Vorlesung Geopolitik 4 (Gustav Freytag II) Der deutsche Kaufmann in der Wüste: Amerika und Polen Darf man nun Grundbesitz und Landwirtschaft gegen Geldwirtschaft und Industrialisierung, Rothsattel gegen Ehrenthal setzen? Ja, man muß es sogar, nur ist mit dieser Opposition Gustav Freytags epischer Roman nicht erschöpfend beschrieben. Die Welt, die er entwirft, ist viel komplexer. Sie ist auch nicht auf anti-semitische Ressentiments zu reduzieren, die ich freilich im letzten Abschnitt besonders pointiert habe, um die verhängnisvolle Verschmelzung des angelsächsischen cants, des „Betrugs in der Maske des Rechts“, und des pragmatischen Kapitalismus mit dem Judentum vorzuführen. Veitel und Ehrenthal haben sich jedenfalls als entschiedene Agenten der Deterritorialisierung erwiesen, sie betreiben die Aufhebung der alten Verbindung von Recht und Raum in Gestalt des Familiengutes der Rothsattel. Ich werde nun Rothsattel und seine Finanziers verlassen und den Schwerpunkt auf die Protagonisten der Handlung T. O. Schröter legen: also auf Schröter, Anton Wohlfahrt und Friedrich von Fink, deren Weltsicht keinesfalls auf die zuvor akzentuierte Unterscheidung ehrenvollen Adels von ehrenrührigem Plutokratentum einzuschrumpfen ist. Man wird vielmehr sehen, daß einige Motive ihres Handelns sie gleichfalls zu Protagonisten der Deterritorialisierung machen, deren produktive Elemente die Kaufleute nicht übersehen. Wäre ganz Deutschland verjunkert wie Ostelbien, es gäbe weder Welthandel noch Fortschritt, weder Gewinn noch Strukturwandel. Es wäre also eine sehr ungenaue Lektüre, welche die gleichsam „zersetzende“ Bewegung der Deterritorialisierung als jüdisch ausgäbe und den deutschen Vertretern der Handlung die Wiedererrichtung von Ordnung und Ortung zuwiese. Land und Meer stehen, wie Friedrich Balke gezeigt hat, nicht in einem Verhältnis des Gegensatzes, sondern einem der „Dialektik“.1 Im Glossarium spricht Schmitt von einer „Hochzeitsnacht der Gegensätze“ (S. 157).2 Deleuze und Guattari sprechen von einem „Interaktionsfeld“ der „Koexistenz und Konkurrenz“ (S. 494). Der Unterschied von jüdisch und deutsch ist folglich keineswegs eins mit der Differenz von Deterritorialisierung und Reterritorialisierung. Man muß weiter differenzieren: Meine Vermutung ist, daß die deutschen Händler politisch für „Kerbung“ sind, ökonomisch aber für Mobilisierung,3 also in gewisser Weise zugleich für das Empire und den Staat eintreten, als Kapitalisten wollen sie das Empire, als Bürger lieben sie den Staat. Güter und Kapitalien sollen zirkulieren, während der Kaufmann Anton genoß, „wie fest sein Leben in den Mauern des großen Hauses Wurzeln geschlagen hatte.“ (S. 354) Das Netz des Welthandels hat ein sicher verankertes Zentrum, ähnlich wird später Fink Ordnung 1 2 3 Balke, Der Staat nach seinem Ende, S. 342. Vgl. Balke S. 350f. Das macht sie zu Kritikern des adeligen arbeitslosen Einkommens (Rothsattel) wie des unproduktiven, gehorteten Geldes (Sturms Schatztruhe). nach Polen bringen und auf das Schloß der Rothsattel zentrieren (S. 548), wo auf unsicherem Boden quasi ein Staat errichtet wird, der für die innere Sicherheit sorgt und nach Außen verhandelt und sogar Krieg führt. Der Staat als klassischer Souverän soll für Ruhe, Sicherheit und Ordnung sorgen, für Rechtssicherheit und die Heiligkeit der Verträge,4 doch darf aus Sicht der Händler zugleich keine Grenze, kein politisches Programm, keine Art von Kerbung des Raums dem Handel im Wege stehen. Freytags Händler entsprechen in gewisser Hinsicht den „Nomaden“ Deleuzes und Guattaris, denn sie eignen sich den Raum nicht an, sondern interessieren sich nur „für die Verkehrswege und deren Sicherheit“. 5 Der Nomade, heißt es in den Tausend Plateaus, verkehrt zwischen „Relaistationen“ (S. 523), eine Kerbung des Raums, wie es die „Hauptaufgabe des Staates“ ist (S. 531), ist dazu nicht nötig. Im Gegenteil: Heute seien es die „mulinationalen Konzerne“, die eine „Art von deterritorialisiertem glattem Raum“ erzeugen, „in dem die Besetzungspunkte und Austauschpunkte völlig unabhängig von den klassischen Wegen der Einkerbung werden“ (S. 681). Dies mag so sein, doch wird man zu ergänzen haben, daß diese „Besetzungspunkte“ oder Relais bestimmten Anforderungen zu entsprechen haben, denselben, wie die Mega-Cities der Globalisierung, die allesamt Eigenschaften des Staatsapparates sind (vgl. 532f). Jedes Relais des nomadischen Kapitals setzt mithin Energien der Territorialisierung und Kerbung frei. „Die Tendenz den Weltmarkt zu schaffen, ist unmittelbar im Begriff des Kapitals selbst gegeben“, schreibt Marx 1857 in den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“ (Berlin 1953, S. 311). Die Händler wollen sozusagen als deutsche Staatsbürger die Wacht am Rhein und an der Neiße, aber als Kapitalisten ungehemmten Fluß der Waren- und Geldströme über alle Grenzen hinaus. 1855, während die imperialistischen Nationalstaaten der Jahrhundertmitte, vor allem England und Frankreich, in den schier unendlichen Expansionsräumen Asiens, Australiens und Afrikas neue Grenzen ziehen und Schranken errichten,6 dringt das Kapital in einer Gegenbewegung auf die Verwandlung der ganzen Welt in einen buchstäblich grenzenlosen Investitions- und Handelsraum. Staat und Kapital verfolgen also durchaus unterschiedliche, synchronisierungsbedürftige Interessen. „Der Imperialismus schafft so für das Kapital eine Zwangsjacke“, meinen Hardt und Negri, es seien nämlich „die durch die imperialistische Politik geschaffenen Grenzen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt die kapitalistische Entwicklung und die volle Entfaltung des Weltmarkts blockieren. Das Kapital mußte schließlich den Imperialismus überwinden und die Schranken [...] zerstören.“ (S. 246) Bei der weiteren Lektüre von Soll und Haben, dieser großen Bilanz des 19. Jahrhunderts, werden wir also auf den Unterschied zwischen den Akteuren des Nationalstaats und den Protagonisten des Weltmarkts zu achten haben, zumal sie oft Händler oder Weltmann und Patriot zugleich sind wie Wohlfahrt und Fink. 4 Vgl. Niels Werber, Vor dem Vertrag. Probleme des Performanzbegriffs aus systemtheoretischer Sicht, in: Uwe Wirth (Hrsg.), Theorien der Performanz, Frankfurt/Main 2002, S. 366-382. 5 Balke, S. 369, Deleute / Guattari S. 522f. 6 Auch dies ist ambivalent, denn nicht nur die Räume müssen gesichert werden, sondern zuallererst die Wege dorthin. Vgl. Balke 369. 2 Das dritte Buch des Romans setzt ein mit der „Revolution in Polen“ und ihren Konsequenzen für Handel und Staat: „Ein böses Jahr kam über das Land, ein plötzlicher Kriegslärm alarmierte die deutschen Grenzländer im Osten, darunter auch unsere Provinz. Die furchtbaren Folgen eines heftigen Landschreckens wurden schnell fühlbar. Der Verkehr stockte, die Werte der Güter und Waren fielen, jeder suchte das Seine zu retten und an sich zu ziehen, viele Kapitalien wurden gekündigt, große Summen, welche in kaufmännischen Unternehmungen angelegt waren, kamen in Gefahr. Niemand hatte Lust zu neuer Tätigkeit, Hunderte von Bändern wurden zerschnitten, welche die Menschen zu gegenseitigem Nutzen durch lange Zeit verbunden hatten. Jede einzelne Existenz wurde unsicherer, isolierter, ärmer.“ (S. 265) Die unsichtbaren Fäden des Welthandels sind zerschnitten, das Netzwerk, das „jeden einzelnen [...] mit der ganzen Welt“ verbindet, ist zerrissen. Der Einzelne ist nun isoliert. Das Kapital gerät „in Gefahr“, die ungeheuren finanziellen Risiken des Welthandels, die von ökonomisch nicht zu kontrollierenden politischen Umständen abhängen, werden offensichtlich. Der Kaufmann Schröter erlebt diese politische Beeinträchtigung seines Geschäfts vollkommen unpolitisch als Störung der Ökonomie. Nicht die Desorganisation staatlicher Territorien beunruhigt ihn, sondern die Gefährdung der nomadischen Relaisstationen des Welthandels. „Bei Gott, solche kriegerische Krämpfe sind für den Verkehr ohnedies unbequem genug, sie lähmen jede nützliche Tätigkeit des Menschen, und doch ist’s diese allein, welche ihn davor bewahrt, ein Tier zu werden. Wenn aber ein Geschäftsmann sich noch mehr stören läßt, als nötig ist, so begeht er ein Unrecht gegen die Zivilisation, ein Unrecht, das gar nicht wiedergutzumachen ist.“ (S. 281) Die Zivilisation lebt nur im und durch den Handel, der Krieg hemmt den Verkehr, daher ist er lästig und unbequem. Schröter ist kein Hegelianer, Fortschritt denkt er sich ganz friedlich techno-ökonomisch, nicht kulturell-kriegerisch. Die entstehenden Verluste werden aber vielleicht (eine These des Herrn Specht) kompensiert werden durch künftige Geschäfte, denn „bei jeder Insurrektion würden ungeheure Kolonialwaren verbraucht, die Firma werde ein glänzendes Geschäft [...] nach der Grenze machen“ (S. 269) Politisch gesehen, treiben jedoch die deutschen Höfe, Dörfer und Städte im Meer der Revolution wie Schiffbrüchige. Die „Insurgenten“ haben sich bewaffnet und ein „Polenreich“ ausgerufen. Wir schreiben das Jahr 1846. „Warensendungen“ und Depots werden geplündert, Relais und Verbindungswege sind in Gefahr, das Netzwerk des Welthandels funktioniert offenbar doch nicht ganz ohne Ruhe, Sicherheit und Ordnung, der Händler braucht den Soldaten. „In unserem Staat wurden schleunigst Truppen zusammengezogen und nach der Grenze geschickt, dieselbe militärisch zu besetzen. Unaufhörlich führten die Dampfwagen der neuerbauten Eisenbahn Soldaten ab und zu, überall rasselte die Trommel; die Straßen der Hauptstadt füllten sich mit Uniformen.