KBE-Workshop, Bochum, 15.7.2004 Ilhan Ilkilic 1 Die innerislamische Diskussion um die Verwestlichung und 'westliche Technik' und ihr Einfluss auf die bioethischen Argumente in der Gegenwart Die Stellung zu den modernen Naturwissenschaften und angemessene Umgangsformen mit der „westlichen Technik“ und davon nicht unabhängige Verwestlichung und/oder Modernisierung waren für die Muslime schon ab dem 18. Jahrhundert Gegenstand kontroverser Diskussionen. Grund dafür waren oft militärische Niederlagen. Die allgemeine positive Einstellung des Islam zu den Natur- und Geisteswissenschaften einerseits, die von der islamischen Wissenschaftsgeschichte bezeugt wird, und der unverkennbare säkulare Charakter der modernen Wissenschaften und ihre Anwendungsformen andererseits, die oft mit den Grundnormen des Islam kollidieren, bestimmen bis heute die Hauptpositionen dieser Diskurse. Zweifelsohne haben diese Ansätze einen klaren Einfluss auf die Argumente, die im Rahmen der bioethischen Diskussion vertreten sind. Diese Positionen können grob in zwei Hauptgruppen aufgeteilt werden. 1. Prowissenschaftlich-konsequentialistische Ansätze Die Mehrheit der Ansätze, die in dieser Gruppe zu subsummieren sind, betrachtet die modernen Naturwissenschaften wertfrei. Die in diesen Wissenschaften angewandten Methoden sind neutral, objektiv und beinhalten keine philosophische und ideologische Komponente. Auch ist zwischen einer westlichen Weltanschauung und der Technik als Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Praxis kein unmittelbarer Zusammenhang festzustellen. Es gibt nur gute und schlechte Zielsetzungen, die mit Hilfe dieser Techniken erreicht werden können. Solange diese Wissenschaften und Techniken den islamisch vertretbaren Zielen dienen, ist gegen sie nichts einzuwenden. Die durch diese Techniken entstandenen Umwelt- und Gesundheitsprobleme der Gegenwart können wieder durch weitere Wissenschaftserkenntnisse und Technik gelöst werden.1 Die gegenwärtigen modernen Naturwissenschaften sind nur eine weiterentwickelte Form der damals von den Muslimen übernommenen Wissenschaften. Die jetzige Rückständigkeit der muslimischen Länder im Bereich der Naturwissenschaften und Technik ist nur durch Abwendung von den islamischen Grundprinzipien erklärbar. Diese Strömung entwickelte sich schon relativ früh im 19. Jahrhundert und basiert auf die Grundthese, dass es zwischen Religion und Naturwissenschaften keinen Widerspruch gibt. Sayyid Ahmad KhÁn (1817-1898) und Sayyid AmÍr ‘AlÍ (1849-1928) in Indien, Jamal al-Din Afghani (1839-1897) in Persien, Muhammad Abduh (1849-1905) in Ägypten, Namik Kemal (1840-1888) und Ziya Gökalp (1876-1924) im osmanischen Reich, Mehmet Akif Ersoy (1873-1936) und Said Nursi (1876-1960) in der türkischen Republik sowie der pakistanische 1 Vgl. Kalin, Ibrahim: Three Views of Science in the Islamic World, in: God, Life and the Cosmos: Christian and Islamic Perspectives, T. Peters et al. (Hrsg.), Hampshire 2002, (im Druck); erreichbar unter http://home.gwu.edu/~sh669h/Articles/Three-Views-of-Science.htm. KBE-Workshop, Bochum, 15.7.2004 Ilhan Ilkilic 2 Nobelpreisträger Abdas Salam sind einige Pioniere dieser Position.2 Mit ihren Veröffentlichungen, Predigen und Konferenzen beeinflussten sie eine große Öffentlichkeit und spielten dabei eine meinungsbildende Rolle in der Gesellschaft. Jamal al-Din Afghani, einer der wichtigsten Vertreter dieser Position, äußert sich in seiner Replik auf E. Renans Vorwurf, Islam sei eine wissenschaftsfeindliche Religion, folgendermaßen: „Science is that noble thing that has no connection with any nation, and is not distinguished by anything but itself. [...] The Islamic religion is the closest of religions to science and knowledge, and there is no incompatibility between science and knowledge and the foundation of Islamic faith“3 Auf derselben Basis plädiert Mehmet Akif Ersoy, der Dichter der Nationalhymne der türkischen Republik, für