildnis, Ödnis“, aber
auch „Endlosigkeit“, ferner „Unsauberkeit“ und „Unsittlichkeit“, und als Verb „wüesten“
dann „ausplündern, ausrotten, jemandes Eigentum oder Land verwüsten, sich schädigen und
verderben, ausplündern und brandschatzen“ (Lexer). Die „wüeste“ ist das Gegenteil von
urbarem Land, der „wüestes“ Land urbar macht, bezieht „wüest-gelt“ als Abgabe. Wie Wüste
ist unbegrenzter, kulturloser Raum, und wenn sie kommt, werden bestehende
Raumordnungen verwüstet. Um die innere Sicherheit der slawischen Sahara ist es nun so
bestellt, daß die deutschen Kaufleute für ihre Fuhren befestigte Höfe anlegen, exterritoriale
Zonen eigenen Rechts oder Relais, die gewissermaßen Sakia Sassens große Mega-cities der
globalisierten Ökonomie vorwegnehmen, die ebenfalls wie Staatsschiffe in einem Meer der
Slums und Favelas schwimmen: Exklaven in einer Umwelt ohne Sicherheit und Ordnung.
Diese gut befestigten und bewachten Mega-cities sind mit Airlines und Information super
highways verbunden wie die Schutzburgen der deutschen Kaufleute im Osten durch
Karawanen. Ein solcher Hof ist „ein Raum von mehreren Morgen Ausdehnung, wie sie häufig
bei den Herbergen des östlichen Europas zu finden sind, welche an großen Verkehrsstraßen
liegen und wie die Karawansereien des Morgenlandes bestimmt sind, großen
Wagentransporten und einer schnell zusammenströmenden Menge [...] Schutz zu geben.“ (S.
294) Immer wieder werden die Handels- und Geleitzüge in den Osten Karawanen genannt,
wie es sich für Expeditionen in den glatten Raum der wüsten Nomaden gehört. In Polen
lauern entsprechend alle Gefahren der Deterritorialisierung und der nomadischen
Kriegsmaschine, und man kann erwarten, daß hier entsprechende Strategien der
Reterritorialisierung entgegengesetzt werden.
Gustav Freytag hat ein vielbändiges populäres Geschichtswerk unter dem Titel „Bilder aus
der deutschen Vergangenheit“ (2. Bd., Leipzig 1927) publiziert, in dem er der „Besiedelung
des Ostens“ ein eigenes Kapitel widmet. Er, der Deutsche, habe die „endlose polnische
Ebene“ (S. 117) wegbar gemacht durch Stadtgründungen nach deutschem Recht (S. 116).
Über die „polnischen Städte“ schreibt Freytag – diesmal nicht als Romancier, sondern als
Historiker, jedenfalls als Narrator eines grand récit –, daß sie mit „deutschen Städten“ nicht
zu vergleichen seien:
„Denn hinter dem Graben und dem Pfahlwerk war nicht zu finden eine freie Bürgerschaft, ein geordnetes
Gemeinwesen, das fest in sich steht, das recht hat sich zu regieren und Besitztümer zu erwerben, seinen
Bürgern Recht zu sprechen und gegen fremde Gewalt Recht zu schaffen; und nichts war von dem zu
finden, was sonst einer deutschen Stadtgemeinde ziemt, daß sie ihre Bürger tüchtig, wohlhabend und
stark mache und dadurch eine Heimat werde für umsichtige Tatkraft und Reichtum, für Sitte,
Gelehrsamkeit und Künste.“ (S. 114)
10
Das Gemeinwesen oder die res publica, die Freytag hier als typisch deutsch entwirft, ist als
polis oder Stadt in der Tat ein veritabler Staat, der im Inneren für Ruhe, Sicherheit und
Ordnung sorgt, für Recht und Wohlfahrt, und nach Außen gegen Feinde Schutz bietet. All
dies findet man in polnischen Städten nicht. Und was immer man dort dennoch Gutes finden
mag an „Wissenschaft, Verkehrsrecht und Kriegführung, Kunst und Handwerk“, es mußte
„aus deutschem Land zu den Slawen kommen.“ (S. 109) In „Soll und Haben“ lesen wir, daß
die „deutschen Städte auf altem Slawengrund“ als „Knoten eines festen Netzes“ fungieren,
„welches der Deutsche über den Slawen gelegt hat, kunstvolle Knoten, in denen zahllose
Fäden zusammenlaufen, durch welchen die kleinen Arbeiter des Feldes verbunden werden mit
andern Menschen“ (S. 490). Es ist ein Netz in glattem Raum. Wachtürme und Tore schützen
die Stadt, der „Zöllner“ wie der „Wächter“ kontrollieren den Verkehr der Waren und
Personen, sogar den polnischen Edelmann, den slawischen Bauern sowieso (S. 489). Die
Deutschen beziehen „wüest-gelt“ von den „halben“ Barbaren der polnischen Umgebung. Die
deutschen Städte verhalten sich zu ihrem agrarischen, slawischen Umland wie die Handlung
Schröter zur Welt: als Zentrum eines Netzes. Es kann daher nicht verwundern, wie leicht es
Anton fällt, die deutsche Expansion im Osten zu rechtfertigen – schließlich gäbe es ohne sie
kein sicheren Relais, nur hochriskante Karawanen auf weiter Fahrt,18 permanent bedroht von
Krakusen und Insurgenten. Als Wohlfahrt im Auftrag der insolventen Familie Rothsattel
deren polnische Herrschaft verwaltet und gegen polnische Rebellen verteidigt, erklärt er
seinem Freund Fink den Unterschied zwischen Deutschen und Slawen. Er spricht Klartext,
ganz undiplomatisch: Es gehe um die Eroberung Polens, die er mit dem zivilisatorischen
Auftrag der überlegenen Rasse rechtfertigt. The white mans burden, haben britische
Imperialisten des 19. Jahrhundert die Eroberungen in Asien und Afrika genannt, die dazu
dienten, die Wilden zu zivilisieren. Anton könnte ähnlich von der Last des Deutschen
sprechen, den Osten zu kultivieren. Nun aber das Zitat in aller Ausführlichkeit:
»Sieh«, fuhr Anton fort, »in einer wilden Stunde habe ich erkannt, wie sehr mein Herz an dem Lande
hängt, dessen Bürger ich bin. Seit der Zeit weiß ich, weshalb ich in dieser Landschaft stehe. Um uns
herum ist für den Augenblick alle gesetzliche Ordnung aufgelöst, ich trage Waffen zur Verteidigung
meines Lebens, und wie ich hundert andere mitten in einem fremden Stamm. Welches Geschäft auch
mich, den einzelnen, hierhergeführt hat, ich stehe jetzt hier als einer von den Eroberern, welche für freie
Arbeit und menschliche Kultur einer schwächern Rasse die Herrschaft über diesen Boden abgenommen
haben. Wir und die Slawen, es ist ein alter Kampf. Und mit Stolz empfinden wir, auf unserer Seite ist die
Bildung, die Arbeitslust, der Kredit. Was die polnischen Gutsbesitzer hier in der Nähe geworden sind und es sind viel reiche und intelligente Männer darunter - jeder Taler, den sie ausgeben können, ist ihnen
direkt oder indirekt durch deutsche Intelligenz erworben. Durch unsere Schafe sind ihre wilden Herden
veredelt, wir bauen die Maschinen, wodurch sie ihre Spiritusfässer füllen; auf deutschem Kredit und
deutschem Vertraun beruht die Geltung, welche ihre Pfandbriefe und ihre Güter bis jetzt gehabt haben.