“ (S. 265) Aber nicht nur der Staat und sein Militär reagieren. Die Handlung Schröter hat zwei „Karawanen“ mit bereits bezahlten Waren im Wert von einigen 10.000 Talern „in Feindesland“ (S. 266f). Schröter persönlich begibt sich mit Anton an die Grenzen, um die Waren zu sichern. Die „Hauptmacht des Geschäfts“ zieht mit gehißter „Kriegsfahne“ in den 3 Kampf (S. 270), Seite an Seite mit der Armee, so scheint es, denn mit im Zug sitzen die „Soldaten“ (S. 272).7 Wohlfahrt hat sich eigens mit Pistolen bewaffnet, man hält ihn sogar für einen Offizier, weil er so schneidig aussieht (S. 286), aber der Prinzipal nimmt ihm seine Waffen ab und entlädt sie (S. 272f). Er erläutert Anton den Unterschied zwischen seines ökonomischen Kampfes und der militärischen Expedition Preußens: »Es ist besser, wir beschränken uns auf die Waffen, die wir zu gebrauchen gewöhnt sind«, bemerkte er gutmütig, indem er Anton die Pistolen zurückgab, »wir sind Männer des Friedens und wollen nur unser Eigentum zurückhaben. Wenn wir es nicht dadurch erhalten, daß wir andere von unserem Recht überzeugen, so ist keine Aussicht dazu. Es wird dort drüben viel Pulver unnütz verschossen werden, alles Ausgaben, welche nichts einbringen, und Kosten, welche Land und Menschen ruinieren.« (S. 273) Schröter will zwar durchaus „Waffen“ benutzen, aber eben nicht Pistolen, sondern andere Mittel. Der gegen Ende des Jahrhunderts gängige ideologische Unterschied zwischen den Typen des Händlers und des Soldaten (Werner Sombart) bahnt sich hier an. Direkt hinter der Grenze, auf russischer bzw. polnischer Seite, erspähen Schröter und Wohlfahrt einen riesigen Frachtwagen der Handlung. Sie erhalten vom preußischen Militär Erlaubnis, die Grenze zu passieren. Das Militär selbst unternimmt nichts, um das Eigentum zu sichern (S. 275). Nicht einmal Eskorte erhalten die beiden, aber Schröter meint, es sei „besser so“, denn „wir wollen als friedliche Leute unsere Waren wiederholen und fürchten die Herren dort nicht, wollen sie aber auch nicht reizen. Haben Sie die Güte, Herr Wohlfart, Ihre Pistolen zurückzulassen, wir müssen den Bewaffneten zeigen, daß uns der Kriegsapparat nichts angeht.“ (S. 276) Dem „Heer“ gehen die Waren nichts an (S. 275), umgekehrt interessiert der Kaufherr sich nicht für den „Kriegsapparat“ (S. 276). Unbewaffnet, ostentativ Zigarre rauchend, beginnen die beiden Kaufmänner ihren „Einmarsch in das feindliche Gebiet“ (S. 276). Den „Wilden“ (S. 276), die sie beim Wagen treffen, bietet der Prinzipal „Biergeld“ an, worauf sie ihm willfährig die „Karawane“ überlassen (S. 277), die dann ohne Zwischenfall die Grenze erreicht. Nach dem die preußische Armee ein „kriegerisches Zeremoniell“ der Parolen und Kontrollen aufgeführt hat, wird die Grenze auch passiert (S. 278). „Staat bedeutet Souveränität. Aber die Souveränität herrscht nur über das, was sie verinnerlichen, sich räumlich aneignen kann.“8 Der Staat errichtet Grenzregimes. Der kommandierende Offizier der Einheit erklärt, ihm sei die „Absperrung des empörten Landes als der nächste Zweck unserer Aufstellung angegeben“ (S. 280). Den Großteil seiner Waren vermutet Schröter aber hinter der geschlossenen Grenze, in der „insurgierten Hauptstadt“ (S. 280). Er will also dorthin reisen, um seine Investitionen zu schützen, doch der Rittmeister will ihm nicht gestatten, „die Grenze zu passieren“ (S. 280). Die Szene ist eine umfassende Allegorie des Verhältnisses von Nationalstaat und Empire, von klassischer Souveränität und Kapital, wie Hardt und Negri es beschreiben.9 Der Welthandel braucht als seine 7 Schröter als Kriegsmaschine und die Truppen als Armee eines Staates. Vgl. Deleuze / Guattari, Tausend Plateaus, S. 492. 8 Deleuze / Guattari, Tausend Plateaus, S. 494. 9 Die also literarische Muster ausschreiben? Vgl. auch Balke, S. 369. 4 Voraussetzung den Staat als Garanten für Ruhe, Sicherheit und Ordnung, als Hüter der Verträge und des Eigentums, doch bringt der Kapitalist zugleich den Staat, der dies nur auf seinem Territorium vermag, in Verlegenheit, da er die Grenzen dieses Territoriums nicht respektieren will, weil aller Handel Welthandel sein will, es einen „universellen Staat“ aber nicht gibt.10 Staat oder Empire Es ist kein Wunder, daß ausgerechnet Fichte, den wir in der ersten Vorlesung schon als Geopolitiker eines deutschen oder germanischen Reiches kennengelernt haben, versucht hat, diesen Widerstreit zwischen Politik und Ökonomie aufzuheben in einem Gebilde, das er den „Geschlossenen Handelsstaat“ (Tübingen 1800, S. 2) genannt hat. Ich gebe Ihnen hier seine Kurzdefinition: „Den juridischen Staat bildet eine geschlossene Menge von Menschen, die unter denselben Gesetzen und derselben höchsten zwingenden Gewalt stehen. Diese Menge von Menschen soll nun auf gegenseitigen Handel und Gewerbe unter und für einander eingeschränkt, und jeder; der nicht unter der gleichen Gesetzgebung und zwingenden Gewalt steht, vom Antheil an jenem Verkehr ausgeschlossen werden, sie würde dann einen Handelsstaat, und zwar einen geschlossenen Handelsstaat bilden, wie sie jetzt einen geschlossenen juridischen Staat bildet.“ Fichtes Vorschlag läuft auf eine völlige Isolierung hinaus. Alles, was konsumiert wird, soll auch im Land produziert werden. Es gibt nur Binnenhandel. Alle, die nicht Staatsbürger sind, werden aus allen Verkehrsverhältnissen ausgeschlossen. Deutschland als geschlossener Handelsstaat wäre eine Inklusionszone mit striktestem Grenzregime. Reich und Empire wären deckungsgleich und hätten dasselbe Innen und Außen. Friedrich Naumann greift in seinem Entwurf eines deutschen „Mitteleuropas“ 1915 diesen Gedanken auf. Das von England von allem „Auslandsverkehr“ abgeschnittene Reich realisiere soeben, mitten im Krieg, den „Geschlossenen Handelsstaat“, den „kühnen Traum des deutschen Philosophen Fichte, der durch Schicksal und Volksanlage bei uns im Kriege sich verwirklichte.“ (S. 135) Mitteleuropa werde nolens volens ohne Weltverkehr existieren, als Großraumordnung und Großraumwirtschaft zugleich. Der Raum muß freilich groß genug sein, um alle nötigen Ressourcen zu enthalten, und schon bei Naumann ist nicht zu übersehn, daß das deutsche Mitteleuropa weitaus größer sein wird als das Deutsche Reich, plus Österreich-Ungarn, groß genug, um die eine oder andere Ölquelle in Osteuropa noch mit einzuschließen. Fichte freilich hatte für die Schließung des Handelsstaates „den Besitz des rohen Stoffes vorausgesetzt“, den man zur Produktion der nötigen Güter braucht (Der geschlossene Handelsstaat, S. 143), damit ist seinem Konzept der Auftrag eingeschrieben, vor dieser Schließung erst einmal dafür zu sorgen, daß alle nötigen Rohstoffe innerhalb der Grenzen zu finden sind, damit sie dann vorausgesetzt werden können – die Alternative wäre unproduktive Stagnation, kristallisiertes 10 Deleuze / Guattari, Tausend Plateaus, S. 494. 5 Rechnen mit den Beständen, Posthistoire. Es ist gar kein Wunder, daß der große Kenner des deutschen Idealismus und bekennende Faschist Alfred Bäumler Fichte 1938 einen „imperialen Denker“ genannt hat.11 Das nationalsozialistische Programm der Großraumwirtschaft, genannt „Neue Ordnung“,12 läßt sich über die Mitteleuropa-Idee des Liberalen Naumann bis zum Handelsstaat Fichtes zurückführen. Die optimale Ausdehnung des geschlossenen Handelsstaates ist selbstredend eine globale. In der Globalisierung der Weltherrschaft kämen Empire und Imperium zur Deckung. An der Schwierigkeit, Empire und Imperium zur Deckung zu bringen, laborieren heute die USA. Man könnte vom Paradox des Staates sprechen, denn als „juristischer Staat“ wird er immer seine Grenzen sichern und sein Inneres befrieden und kerben, während er als „Handelsstaat“ notwenig imperialistisch sein und seine eigenen Grenzen ständig aufheben und verschieben muß. Diese doppelte Bewegung hat vielleicht als erster José Ortega y Gasset in seinem wichtigen Essay über den „Aufstand der Massen“ (1929, Stuttgart 1947) beschrieben. Der Abschnitt, den ich zitiere, ist für Fragen der Geopolitik äußerst relevant: „Man lege zu irgendeiner Zeit einen Schnitt durch einen Staat, der in Wahrheit ein Staat ist [also England, Frankreich oder Deutschland und nicht neugeschaffene Kleinstaaten], und man wird die Einheit einer Lebensgemeinschaft finden, die auf diese oder jene materielle Eigenschaft gegründet zu sein scheint, von der die statische Interpretation sagen wird, eben sie schaffe den Staat, auf Blut, Sprache, »natürliche Grenzen«. Aber wir bemerken alsbald, daß diese Menschengruppe mit Gemeinschaftsangelegenheiten beschäftigt ist, fremde Völker erobert, Kolonien gründet, sich mit anderen Staaten verbündet; das heißt, daß sie das scheinbare Prinzip ihrer Einheit unausgesetzt zu überwinden trachtet. Es ist [...] der wahrhafte Staat, dessen Einheit gerade in der Überwindung jener gegebenen Einheit besteht. Wenn jener Trieb zur Weiterbildung nachläßt, geht es