eine Übernahme und Weiterentwicklung der westlichen Technik ohne jedoch die moralischen Normen und Lebensweise des Westens zu importieren.4 Eine ähnliche Position vertritt Mehmet Nuri Yılmaz, der ehemalige Präsident des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten (Diyanet ÏÐleri BaÐkanlïºï) der türkischen Republik. So seine Worte in einem Vorwort eines von dieser Institution herausgegebenen Fatwa-Buches: „Es soll mit Sicherheit erkannt werden, dass die Religion niemals mit Wissenschaft und Technik in Konflikt gerät. Man kann sich auch nichts anderes von einer Religion [Islam] vorstellen, deren erster Befehl das Wort ‚Lies’ [Sure 96/1] ist.“5 Anders als Gelehrte und muslimische Denker beurteilt Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938), der Gründer der türkischen Republik, die modernen Wissenschaften nicht aus einer islamischen Perspektive, sondern sieht es für notwendig, den Islam nach den Kriterien der Wissenschaften zu beurteilen. In seiner extremen Wissenschaftsgläubigkeit stellen die Wissenschaften Wegführer für alle Lebensbereiche dar. “Für alles auf der Welt, ob für materielle Dinge, ob für geistige Dinge, für das Leben oder für den Erfolg, ist die Wissenschaft, die Naturwissenschaft, der wahre Wegführer [muršid 6]; außerhalb der Wissenschaft und der Naturwissenschaft nach einem Wegführer zu suchen, ist Gedankenlosigkeit, Ignoranz und ein Abweg. “7 Auch wenn bei weitem nicht so extrem wie in Atatürks Formulierungen, kann heute in den muslimischen Ländern von einer allgemeinen positiven Einstellung zu modernen Naturwissenschaften und zur „westlichen Technik“ gesprochen werden, die sich durch Regierungsprogramme bestätigen lässt. Im Rahmen dieser politischen Zielsetzungen wurden 2 Zu unterstreichen ist, dass diese genannten Namen sich nicht unter einer Denkschule oder einer politischen Strömung subsummieren lassen. Unter den Modernisten, Traditionalisten und Islamisten lässt sich diese Position wieder finden. Vgl. dazu Rahman, Fazlur: Islam and Modernity. Transformation of an Intellectual Tradition, Chicago 1982. 3 Answer of JamÁl ad-DÍn to Renan, Journal des Débats, May 18, 1883, zitiert bei Keddie, Nikki R.: An Islamic Response to Imperialism, London 1968, S. 183. 4 Vgl. Ersoy, M. Akif: Süleymaniye Kürsüsü’nde, Ö. R. Doýrul (Hrsg.), 15. Aufl., Istanbul 1982, S. 187. 5 Diyanet, Fetvalar, (übers. v. I. I.), S. 6. 6 Das arabische Wort muršid bedeutet ursprünglich der geistige Führer eines islamischen Ordens oder einer mystischen Schule. 7 Atatürk Kültür, Dil ve Tarih Yüksek Kurumu (Hrsg.): Atatürk’ün kültür ve medeniyet konusundaki sözleri, Ankara 1990, S. 80, (übers. v. Metin Ilhan). Dagegen argumentiert Fazlur Rahman folgenderweise: „First of all, it is historic Islam that gives continuity to the intellectual and spritual being of the community. No community can annul its past and hope to create a future being for itself-as that community. A basic fallacy of an Atatürkish kind of „reform“ consists precisely in an effort to shed the historical being of the community and to seek a future without it.“ Rahman, Islam and Modernity, S. 146. KBE-Workshop, Bochum, 15.7.2004 Ilhan Ilkilic 3 schon während des osmanischen Reiches Studenten, Wissenschaftler und die Staatselite nach Europa geschickt, um einen Wissenschafts- und Techniktransfer zu gewährleisten. Yirmisekiz Mehmet Celebi aus dem osmanischen Reich wurde schon im Jahr 1720 mit diesem Ziel nach Frankreich geschickt.8 RifÁ‘ al-ÓahÔÁwÍ (1801-1873) aus Ägypten, der ebenso zu dieser Gruppe gehört, hielt sich vom 1826 bis 1831 in Paris auf9 und plädierte nach seiner Rückkehr nach Ägypten für eine Studienreform nach europäischem Vorbild. Al-ÓahÔÁwÍ zufolge bestehe kein qualitativer Unterschied zwischen den im Mittelalter von Muslimen betriebenen Wissenschaften und den modernen Wissenschaften in Europa seiner Zeit. Diese seien nur eine fortentwickelte Form der von den Muslimen übernommenen Wissenschaften.10 (Welchen Einfluss hat diese Sichtweise auf die bioethischen Argumente?) Die unter dieser Kategorie zuzuordnenden Einstellungen lassen sich bezüglich der Biomedizin und Gentechnik folgendermaßen resümieren. Im koranischen Vokabular entspricht das arabische Wort Áya nicht nur dem Koranvers, sondern auch Zeichen, Gotteswunder, Meisterwerk u.