Abrahams Enkel und die leidige Toleranz Thesen aus einer christlichen Perspektive zur Gesprächseröffnung von Martin Stöhr Darmstadt, 9. Oktober 2013 „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein; sie muss zur Anerkennung führen, dulden heißt beleidigen.…“ (J. W. Goethe) 1. Alle Menschen, nicht nur die im Judentum, Christentum oder Islam leben, sind Geschöpfe, Ebenbilder und MitarbeiterInnen des Einen Gottes. Diese einmalige Würde wird nicht von Menschen gewährt; sie ist von Menschen für Menschen und menschliche Verhältnisse zu schützen. (GG 1,1) 2. Sie verdankt sich der Zuwendung Gottes zu allen seinen Kreaturen. Er gibt sie nicht auf, sondern will ihr erfülltes Leben, das nicht durch Hunger oder Verachtung, durch Schuld oder Krankheit, durch Lüge oder Unfreiheit beschädigt oder zerstört wird. 3. Ihre menschliche Würde verraten Menschen ihren Mitgeschöpfen gegenüber und sich selbst gegenüber. Vier biblische Urgeschichten erläutern exemplarisch diesen Verrat am Leben – weder durch eine (biologistische) „Lehre von der Erbsünde“ (die es nicht gibt) noch durch philosophische Reflexion, woher das Böse kommt. Die Bibel zeigt auf: Es gibt Böses. Sie zeigt auf die unmenschlichen Potentiale aller Menschen, Böses anzurichten. Dieses Böse besteht z.B. in: Verantwortungslosigkeit (Adam und Eva) / Töten des Mitmenschen (Kain und Abel) / Zerstörung der Schöpfung (Sintflut) / Selbstvergötzung (Turm zu Babel). 4. Böses, Unheil und Heillosigkeit gibt es nicht nur in den zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern auch im Gebrauch, Nichtgebrauch oder Missbrauch der von Gott allen Menschen verliehenen Gaben und Aufgaben wie: Vernunft und Wissenschaften, Religionen und Kommunikation, Künste und Verantwortung, Transzendenz und Freiheit, Kreativität und Sexualität, Emotionen und Sinngebung. Die Verantwortung dafür wurde uns auch gegeben. 5. Religionen sind kein Selbstzweck. Sie leben und arbeiten dafür, dass das menschliche Leben, Zusammenleben und Überleben wie das der ganzen Kreatur gelingt. 6. Die Überlieferungen der (Offenbarungs-)Religionen steuern dazu Auskünfte und Wege bei: z.B. über Herkunft und Zukunft der Menschen, über Gerechtigkeit und Liebe, über Gottvertrauen und Hoffnungsquellen – alles notwendige „Lebensmittel“, die weder Politik noch Wissenschaften liefern können oder gar verwalten dürfen. 7. Was das inhaltlich bedeutet, davon berichten ihre Heiligen Schriften durch Erzählungen, Gebete, Briefe, Lieder, Bekenntnisse, Klagelieder und Zweifel in vielen menschlichen, also unvollkommenen und zeitgebundenen Sprachen. Wege in ein gelingendes Leben werden ebenso überliefert wie das Versagen. 8. Das lebendige Judentum ist und bleibt die Mutter des Christentums, die Großmutter des Islam und eine lebendige Schwester beider – wenn man es leben lässt. Kind und Enkel haben kein Recht, zu lehren oder zu glauben, ihre Mutter und Schwester sei von ihren Nachkommen enterbt (beerbt: ja!) oder gar von Gott verworfen worden, man selbst vertrete den allein richtigen Weg. 9. Es gibt eine besondere Beziehung zwischen Judentum und Christentum, die es zwischen Christentum und Islam nicht gibt. Damit drücke ich keine Abwertung des Islam oder anderer Religionen aus. Das ist (a) die Heilige Schrift, (b) der Messiasglauben und (c) 1/3 keine „umma“, d.h. eine Absage, aus den biblischen Weisungen eine geschlossene „Gemeinde Gottes“, ein Staatsgebilde, zu gestalten. (Mit dem Beispiel der Staatskirche verstoßen Christen auch dagegen). 