mit dem Staat zu Ende“ (S. 108) Der Staat erweitert unentwegt sein Territorium und begründet rückwirkend seine Einheit. Das Fundament eines Staates liege keineswegs in vorab gegebenen „statischen“ Größen wie Sprache, Blut, Boden oder Nationalität, vielmehr verdanke sich jeder moderne Staat gerade der „Überwindung der engen Bluts- und Sprachgemeinschaft“. Vor ein paar Jahrhunderten, so Ortega, gab es weder Frankreich oder Spanien noch Deutschland, sondern nur unzählige „kleinere Nationen“ mit differenter Sprache, eigener Kultur, zahllosen Streitgebieten und ihren eigenen „natürlichen Grenzen“ (S. 111). Die Entwicklungstendenz, die Ortega hier unterstellt, ist die eines „Triebs zur Weiterbildung“, und das heißt: eines Triebes unentwegter Expansion mit nachträglicher – sagen wir – Naturalisierung. Erst post hoc kann dann behauptet werden, daß Kastilien und Aragon eben schon immer spanisch waren oder Masuren und Tirol deutsch. Einst hatte aber Kastilien Krieg geführt, um nicht Aragon zu werden, oder die Hannoveraner, Sachsen und Schlesier, um nicht preußisch zu werden. Da Ortega 1929 einen europäischen Markt mit „fünf- bis sechshundert Millionen Menschen“ als nächstes Etappenziel dieses Trends zur expansiven „Weiterbildung“ im Auge hat (S. 99), könnte man dann eben sagen, Deutsche, Franzosen, Spanier und Engländer seien ja schon immer 11 12 Das Dritte Reich und seine Denker, Berlin 1959, S. 267. Vgl. Ralph Giordano, Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte. Die Pläne der Nazis nach dem Endsieg, Köln 2000, S. 226ff. 6 Europäer gewesen. „Rasse, Sprache, und Scholle“ (S. 112) standen schon dem Nationalstaat immer nur im Wege, der diese Differenzen überwinden mußte, um aus kleinsten politischen und ökonomischen Gebilden einen großen Territorialstaat zu formen. Heute stünden „Rasse, Sprache, und Scholle“ Europa im Wege. Man müsse als Historiker alle „Prinzipien biologischer und geographischer Art“ als „Triebkräfte“ der Geschichte verbannen, denn bislang sei noch jede Grenze oder Barriere von neuen Verkehrsmitteln und Techniken überwunden worden (S. 111). Autos, Eisenbahnen und Flugzeuge haben den sog. natürlichen Binnengrenzen Europas jeden Sinn geraubt – Carl Schmitt hat dasselbe Phänomen eine „Raumrevolution“ genannt und die Bildung von Großraumordnungen prognostiziert. In „Soll und Haben“, wo Telegraphen, Eisenbahnen und Dampfschiffe Hauptrollen im Weltverkehr spielen, kann Fink behaupten, es gebe keine große Entfernungen mehr auf Erden (S. 262). Er unterscheidet nur noch die alte von der neuen Welt, genau wie Ortega, der neben Europa nur noch Amerika gelten läßt. Leider sagt Ortega nicht explizit, welches denn das das Prinzip der Grenzüberwindung sein soll, aber es wird ohnehin sehr klar, wenn man sich an seine Vision eines europäischen Binnenmarktes erinnert, der den amerikanischen übertreffen würde. Es sind Ökonomie und Technik, die sich hier als grenzüberwindende Kräfte erweisen. Mit den Worten Hardts und Negris: Der Nationalstaat setzt Schranken, die das Kapital und die von ihm mobilisierte Technik auf dem Weg zum Weltmarkt und zu weiteren Profiten durchbricht (S. 248). Man denke als Beispiel nur an die unerhörte Expansion des Internets, an dessen Kontrolle bislang jeder Nationalstaat gescheitert ist. Ortega hat Nation, Boden, Blut und Sprache als „Geheimkräfte“ der Historiker verspottet, doch wollte er an der Macht dieses „Mythos“ nicht zweifeln (S. 111). Es handelt sich eben um starke Kräfte, gerade weil sie nur Mythen sind. Die Entwicklung der nächsten Jahre wird die Lebendigkeit und Tödlichkeit dieser Blut-undBoden-Mythen gleichermaßen erweisen. Ortegas Überlegungen aber übernehmen wir für unsere Lektüre die These, daß der Staat seine Einheit unentwegt untergräbt, indem er den expansiven Linien eines Handels folgt, dem alle Grenzen ein Hindernis sind und „Rasse, Sprache, und Scholle“ ad acta legen möchte. Als reterritorialisierende Gegenbewegung wirken nach wie vor Nation, Boden und Blut. „Kann Sie denn nichts bewegen, diese Reise zu unterlassen“, fragt der Rittmeister den Kaufherrn. »Nichts«, erwiderte der Kaufmann, »nichts als das Gesetz.« »Liegt Ihnen denn soviel an den Frachtwagen, daß Sie Ihr Leben dafür in die Schanze schlagen wollen?« frug der Rittmeister nicht ohne inneres Mißfallen. »Ja, Herr Rittmeister, ebensoviel, als Ihnen daran liegt, Ihre Pflicht zu tun; es hängt für mich mehr an dem Besitz dieser Frachtwagen, als ein geschäftlicher Vorteil. Ich muß hinüber, wenn mich nicht ein unbedingtes und unwiderrufliches Verbot der Staatsregierung daran hindert. Diesem würde ich mich zuletzt nicht entziehn, ich werde aber alles versuchen, für mich eine Ausnahme zu erwirken.« (S. 280f) Nicht nur Itzig und sein Berater Hippus interessieren sich für die Ausnahme – der ehrgeizige Händler und der größenwahnsinnige Jurist errichten eine vollständige Theorie der 7 Rechtslücken oder „Schlupfwinkel“ (S. 93) –, auch Schröter setzt auf den Ausnahmefall. Und die Ausnahme wird gemacht. Die Order, „die Grenze für jedermann zu verschließen“ (S. 280), so wie es sich für einen geschlossenen Handelsstaat gehörte, wird vom Handel überwunden, der Interessen außerhalb des Staates verfolgt. Der Rittmeister fügt allerdings hinzu, daß das Militär selbst „spätestens in drei Tagen in Feindesland“ einrücken werde (S. 281). Aber der Handel führt, der Staat folgt auf der Grundlage eines souveränen „Interventionsrechts“.13 Genau nach diesem Schema hatten in der Schilderung Postls die USA Texas genommen. Kurz hinter der Grenzen werden Anton und Schröter erst einmal von polnischem Landsturm festgenommen und in die Hauptstadt eskortiert. Man kann nicht einmal sagen, die beiden Kaufleute würden polnisches Territorium betreten, denn Polen ist von Deutschland aus gesehen Meer: Es ist eine „Gegend, wo der Sand unter den Beinen wegläuft wie Wasser [...]; dieses Land ist [...] nicht fest genug“. (S. 411) Für Anton ist Polen eine „Wüste“ (S. 411). Ob Wasser oder Wüste, Polen hat glatte Räume. Schon in unserer Melville-Vorlesung ist deutlich geworden, daß in diesen Räumen die Chancen wie die Risiken steigen. Wenn Sie die Implikationen dieser Metaphorik verfolgt haben, dann kann es Sie ebenfalls nicht überraschen, daß Polen auch ohne Revolution ohne „Ruhe, Sicherheit und Ordnung“ ist, denn dies ist glatten Räumen eigentümlich. Die „Polizei muß dort mangelhaft sein“ (S. 486), erfahren wir aus berufenem Händlermund über das polnische Gebiet. Tatsächlich ist sogar die „oberste Polizei“ von den niedrigsten Dieben kaum zu unterscheiden (S. 440f). Im Verlauf des Romans, werden die Polen den schönen Ehrentitel „Insurgent“ führen: Meuterer, Feinde der Ordnung, Empörer, Umstürzler, Plünderer, Diebe, kurz: eine „Kriegsmaschine“. Sie sind die Piraten der polnischen See – und das Gegenteil des Leviathan, den sie jagen und zerlegen. Die Polen treten daher beinahe immer in Massen auf, sie sind führerlose Masse oder nomadische „Meute“,14 rebellisch und anarchisch per se, so weit entfernt von der Bildung eines festen Staates wie sonst nur Herders Indianer und Hegels Amerikaner. „Die Masse“, schreibt Ortega, kam „zur Welt, um geführt, beeinflußt, vertreten, gegliedert zu werden – [...] um nicht länger Masse zu bleiben [...]. Aber es ist ihr nicht vergönnt, dies alles aus eigener Kraft zu tun.“ (S. 76) Die Masse braucht daher notwendig „höhere Instanzen“ und „Eliten“, die sie gliedert und formiert (S. 76). Dies ist in Gustav Freytags Polen nicht der Fall. Es gibt zwar eine privilegierte Oberschicht, doch hat sie keinerlei Einfluß auf das Volk außer den, es „es durch den Druck der rohen Masse“ auszusaugen (S. 273). Zwischen dem Adel und dem Krakusen steht nur die Peitsche, nicht irgendein politisch ausbaufähiges Verhältnis der Repräsentation. In Polen herrscht „Gewalt“, also im Grunde der Naturzustand, in dem der Stärkere dem Schwachen so lange befiehlt, bis die Machtverhältnisse sich ändern. Wenn Anton sich in Polen auf etwas beruft, was „stärker ist als die Gewalt, nämlich [...] unser Recht und Gesetz“, dann hält man ihm zunächst nur den „Lauf einer Doppelflinte“ entgegen (S. 434). Der Kriegszustand in Polen und Staatlichkeit 13 14 Vgl. Empire, S. 33. Deleuze / Guattari, Tausend Plateaus, S. 491. 8 schließen sich gegenseitig aus.15 Daß „Recht und Gesetz“ unabhängig von der Bewaffnung in Polen nicht respektiert werden, ist eine Lehre, die Anton in Polen schnell ziehen wird. Es herrscht das Recht des Stärkeren, also gar kein Recht, sondern die nackte Gewalt eines „Gesellschaftszustandes“, der „sich gegen den Staat richtet und ihn verhindern soll“.16 In Polen schwimmen die deutschen Güter und Dörfer im glatten Raum wie die Pequod oder die Leviathan auf den lawless seas. Es gibt in Polen keinen Staat, also auch keine Bürger, nur, mit Freytags Wort, „Banden“ (S. 277) und „Bandenführer“ (S. 278). Der Führer der polnischen Insurgenten wird vom Erzähler tatsächlich „Häuptling“ genannt (S. 288). „Häuptlinge“ führen die plündernde Kriegsmaschine der „Insurgenten“ an (S. 265). Es ist kein Zufall, daß sie keine Uniformen tragen, ihre Waffen verstecken und wie Partisanen kämpfen. Aus Sicht von Deleuze und Guattari sind all dies Indizien dafür, in den Polen eine nomadische Gruppierung oder eben „Bande“ zu sehen (S. 490f). Der „große Mensch“ Leviathan existiert hier nicht. Zwischen müßiggehenden „Edelleuten“ und „leibeigenen Bauern“ gibt es, da sind sich Schröter und Wohlfahrt einig, keinen „Bürgerstand“, und das heißt: „sie haben keine Kultur, fuhr der Kaufmann fort, es ist merkwürdig, wie unfähig sie sind, den Stand, welcher Zivilisation und Fortschritt darstellt und welcher einen Haufen zerstreuter Ackerbauer zu einem Staate erhebt, aus sich heraus zu schaffen.