ä. Nach dem Koran sind alle Naturereignisse und die Harmonie im Kosmos als Zeichen Gottes (ÁyÁt Allah; vestigia Dei) zu verstehen. Dazu Abdus Salam, der pakistanische Nobelpreisträger für Physik: „Science is important because of the underlying understanding it provides of the world around us and of Allah’s design.“ 11 In diesem Zusammenhang ist eine Forschungstätigkeit dem Mediziner Hassan Hathout zufolge nichts anderes als ein Versuch, diese Zeichen Gottes zu verstehen und sie ist als religiöse Pflicht zu betrachten.12 Hinsichtlich der Medizin formuliert er folgende Argumente: „Because medicine is necessary for life, its establishment is a religious mandate. By juridical rule, whatever is necessary to uphold a necessity becomes itself a necessity; thus, since research is necessary for the progress of medicine it becomes juridically mandatory.” 13 Diese Pflicht zur Forschung ist bei ihm so weit zu fassen, dass sie auch Forschung am Menschen beinhaltet. „This mandate for research also includes research on human subjects, so long as the latter does not conflict with the protection and promotion of basic human rights spelled out by the Sharia.”14 Eine ähnliche Sichtweise ist ebenso im „Islamic Code of Medical Ethics” unter dem Titel „The Doctor and Modern Biomedical Advances“ festzustellen: „There is no censorship in Islam on scientific research, be it academic to reveal the sign of God in His creation, or applied aiming at the solution of a particular problem.“ 15 Die Forschungspflicht des Muslims gilt Hathout zufolge auch im Bereich der Gentechnik, die der Menschheit neue Horizonte eröffnet hat. Eine Begrenzung dieser Forschungen sei mit einer Verhinderung der Entdeckung der göttlichen Schöpfungsgewohnheit vergleichbar. “Islam would place no 8 Vgl. Kalin, Three Views of Science, S. 1, Lewis, Bernard: The Muslim Discovery of Europe, New York 1982, S. 114-116. 9 Vgl. Al-ÓahÔÁwÍ, RifÁ‘: Ein Muslim entdect Europa. Al-ÓahÔÁwÍ, RifÁ‘, Bericht über seinen Aufenthalt in Paris 1826-1931, K. Stowasser (Hrsg.), München 1989. 10 Vgl. Rahman, Islam and Modernity, S. 64. 11 Salam, Abdus: The Renaissance of Sciences in Arab and Islamic Lands, in: Islamic Quarterly, Vol. 25, 1981, S. 98. 12 Hathout, Islamic Basis, S. 65. 13 Hathout u. Lustig, Bioethical Developments, S. 139. 14 Ebd. 15 Islamic Code of Medical Ethics, in: Bulletin of Islamic Medicine, Vol. 1 (Second Edition) Kuwait 1981, S. 748. KBE-Workshop, Bochum, 15.7.2004 Ilhan Ilkilic 4 obstacle upon genetic research”16 „[…] no ban should be put on scientific research for the sake of furthering knowledge and revealing God’s traditions in His creation,…“17 Auf derselben Basis konzipiert Abdulaziz Sachedina, (der bei uns Gast war), eine zustimmende Stellungnahme zur humangenetischen Forschung mit Embryonen. Er überträgt das Partnerschaftsverständnis zwischen Gott und Mensch beim Schöpfungsakt in der islamischen Lehre auf die Gentechnik, so dass Forschen und Klonen für „gute Zwecke“ zu befürworten sind.18 Unter den muslimischen Gelehrten erreicht die Wissenschaftsbegeisterung sicherlich ihren Höhepunkt bei dem schiitischen Schaich alHarandi aus Iran. Negative Folgen im sozialen Leben oder Missbrauchspotential sind ihm zufolge keine guten Gründe, um die gentechnische Forschung und Klonen des Menschen zu beschränken.19 2. Wissenschaftskritisch epistemologisch-metaphysische Ansätze Die Grundthese dieser Ansätze ist die Untrennbarkeit der Wissenschaft von der Kultur, d.h. die Methodologie, Zielsetzung und Anwendungsformen der Wissenschaften können nicht