10. Der größte und gleichberechtigte Teil der christlichen Bibel besteht aus der Hebräischen Bibel (AT). Ihre Ethik ist bzw. wird die christliche Ethik. Das Neue Testament legt sie neu aus. Das AT ist nicht veraltet, „was zu den Alten gesagt ist“ (Bergpredigt in Mt 5-7; Röm 12 und 13) ist gültig, muss aber wie damals aus dem historischen Kontext in jeder neuen Situation neu zur Sprache und ins Leben gebracht werden. 11. Juden und Christen haben eine ähnliche Vorstellung von den Menschen und der Geschichte, die „messianisch“ zu nennen ist: Sie sind unterwegs von der (menschlich korrumpierbaren) Schöpfung zur Neuschöpfung, zu einem „Neuen Himmel und einer Neuen Erde“ (Jes 65,17; 2Petr 3,13; Offb 21,1). Können sie mit den Muslimen nicht nur um die Heiligung des Namens des Einen Gottes beten und entsprechend leben, sondern auch darum, dass Sein Wille geschehe im Himmel wie auf Erden und dass Sein Reich komme (Vaterunser)? Meine Fragen wollen Brücken bauen und keine Religionsmixtur! 12. Die gegebene, vorfindliche Welt und Geschichte sind nicht normativ. Sie sind mit ihren Ordnungen nicht hinzunehmen, sondern in der Diaspora-Existenz und in der Nachfolge Gottes und seines Messias und nach ihren Regeln verantwortlich zu gestalten und zu erneuern: Tikkun Olam oder Restitutio ad Integrum (Reparatur bzw. Erneuerung der Welt). 13. Der Unterschied zwischen Judentum und Christentum ist der Mensch Jesus von Nazaret. Das Judentum kann in ihm nicht den Messias, den Gesalbten, den Christos des biblischen Gottes sehen, da die messianische Erneuerung und Vollendung der Welt nach biblischer Vorstellung mehr ist als Jesus und seine Wirkungsgeschichte aufzeigen. Der Islam sieht in ihm einen eindrucksvollen Propheten auf Mohammed hin. 14. Das Christentum vertraut Gott, dass in Jesus das „Himmelreich nahe herbei gekommen ist, deswegen: Kehrt um!“ (Mt 4,17; Mk 1,15). Jesus, der Christus, hat das Reich Gottes zu vollenden angefangen und nimmt seine NachfolgerInnen auf diesem Weg der Gerechtigkeit und Liebe mit. 15. Die biblischen Propheten sind keine Wahrsager, die nur die Zukunft oder nur die messianische Zeit „vorhersagen“. Sie sagen kritisch Wahrheiten über das Leben, wie es ist und wie es nach dem göttlichen Konzept sein sollte und könnte. 16. Im Islam sind die biblischen Propheten hochgeschätzt, aber (nur) als Vorläufer des abschließenden, einen Propheten Mohammed (Siegel). 17. Der Koran, als Heilige Schrift des Islam, erzählt das Alte und Neue Testament nach, dazu Überlieferungen aus der nachbiblischen Tradition von Juden und Christen. Z.B. stammt aus der rabbinischen Tradition das Wort „Wer einen Menschen tötet, tötet die ganze Welt. Wer einen Menschen rettet, rettet die ganze Welt.“ 18. Das Alte Testament ist die Bibel, die Jesus und die Apostel lesen und auslegen. Sie bestätigen die Gültigkeit des AT. Sie belegen ihre Botschaft an die Völker mit den häufigen Worten „Nach der Schrift“, „Mose und die Propheten“ oder „wie geschrieben steht“ (z.B. Mt 17,3; 23,2; 1Kor 15; Lk 16,29; 1Kor 15). (F. Crüsemann: AT = Wahrheitsraum des NT). 