“ (S. 273) Genau wie die Amerikaner finden die Polen nicht aus der „Zerstreuung“ im Raum zu einem wirklichen „Staat“. Polen könne nicht den geringsten Anspruch machen, aus eigener Kraft einen „zivilisierten Staat“ zu bilden. Selbstverständlich nicht, denn die Polen sind in ihrer Wüste Nomaden oder Partisanen. Schröter dagegen führt diese zivilisatorische Insuffizienz umstandslos auf rassische Mängel zurück. Er behauptet: „Es gibt keine Rasse, welche so wenig das Zeug hat, vorwärtszukommen, und sich durch ihre Kapitalien Menschlichkeit und Bildung zu erwerben, als die slawische.“ (S. 273) Das Äußerste, wozu die Slawen fähig seien, sei die „halbe Barbarei der privilegierten Freien und der leibeigenen Arbeiter“ (S. 273). Der Barbar kennt weder Polis noch Polizei.17 Es gibt keine Bürger, also auch keinen Staat. Vor allem gibt es keinen Rechtsstaat, es gibt nur vergängliche Momente der Herrschaft durch persönliche Autorität, wie die eines polnischen Offiziers, der Schröter und Wohlfahrt in der Hauptstadt begleitet und unterstützt; und es gibt eine temporäre Beziehung von Gebot und Gehorsam durch Bestechung. „Wir bezahlen Euch gut“, verspricht Schröter (S. 291), es gebe „Biergeld“. – „Ich lasse Standrecht über euch halten“, droht der polnische, polyglotte Edelmann und Offizier seinen Landsleuten (S. 293). Die Polen werden durch das Zuckerbrot des Kaufherrn und die Peitsche des Offiziers dazu gebracht, Wagen, Ladungen, Pferde und Fuhrleute der Schröterschen Karawane zusammenzubringen, durch „eine Mischung von Drohungen und Versprechungen“ (S. 294). Die Frachtbriefe, Siegel und Markierungen, die die Eigentumsverhältnisse der Ladung ausweisen, spielen keine Rolle. Die „Hieroglyphen“ der „Herrschaft“ (S. 30) mögen im gekerbten Raum von Gewicht sein, in den 15 16 17 Vgl. Deleuze / Guattari, Tausend Plateaus, S. 490. Deleuze / Guattari, Tausend Plateaus, S. 490. Balke S. 292. 9 Freihäfen, Zollhäusern und Lagerhallen der norddeutschen Zollunion, aber nicht im glatten Raum der polnischen Wüste. Fink nennt Polen vollkommen konsequent eine „slawische Sahara“ (S. 526), eine Wüste. Zur Bedeutungshof des mittelhochdeutschen Wortes „wüeste“ gehören „Wildnis, Ödnis“, aber auch „Endlosigkeit“, ferner „Unsauberkeit“ und „Unsittlichkeit“, und als Verb „wüesten“ dann „ausplündern, ausrotten, jemandes Eigentum oder Land verwüsten, sich schädigen und verderben, ausplündern und brandschatzen“ (Lexer). Die „wüeste“ ist das Gegenteil von urbarem Land, der „wüestes“ Land urbar macht, bezieht „wüest-gelt“ als Abgabe. Wie Wüste ist unbegrenzter, kulturloser Raum, und wenn sie kommt, werden bestehende Raumordnungen verwüstet. Um die innere Sicherheit der slawischen Sahara ist es nun so bestellt, daß die deutschen Kaufleute für ihre Fuhren befestigte Höfe anlegen, exterritoriale Zonen eigenen Rechts oder Relais, die gewissermaßen Sakia Sassens große Mega-cities der globalisierten Ökonomie vorwegnehmen, die ebenfalls wie Staatsschiffe in einem Meer der Slums und Favelas schwimmen: Exklaven in einer Umwelt ohne Sicherheit und Ordnung. Diese gut befestigten und bewachten Mega-cities sind mit Airlines und Information super highways verbunden wie die Schutzburgen der deutschen Kaufleute im Osten durch Karawanen. Ein solcher Hof ist „ein Raum von mehreren Morgen Ausdehnung, wie sie häufig bei den Herbergen des östlichen Europas zu finden sind, welche an großen Verkehrsstraßen liegen und wie die Karawansereien des Morgenlandes bestimmt sind, großen Wagentransporten und einer schnell zusammenströmenden Menge [...] Schutz zu geben.“ (S. 294) Immer wieder werden die Handels- und Geleitzüge in den Osten Karawanen genannt, wie es sich für Expeditionen in den glatten Raum der wüsten Nomaden gehört. In Polen lauern entsprechend alle Gefahren der Deterritorialisierung und der nomadischen Kriegsmaschine, und man kann erwarten, daß hier entsprechende Strategien der Reterritorialisierung entgegengesetzt werden. Gustav Freytag hat ein vielbändiges populäres Geschichtswerk unter dem Titel „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ (2. Bd., Leipzig 1927) publiziert, in dem er der „Besiedelung des Ostens“ ein eigenes Kapitel widmet. Er, der Deutsche, habe die „endlose polnische Ebene“ (S. 117) wegbar gemacht durch Stadtgründungen nach deutschem Recht (S. 116). Über die „polnischen Städte“ schreibt Freytag – diesmal nicht als Romancier, sondern als Historiker, jedenfalls als Narrator eines grand récit –, daß sie mit „deutschen Städten“ nicht zu vergleichen seien: „Denn hinter dem Graben und dem Pfahlwerk war nicht zu finden eine freie Bürgerschaft, ein geordnetes Gemeinwesen, das fest in sich steht, das recht hat sich zu regieren und Besitztümer zu erwerben, seinen Bürgern Recht zu sprechen und gegen fremde Gewalt Recht zu schaffen; und nichts war von dem zu finden, was sonst einer deutschen Stadtgemeinde ziemt, daß sie ihre Bürger tüchtig, wohlhabend und stark mache und dadurch eine Heimat werde für umsichtige Tatkraft und Reichtum, für Sitte, Gelehrsamkeit und Künste.“ (S. 114) 10 Das Gemeinwesen oder die res publica, die Freytag hier als typisch deutsch entwirft, ist als polis oder Stadt in der Tat ein veritabler Staat, der im Inneren für Ruhe, Sicherheit und Ordnung sorgt, für Recht und Wohlfahrt, und nach Außen gegen Feinde Schutz bietet. All dies findet man in polnischen Städten nicht. Und was immer man dort dennoch Gutes finden mag an „Wissenschaft, Verkehrsrecht und Kriegführung, Kunst und Handwerk“, es mußte „aus deutschem Land zu den Slawen kommen.“ (S. 109) In „Soll und Haben“ lesen wir, daß die „deutschen Städte auf altem Slawengrund“ als „Knoten eines festen Netzes“ fungieren, „welches der Deutsche über den Slawen gelegt hat, kunstvolle Knoten, in denen zahllose Fäden zusammenlaufen, durch welchen die kleinen Arbeiter des Feldes verbunden werden mit andern Menschen“ (S. 490). Es ist ein Netz in glattem Raum. Wachtürme und Tore schützen die Stadt, der „Zöllner“ wie der „Wächter“ kontrollieren den Verkehr der Waren und Personen, sogar den polnischen Edelmann, den slawischen Bauern sowieso (S. 489). Die Deutschen beziehen „wüest-gelt“ von den „halben“ Barbaren der polnischen Umgebung. Die deutschen Städte verhalten sich zu ihrem agrarischen, slawischen Umland wie die Handlung Schröter zur Welt: als Zentrum eines Netzes. Es kann daher nicht verwundern, wie leicht es Anton fällt, die deutsche Expansion im Osten zu rechtfertigen – schließlich gäbe es ohne sie kein sicheren Relais, nur hochriskante Karawanen auf weiter Fahrt,18 permanent bedroht von Krakusen und Insurgenten. Als Wohlfahrt im Auftrag der insolventen Familie Rothsattel deren polnische Herrschaft verwaltet und gegen polnische Rebellen verteidigt, erklärt er seinem Freund Fink den Unterschied zwischen Deutschen und Slawen. Er spricht Klartext, ganz undiplomatisch: Es gehe um die Eroberung Polens, die er mit dem zivilisatorischen Auftrag der überlegenen Rasse rechtfertigt. The white mans burden, haben britische Imperialisten des 19. Jahrhundert die Eroberungen in Asien und Afrika genannt, die dazu dienten, die Wilden zu zivilisieren. Anton könnte ähnlich von der Last des Deutschen sprechen, den Osten zu kultivieren. Nun aber das Zitat in aller Ausführlichkeit: »Sieh«, fuhr Anton fort, »in einer wilden Stunde habe ich erkannt, wie sehr mein Herz an dem Lande hängt, dessen Bürger ich bin. Seit der Zeit weiß ich, weshalb ich in dieser Landschaft stehe. Um uns herum ist für den Augenblick alle gesetzliche Ordnung aufgelöst, ich trage Waffen zur Verteidigung meines Lebens, und wie ich hundert andere mitten in einem fremden Stamm. Welches Geschäft auch mich, den einzelnen, hierhergeführt hat, ich stehe jetzt hier als einer von den Eroberern, welche für freie Arbeit und menschliche Kultur einer schwächern Rasse die Herrschaft über diesen Boden abgenommen haben. Wir und die Slawen, es ist ein alter Kampf. Und mit Stolz empfinden wir, auf unserer Seite ist die Bildung, die Arbeitslust, der Kredit. Was die polnischen Gutsbesitzer hier in der Nähe geworden sind und es sind viel reiche und intelligente Männer darunter - jeder Taler, den sie ausgeben können, ist ihnen direkt oder indirekt durch deutsche Intelligenz erworben. Durch unsere Schafe sind ihre wilden Herden veredelt, wir bauen die Maschinen, wodurch sie ihre Spiritusfässer füllen; auf deutschem Kredit und deutschem Vertraun beruht die Geltung, welche ihre Pfandbriefe und ihre Güter bis jetzt gehabt haben. Selbst die Gewehre, mit denen sie uns jetzt zu töten suchen, sind in unsern Gewehrfabriken gemacht, oder durch unsere Firmen ihnen geliefert. Nicht durch eine ränkevolle Politik, sondern auf friedlichem Wege, durch unsere Arbeit, haben wir die wirkliche Herrschaft über dieses Land gewonnen. Und darum, wer als „Die Waren gingen nach dem Osten, wurden über die Grenze geschmuggelt und verbreiteten sich bis tief in das russische Reich, bis an die asiatische Grenze, wo zuletzt der strebsame Kirgise die Hemden und Schnürröcke aufträgt, welche vom deutschen Schneider genäht sind.