Selbst die Gewehre, mit denen sie uns jetzt zu töten suchen, sind in unsern Gewehrfabriken gemacht, oder
durch unsere Firmen ihnen geliefert. Nicht durch eine ränkevolle Politik, sondern auf friedlichem Wege,
durch unsere Arbeit, haben wir die wirkliche Herrschaft über dieses Land gewonnen. Und darum, wer als
„Die Waren gingen nach dem Osten, wurden über die Grenze geschmuggelt und verbreiteten sich bis tief in
das russische Reich, bis an die asiatische Grenze, wo zuletzt der strebsame Kirgise die Hemden und Schnürröcke
aufträgt, welche vom deutschen Schneider genäht sind.“
18
11
ein Mann aus dem Volk der Eroberer hier steht, der handelt feig, wenn er jetzt seinen Posten verläßt.«
Es gibt keine Ordnung, sie muß erst hergestellt werden. Anton beschreibt eine Raumnahme,
die in der Wildnis Ordnung und Ortung stiftet.19 Es geht jetzt, nachdem Anton ein Landgut
verwaltet, um mehr als Karawansereien in der Wüste, es geht um Herrschaft über ein
Territorium. Wir erinnern auch kurz an die These, daß das Kapital vorangeht und der Staat
folgt, an die von Ortega formulierte Paradoxie des Staates. Mit friedlicher Durchdringung
fängt es an, dann folgt die Eroberung, die die neuen Verhältnisse konsolidiert und das
gewonnene wie geraubte Eigentum sichert. Rückblickend wird dann aus Polen Deutschland
geworden sein, dank der „raumüberwindenden Mächte“ der Technologien und des Handels.
»Du sprichst so stolz auf fremdem Grund«, erwiderte Fink, »und daheim bei euch bebt der eigne Boden.«
»Wer hat diese Provinz zu Deutschland gebracht?« frug Anton die Hand ausstreckend. »Die Fürsten eures
Geschlechts, ich leugne es nicht«, sagte Fink.
»Und wer hat die große Landschaft erobert, in der ich geboren bin?« frug Anton weiter.
»Einer, der ein Mann war.«
»Ein trotziger Landwirt war’s«, rief Anton, »er und andere seines Geschlechts. Mit dem Schwert oder
durch List, durch Vertrag oder mit Überfall, auf jede Weise haben sie den Boden an sich gezogen, in einer
Zeit, wo im übrigen Deutschland fast alles tot und erbärmlich war. Als kühne Männer und gute
Wirtschafter, die sie waren, haben sie ihren Boden verwaltet.
Sie haben Gräben gezogen durch das Moor, haben Menschen hingepflanzt in leeres Gebiet und haben
sich ein Geschlecht gezogen, hart, arbeitsam, begehrlich, wie sie selbst waren. Sie haben einen Staat
gebildet aus verkommenen oder zertrümmerten Stämmen, sie haben mit großem Sinn ihr Haus als
Mittelpunkt für viele Millionen gesetzt und haben aus dem Brei unzähliger nichtiger Souveränitäten eine
lebendige Macht geschaffen.«
»Das war«, sagte Fink, »das taten die Ahnen.«
»Sie haben für sich gearbeitet, als sie uns schufen«, fuhr Anton beistimmend fort, »aber wir haben jetzt
Leben gewonnen, und ein neues deutsches Volk ist entstanden. Jetzt fordern wir von ihnen, daß sie unser
junges Leben anerkennen. Es wird ihnen schwer werden, gerade ihnen, die gewöhnt sind, ihr
zusammengebrachtes Land als eine Domäne ihres Schwertes zu betrachten. Wer mag sagen, wann der
Kampf zwischen ihnen und uns beendigt sein wird, lange vielleicht werden wir den häßlichen
Erscheinungen fluchen, welche dieser Streit hervorruft. Wie er aber auch enden mag, davon bin ich
überzeugt, wie von dem Lichte dieses Tages, der Staat, den sie geschaffen, wird nicht wieder in die
Trümmer zerschlagen werden, aus denen er herausgewachsen. (S. 522f)
Die Rede ist natürlich von Preußen, dessen Expansion bekanntlich erst in einem Weltkrieg
gegen die Imperien Britanniens, Rußlands, Frankreichs und Amerikas gestoppt werden
konnte. Fink jedenfalls wird von Anton überzeugt, er will nun selbst die „slawische Sahara“
(S. 526) germanisieren und rekrutiert dazu deutsche Arbeitssoldaten, hochdisziplinierte
Kader, die mit Spaten und Gewehren umgehen können und uniformiert auftreten wie sonst
nur ein Arbeitsdienst, und beginnt, einen gepachteten Teil des Gutes urbar und wehrhaft zu
machen. Wer in Polen siedelt, wird „mit der Pflugschar in der Hand hier ein deutscher Soldat
sein, der den Grenzstein unserer Sprache und Sitte weiter hinausrückt gegen unsere Feinde“,
erläutert Anton die Expansionsstrategie der deutschen Territorialisierung (S. 625). Arno
Breker wird diesen Arbeitssoldaten im Tausendjährigen Reich Denkmäler setzen.
19
Vgl. Carl Schmitt, Der Nomos der Erde, S.