19. Die die Zeit übergreifende Geschichte des Einen Gottes mit den Menschen ist nicht nur in der überlieferten Abrahams- / Ibrahimsgeschichte präsent. An die Lebendigkeit der Geschichte erinnert z.B. Blaise Pascal in seiner Auseinandersetzung sowohl mit einem erstarrten Dogmensystem der Kirche wie mit rationalistischer Skepsis, wenn er sich in seinem „Memorial“ (vom 23. Nov. 1654) „mit Freude und Feuer“ vergewissert: Der biblische Gott ist „der Gott Abrahams, Isaaks, Jakobs und der Vater Jesu Christi“ und 2/3 ihren weitergehenden Geschichten, die auf neue, heutige Geschichten Gottes mit seinen Menschen aus sind. AT wie NT wissen: Die Geschichte Gottes mit den Menschen ist noch nicht abgeschlossen. 20. Diese lebendigen Geschichten in bloße Lehrsätze zu fassen oder in eine nur auf das Jenseits setzende Hoffnung auf Gottes Vollendung der Welt sind Fluchtbewegungen vor dem inspirierenden Heiligen Geist, dem Geist Gottes und seines Messias (Christus), der hier und heute mit und durch uns wirken will und kann – gegen Ungeist und gegen Geistlosigkeiten. 21. Die drei abrahamischen Religionen verschweigen in ihren Heiligen Schriften nicht die Irrtümer auf ihren Wegen (z.B. Mose, David, Petrus, Judas, Mohammed). Sie stehen vor den Tatsachen, dass ihre Botschaften verschmutzt und unglaubwürdig durch Nichtumkehr oder Nichtnachfolge wurden. Sie haben deshalb die Aufgabe, in einem ständigen Diskurs mit den Quellen und untereinander zu ermitteln, welchen Wegen sie folgen: Den Wegweisern des Reiches Gottes oder jenen der herrschenden Verhältnisse und Trends. 22. Notizen aus der vorletzten Woche: Ein Leserbrief: „Toleranz ist mit Religion nicht vereinbar“ (20.9.2013). // Richard Dawkins: „Die Muslime haben weniger Nobelpreisträger hervorgebracht als das Trinity-College in Cambridge.“ // Ministerpräsident Sharif (Pakistan) nach dem Verbrennen von 72 christlichen Gottesdienstbesuchern in Peshawar: „Terror hat keine Religion.“ 23. Zur Würde des Menschen gehört es u.a., den Nächsten in seiner kulturellen und religiösen Vielfalt wahr- und ernst zu nehmen, gerade wenn sie / er anders glaubt, betet, zweifelt, singt kocht oder denkt als ich. Respekt und Anerkennung anstelle von Gleichgültigkeit oder passiver Duldung sind angesagt. Das Ebenbild Gottes kommt in ebenso vielen Varianten vor wie die Namen seines Urbildes, des kreativen, menschenfreundlichen und gerechten Gottes. In der Bergpredigt erwartet Jesus, dass die Gerechtigkeit seiner Nachfolger besser ist als die der Pharisäer (die Jesus wie das Judentum seiner Zeit auch kritisch sieht). Lessings „Nathan der Weise“ verweist auf die Liebe, mit der die drei Religionen wetteifern. 24. Judentum, Christentum und Islam werden oder sind fundamentalistisch – wie jedes politische Konzept auch – wenn Absolutheitsansprüche erheben. Absolut ist nur Gott. Fundamentalismus heißt: argumentationslos recht haben zu wollen, der Gewalt zu vertrauen und die eine Menschheit durch Feindbilder zu spalten. Fundamentalistisch ist aber auch jene „Gleichgültigkeit“, für die alle Katzen grau, alle Religionen gleich sind oder Priesterbetrug oder Volksverdummung. Beide Fundamentalismen sehen und hören nicht und verachten den Reichtum der Menschheit und Menschlichkeit. 3/3