“ 18 11 ein Mann aus dem Volk der Eroberer hier steht, der handelt feig, wenn er jetzt seinen Posten verläßt.« Es gibt keine Ordnung, sie muß erst hergestellt werden. Anton beschreibt eine Raumnahme, die in der Wildnis Ordnung und Ortung stiftet.19 Es geht jetzt, nachdem Anton ein Landgut verwaltet, um mehr als Karawansereien in der Wüste, es geht um Herrschaft über ein Territorium. Wir erinnern auch kurz an die These, daß das Kapital vorangeht und der Staat folgt, an die von Ortega formulierte Paradoxie des Staates. Mit friedlicher Durchdringung fängt es an, dann folgt die Eroberung, die die neuen Verhältnisse konsolidiert und das gewonnene wie geraubte Eigentum sichert. Rückblickend wird dann aus Polen Deutschland geworden sein, dank der „raumüberwindenden Mächte“ der Technologien und des Handels. »Du sprichst so stolz auf fremdem Grund«, erwiderte Fink, »und daheim bei euch bebt der eigne Boden.« »Wer hat diese Provinz zu Deutschland gebracht?« frug Anton die Hand ausstreckend. »Die Fürsten eures Geschlechts, ich leugne es nicht«, sagte Fink. »Und wer hat die große Landschaft erobert, in der ich geboren bin?« frug Anton weiter. »Einer, der ein Mann war.« »Ein trotziger Landwirt war’s«, rief Anton, »er und andere seines Geschlechts. Mit dem Schwert oder durch List, durch Vertrag oder mit Überfall, auf jede Weise haben sie den Boden an sich gezogen, in einer Zeit, wo im übrigen Deutschland fast alles tot und erbärmlich war. Als kühne Männer und gute Wirtschafter, die sie waren, haben sie ihren Boden verwaltet. Sie haben Gräben gezogen durch das Moor, haben Menschen hingepflanzt in leeres Gebiet und haben sich ein Geschlecht gezogen, hart, arbeitsam, begehrlich, wie sie selbst waren. Sie haben einen Staat gebildet aus verkommenen oder zertrümmerten Stämmen, sie haben mit großem Sinn ihr Haus als Mittelpunkt für viele Millionen gesetzt und haben aus dem Brei unzähliger nichtiger Souveränitäten eine lebendige Macht geschaffen.« »Das war«, sagte Fink, »das taten die Ahnen.« »Sie haben für sich gearbeitet, als sie uns schufen«, fuhr Anton beistimmend fort, »aber wir haben jetzt Leben gewonnen, und ein neues deutsches Volk ist entstanden. Jetzt fordern wir von ihnen, daß sie unser junges Leben anerkennen. Es wird ihnen schwer werden, gerade ihnen, die gewöhnt sind, ihr zusammengebrachtes Land als eine Domäne ihres Schwertes zu betrachten. Wer mag sagen, wann der Kampf zwischen ihnen und uns beendigt sein wird, lange vielleicht werden wir den häßlichen Erscheinungen fluchen, welche dieser Streit hervorruft. Wie er aber auch enden mag, davon bin ich überzeugt, wie von dem Lichte dieses Tages, der Staat, den sie geschaffen, wird nicht wieder in die Trümmer zerschlagen werden, aus denen er herausgewachsen. (S. 522f) Die Rede ist natürlich von Preußen, dessen Expansion bekanntlich erst in einem Weltkrieg gegen die Imperien Britanniens, Rußlands, Frankreichs und Amerikas gestoppt werden konnte. Fink jedenfalls wird von Anton überzeugt, er will nun selbst die „slawische Sahara“ (S. 526) germanisieren und rekrutiert dazu deutsche Arbeitssoldaten, hochdisziplinierte Kader, die mit Spaten und Gewehren umgehen können und uniformiert auftreten wie sonst nur ein Arbeitsdienst, und beginnt, einen gepachteten Teil des Gutes urbar und wehrhaft zu machen. Wer in Polen siedelt, wird „mit der Pflugschar in der Hand hier ein deutscher Soldat sein, der den Grenzstein unserer Sprache und Sitte weiter hinausrückt gegen unsere Feinde“, erläutert Anton die Expansionsstrategie der deutschen Territorialisierung (S. 625). Arno Breker wird diesen Arbeitssoldaten im Tausendjährigen Reich Denkmäler setzen. 19 Vgl. Carl Schmitt, Der Nomos der Erde, S. 12 Ein Amerikaner wird seßhaft Was ist nur aus dem reichen Dandy und aristokratischen Lebemann Fink geworden? Und warum? Friedrich von Fink hat die Handlung Schröter verlassen, um das Erbe seines amerikanischen Onkels anzutreten, eines skrupellosen wie reichen Börsen-Jobbers. Der als junger Mann an der der Wall Street sozialisierte Freund Antons führte im Kontor den Alias: „Der Amerikaner“ (S. 223). Fink hat als 15jähriger Millionär in New York ein reichlich liederliches Leben geführt: Tanz, Alkohol, Spiel, Huren etc. (S. 82), um diesem Lebenswandel schließlich selbst ein plötzliches Ende zu setzen. Er heuert als ordinärer Matrose an und umrundet Kap Horn. Anschließend arbeitet er als Cowboy auf einer südamerikanischen Hazienda (S. 82). Zu dem in Schröters Augen untergehenden, vollkommen unproduktiven, kraftlosen Adel, den nichts mehr auszeichnet als ihre „Familienerinnerungen“ (S. 399f), zählt Fink gewiß nicht. Ganz „auf eigene Faust“ gestellt, macht er sein „Glück“, ohne daß er dafür Geld, Beziehungen oder Titel bräuchte. Nach fast zwei Jahren wird er von Detektiven aufgespürt und ins alte Europa verfrachtet, diesem „bejahrten Erdhaufen“ (S. 82). Die väterliche Firma Fink und Becker nötigt ihn vertraglich, in der Handlung Schröter zu arbeiten, zu lernen und seine „Kapricen zu bändigen“, obschon Fink „Landwirt“ werden wollte statt „Kaufmann“ (S. 82f). Noch immer wolle er „Landmann“ werden. Auf Antons Frage, ob er hier „ein Gut kaufen“ wolle, gibt Fink zur Antwort: »Nein, Herr«, antwortete Fink, »das will ich nicht. Ich würde es vorziehen, vom frühen Morgen bis gegen Mittag zu reiten, ohne an einen Grenzstein meines Landes zu stoßen.« »Sie wollen also wieder nach Amerika zurück?« »Oder anderswohin, Herr, ich bin in Erdteilen nicht wählerisch.« (S. 83) Ich erinnere hier an die deutsche Konzeption Amerikas als geist-, geschichts- und grenzenloses Land. Fink nimmt in seinem autobiographischen Monolog alle diese Elemente auf, er gibt sich als Kosmopolit, dem ein Ort so gut wie der andere ist, wenn er sich nur für seine Pläne eignet. Seine große Gegenüberstellung des amerikanischen Pragmatismus gegen die deutsche Gefühlsduselei: Dollars versus Trödel, geschäftstüchtiger Opportunismus versus spießig-altväterliche Tradition (S. 220f), hatte ich schon ausführlich kommentiert. Ich möchte das Bild hier nur abrunden, da wichtig ist, wer dort nach Polen kommt, um deutscher Landmann zu werden, da Fink einen ganz anderen Typus repräsentiert als Anton oder Rothsattel. Fink und Wohlfahrt werden nach einem Streit, der fast zum Duell führt, Freunde und beeinflussen sich seitdem wechselseitig: Fink wird solider und moralischer, Anton gewandter und weltmännischer. Anton lernt schießen, reiten, schwimmen, segeln und tanzen, er wird in Adelskreise eingeführt, besucht Bälle und tafelt mit Offizieren beim Italiener. Anton verliebt sich in die aparte Lenore von Rothsattel, Fink macht der hypersoliden Sabine Schröter einen Heiratsantrag. Anton wird „Finks Erbe“ genannt, nachdem dieser die Handlung verlassen mußte, womit vor allem seine gesellschaftliche Stellung in der Handlung und seine Umgangsformen gemeint sind. Fritz Fink dagegen fühlt sich in den USA, in die er 13 nach des Onkels Tod als Erbe zurückkehren muß, nicht mehr wohl, weil sein moralisches Bezugssystem sich seit seinem letztem Aufenthalt dort vollkommen verändert hat. Amerika wird nun auch von ihm so erlebt und beschrieben, wie es die Tradition deutscher Geophilosophie erwarten läßt. »Es muß endlich doch heraus, was ich Dir armem Jungen gern verschwiegen hätte. Ich bin unter die Räuber und Mörder gegangen. Wenn Du einen harten Kehlabschneider brauchst, wende Dich nur an mich. Ich lobe mir einen Burschen, der aus freier Wahl ein Schuft wird; er hat wenigstens das Vergnügen, mit dem Teufel einen klugen Vertrag zu machen, und kann die Klasse von Niederträchtigkeiten aussuchen, in der er sich behaglich fühlt. Mein Los ist weniger angenehm. [...] Wie das Felsstück in der Schneemasse, so stecke ich, von allen Seiten eingeengt, in der eisigen Kälte der furchtbarsten Spekulationen, welche je großartiger Wuchersinn ausgedacht hat. Der Verstorbene hat die Güte gehabt, grade mich zum Erben seiner Lieblingsprojekte, der Spekulationen mit Land, zu machen. [Es] ist mir jetzt ganz unzweifelhaft geworden, daß die Absicht seines Testaments war, sich für die kindischen Bosheiten, die ich gegen ihn gehabt, dadurch zu rächen, daß er mich zum Spießgesellen von alten verwitterten Schurken machte, deren Schlauheit so groß ist, daß Satan selbst den Schwanz in die Tasche stecken und sich als Schornsteinfeger verkleiden würde, um ihnen zu entlaufen. Diesen Brief erhältst Du aus einer neuen Stadt in Tennessee, einem anmutigen Ort, der dadurch nicht besser wird, daß er auf Spekulation von meinem Geld gebaut ist. Einige Holzhütten, die Hälfte davon Schenken, bis unter das Dach angefüllt mit einem schmutzigen und verworfenen Gesindel von Auswanderern, von denen die Hälfte an Fäulnis und Fieber darniederliegt.