innerislamische Diskussion um die Verwestlichung und

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KBE-Workshop, Bochum, 15.7.2004
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Die innerislamische Diskussion um die Verwestlichung und 'westliche Technik' und ihr
Einfluss auf die bioethischen Argumente in der Gegenwart
Die Stellung zu den modernen Naturwissenschaften und angemessene Umgangsformen mit
der „westlichen Technik“ und davon nicht unabhängige Verwestlichung und/oder
Modernisierung waren für die Muslime schon ab dem 18. Jahrhundert Gegenstand
kontroverser Diskussionen. Grund dafür waren oft militärische Niederlagen.
Die allgemeine positive Einstellung des Islam zu den Natur- und Geisteswissenschaften
einerseits, die von der islamischen Wissenschaftsgeschichte bezeugt wird, und der
unverkennbare säkulare Charakter der modernen Wissenschaften und ihre
Anwendungsformen andererseits, die oft mit den Grundnormen des Islam kollidieren,
bestimmen bis heute die Hauptpositionen dieser Diskurse. Zweifelsohne haben diese Ansätze
einen klaren Einfluss auf die Argumente, die im Rahmen der bioethischen Diskussion
vertreten sind. Diese Positionen können grob in zwei Hauptgruppen aufgeteilt werden.
1. Prowissenschaftlich-konsequentialistische Ansätze
Die Mehrheit der Ansätze, die in dieser Gruppe zu subsummieren sind, betrachtet die
modernen Naturwissenschaften wertfrei. Die in diesen Wissenschaften angewandten
Methoden sind neutral, objektiv und beinhalten keine philosophische und ideologische
Komponente. Auch ist zwischen einer westlichen Weltanschauung und der Technik als
Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Praxis kein unmittelbarer
Zusammenhang festzustellen. Es gibt nur gute und schlechte Zielsetzungen, die mit Hilfe
dieser Techniken erreicht werden können. Solange diese Wissenschaften und Techniken den
islamisch vertretbaren Zielen dienen, ist gegen sie nichts einzuwenden. Die durch diese
Techniken entstandenen Umwelt- und Gesundheitsprobleme der Gegenwart können wieder
durch weitere Wissenschaftserkenntnisse und Technik gelöst werden.1
Die gegenwärtigen modernen Naturwissenschaften sind nur eine weiterentwickelte Form der
damals von den Muslimen übernommenen Wissenschaften. Die jetzige Rückständigkeit der
muslimischen Länder im Bereich der Naturwissenschaften und Technik ist nur durch
Abwendung von den islamischen Grundprinzipien erklärbar.
Diese Strömung entwickelte sich schon relativ früh im 19. Jahrhundert und basiert auf die
Grundthese, dass es zwischen Religion und Naturwissenschaften keinen Widerspruch gibt.
Sayyid Ahmad KhÁn (1817-1898) und Sayyid AmÍr ‘AlÍ (1849-1928) in Indien, Jamal al-Din
Afghani (1839-1897) in Persien, Muhammad Abduh (1849-1905) in Ägypten, Namik Kemal
(1840-1888) und Ziya Gökalp (1876-1924) im osmanischen Reich, Mehmet Akif Ersoy
(1873-1936) und Said Nursi (1876-1960) in der türkischen Republik sowie der pakistanische
1
Vgl. Kalin, Ibrahim: Three Views of Science in the Islamic World, in: God, Life and the Cosmos: Christian and
Islamic Perspectives, T. Peters et al. (Hrsg.), Hampshire 2002, (im Druck); erreichbar unter
http://home.gwu.edu/~sh669h/Articles/Three-Views-of-Science.htm.
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Nobelpreisträger Abdas Salam sind einige Pioniere dieser Position.2 Mit ihren
Veröffentlichungen, Predigen und Konferenzen beeinflussten sie eine große Öffentlichkeit
und spielten dabei eine meinungsbildende Rolle in der Gesellschaft.
Jamal al-Din Afghani, einer der wichtigsten Vertreter dieser Position, äußert sich in seiner
Replik auf E. Renans Vorwurf, Islam sei eine wissenschaftsfeindliche Religion,
folgendermaßen: „Science is that noble thing that has no connection with any nation, and is
not distinguished by anything but itself. [...] The Islamic religion is the closest of religions to
science and knowledge, and there is no incompatibility between science and knowledge and
the foundation of Islamic faith“3 Auf derselben Basis plädiert Mehmet Akif Ersoy, der
Dichter der Nationalhymne der türkischen Republik, für eine Übernahme und
Weiterentwicklung der westlichen Technik ohne jedoch die moralischen Normen und
Lebensweise des Westens zu importieren.4 Eine ähnliche Position vertritt Mehmet Nuri
Yılmaz, der ehemalige Präsident des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten (Diyanet
ÏÐleri BaÐkanlïºï) der türkischen Republik. So seine Worte in einem Vorwort eines von
dieser Institution herausgegebenen Fatwa-Buches: „Es soll mit Sicherheit erkannt werden,
dass die Religion niemals mit Wissenschaft und Technik in Konflikt gerät. Man kann sich
auch nichts anderes von einer Religion [Islam] vorstellen, deren erster Befehl das Wort ‚Lies’
[Sure 96/1] ist.“5
Anders als Gelehrte und muslimische Denker beurteilt Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938),
der Gründer der türkischen Republik, die modernen Wissenschaften nicht aus einer
islamischen Perspektive, sondern sieht es für notwendig, den Islam nach den Kriterien der
Wissenschaften zu beurteilen. In seiner extremen Wissenschaftsgläubigkeit stellen die
Wissenschaften Wegführer für alle Lebensbereiche dar. “Für alles auf der Welt, ob für
materielle Dinge, ob für geistige Dinge, für das Leben oder für den Erfolg, ist die
Wissenschaft, die Naturwissenschaft, der wahre Wegführer [muršid 6]; außerhalb der
Wissenschaft und der Naturwissenschaft nach einem Wegführer zu suchen, ist
Gedankenlosigkeit, Ignoranz und ein Abweg. “7
Auch wenn bei weitem nicht so extrem wie in Atatürks Formulierungen, kann heute in den
muslimischen Ländern von einer allgemeinen positiven Einstellung zu modernen
Naturwissenschaften und zur „westlichen Technik“ gesprochen werden, die sich durch
Regierungsprogramme bestätigen lässt. Im Rahmen dieser politischen Zielsetzungen wurden
2
Zu unterstreichen ist, dass diese genannten Namen sich nicht unter einer Denkschule oder einer politischen
Strömung subsummieren lassen. Unter den Modernisten, Traditionalisten und Islamisten lässt sich diese Position
wieder finden. Vgl. dazu Rahman, Fazlur: Islam and Modernity. Transformation of an Intellectual Tradition,
Chicago 1982.