unabhängig von den soziokulturellen Bedingungen der Gesellschaft, in der sie entstanden sind, betrachtet werden. Da die Entwicklung und Entfaltung der Sozial- und Naturwissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert auf säkularem Boden stattgefunden haben, können sie nicht ohne eine Überprüfung und Beurteilung übernommen werden. Ihre Zielsetzungen und Anwendungsformen von modernen Technologien sollen erst nach islamischem Wissenschaftsverständnis, Menschenbild und Wertvorstellungen überprüft und bewertet werden. Basierend auf diesen Grundannahmen entstanden in den 70’er Jahren mehrere kritische Stellungnahmen zu modernen Wissenschaften und „westlicher Technik“ . Ismail Raji al-Faruqi20 gehört zu den wichtigsten Namen, der den Begriff „Islamization of Knowledge“ geprägt und etabliert hat. Faruqi zufolge ist die gegenwärtige Krise der Muslimen nur durch die intellektuellen Probleme der islamischen Welt erklärbar. Die Wissenschaften und ihre Methoden entstehen nicht isoliert von historischen und kulturellen Prägungen. Deswegen sollen sich Muslime dem säkularen Charakter der modernen Wissenschaften bewusst werden und reflektierend eine islamische Epistemologie entwickeln.21 Für diese Zwecke gründete er mit anderen muslimischen Intellektuellen „International Institute of Islamic Thought (IIIT) im Jahr 1981 Herndon/Virginia in den USA. Das Argument „Different civilizations have produced distinctively different sciences“ 22 stellt auch bei Ziyauddin Sardar bzw. Ijmali-Schule den Ausgangspunkt dar. Sardar sieht die westliche Zivilisation mit ihrem universellen Anspruch als eine Bedrohung für die islamische Welt an und spricht vom instrumentellen Charakter der modernen Wissenschaften. Ihm zufolge sind die modernen Wissenschaften keine objektiven Phänomene, sondern dienen eher 16 Hathout u. Lustig, Bioethical Developments, S. 144. Hathout, Islamic Basis, S. 70. 18 Vgl. Sachedina, Cloning, S. 1-3. 19 Vgl. Rispler-Chaim, Genetic Engineering, S. 567-573. 20 Als al-Faruqi am 27.5.1986 ermordet wurde, war er Professor für Geschichte der Religion und islamische Studien an der Temple University-Philadelphia in den USA. 21 Vgl. FÁrÚqÍ, IsmÁ‘Íl RÁjÍ: Islamisation of Knowledge: Problems, Principles and Prospective, in: Islam: Source and Purpose of Knowledge, The International Institut of Knowledge (Hrsg.), Herndon 1988, S. 13-63. 22 Sardar, Ziauddin: Arguments for Islamic Science, Delhi 1985, S. 1. 17 KBE-Workshop, Bochum, 15.7.2004 Ilhan Ilkilic 5 als Instrumente für die von westlichen Weltanschauung geprägten Ziele. Eine kritiklose unmittelbare Übernahme dieser Wissenschaften und Technologien würden sicherlich mit islamischer Lebensweise kollidieren und im schlimmsten Fall die muslimischen Wertvorstellungen schwinden lassen. Für die Zukunft der islamischen Welt ist die intellektuelle Auseinandersetzung mit modernen Wissenschaften und Ausarbeitung der relevanten Umgangsformen mit der modernen Technologien unabdingbar.23 Seyyid Hussein Nasr, Professor für islamische Studien an der George Washington Universität in den USA, prägt innerhalb dieser Diskussionen den Begriff „sacred science“ und plädiert für die Rekonstruktion des islamischen Denkens auf der Basis der Offenbarungserkenntnis mit ontologischen und metaphysischen Reflektionen. Nasr macht den säkularen Charakter der modernen Wissenschaften und Technologien für die sozialen und ökologischen Krisen der modernen Welt verantwortlich. Sein Konzept „sacred science“ basiert auf dem Einheitsglaube (tawhid) und der sich aus diesem Glauben abzuleitenden Kosmologielehre. Nicht eine Konkurrenzvorstellung zwischen Mensch und Natur, sondern ein kosmologisches Harmonieverständnis ist für die Mensch-Natur-Beziehung maßgeblich.24 Diese kritischen Einstellungen haben weder mit epistomologischem Ansatz wie bei Faruqi und Sardar noch mit ontologisch-metaphysische Ansatz wie bei Nasr und Naquib al-Attas25 bis jetzt eine