“ (S. 352) Zur Rechtlosigkeit des amerikanischen Neulands, zur rücksichtslosen Spekulation, die aus Kolonisten Geld zieht (S. 352), paßt, daß das Gebiet gleichsam als See erfahren wird. Zwei Monate im Jahr, berichtet Fink, stehe die Gegend „unter Wasser“, während sie „die übrige Zeit einem zähen Brei ähnlicher sieht als irgendwelchem Lande.“ (S. 353) Es ist symptomatisch für die geopolitische Semantik der deutschen Literatur, daß Amerika wie Polen nicht nur Staatlichkeit, Kultur und Rechtssicherheit abgesprochen werden, sondern im gleichen Atemzug immer auch gleichsam die feste Konsistenz des Landes als Land. Das Land ist ungekerbt wie die lawless seas. Während der Amerikaner die Glätte des Raums zur Spekulation nutzt und ungeheure Gewinne macht, ist es – wenn er nicht an Fieber stirbt – der europäische Kolonist, der den wüsten Raum aneignen und urbar machen wird. Eine strukturelle Entsprechung findet sich zum einem im Verhältnis der jüdischen Spekulanten zum Landgut des Barons, insofern es nicht um die Bestellung des Raums geht, sondern um seine Mobilisierung und Kapitalisierung. Es ist bezeichnend, daß der Baron Fink verdächtigt, nur auf die polnische Herrschaft gekommen zu sein, um „ein Geschäft zu machen“ und Gelegenheit zu einer „Spekulation“ zu finden (S. 530). Rothsattel benötigen Geld, die Gelegenheit zu einer Übernahme ihres Gutes scheint günstig, zumal wiederum Lenore mit erworben werden kann (S. 541f), wie es einst Itzig Anton vorhergesagt hat. Fink wird so in die Position seines Onkels gerückt und Polen in die Position Tennessees. Zum anderen ist Polen folglich in gewisser Hinsicht Amerika, insofern es nämlich glatter Raum, Wüste oder Meer ist. Hier zu siedeln, gehört zunächst in keiner Weise zu Finks Plan. „Die Welt steht uns offen“, sagt er Anton, er wolle ihn mitnehmen, an „die See, nach England, über das Wasser.“ (S. 521) Dann folgen Antons Monolog und Finks Bekehrung. „Zeige mir womöglich einen 14 Quadratfuß Landauf dieser reizenden Besitzung, wo man nicht bis an die Knöchel in den Sand versinkt“, fordert Fink Anton auf (S. 524). Polen ist eine Wüste. Die polnischen „Güter“ des Barons hält Fink für „furchtbar verwüstet“ (S. 529). Man kann aber „etwas daraus machen“ (S. 529), aber nicht durch Spekulation, sondern durch die Transformation der polnischen Wüste in deutschen Raum. Die deutsche Landnahme ist schon in vollem Gange, als Fink erscheint. Es versteht sich, daß ein deutsches Pächterpaar eines Vorwerks in den Zeiten polnischer Herrschaft als einzige „Ordnung“ gehalten haben. »Es ist merkwürdig«, sagte Karl, aus der Ferne auf die Gebäude sehend, »dieses Dach hat keine Löcher; dort in der Ecke ist ein Viereck von neuem Stroh eingesetzt. Bei Gott, das Dach ist ausgebessert.« »Hier ist die letzte Hoffnung«, erwiderte Anton. Als der Wagen vorfuhr, zeigte sich der Kopf einer jungen Frau am Fenster, neben ihr ein blondhaariger Kinderkopf, beide fuhren schnell zurück. »Dies Vorwerk ist das Juwel des Gutes«, rief Karl. »Es sind deutliche Spuren einer Düngerstätte hier. Dort läuft ein Hahn und die Hennen hinterdrein, alle Wetter, ein regulärer Hahn mit einem Sichelschwanz. Und hier steht ein Myrtenstock am Fenster. Hurra! hier ist eine Hausfrau, hier ist Vaterland, hier sind Deutsche.« (S. 428) Dieses Vorwerk wird später zum Vorposten im Kampf gegen die polnischen Insurgenten. Nach diesem Muster errichtet Anton auf dem Gut überall wieder „Pflicht und Dienst“ (S. 437) und jagt die polnischen Verwüster (etwa den ehemaligen Inspektor) zum Teufel (S. 414f). Die tüchtigen deutschen Wehrbauern übernehmen. Ich habe mir von Karl erzählen lassen, wie das Gut aussah, als er herkam, und was ihr bis jetzt gebessert habt. Ihr habt euch respektabel benommen. Das hätte kein Amerikaner und kein anderer Landsmann durchgesetzt, in so verzweifelter Lage lobe ich mir den Deutschen. (S. 527f) Die Lage ist in der Tat verzweifelt. Die polnische Revolution erfaßt nun auch die alten „deutschen Städte auf altem Slawengrund“ (S. 490), die Relaisstationen des deutschen Handelsnetzes. Am Marktag erreicht der „politische Sturmwind“ Rosmin, die Marktstadt in der Nähe des Landgutes der Rothsattel. Alles, was „durch viele Jahre fest gewesen war, schien nun zu wanken“ (S. 493). Es sind sozusagen Klassiker der Kollektivsymbolik, Revolutionen als Erdbeben oder Orkan zu semantisieren. Ein „Haufe Sensenmänner und ein Trupp mit Feuergewehren“ versucht, die Macht zu übernehmen. Das deutsche „Wappenschild des Staates“ (S. 495) wird von der Meute, die „ausländische“ und „polnische Farben“ trägt (S. 494), in den Staub geworfen und über die Straßen geschleift (S. 495). Die deutsche Herrschaft wird symbolisch abgeworfen und erniedrigt, Anton „war außer sich“ (S. 495). Er organisiert den deutschen Widerstand der Bürger und leitet einen überraschenden Gegenangriff gegen die zahlenmäßige Übermacht ein, der selbstredend gelingt. Die deutschen bilden ja auch weder Haufen noch Rotten oder Meuten, sondern „Korps“, die salutieren, schwenken und marschieren (S. 506). Der Pole ist Partisan, der Deutsche Teil einer Armee.20 Die Wappen werden von den Siegern erneut aufgerichtet und mit Blumen bekränzt (S. 506). Die erste 20 Zum Unterschied vgl. Deleuze / Guattari, Tausend Plateaus, S. 492. 15 Schlacht ist gewonnen. Anton freilich sorgt sich um das einsame Gut inmitten der „slawischen Sahara“, das nicht sicher sei vor „großen Scharen“ oder „Haufen“, vor „Banden“ von „Brandstiftern und Plünderern“, die nun ohne Ordnung und daher unberechenbar durchs Land streifen (S. 508). „Was bringen Sie“, fragt der blinde Freiherr seinen Verwaltet: „Krieg“, lautet die Antwort, „den häßlichsten aller Kämpfe [...], blutigen Krieg zwischen Nachbar und Nachbar. Das Land ist im Aufstand.“ (S. 509) Es herrscht der bellum omnium contra omnes. Polen ist dabei, das deutsche Relaisnetz abzuwerfen und sich zu deterritorialisieren. Mit nomadischen Verwüstungszügen gegen die deutschen Enklaven wird es wieder zur Wüste. Gegen die vordringende Wüste setzt Anton Wehrdörfer, Wachen und Postenketten, Fanale und Alarmhäuser (S. 509). Der glatte Raum wird gekerbt. Der ehemalige Dragoner Karl zieht seine alte Uniform wieder an und organisiert eine deutsche Landwehr mit alle jenen, „welche gedient hatten“ (S. 511). In dieser prekären Situation kommt der heimatlose (S. 524) Fink aus Amerika zurück, besucht Anton und schließt sich endlich dem Unternehmen an, auf schwankendem Boden „Ordnung“ zu erhalten (S. 524). Bei aller vorbildlichen Organisation durch Anton und Karl fällt doch auf, daß die Mittel fehlen. Die Rothsattel sind verarmt, die nötigsten Einkäufe werden vom Schmuck der Damen bestritten (S. 527), Einkünfte gibt es keine. Wie soll das Gut verteidigt und das brache Land bestellt werden? Fink schlägt vor: »Miete dir zwanzig Männer mit tüchtigen Fäusten, sie sollen dieses Haus bewachen.« »Du vergißt, daß wir zwanzig müßige Brotesser ebensowenig beköstigen können wie der Kauz auf dem Turme.« »Sie sollen arbeiten«, rief Fink, »ihr habt hier eine Bodenfläche, bei der hundert Hände nützliche Beschäftigung finden. Hast du keinen Sumpf zu entwässern und Gräben zu ziehen? Dort unten breitet sich ja eine Reihe trauriger Wasserlachen.« »Das ist Arbeit für eine andere Jahreszeit«, erwiderte Anton, »der Grund ist jetzt zu naß.« »Laß einige hundert Morgen Waldland besäen oder bepflanzen. Hält der Bach im Sommer aus?« »Ich höre, ja«, erwiderte Anton. »So laß sie irgend etwas schaffen.« (S. 528) Allein, die „Kasse“ ist „leer“ (S. 526). Auch für die klügsten Investitionen fehlt das Geld. Mit Bordmitteln wird nur der Notstand verlängert, „Aussicht, Militär zu erhalten“, besteht gleichfalls nicht (S. 527). Der geübte Bodenspekulant, Cowboy und Amerikaner reitet das Gut ab und entdeckt sofort ein Investment. Er schlägt Anton ein Projekt vor, das ihm Gewinn und dem Baron Pachtgelder einbringen würde. »Jetzt merke auf. Wenn man den Bach wieder in sein altes Bett zurückführt und ihn zwingt, im Bogen zu laufen, statt in der Sehne, so kann man mit dem Wasser, das jetzt zu eurer Schande unnütz in die Welt fließt, die ganze Fläche von fünfhundert Morgen berieseln und den dürren Sand in grünes Wiesenland verwandeln.« - »Du bist ein Schlaukopf«, rief Anton aufgeregt durch die Entdeckung. »Was kostet euch der Morgen im Durchschnitt?« frug Fink. »Dreißig Taler.« »Und ebensoviel höchstens betragen bei diesem Boden die Kosten der Wiesenanlage. Macht zusammen sechzig Taler, also drei Taler jährliche Zinsen, dazu schlage an Unterhaltungskosten, Abgaben usw. für den Morgen jährlich zwei Taler, so hast du fünf Taler Kosten. Rechnest du dagegen vom Morgen 16 zwanzig Zentner Heu zum halben Taler, so erhältst du vom Morgen fünf Taler Reinertrag, also bei fünfhundert Morgen zweitausendfünfhundert jährlichen Gewinn. Um diesen zu erhalten, ist ein Anlagekapital von höchstens fünfzehntausend Talern nötig. Das war’s, Anton, was ich dir erzählen wollte.« Anton stand überrascht. Es war nicht zu verkennen, daß die Zahlen, welche Fink hingeworfen hatte, nicht ganz aus der Luft gegriffen waren, weder die Kosten, noch die Erträge. Und die Aussicht, welche eine solche Anlage dem Gut eröffnete, beschäftigte ihn so, daß er lange in tiefem Schweigen neben dem Freund vorwärts schritt. »Du zeigst mir in der Wüste Wasser und grüne Wiesen«, rief er endlich bekümmert, »das ist grausam von dir, denn nicht der Freiherr wird imstande sein, diese Verbesserung zu machen, sondern ein Fremder. Fünfzehntausend Taler!