12
Ein Amerikaner wird seßhaft
Was ist nur aus dem reichen Dandy und aristokratischen Lebemann Fink geworden? Und
warum? Friedrich von Fink hat die Handlung Schröter verlassen, um das Erbe seines
amerikanischen Onkels anzutreten, eines skrupellosen wie reichen Börsen-Jobbers. Der als
junger Mann an der der Wall Street sozialisierte Freund Antons führte im Kontor den Alias:
„Der Amerikaner“ (S. 223). Fink hat als 15jähriger Millionär in New York ein reichlich
liederliches Leben geführt: Tanz, Alkohol, Spiel, Huren etc. (S. 82), um diesem
Lebenswandel schließlich selbst ein plötzliches Ende zu setzen. Er heuert als ordinärer
Matrose an und umrundet Kap Horn. Anschließend arbeitet er als Cowboy auf einer südamerikanischen Hazienda (S. 82). Zu dem in Schröters Augen untergehenden, vollkommen
unproduktiven, kraftlosen Adel, den nichts mehr auszeichnet als ihre „Familienerinnerungen“
(S. 399f), zählt Fink gewiß nicht. Ganz „auf eigene Faust“ gestellt, macht er sein „Glück“,
ohne daß er dafür Geld, Beziehungen oder Titel bräuchte. Nach fast zwei Jahren wird er von
Detektiven aufgespürt und ins alte Europa verfrachtet, diesem „bejahrten Erdhaufen“ (S. 82).
Die väterliche Firma Fink und Becker nötigt ihn vertraglich, in der Handlung Schröter zu
arbeiten, zu lernen und seine „Kapricen zu bändigen“, obschon Fink „Landwirt“ werden
wollte statt „Kaufmann“ (S. 82f). Noch immer wolle er „Landmann“ werden. Auf Antons
Frage, ob er hier „ein Gut kaufen“ wolle, gibt Fink zur Antwort:
»Nein, Herr«, antwortete Fink, »das will ich nicht. Ich würde es vorziehen, vom frühen Morgen bis gegen
Mittag zu reiten, ohne an einen Grenzstein meines Landes zu stoßen.«
»Sie wollen also wieder nach Amerika zurück?«
»Oder anderswohin, Herr, ich bin in Erdteilen nicht wählerisch.« (S. 83)
Ich erinnere hier an die deutsche Konzeption Amerikas als geist-, geschichts- und
grenzenloses Land. Fink nimmt in seinem autobiographischen Monolog alle diese Elemente
auf, er gibt sich als Kosmopolit, dem ein Ort so gut wie der andere ist, wenn er sich nur für
seine Pläne eignet. Seine große Gegenüberstellung des amerikanischen Pragmatismus gegen
die deutsche Gefühlsduselei: Dollars versus Trödel, geschäftstüchtiger Opportunismus versus
spießig-altväterliche Tradition (S. 220f), hatte ich schon ausführlich kommentiert. Ich möchte
das Bild hier nur abrunden, da wichtig ist, wer dort nach Polen kommt, um deutscher
Landmann zu werden, da Fink einen ganz anderen Typus repräsentiert als Anton oder
Rothsattel. Fink und Wohlfahrt werden nach einem Streit, der fast zum Duell führt, Freunde
und beeinflussen sich seitdem wechselseitig: Fink wird solider und moralischer, Anton
gewandter und weltmännischer. Anton lernt schießen, reiten, schwimmen, segeln und tanzen,
er wird in Adelskreise eingeführt, besucht Bälle und tafelt mit Offizieren beim Italiener.
Anton verliebt sich in die aparte Lenore von Rothsattel, Fink macht der hypersoliden Sabine
Schröter einen Heiratsantrag. Anton wird „Finks Erbe“ genannt, nachdem dieser die
Handlung verlassen mußte, womit vor allem seine gesellschaftliche Stellung in der Handlung
und seine Umgangsformen gemeint sind. Fritz Fink dagegen fühlt sich in den USA, in die er
13
nach des Onkels Tod als Erbe zurückkehren muß, nicht mehr wohl, weil sein moralisches
Bezugssystem sich seit seinem letztem Aufenthalt dort vollkommen verändert hat. Amerika
wird nun auch von ihm so erlebt und beschrieben, wie es die Tradition deutscher
Geophilosophie erwarten läßt.
»Es muß endlich doch heraus, was ich Dir armem Jungen gern verschwiegen hätte. Ich bin unter die
Räuber und Mörder gegangen. Wenn Du einen harten Kehlabschneider brauchst, wende Dich nur an
mich. Ich lobe mir einen Burschen, der aus freier Wahl ein Schuft wird; er hat wenigstens das Vergnügen,
mit dem Teufel einen klugen Vertrag zu machen, und kann die Klasse von Niederträchtigkeiten
aussuchen, in der er sich behaglich fühlt. Mein Los ist weniger angenehm. [...] Wie das Felsstück in der
Schneemasse, so stecke ich, von allen Seiten eingeengt, in der eisigen Kälte der furchtbarsten
Spekulationen, welche je großartiger Wuchersinn ausgedacht hat. Der Verstorbene hat die Güte gehabt,
grade mich zum Erben seiner Lieblingsprojekte, der Spekulationen mit Land, zu machen. [Es] ist mir jetzt
ganz unzweifelhaft geworden, daß die Absicht seines Testaments war, sich für die kindischen Bosheiten,
die ich gegen ihn gehabt, dadurch zu rächen, daß er mich zum Spießgesellen von alten verwitterten
Schurken machte, deren Schlauheit so groß ist, daß Satan selbst den Schwanz in die Tasche stecken und
sich als Schornsteinfeger verkleiden würde, um ihnen zu entlaufen.