ausgearbeitete Stellungnahme zu ethischen Probleme der Biomedizin entworfen. Dennoch sollen nun einige nennenswerte Auseinandersetzungen - entstanden im Rahmen der skizzierten Diskurse - behandelt werden. Syeds Aufsatz „Islamization of Attitude and Practise in Embryology“, erschienen in den IIITPublikationen, begnügt sich damit, nur einige Parallelitäten zwischen Koranversen über die Entwicklung des Embryos und den Erkenntnissen der modernen Embryologie aufzuzeigen. In Publikationen dieser Art, deren Anzahl nicht gering ist, geht es dabei nicht in erster Linie um eine theologisch-philosophische Position zum Status des Embryos mit Hilfe der ersten Hauptquelle des Islam zu bearbeiten. Dabei wird eher die koranische Angabe über die embryologische Entwicklung des Menschen vor 1400 Jahren vor der modernen Embryologie hervorgehoben, wobei eine apologetische Gesinnung nicht zu verkennen ist. Sicherlich erreichen diese Art von Publikationen ihren Höhepunkt im Werk „La Bible, le Coran et la science“ von Maurice Bucaille, der zum Islam übergetretene französische Mediziner. Er selbst betrachtet seine Studie als einen Versuch, mit Hilfe der modernen Wissenschaften die Verse Gottes besser zu verstehen.26 (Publikationen dieser Art gehören zu 1. Position) Munawar Ahmad Anees, der pakistanische Biologe und Islamwissenschaftler, konstatiert eine ganz andere Einstellung als Buccaile zu den modernen Biowissenschaften. Er kritisiert solche Sichtweisen, die den Koran als ein Lehrbuch der Embryologie betrachten und dessen normativen Gehalt missachten.27 In seinen Veröffentlichungen unterstreicht er den 23 Vgl. zu einer detaillierten Darstellung dieser Position Stenberg, Leif: The Islamization of Science. Four Muslim Positions Developing an Islamic Modernity, Lund 1996, S. 41-96. 24 Vgl dazu Nasr, S. Hossein: The Need for a Sacred Science, New York 1993 und Hahn, Lewis E. et al. (Hrsg.): The Philosophy of Seyyed Hossein Nasr, The Library of Living Philosophers, Vol. 28, Chicago 2001. 25 Vgl. Al-Attas, S. M. Naquib: IslÁm, Secularism and the Philosophy of the Nature, London 1985. 26 Vgl. Bucaille, Maurice: La Bible, le Coran et la science. Les Ecritures saintes examinées à la lumière des connaissances modernes, Paris 1976. 27 Vgl. Anees, Re-defining. KBE-Workshop, Bochum, 15.7.2004 Ilhan Ilkilic 6 ideologischen Charakter der modernen Biologie und spricht von „Biological Despotism“.28 Er macht auf den Unterschied zwischen islamischen und biologischen Menschenbild aufmerksam, und erfordert eine möglichst schnelle intellektuelle Auseinandersetzung mit den jetzigen und in der Zukunft möglichen gentechnischen Anwendungen. „The Islamic view of human nature does not consider biology as an inevitability. This single most important distinction between reductive, deterministic, exploitative biology and the universal worldview of Islam is crucial in the total elimination of sexism, racism and socioeconomic inequities. We must confront the biological ideology with the Islamic worldview.“29 Wissenschaftlicher Reduktionismus, biologischer Determinismus und Objektivismus in den modernen Biowissenschaften bilden ihm zufolge eine Trinität des Instrumentalismus, die ihren Höhepunkt durch Gentechnik und deren Klonierung des Menschen erreichen wird.30 Deswegen sollen diese philosophisch-ideologischen Dimensionen auch bei einer islamischen Rechtsentscheidung mitberücksichtigt werden. „It is no longer sufficient to confine ourselves to assorted juridical opinions on isolated matters. These issues must be considered in their ideological context. Muslim individuals must not remain prisoners to their biology that is definded only through Western technology.