« (S. 536f) Aus der Wüste möchte Fink durch Bodenarbeiten blühende Landschaften machen. Die Wüste wird gekerbt, aus „Sand“ (S. 536) wird bester Boden werden. Fink wird, wie er es vorhergesagt hat, zum Landmann werden. Dazu wird der glatte Raum territorialisiert. Er wird aber auch, mit den Worten Friedrich Engels, kapitalisiert. Der „Boden“, so Engels, wird im modernen Kapitalismus, den Fink genauso repräsentiert wie Ehrenthal oder Itzig, zu einem Ort der „Produktion“, die mit der Hilfe aller modernen Erfindungen „entfesselt“ wird. 21 Man muß, wie Marx 1844 schreibt, erstens „Kapital“ und zweitens „Befähigung“ haben, „um den Grund und Boden zu exploitieren“ und in eine Agrarindustrie zu verwandeln (MEW Bd. 40, S. 509). Fink hat beides. Er vertritt aber nicht nur das Empire des Kapitalismus, sondern bildet zugleich eine reterritorialisierende Kraft. Um sein Projekt umzusetzen, geht er mit Karl auf Werbungstour nach Preußen. Er wird Männern zurückkommen, die arbeiten und kämpfen können: Ein stattlicher Zug bewegte sich durch das Dorf auf das Schloß zu. Voran schritt ein halbes Dutzend Männer in gleicher Tracht; sie trugen graue Jupen, breitkrempige Filzhüte, die an einer Seite aufgeschlagen und mit einem grünen Busch verziert waren, auf der Schulter eine leichte Jagdflinte, an der Seite ein Matrosenmesser. Hinter ihnen kam eine Reihe beladener Wagen, der erste voll von Schaufeln, Grabscheiten, Hacken und Erdkarren, welche zu kunstvoller Symmetrie ineinandergesetzt waren, dahinter andere Wagen mit Mehlsäcken, Kisten, Kleiderbündeln und eingepackten Möbeln. Den Zug schloß wieder eine Anzahl Männer in grauer Uniform und denselben Waffen. In der Nähe des Schlosses sprang Karl mit einem Fremden von dem letzten Wagen herab. Karl stellte sich an die Spitze des Zuges, ließ die Wagen an der Front des Schlosses auffahren, ordnete die Männer in zwei Reihen und kommandierte mit einigem Erfolg: »Präsentiert das Gewehr!« Hinter dem Zuge galoppierte Fink auf seinem Pferde heran. Jeder Zug an diesem Zug atmet Ordnung, Disziplin, Symmetrie. Finks Truppe strahlt aus: Schnell lebte in der Schar mit aufgekrempten Hüten ein Korpsgeist auf, der die Handhabung der Disziplin erleichterte; nach wenig Tagen wurde Fink mit zahlreichen Bitten anderer Leute überlaufen, sie ebenfalls mit einem Anzuge und einer Flinte, mit guter Kost und Löhnung zu versehen und in seine Garde aufzunehmen. Ordnung und Organisation wird der polnischen Kriegsmaschine nomadischer Horden und marodierender Meuten entgegengestellt. »Willkommen!« rief Anton dem Freunde entgegen. 21 Friedrich Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (1878), in: MEW Bd. 20, S. 129. 17 »Sie bringen eine Armee mit Bagage«, lachte Lenore ihn begrüßend, »ziehen Sie immer mit so schwerem Gepäck ins Feld?« »Ich bringe ein Korps, das von heute ab in Ihrem Dienst stehen soll«, erwiderte Fink vom Pferde springend. »Es scheinen ordentliche Leute«, sagte er zu Anton gewandt, »sie sollen den Stamm bilden für meine Arbeiter. (S. 547) Es sieht bedenklich aus in dieser Provinz. In Rosmin selbst hält man sich keinen Tag für sicher. Ihre Einrichtung einer Bauernwehr ist auch dem Feind nicht entgangen und hat seine Aufmerksamkeit auf Ihr Haus gelenkt.« »Es ist mir eine Ehre«, unterbrach der Freiherr, »diesen Herren zu mißfallen.« (S. 548) Die so verschiedenen Protagonisten und so unterschiedlichen sozialen Klassen, die sie repräsentieren, arbeiten nun vereint an der preußischen Raumnahme Polens. Im Kampf um Raum entsteht das „neue deutsche Volk“ (S. 523), für das ein entsprechender Territorialstaat in entsprechenden Grenzen noch gefunden werden muß. Der neue Staat, so Anton, wird aus den Trümmern alter Souveränitäten erst noch hervorwachsen (S. 523). Zunächst aber muß der Kampf aufgenommen und gewonnen werden. Das befestigte Landgut wird von einer Übermacht polnischer Insurgenten belagert und von den Arbeitssoldaten unter Führung Finks verteidigt. „Waffen und Werkzeuge“ führen diese Männer gleichermaßen virtuos (S. 548). Mehr als ein Jahrhundert vor Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ und „Der Arbeiter“ wird der Kampf einer Truppe als Arbeit beschrieben. „Jetzt sah Anton mit einem düsteren Behagen, wie ruhig er selbst und wie mutig die Leute waren. Sie waren in Tätigkeit, sie arbeiteten; noch bei dem tödlichen Werk der Zerstörung war die Kraft zu erkennen, die jedes emsige Tun dem Menschen gibt. Nach den ersten Schüssen luden die auf der Vorderseite so besonnen, als übten sie ihr gewöhnliches Tagewerk. Das Gesicht des Knechts sah nicht sorgenvoller aus, als wenn er zwischen seinen Ochsen hindurch auf die Ackerfurche blickte, und der gewandte Schneiderfaßte Rohr und Kolben seiner Waffe mit der selben Gleichgültigkeit wie das Holz seines Bügeleisens.“ (S. 582) Unruhig sind nur die, die vorerst in der Etappe bleiben müssen. Genau dieses Bild einer alle Berufe und Stände vereinenden Arbeit im Krieg wird Jünger aufgreifen und zum Typus des Arbeiters weiterverarbeiten. Die neuen „deutschen Soldaten“, die mit der Pflugschar genauso gut zu arbeiten verstehen wie mit dem Schwert (S. 625), halten lange genug aus, um von der Kavallerie in letzter Minute entsetzt zu werden. Ein mutig Ausfall verwandelt die „gedrängte Schar der Feinde“ in eine „Masse“ in „wilder Flucht“ (S. 605). Der letzte feindliche Schuß trifft den jungen Husaren-Offizier Eugen von Rothsattel tödlich. Der Erbe des Barons stirbt (S. 606). „Blond oder schwarz?“ (S. 543) Um die blonde Lenore Rothsattel und die dunkle Sabine Schröter wollte Fink mit Anton eine Münze werfen. Dies ist nicht mehr nötig. Fink heiratet Lenore und übernimmt mit seinem Kapital das erbenlose, verschuldete Gut. Die Baronin stirbt, der blinde, halb rührselige, halb senile Baron wird ihr „in kurzem nachfolgen“. Eine neue Generation übernimmt die Führung: Fink. Die in den 1850er Jahre aufkommende These 18 vom „Kampf um's Dasein“22 wird zum Grundprinzip seines Geschlechts: „Sein Leben wird ein unaufhörlicher siegreicher Kampf sein [...]; und aus dem Slawenschloß wird eine Schar kraftvoller Knaben herausspringen, und ein neues deutsches Geschlecht, dauerhaft an Leib und Seele, wird sich über das Land verbreiten, ein Geschlecht von Kolonisten und Eroberern.“ (S. 696) Der Amerikaner Fink ist ganz zum Agenten der Raumnahme und Territorialisierung geworden. Wenn man die „züchtende Rolle“ bedenkt, die die deutsche Darwin-Rezeption dem „Kampf ums Dasein“ zuweist,23 dann muß diese Passage in den Kontext eines Diskurses gestellt werden, der sozialdarwinistische und geopolitische Elemente zu einer Art Bio-Geopolitik verschmilzt. Nicht die Kunst, der „Kampf ums Dasein“ gilt der deutschen Philosophie nun als Medium der Erziehung des Menschengeschlechtes. 24 Der Vater der Geopolitik: Friedrich Ratzel generalisiert Freytags Vision von Finks expansionistischen, aggressiv-gesunden Nachkommenschaften nur, wenn er schreibt: „Tief liegt es in den Gesetzen des Staaten- und Völkerwachstums begründet, daß auf die Stammes- und Nationalitätenfragen die großen Rassenfragen folgen; denn mit den Räumen müssen die Gegensätze wachsen, die in ihnen wohnen.“25 In ihrem „Streben nach Ausbreitung der Völker- und Staatsgebiete“, stoßen die Rassen notwendig aufeinander, da der Lebensraum begrenzt ist (S. 242) und die Ressourcen der Welt leider sehr ungleich verteilt sind (S. 148). Nur eine im Kampf ums Dasein überlegende Spezies wird sich „über das Land verbreiten [als] ein Geschlecht von Kolonisten und Eroberern“. Und der Kaufmann Anton? Er reist in die Hauptstadt zurück, nimmt den Kampf gegen Itzig auf und gewinnt die Papiere, an denen das „Ehrenwort“ (S. 616) des Barons hängt, zurück. Itzig ermordet den Mittäter Hippus und stirbt selbst, von Gespenstern getrieben. Ehrenthal ist wahnsinnig geworden. Die Drahtzieher der jüdisch-juristischen Verschwörung gegen das Landgut der Rothsattel sind „verflucht“ (S. 684) oder tot (S. 687). Anton braucht jetzt nur noch Sabine zu heiraten und Kompagnon von T.O. Schröter zu werden (S. 698ff). Das Hauptbuch der Firma wird geschlossen und ein neues angelegt. Damit endet der Roman. 22 Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten (1859), Stuttgart 1860, 6. Auflage 1884, S. 32. Darwin greift auf ältere Autoren zurück: „Ich glaube, es lässt sich nachweisen, dass eine derartige niemals irrende Kraft in der Natürlichen Zuchtwahl (dies ist der Titel meines Buches) thätig ist, welche ausschliesslich zum Besten eines jeden organischen Wesens auswählt. Der ältere DE CANDOLLE, W. HERBERT und LYELL haben ausgezeichnet über den Kampf um's Dasein geschrieben; aber selbst diese haben sich nicht eindringlich genug ausgedrückt. Man überlege sich nur, dass ein jedes Wesen (selbst der Elefant) in einem solchen Verhältnisse sich vermehrt, dass in wenigen Jahren, oder höchstens in einigen wenigen Jahrhunderten die Oberfläche der Erde nicht im Stande wäre, die Nachkommen eines Paares zu fassen. Ich habe gefunden, dass es sehr schwer ist, beständig im Auge zu behalten, dass die Zunahme einer jeden Species während irgend eines Theiles ihres Lebens oder während einiger kurz aufeinanderfolgender Generationen gehemmt wird. Nur einige wenige von den jährlich geborenen Individuen können leben bleiben, um ihre Art fortzupflanzen. Welcher unbedeutende Unterschied muss da oft bestimmen, welche leben bleiben und welche untergehen sollen!