Diesen Brief erhältst Du aus einer neuen Stadt in Tennessee, einem anmutigen Ort, der dadurch nicht
besser wird, daß er auf Spekulation von meinem Geld gebaut ist. Einige Holzhütten, die Hälfte davon
Schenken, bis unter das Dach angefüllt mit einem schmutzigen und verworfenen Gesindel von
Auswanderern, von denen die Hälfte an Fäulnis und Fieber darniederliegt.“ (S. 352)
Zur Rechtlosigkeit des amerikanischen Neulands, zur rücksichtslosen Spekulation, die aus
Kolonisten Geld zieht (S. 352), paßt, daß das Gebiet gleichsam als See erfahren wird. Zwei
Monate im Jahr, berichtet Fink, stehe die Gegend „unter Wasser“, während sie „die übrige
Zeit einem zähen Brei ähnlicher sieht als irgendwelchem Lande.“ (S. 353) Es ist
symptomatisch für die geopolitische Semantik der deutschen Literatur, daß Amerika wie
Polen nicht nur Staatlichkeit, Kultur und Rechtssicherheit abgesprochen werden, sondern im
gleichen Atemzug immer auch gleichsam die feste Konsistenz des Landes als Land. Das Land
ist ungekerbt wie die lawless seas. Während der Amerikaner die Glätte des Raums zur
Spekulation nutzt und ungeheure Gewinne macht, ist es – wenn er nicht an Fieber stirbt – der
europäische Kolonist, der den wüsten Raum aneignen und urbar machen wird. Eine
strukturelle Entsprechung findet sich zum einem im Verhältnis der jüdischen Spekulanten
zum Landgut des Barons, insofern es nicht um die Bestellung des Raums geht, sondern um
seine Mobilisierung und Kapitalisierung. Es ist bezeichnend, daß der Baron Fink verdächtigt,
nur auf die polnische Herrschaft gekommen zu sein, um „ein Geschäft zu machen“ und
Gelegenheit zu einer „Spekulation“ zu finden (S. 530). Rothsattel benötigen Geld, die
Gelegenheit zu einer Übernahme ihres Gutes scheint günstig, zumal wiederum Lenore mit
erworben werden kann (S. 541f), wie es einst Itzig Anton vorhergesagt hat. Fink wird so in
die Position seines Onkels gerückt und Polen in die Position Tennessees. Zum anderen ist
Polen folglich in gewisser Hinsicht Amerika, insofern es nämlich glatter Raum, Wüste oder
Meer ist. Hier zu siedeln, gehört zunächst in keiner Weise zu Finks Plan. „Die Welt steht uns
offen“, sagt er Anton, er wolle ihn mitnehmen, an „die See, nach England, über das Wasser.“
(S. 521) Dann folgen Antons Monolog und Finks Bekehrung. „Zeige mir womöglich einen
14
Quadratfuß Landauf dieser reizenden Besitzung, wo man nicht bis an die Knöchel in den Sand
versinkt“, fordert Fink Anton auf (S. 524). Polen ist eine Wüste. Die polnischen „Güter“ des
Barons hält Fink für „furchtbar verwüstet“ (S. 529). Man kann aber „etwas daraus machen“
(S. 529), aber nicht durch Spekulation, sondern durch die Transformation der polnischen
Wüste in deutschen Raum.
Die deutsche Landnahme ist schon in vollem Gange, als Fink erscheint. Es versteht sich,
daß ein deutsches Pächterpaar eines Vorwerks in den Zeiten polnischer Herrschaft als einzige
„Ordnung“ gehalten haben.
»Es ist merkwürdig«, sagte Karl, aus der Ferne auf die Gebäude sehend, »dieses Dach hat keine Löcher;
dort in der Ecke ist ein Viereck von neuem Stroh eingesetzt. Bei Gott, das Dach ist ausgebessert.«
»Hier ist die letzte Hoffnung«, erwiderte Anton.
Als der Wagen vorfuhr, zeigte sich der Kopf einer jungen Frau am Fenster, neben ihr ein blondhaariger
Kinderkopf, beide fuhren schnell zurück.
»Dies Vorwerk ist das Juwel des Gutes«, rief Karl. »Es sind deutliche Spuren einer Düngerstätte hier.
Dort läuft ein Hahn und die Hennen hinterdrein, alle Wetter, ein regulärer Hahn mit einem
Sichelschwanz. Und hier steht ein Myrtenstock am Fenster. Hurra! hier ist eine Hausfrau, hier ist
Vaterland, hier sind Deutsche.« (S. 428)
Dieses Vorwerk wird später zum Vorposten im Kampf gegen die polnischen Insurgenten.
Nach diesem Muster errichtet Anton auf dem Gut überall wieder „Pflicht und Dienst“ (S. 437)
und jagt die polnischen Verwüster (etwa den ehemaligen Inspektor) zum Teufel (S. 414f). Die
tüchtigen deutschen Wehrbauern übernehmen.
Ich habe mir von Karl erzählen lassen, wie das Gut aussah, als er herkam, und was ihr bis jetzt gebessert
habt. Ihr habt euch respektabel benommen. Das hätte kein Amerikaner und kein anderer Landsmann
durchgesetzt, in so verzweifelter Lage lobe ich mir den Deutschen. (S. 527f)
Die Lage ist in der Tat verzweifelt. Die polnische Revolution erfaßt nun auch die alten
„deutschen Städte auf altem Slawengrund“ (S. 490), die Relaisstationen des deutschen
Handelsnetzes. Am Marktag erreicht der „politische Sturmwind“ Rosmin, die Marktstadt in
der Nähe des Landgutes der Rothsattel. Alles, was „durch viele Jahre fest gewesen war,
schien nun zu wanken“ (S. 493). Es sind sozusagen Klassiker der Kollektivsymbolik,
Revolutionen als Erdbeben oder Orkan zu semantisieren. Ein „Haufe Sensenmänner und ein
Trupp mit Feuergewehren“ versucht, die Macht zu übernehmen. Das deutsche „Wappenschild
des Staates“ (S. 495) wird von der Meute, die „ausländische“ und „polnische Farben“ trägt (S.
494), in den Staub geworfen und über die Straßen geschleift (S. 495). Die deutsche Herrschaft
wird symbolisch abgeworfen und erniedrigt, Anton „war außer sich“ (S. 495). Er organisiert
den deutschen Widerstand der Bürger und leitet einen überraschenden Gegenangriff gegen die
zahlenmäßige Übermacht ein, der selbstredend gelingt. Die deutschen bilden ja auch weder
Haufen noch Rotten oder Meuten, sondern „Korps“, die salutieren, schwenken und
marschieren (S. 506). Der Pole ist Partisan, der Deutsche Teil einer Armee.20 Die Wappen
werden von den Siegern erneut aufgerichtet und mit Blumen bekränzt (S. 506). Die erste
20
Zum Unterschied vgl. Deleuze / Guattari, Tausend Plateaus, S. 492.
15
Schlacht ist gewonnen. Anton freilich sorgt sich um das einsame Gut inmitten der
„slawischen Sahara“, das nicht sicher sei vor „großen Scharen“ oder „Haufen“, vor „Banden“
von „Brandstiftern und Plünderern“, die nun ohne Ordnung und daher unberechenbar durchs
Land streifen (S. 508). „Was bringen Sie“, fragt der blinde Freiherr seinen Verwaltet:
„Krieg“, lautet die Antwort, „den häßlichsten aller Kämpfe [...], blutigen Krieg zwischen
Nachbar und Nachbar. Das Land ist im Aufstand.“ (S. 509) Es herrscht der bellum omnium
contra omnes. Polen ist dabei, das deutsche Relaisnetz abzuwerfen und sich zu
deterritorialisieren. Mit nomadischen Verwüstungszügen gegen die deutschen Enklaven wird
es wieder zur Wüste. Gegen die vordringende Wüste setzt Anton Wehrdörfer, Wachen und
Postenketten, Fanale und Alarmhäuser (S. 509). Der glatte Raum wird gekerbt. Der ehemalige
Dragoner Karl zieht seine alte Uniform wieder an und organisiert eine deutsche Landwehr mit
alle jenen, „welche gedient hatten“ (S. 511).