“31 Er gibt auch konkrete Beispiele in seinem Werk “Islam and Biological Futures” an, die mittels moderner Reproduktionstechniken und Gentechnik machbar sind, aber mit einem islamischen Wertesystem nicht vertretbar sind.32 Eine ähnliche Position vertritt Osman Bakar, Professor für „Islamic Science“ an der University of Malaya in Kuala Lumpur Malaysia. Er betont den holistischen Charakter der islamischen Wissenschaften, darunter auch den des islamischen Medizinverständnisses. Der menschliche Körper ist – vor allem in der mystischen Tradition des Islam - ein kleiner Kosmos, dessen Studium nicht auf biomedizinische Wissenschaften und Zwecke reduziert werden kann. Im islamischen Glaubensverständnis kann der Wert eines Menschen nicht auf körperliche und gesundheitliche Perfektion reduziert werden. Deswegen ist eine Technikanwendung, die solche Grundprinzipien ignoriert, nicht mit dem islamischen Menschenbild vereinbar.33 28 Vgl. Anees, Munawar A.: Islam and Biological Futures. Ethics Gender and Technology, London 1989, S. 11 ff. 29 Anees, Biological Futures, S. 15. 30 Vgl. Anees, Re-defining. 31 Anees, Biological Futures, S. 15. 32 Vgl. Anees, Biological Futures. 33 Vgl. Bakar, Islamic Science, S. 181 ff. KBE-Workshop, Bochum, 15.7.2004 Ilhan Ilkilic 7 Einige Schlussgedanken (in Bearbeitung!): Bedeutung dieser Positionen und Argumente im Algemeinen: Es gibt keine Einstellung oder Stellungnahme in bioethischen Fragen, die kein Bild von modernen Naturwissenschaften und Technikanwendung hat (auch wenn man dieses Verständnis explizit nicht genannt oder nicht reflektiert wird). Die Mehrheit der Fatwas, institutionelle Stellungnahmen, Gesetzgebung in der islamischen Welt haben die erste Position (d.h. prowissenschaftlich– konsequentialistischer Ansatz) als Grundlage für ihre Entscheidungen. Die Vertreter der zweiten Position haben ein nicht zu unterschätzendes Gewicht in den akademischen Diskussionen, auch wenn sie keine ausgearbeitete Konzepte haben. Ihr Einfluss auf die gesetzlichen Regelungen ist kaum zu spüren. Die Vertreter der zweiten Position leben mehrheitlich in den nicht-muslimischen Ländern (USA und Europa); sie sind Intellektuellen und keine Gelehrten. Ein neues Phänomen in der islamischen Geistesgeschichte „Gelehrte versus Intellektuelle“ durch neue bioethische Probleme (?) für die Muslime: Diese Diskussionen weckte Aufmerksamkeit auf den Globalisierungsprozess auf und ermöglichte eine intensive Auseinandersetzung mit diesem Prozesses. „Was bedeutet für uns Westen, westliche Technik und Globalisierung?“ Eine gewisse hermeneutische Sensibilität bei der Annäherung zu klassischen Quellen, z.B. koranische Beschreibung der menschlichen Entwicklung im Muterleib und ihre normative Implikationen Kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Denk- und Rechtstradition Veränderung der klassischen Argumentationsform: kasuistische versus normative Argumente (?), z.B.: kasuistisch: Die Beseelung verändert den Status des Embryos kategorisch und somit ist sie entscheidend für die Schutzwürdigkeit bzw. Nicht-Schutzwürdigkeit des Embryos. normativ: Die Beseelung verändert den Status des Embryos nur graduell, man könnte daraus (vor der Beseelung) nicht eine „Nicht-Schutzwürdigkeit“ des Embryos ableiten. Fragestellung: Können die bioethischen Probleme ein Anlass für die Strukturveränderung in der klassischen Argumentation sein? KBE-Workshop, Bochum, 15.7.2004 Ilhan Ilkilic Wiederbelebung der philosophischen Tradition in der islamischen Denktradition? für den interkulturellen und interreligiösen Dialog und die kulturübergreifende Forschung: Die differenzierte Bearbeitung der normativen Begriffe wie Menschenwürde, Person, Integrität kann zum besseren Verständnis der Denk- und Argumentationsformen führen und das Menschenbild und Lebensbild können dadurch besser verstanden werden. (Meinungsaustausch auf der selben Augenhöhe?) für die wertplurale Gesellschaft: Besseres Verständnis der Meinungspluralität, Klarheit im Dissens Berücksichtigung dieser Argumente in einem Gesetzgebungsverfahren praxisrelevante (offiziell und inoffizielle) Regelungen Laienaufklärung Weitere politische Konsequenzen z.B. EU Beitritt der Türkei 8