“ (Darwin: Über die Entstehung der Arten, S. 33.) Die Entscheidung fällt dann im „Kampf“ eines Organismus gegen den anderen um Lebensraum und Fortpflanzungschancen. 23 Ernst Haeckel: Die Welträtsel (Bonn 1899), Leipzig 1911, S. 161. 24 Haeckel: Die Welträtsel, S. 309. 25 Friedrich Ratzel, Völkermacht und Erdenschicksal, S. 242. 19 1862 folgt die Fortsetzung von Reinhold Solger, der den Sohn Antons und Sabines in das Amerika der 1860er Jahre schickt, um Finks amerikanische Erlebnisse zu wiederholen.26 Fluchtlinien deutscher Geopolitik: Bronnen und Grimm Ich möchte zumindest kurz andeuten, wie die von Freytag angelegten Linien in der deutschen Literatur weiterverlaufen. Der Gegensatz zwischen Staat und Kapital, zwischen Imperium und Empire verwandelt sich nach dem ersten Weltkrieg in die Differenz von Internationalismus und Raumordnung, von Weltverkehr und geschlossenem Handelsstaat. Diese überall, in Literatur, Politik und Kulturwissenschaften nachweisbaren Gegensätze folgen wiederum der geradezu ubiquitären Differenz von „Land und Meer“ an, oder, wenn man konkreter werden möchte, von Deutschland und England. Das von Freytag beschriebene Geschlecht der Eroberer und Kolonisten findet inzwischen in Europa keinen Raum mehr, bei Hans Grimm wird es zum „Volk ohne Raum“ (1926), das seine Arbeitssoldaten daher nach Übersee schicken muß, in die deutschen Kolonien. Nach dem verlorenen Weltkrieg bricht der Konflikt der deutschen Städte auf polnischem Boden wieder aus, Arnolt Bronnen beschreibt in „O.S.“ (Berlin 1929) ganz in der Tradition Freytags den Kampf um Oberschlesien. „O.S.“, 1921: Wieder liegt das „Deutsche Dorf“ „vereinsamt“, „hinausragend über seine polnische Umgebung“, die „Vagabunden“ hervorbringt, die sich für diesen Unterschied „rächen“ wollen (S. 108). Die polnischen Insurgenten überfluten das ganze Land von der Oder bis zur tschechischen Grenze. „Im ganzen Land stiegen, emporgepreßt von den Kräften der Hölle, die Grundwässer empor. Aus einer trüben Flut ragten einsam, bedroht, langsam versinkend, nur noch die deutschen Städte hervor.“ (S. 120) Die wenigen deutschen Landjäger und Polizisten, die das Reichsgebiet zu verteidigen suchen, werden von einer „höhnenden Menge“ polnischer „Insurgenten“ geradezu „bestialisch“, auf „viehische Weise“ abgeschlachtet (S. 132). Nur ein „kleiner Trupp“ verteidigt entschlossen die Stadt Beuthen gegen die polnische Übermacht (S. 283). Die Kräfteverhältnisse, die Semantisierung der Gegensätze: deutsche Helden gegen polnische Massen, Ordnung gegen Flut – alles erinnert an die Verteidigung des Landguts und die Rückeroberung Rosmins. Anders als bei Freytag, wo in letzter Minute preußische Husaren die Belagerten entsetzten, setzt 1921 „das Reich“ der „polnischen Aktion“ nichts entgegen. Das Reich ergab sich in sein „Schicksal“: die „Teilung“, eine bislang polnische Spezialität. Das Gebiet, was abgetrennt werden sollte, war ein Dreieck, dessen „Ecken etwa Mährisch Ostrau, Tarnowitz und Krakau sind.“ (S. 384) Zur Erinnerung: Anton Wohlfahrt stammt aus Ostrau, rettet die Güter der Handlung Schröter in Krakau und verteidigt mit Fink das Landgut der Rothsattel, das in unmittelbarer Nachbarschaft von Tarow liegt. Alles Land, jenseits der „alten Reichs Grenze“, welche in „Soll und Haben“ vom Militär geschlossen wurde, also all das Land, das Anton auf ewig zum 26 Reinhold Solger, Anton in Amerika (1862). 20 neuen Deutschland zählt und Fink aus wüstem Land in deutschen Boden transformiert, soll nun verloren gehen (S. 385). In gewisser Weise ist „O.S.“ ein Erziehungsroman. Er beginnt mit Krenek, den wir uns so vorstellen sollen, „wie er wirklich war, BEWAG Monteur, 1.81, 70 kg, 19 J., 4 Papiermark die Stunde wert, segelnd im blauen Überzug und wohnhaft im Norden“ (S. 3). Bronnen gibt nicht mehr als einen Steckbrief, denn es geht ihm weniger um die Charakterisierung von Individuen, sondern die Handlung von Typen. Ort und Zeit der Handlung sind ebenso präzise wie äußerlich gegeben: „Es war Punkt elf Uhr, 29. April 1921, Linden Ecken Charlotten in Berlin“. (S. 3) Neusachlich, knapp, voller Abkürzungen, Daten, Fakten führt der Roman den Monteur nach Oberschlesien, das nach dem Willen Frankreichs polnisch werden soll wie das Ruhrgebiet französisch, um dem Reich Herz und Lunge herauszuschneiden. Selbstverständlich werden die Polen wiederum nur „Insurgenten“ genannt (S. 101). Kernek, im oberschlesischen Beuthen geboren, lernt, daß „Heimat“ mehr als eine „Phrase“ ist (S. 81), er lernt, daß nicht der Klassenunterschied die entscheidende Frage ist, sondern Volk und Reich. Am Ende des Romans ist er „Selbstschützler“ (S. 387) und hält Standrecht über den KP-Funktionär Scholz (S. 390f), der Bergerhoff, den „Großkomtur des Jungdeutschen Ordens“ (S. 16) an die Polen verraten hatte. Das Kreuz des altdeutschen Ordens schmückte bekanntlich den Rock des Baron Rothsattel. Am 30. April, einen Tag nach der Abreise aus Berlin, liest Kernek noch die „Rote Fahne“ (S. 48) und gibt sich pazifistisch (S. 49), am 2. Mai gilt der ehemalige Rotfront-Kämpfer bereits als „Stahlhelmer“ (S. 154). Ausgerechnet nach einem Vortrag eines „K.P.“-Funktionärs zerreißt Kernek die „Parteiprogramme“ und „fühlte das Land. Er kam, losgelöst von der kollektiven Maschinerie der mühsam gezähmten Blutlinien des zum Himmel strebenden Bodens.27 Er lief von den Umwegen ein in die Direktheit. Vor sich sah er, zum ersten Mal, die Idee.“ (S. 93) Die Idee, die der Maschinist zum ersten Mal sieht und fühlt, ist dieselbe, die die Schwarze Reichswehr mobilisiert (S. 103) und zahllose Freikorps und Paras wie durch einen unsichtbaren „Marschbefehl“ bewegt. „In der Tiefe“ dieser Hunderttausenden „vibrierte, wie in ungeheuren Dampfkesseln, die zum Platzen gespannte, von der Oberfläche verbannte Energie der Nation. lauernd auf den Ruf der verborgenen Männer, die des Reiches Schicksal in sich fühlten.“ (S. 103) Arbeiter und Frontkämpfer, adelige Offiziere und Beamte stellen sich gemeinsam gegen die polnische Erhebung. Der gemeinsame Feind eint. Da die Reichswehr nicht eingesetzt wird und die Reichsregierung sich auf die Entsendung empörter Telegramme beschränkt, sickert eine geheime Armee in die Ostgebiete ein, um sich der Revolution entgegenzustellen. Bald wehen keine polnischen Farben, sondern die Totenkopf- und Hakenkreuzfahnen der Freikorps über Oberschlesien (S. 267). Die illegale Armee aus Deutschen aller neuen Nachkriegsländer wird von keinem anderen geleitet als vom „Geist der Nation“ (S. 306). Die Selbstschutzgruppen, die sich freiwillig den polnischen regulären Einheiten entgegenstellen, die im Frieden „die Grenzen des Deutschen Reiches überschritten“ hatten und „Städte und Dörfer“ eines 27 Mit diesem Gefühl beginnt bei Grimm die Geschichte des Cornelius Friebott. Vom Sozialismus zum völkischen Nationalismus findet auch er. 21 benachbarten Landes besetzten (S. 293), schritten „durch die ewigen, unzerstörbaren Paläste des Reiches“, „erfüllt von ihrem Volke, das durch kein Wort, kein Bild, das durch den Boden selber in sie drang.“ (S. 294) Gustav Freytags Arbeitssoldaten haben sich die slawische Sahara so intensiv angeeignet, daß der Boden selbst weiß, daß er zum deutschen Volk gehört. In den „Eichenwäldern“ Oberschlesiens fühlen die Freikorps „die große Harmonie von Landschaft und Nation“ (S. 293). Bronnen fährt hier ein, was Kleist und Freytag gesäht haben. Die in deutscher „Arbeit“ errichtete „Herrschaft“ über das „Land“, um Antons Worte zu benutzen (S. 522), hat eine Beziehung zwischen Raum und Volk geschaffen, die nun selbst gegen die eigene Regierung, gegen den neuen deutschen Staat verteidigt werden muß. Die Nation wird nun wieder durch und durch geopolitisch konstituiert, als Vektor von Blut und Boden, Volk und Raum, gerade weil die Grenzen des neuen deutschen Staates enger sind als der Siedlungsraum – oder sagen wir doch gleich: Lebensraum – des deutschen Volkes. Bei Bronnen bekommt das alte Thema Freytags eine deutliche regierungskritische, staatsfeindliche Wendung (S. 353f). Der Staatsregierung wird abgesprochen, das Volk zu repräsentieren, das sie „verrät“ (S. 353, 363). Das nationalsozialistische Konzept der „Bewegung“ deutet sich hier schon an. Man richtet bereits „Feme Gerichte“ ein (S. 364), um an den Feinden des Volkes ein am Maßstab der Gesinnung orientiertes Standrecht zu üben. Das sogenannte „Volk“ ist in Arnolt Bronnes Roman zu einer veritablen Kriegsmaschine geworden, die sich dem ordnenden und disziplinierenden Zugriff des Staatsapparates entzieht. In „O.S.“ kämpft keine Armee, sondern, wie schon in Kleists „Hermannsschlacht“, der Partisan. Internationalismus gegen völkische Großraumordnung England gegen Deutschland Welthandel und Verbindungswege gegen Raumnahme und Großraumwirtschaft 22