In dieser prekären Situation kommt der heimatlose (S. 524) Fink aus Amerika zurück,
besucht Anton und schließt sich endlich dem Unternehmen an, auf schwankendem Boden
„Ordnung“ zu erhalten (S. 524). Bei aller vorbildlichen Organisation durch Anton und Karl
fällt doch auf, daß die Mittel fehlen. Die Rothsattel sind verarmt, die nötigsten Einkäufe
werden vom Schmuck der Damen bestritten (S. 527), Einkünfte gibt es keine. Wie soll das
Gut verteidigt und das brache Land bestellt werden? Fink schlägt vor:
»Miete dir zwanzig Männer mit tüchtigen Fäusten, sie sollen dieses Haus bewachen.«
»Du vergißt, daß wir zwanzig müßige Brotesser ebensowenig beköstigen können wie der Kauz auf dem
Turme.«
»Sie sollen arbeiten«, rief Fink, »ihr habt hier eine Bodenfläche, bei der hundert Hände nützliche
Beschäftigung finden. Hast du keinen Sumpf zu entwässern und Gräben zu ziehen? Dort unten breitet
sich ja eine Reihe trauriger Wasserlachen.«
»Das ist Arbeit für eine andere Jahreszeit«, erwiderte Anton, »der Grund ist jetzt zu naß.«
»Laß einige hundert Morgen Waldland besäen oder bepflanzen. Hält der Bach im Sommer aus?«
»Ich höre, ja«, erwiderte Anton.
»So laß sie irgend etwas schaffen.« (S. 528)
Allein, die „Kasse“ ist „leer“ (S. 526). Auch für die klügsten Investitionen fehlt das Geld. Mit
Bordmitteln wird nur der Notstand verlängert, „Aussicht, Militär zu erhalten“, besteht
gleichfalls nicht (S. 527). Der geübte Bodenspekulant, Cowboy und Amerikaner reitet das
Gut ab und entdeckt sofort ein Investment. Er schlägt Anton ein Projekt vor, das ihm Gewinn
und dem Baron Pachtgelder einbringen würde.
»Jetzt merke auf. Wenn man den Bach wieder in sein altes Bett zurückführt und ihn zwingt, im Bogen zu
laufen, statt in der Sehne, so kann man mit dem Wasser, das jetzt zu eurer Schande unnütz in die Welt
fließt, die ganze Fläche von fünfhundert Morgen berieseln und den dürren Sand in grünes Wiesenland
verwandeln.« - »Du bist ein Schlaukopf«, rief Anton aufgeregt durch die Entdeckung.
»Was kostet euch der Morgen im Durchschnitt?« frug Fink.
»Dreißig Taler.«
»Und ebensoviel höchstens betragen bei diesem Boden die Kosten der Wiesenanlage. Macht zusammen
sechzig Taler, also drei Taler jährliche Zinsen, dazu schlage an Unterhaltungskosten, Abgaben usw. für
den Morgen jährlich zwei Taler, so hast du fünf Taler Kosten. Rechnest du dagegen vom Morgen
16
zwanzig Zentner Heu zum halben Taler, so erhältst du vom Morgen fünf Taler Reinertrag, also bei
fünfhundert Morgen zweitausendfünfhundert jährlichen Gewinn. Um diesen zu erhalten, ist ein
Anlagekapital von höchstens fünfzehntausend Talern nötig. Das war’s, Anton, was ich dir erzählen
wollte.«
Anton stand überrascht. Es war nicht zu verkennen, daß die Zahlen, welche Fink hingeworfen hatte, nicht
ganz aus der Luft gegriffen waren, weder die Kosten, noch die Erträge. Und die Aussicht, welche eine
solche Anlage dem Gut eröffnete, beschäftigte ihn so, daß er lange in tiefem Schweigen neben dem
Freund vorwärts schritt. »Du zeigst mir in der Wüste Wasser und grüne Wiesen«, rief er endlich
bekümmert, »das ist grausam von dir, denn nicht der Freiherr wird imstande sein, diese Verbesserung zu
machen, sondern ein Fremder. Fünfzehntausend Taler!« (S. 536f)
Aus der Wüste möchte Fink durch Bodenarbeiten blühende Landschaften machen. Die Wüste
wird gekerbt, aus „Sand“ (S. 536) wird bester Boden werden. Fink wird, wie er es
vorhergesagt hat, zum Landmann werden. Dazu wird der glatte Raum territorialisiert. Er wird
aber auch, mit den Worten Friedrich Engels, kapitalisiert. Der „Boden“, so Engels, wird im
modernen Kapitalismus, den Fink genauso repräsentiert wie Ehrenthal oder Itzig, zu einem
Ort der „Produktion“, die mit der Hilfe aller modernen Erfindungen „entfesselt“ wird. 21 Man
muß, wie Marx 1844 schreibt, erstens „Kapital“ und zweitens „Befähigung“ haben, „um den
Grund und Boden zu exploitieren“ und in eine Agrarindustrie zu verwandeln (MEW Bd. 40,
S. 509). Fink hat beides. Er vertritt aber nicht nur das Empire des Kapitalismus, sondern
bildet zugleich eine reterritorialisierende Kraft. Um sein Projekt umzusetzen, geht er mit Karl
auf Werbungstour nach Preußen. Er wird Männern zurückkommen, die arbeiten und kämpfen
können:
Ein stattlicher Zug bewegte sich durch das Dorf auf das Schloß zu. Voran schritt ein halbes Dutzend
Männer in gleicher Tracht; sie trugen graue Jupen, breitkrempige Filzhüte, die an einer Seite
aufgeschlagen und mit einem grünen Busch verziert waren, auf der Schulter eine leichte Jagdflinte, an der
Seite ein Matrosenmesser. Hinter ihnen kam eine Reihe beladener Wagen, der erste voll von Schaufeln,
Grabscheiten, Hacken und Erdkarren, welche zu kunstvoller Symmetrie ineinandergesetzt waren, dahinter
andere Wagen mit Mehlsäcken, Kisten, Kleiderbündeln und eingepackten Möbeln. Den Zug schloß
wieder eine Anzahl Männer in grauer Uniform und denselben Waffen. In der Nähe des Schlosses sprang
Karl mit einem Fremden von dem letzten Wagen herab. Karl stellte sich an die Spitze des Zuges, ließ die
Wagen an der Front des Schlosses auffahren, ordnete die Männer in zwei Reihen und kommandierte mit
einigem Erfolg: »Präsentiert das Gewehr!« Hinter dem Zuge galoppierte Fink auf seinem Pferde heran.
Jeder Zug an diesem Zug atmet Ordnung, Disziplin, Symmetrie. Finks Truppe strahlt aus:
Schnell lebte in der Schar mit aufgekrempten Hüten ein Korpsgeist auf, der die Handhabung der Disziplin
erleichterte; nach wenig Tagen wurde Fink mit zahlreichen Bitten anderer Leute überlaufen, sie ebenfalls
mit einem Anzuge und einer Flinte, mit guter Kost und Löhnung zu versehen und in seine Garde
aufzunehmen.
Ordnung und Organisation wird der polnischen Kriegsmaschine nomadischer Horden und
marodierender Meuten entgegengestellt.
»Willkommen!« rief Anton dem Freunde entgegen.
21
Friedrich Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (1878), in: MEW Bd. 20, S. 129.
17
»Sie bringen eine Armee mit Bagage«, lachte Lenore ihn begrüßend, »ziehen Sie immer mit so schwerem
Gepäck ins Feld?«
»Ich bringe ein Korps, das von heute ab in Ihrem Dienst stehen soll«, erwiderte Fink vom Pferde
springend. »Es scheinen ordentliche Leute«, sagte er zu Anton gewandt, »sie sollen den Stamm bilden für
meine Arbeiter. (S. 547)
Es sieht bedenklich aus in dieser Provinz. In Rosmin selbst hält man sich keinen Tag für sicher. Ihre
Einrichtung einer Bauernwehr ist auch dem Feind nicht entgangen und hat seine Aufmerksamkeit auf Ihr
Haus gelenkt.«
»Es ist mir eine Ehre«, unterbrach der Freiherr, »diesen Herren zu mißfallen.« (S. 548)
Die so verschiedenen Protagonisten und so unterschiedlichen sozialen Klassen, die sie
repräsentieren, arbeiten nun vereint an der preußischen Raumnahme Polens. Im Kampf um
Raum entsteht das „neue deutsche Volk“ (S. 523), für das ein entsprechender Territorialstaat
in entsprechenden Grenzen noch gefunden werden muß. Der neue Staat, so Anton, wird aus
den Trümmern alter Souveränitäten erst noch hervorwachsen (S. 523).
Zunächst aber muß der Kampf aufgenommen und gewonnen werden. Das befestigte
Landgut wird von einer Übermacht polnischer Insurgenten belagert und von den
Arbeitssoldaten unter Führung Finks verteidigt. „Waffen und Werkzeuge“ führen diese
Männer gleichermaßen virtuos (S. 548). Mehr als ein Jahrhundert vor Ernst Jüngers „In
Stahlgewittern“ und „Der Arbeiter“ wird der Kampf einer Truppe als Arbeit beschrieben.
„Jetzt sah Anton mit einem düsteren Behagen, wie ruhig er selbst und wie mutig die Leute waren. Sie
waren in Tätigkeit, sie arbeiteten; noch bei dem tödlichen Werk der Zerstörung war die Kraft zu
erkennen, die jedes emsige Tun dem Menschen gibt. Nach den ersten Schüssen luden die auf der
Vorderseite so besonnen, als übten sie ihr gewöhnliches Tagewerk. Das Gesicht des Knechts sah nicht
sorgenvoller aus, als wenn er zwischen seinen Ochsen hindurch auf die Ackerfurche blickte, und der
gewandte Schneiderfaßte Rohr und Kolben seiner Waffe mit der selben Gleichgültigkeit wie das Holz
seines Bügeleisens.“ (S. 582)
Unruhig sind nur die, die vorerst in der Etappe bleiben müssen. Genau dieses Bild einer alle
Berufe und Stände vereinenden Arbeit im Krieg wird Jünger aufgreifen und zum Typus des
Arbeiters weiterverarbeiten. Die neuen „deutschen Soldaten“, die mit der Pflugschar genauso
gut zu arbeiten verstehen wie mit dem Schwert (S. 625), halten lange genug aus, um von der
Kavallerie in letzter Minute entsetzt zu werden. Ein mutig Ausfall verwandelt die „gedrängte
Schar der Feinde“ in eine „Masse“ in „wilder Flucht“ (S. 605). Der letzte feindliche Schuß
trifft den jungen Husaren-Offizier Eugen von Rothsattel tödlich. Der Erbe des Barons stirbt
(S. 606).
„Blond oder schwarz?“ (S. 543) Um die blonde Lenore Rothsattel und die dunkle Sabine
Schröter wollte Fink mit Anton eine Münze werfen. Dies ist nicht mehr nötig. Fink heiratet
Lenore und übernimmt mit seinem Kapital das erbenlose, verschuldete Gut. Die Baronin
stirbt, der blinde, halb rührselige, halb senile Baron wird ihr „in kurzem nachfolgen“. Eine
neue Generation übernimmt die Führung: Fink. Die in den 1850er Jahre aufkommende These
18
vom „Kampf um's Dasein“22 wird zum Grundprinzip seines Geschlechts: „Sein Leben wird
ein unaufhörlicher siegreicher Kampf sein [...]; und aus dem Slawenschloß wird eine Schar
kraftvoller Knaben herausspringen, und ein neues deutsches Geschlecht, dauerhaft an Leib
und Seele, wird sich über das Land verbreiten, ein Geschlecht von Kolonisten und
Eroberern.“ (S. 696) Der Amerikaner Fink ist ganz zum Agenten der Raumnahme und
Territorialisierung geworden. Wenn man die „züchtende Rolle“ bedenkt, die die deutsche
Darwin-Rezeption dem „Kampf ums Dasein“ zuweist,23 dann muß diese Passage in den
Kontext eines Diskurses gestellt werden, der sozialdarwinistische und geopolitische Elemente
zu einer Art Bio-Geopolitik verschmilzt. Nicht die Kunst, der „Kampf ums Dasein“ gilt der
deutschen Philosophie nun als Medium der Erziehung des Menschengeschlechtes. 24 Der Vater
der Geopolitik: Friedrich Ratzel generalisiert Freytags Vision von Finks expansionistischen,
aggressiv-gesunden Nachkommenschaften nur, wenn er schreibt: „Tief liegt es in den
Gesetzen des Staaten- und Völkerwachstums begründet, daß auf die Stammes- und
Nationalitätenfragen die großen Rassenfragen folgen; denn mit den Räumen müssen die
Gegensätze wachsen, die in ihnen wohnen.“25 In ihrem „Streben nach Ausbreitung der
Völker- und Staatsgebiete“, stoßen die Rassen notwendig aufeinander, da der Lebensraum
begrenzt ist (S. 242) und die Ressourcen der Welt leider sehr ungleich verteilt sind (S. 148).
Nur eine im Kampf ums Dasein überlegende Spezies wird sich „über das Land verbreiten
[als] ein Geschlecht von Kolonisten und Eroberern“.
Und der Kaufmann Anton? Er reist in die Hauptstadt zurück, nimmt den Kampf gegen
Itzig auf und gewinnt die Papiere, an denen das „Ehrenwort“ (S. 616) des Barons hängt,
zurück. Itzig ermordet den Mittäter Hippus und stirbt selbst, von Gespenstern getrieben.
Ehrenthal ist wahnsinnig geworden. Die Drahtzieher der jüdisch-juristischen Verschwörung
gegen das Landgut der Rothsattel sind „verflucht“ (S. 684) oder tot (S. 687). Anton braucht
jetzt nur noch Sabine zu heiraten und Kompagnon von T.O. Schröter zu werden (S. 698ff).
Das Hauptbuch der Firma wird geschlossen und ein neues angelegt. Damit endet der Roman.
22
Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten (1859), Stuttgart 1860, 6. Auflage 1884, S. 32. Darwin greift
auf ältere Autoren zurück: „Ich glaube, es lässt sich nachweisen, dass eine derartige niemals irrende Kraft in der
Natürlichen Zuchtwahl (dies ist der Titel meines Buches) thätig ist, welche ausschliesslich zum Besten eines
jeden organischen Wesens auswählt. Der ältere DE CANDOLLE, W. HERBERT und LYELL haben
ausgezeichnet über den Kampf um's Dasein geschrieben; aber selbst diese haben sich nicht eindringlich genug
ausgedrückt. Man überlege sich nur, dass ein jedes Wesen (selbst der Elefant) in einem solchen Verhältnisse sich
vermehrt, dass in wenigen Jahren, oder höchstens in einigen wenigen Jahrhunderten die Oberfläche der Erde
nicht im Stande wäre, die Nachkommen eines Paares zu fassen. Ich habe gefunden, dass es sehr schwer ist,
beständig im Auge zu behalten, dass die Zunahme einer jeden Species während irgend eines Theiles ihres
Lebens oder während einiger kurz aufeinanderfolgender Generationen gehemmt wird. Nur einige wenige von
den jährlich geborenen Individuen können leben bleiben, um ihre Art fortzupflanzen. Welcher unbedeutende
Unterschied muss da oft bestimmen, welche leben bleiben und welche untergehen sollen!“ (Darwin: Über die
Entstehung der Arten, S. 33.) Die Entscheidung fällt dann im „Kampf“ eines Organismus gegen den anderen um
Lebensraum und Fortpflanzungschancen.
23 Ernst Haeckel: Die Welträtsel (Bonn 1899), Leipzig 1911, S. 161.
24 Haeckel: Die Welträtsel, S. 309.
25 Friedrich Ratzel, Völkermacht und Erdenschicksal, S. 242.
19
1862 folgt die Fortsetzung von Reinhold Solger, der den Sohn Antons und Sabines in das
Amerika der 1860er Jahre schickt, um Finks amerikanische Erlebnisse zu wiederholen.26
Fluchtlinien deutscher Geopolitik: Bronnen und Grimm
Ich möchte zumindest kurz andeuten, wie die von Freytag angelegten Linien in der deutschen
Literatur weiterverlaufen. Der Gegensatz zwischen Staat und Kapital, zwischen Imperium und
Empire verwandelt sich nach dem ersten Weltkrieg in die Differenz von Internationalismus
und Raumordnung, von Weltverkehr und geschlossenem Handelsstaat. Diese überall, in
Literatur, Politik und Kulturwissenschaften nachweisbaren Gegensätze folgen wiederum der
geradezu ubiquitären Differenz von „Land und Meer“ an, oder, wenn man konkreter werden
möchte, von Deutschland und England. Das von Freytag beschriebene Geschlecht der
Eroberer und Kolonisten findet inzwischen in Europa keinen Raum mehr, bei Hans Grimm
wird es zum „Volk ohne Raum“ (1926), das seine Arbeitssoldaten daher nach Übersee
schicken muß, in die deutschen Kolonien. Nach dem verlorenen Weltkrieg bricht der Konflikt
der deutschen Städte auf polnischem Boden wieder aus, Arnolt Bronnen beschreibt in „O.S.“
(Berlin 1929) ganz in der Tradition Freytags den Kampf um Oberschlesien.
„O.S.“, 1921: Wieder liegt das „Deutsche Dorf“ „vereinsamt“, „hinausragend über seine
polnische Umgebung“, die „Vagabunden“ hervorbringt, die sich für diesen Unterschied
„rächen“ wollen (S. 108). Die polnischen Insurgenten überfluten das ganze Land von der
Oder bis zur tschechischen Grenze. „Im ganzen Land stiegen, emporgepreßt von den Kräften
der Hölle, die Grundwässer empor. Aus einer trüben Flut ragten einsam, bedroht, langsam
versinkend, nur noch die deutschen Städte hervor.“ (S. 120) Die wenigen deutschen Landjäger
und Polizisten, die das Reichsgebiet zu verteidigen suchen, werden von einer „höhnenden
Menge“ polnischer „Insurgenten“ geradezu „bestialisch“, auf „viehische Weise“
abgeschlachtet (S. 132). Nur ein „kleiner Trupp“ verteidigt entschlossen die Stadt Beuthen
gegen die polnische Übermacht (S. 283). Die Kräfteverhältnisse, die Semantisierung der
Gegensätze: deutsche Helden gegen polnische Massen, Ordnung gegen Flut – alles erinnert an
die Verteidigung des Landguts und die Rückeroberung Rosmins. Anders als bei Freytag, wo
in letzter Minute preußische Husaren die Belagerten entsetzten, setzt 1921 „das Reich“ der
„polnischen Aktion“ nichts entgegen. Das Reich ergab sich in sein „Schicksal“: die
„Teilung“, eine bislang polnische Spezialität. Das Gebiet, was abgetrennt werden sollte, war
ein Dreieck, dessen „Ecken etwa Mährisch Ostrau, Tarnowitz und Krakau sind.“ (S. 384) Zur
Erinnerung: Anton Wohlfahrt stammt aus Ostrau, rettet die Güter der Handlung Schröter in
Krakau und verteidigt mit Fink das Landgut der Rothsattel, das in unmittelbarer
Nachbarschaft von Tarow liegt. Alles Land, jenseits der „alten Reichs Grenze“, welche in
„Soll und Haben“ vom Militär geschlossen wurde, also all das Land, das Anton auf ewig zum
26
Reinhold Solger, Anton in Amerika (1862).
20
neuen Deutschland zählt und Fink aus wüstem Land in deutschen Boden transformiert, soll
nun verloren gehen (S. 385).
In gewisser Weise ist „O.S.“ ein Erziehungsroman. Er beginnt mit Krenek, den wir uns so
vorstellen sollen, „wie er wirklich war, BEWAG Monteur, 1.81, 70 kg, 19 J., 4 Papiermark
die Stunde wert, segelnd im blauen Überzug und wohnhaft im Norden“ (S. 3). Bronnen gibt
nicht mehr als einen Steckbrief, denn es geht ihm weniger um die Charakterisierung von
Individuen, sondern die Handlung von Typen. Ort und Zeit der Handlung sind ebenso präzise
wie äußerlich gegeben: „Es war Punkt elf Uhr, 29. April 1921, Linden Ecken Charlotten in
Berlin“. (S. 3) Neusachlich, knapp, voller Abkürzungen, Daten, Fakten führt der Roman den
Monteur nach Oberschlesien, das nach dem Willen Frankreichs polnisch werden soll wie das
Ruhrgebiet französisch, um dem Reich Herz und Lunge herauszuschneiden.
Selbstverständlich werden die Polen wiederum nur „Insurgenten“ genannt (S. 101). Kernek,
im oberschlesischen Beuthen geboren, lernt, daß „Heimat“ mehr als eine „Phrase“ ist (S. 81),
er lernt, daß nicht der Klassenunterschied die entscheidende Frage ist, sondern Volk und
Reich. Am Ende des Romans ist er „Selbstschützler“ (S. 387) und hält Standrecht über den
KP-Funktionär Scholz (S. 390f), der Bergerhoff, den „Großkomtur des Jungdeutschen
Ordens“ (S. 16) an die Polen verraten hatte. Das Kreuz des altdeutschen Ordens schmückte
bekanntlich den Rock des Baron Rothsattel. Am 30. April, einen Tag nach der Abreise aus
Berlin, liest Kernek noch die „Rote Fahne“ (S. 48) und gibt sich pazifistisch (S. 49), am 2.
Mai gilt der ehemalige Rotfront-Kämpfer bereits als „Stahlhelmer“ (S. 154). Ausgerechnet
nach einem Vortrag eines „K.P.“-Funktionärs zerreißt Kernek die „Parteiprogramme“ und
„fühlte das Land. Er kam, losgelöst von der kollektiven Maschinerie der mühsam gezähmten
Blutlinien des zum Himmel strebenden Bodens.27 Er lief von den Umwegen ein in die
Direktheit. Vor sich sah er, zum ersten Mal, die Idee.“ (S. 93) Die Idee, die der Maschinist
zum ersten Mal sieht und fühlt, ist dieselbe, die die Schwarze Reichswehr mobilisiert (S. 103)
und zahllose Freikorps und Paras wie durch einen unsichtbaren „Marschbefehl“ bewegt. „In
der Tiefe“ dieser Hunderttausenden „vibrierte, wie in ungeheuren Dampfkesseln, die zum
Platzen gespannte, von der Oberfläche verbannte Energie der Nation. lauernd auf den Ruf der
verborgenen Männer, die des Reiches Schicksal in sich fühlten.“ (S. 103) Arbeiter und
Frontkämpfer, adelige Offiziere und Beamte stellen sich gemeinsam gegen die polnische
Erhebung. Der gemeinsame Feind eint. Da die Reichswehr nicht eingesetzt wird und die
Reichsregierung sich auf die Entsendung empörter Telegramme beschränkt, sickert eine
geheime Armee in die Ostgebiete ein, um sich der Revolution entgegenzustellen. Bald wehen
keine polnischen Farben, sondern die Totenkopf- und Hakenkreuzfahnen der Freikorps über
Oberschlesien (S. 267). Die illegale Armee aus Deutschen aller neuen Nachkriegsländer wird
von keinem anderen geleitet als vom „Geist der Nation“ (S. 306). Die Selbstschutzgruppen,
die sich freiwillig den polnischen regulären Einheiten entgegenstellen, die im Frieden „die
Grenzen des Deutschen Reiches überschritten“ hatten und „Städte und Dörfer“ eines
27
Mit diesem Gefühl beginnt bei Grimm die Geschichte des Cornelius Friebott. Vom Sozialismus zum
völkischen Nationalismus findet auch er.
21
benachbarten Landes besetzten (S. 293), schritten „durch die ewigen, unzerstörbaren Paläste
des Reiches“, „erfüllt von ihrem Volke, das durch kein Wort, kein Bild, das durch den Boden
selber in sie drang.“ (S. 294) Gustav Freytags Arbeitssoldaten haben sich die slawische
Sahara so intensiv angeeignet, daß der Boden selbst weiß, daß er zum deutschen Volk gehört.
In den „Eichenwäldern“ Oberschlesiens fühlen die Freikorps „die große Harmonie von
Landschaft und Nation“ (S. 293). Bronnen fährt hier ein, was Kleist und Freytag gesäht
haben. Die in deutscher „Arbeit“ errichtete „Herrschaft“ über das „Land“, um Antons Worte
zu benutzen (S. 522), hat eine Beziehung zwischen Raum und Volk geschaffen, die nun selbst
gegen die eigene Regierung, gegen den neuen deutschen Staat verteidigt werden muß. Die
Nation wird nun wieder durch und durch geopolitisch konstituiert, als Vektor von Blut und
Boden, Volk und Raum, gerade weil die Grenzen des neuen deutschen Staates enger sind als
der Siedlungsraum – oder sagen wir doch gleich: Lebensraum – des deutschen Volkes. Bei
Bronnen bekommt das alte Thema Freytags eine deutliche regierungskritische,
staatsfeindliche Wendung (S. 353f). Der Staatsregierung wird abgesprochen, das Volk zu
repräsentieren, das sie „verrät“ (S. 353, 363). Das nationalsozialistische Konzept der
„Bewegung“ deutet sich hier schon an. Man richtet bereits „Feme Gerichte“ ein (S. 364), um
an den Feinden des Volkes ein am Maßstab der Gesinnung orientiertes Standrecht zu üben.
Das sogenannte „Volk“ ist in Arnolt Bronnes Roman zu einer veritablen Kriegsmaschine
geworden, die sich dem ordnenden und disziplinierenden Zugriff des Staatsapparates entzieht.
In „O.S.“ kämpft keine Armee, sondern, wie schon in Kleists „Hermannsschlacht“, der
Partisan.
Internationalismus gegen völkische Großraumordnung
England gegen Deutschland
Welthandel und Verbindungswege gegen Raumnahme und Großraumwirtschaft
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