3
Answer of JamÁl ad-DÍn to Renan, Journal des Débats, May 18, 1883, zitiert bei Keddie, Nikki R.: An Islamic
Response to Imperialism, London 1968, S. 183.
4
Vgl. Ersoy, M. Akif: Süleymaniye Kürsüsü’nde, Ö. R. Doýrul (Hrsg.), 15. Aufl., Istanbul 1982, S. 187.
5
Diyanet, Fetvalar, (übers. v. I. I.), S. 6.
6
Das arabische Wort muršid bedeutet ursprünglich der geistige Führer eines islamischen Ordens oder einer
mystischen Schule.
7
Atatürk Kültür, Dil ve Tarih Yüksek Kurumu (Hrsg.): Atatürk’ün kültür ve medeniyet konusundaki sözleri,
Ankara 1990, S. 80, (übers. v. Metin Ilhan). Dagegen argumentiert Fazlur Rahman folgenderweise: „First of all,
it is historic Islam that gives continuity to the intellectual and spritual being of the community. No community
can annul its past and hope to create a future being for itself-as that community. A basic fallacy of an Atatürkish
kind of „reform“ consists precisely in an effort to shed the historical being of the community and to seek a future
without it.“ Rahman, Islam and Modernity, S. 146.
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schon während des osmanischen Reiches Studenten, Wissenschaftler und die Staatselite nach
Europa geschickt, um einen Wissenschafts- und Techniktransfer zu gewährleisten. Yirmisekiz
Mehmet Celebi aus dem osmanischen Reich wurde schon im Jahr 1720 mit diesem Ziel nach
Frankreich geschickt.8 RifÁ‘ al-ÓahÔÁwÍ (1801-1873) aus Ägypten, der ebenso zu dieser
Gruppe gehört, hielt sich vom 1826 bis 1831 in Paris auf9 und plädierte nach seiner Rückkehr
nach Ägypten für eine Studienreform nach europäischem Vorbild. Al-ÓahÔÁwÍ zufolge
bestehe kein qualitativer Unterschied zwischen den im Mittelalter von Muslimen betriebenen
Wissenschaften und den modernen Wissenschaften in Europa seiner Zeit. Diese seien nur eine
fortentwickelte Form der von den Muslimen übernommenen Wissenschaften.10
(Welchen Einfluss hat diese Sichtweise auf die bioethischen Argumente?)
Die unter dieser Kategorie zuzuordnenden Einstellungen lassen sich bezüglich der
Biomedizin und Gentechnik folgendermaßen resümieren. Im koranischen Vokabular
entspricht das arabische Wort Áya nicht nur dem Koranvers, sondern auch Zeichen,
Gotteswunder, Meisterwerk u.ä. Nach dem Koran sind alle Naturereignisse und die Harmonie
im Kosmos als Zeichen Gottes (ÁyÁt Allah; vestigia Dei) zu verstehen. Dazu Abdus Salam,
der pakistanische Nobelpreisträger für Physik: „Science is important because of the
underlying understanding it provides of the world around us and of Allah’s design.“ 11 In
diesem Zusammenhang ist eine Forschungstätigkeit dem Mediziner Hassan Hathout zufolge
nichts anderes als ein Versuch, diese Zeichen Gottes zu verstehen und sie ist als religiöse
Pflicht zu betrachten.12 Hinsichtlich der Medizin formuliert er folgende Argumente: „Because
medicine is necessary for life, its establishment is a religious mandate. By juridical rule,
whatever is necessary to uphold a necessity becomes itself a necessity; thus, since research is
necessary for the progress of medicine it becomes juridically mandatory.” 13 Diese Pflicht zur
Forschung ist bei ihm so weit zu fassen, dass sie auch Forschung am Menschen beinhaltet.
„This mandate for research also includes research on human subjects, so long as the latter
does not conflict with the protection and promotion of basic human rights spelled out by the
Sharia.”14 Eine ähnliche Sichtweise ist ebenso im „Islamic Code of Medical Ethics” unter
dem Titel „The Doctor and Modern Biomedical Advances“ festzustellen: „There is no
censorship in Islam on scientific research, be it academic to reveal the sign of God in His
creation, or applied aiming at the solution of a particular problem.“ 15 Die Forschungspflicht
des Muslims gilt Hathout zufolge auch im Bereich der Gentechnik, die der Menschheit neue
Horizonte eröffnet hat. Eine Begrenzung dieser Forschungen sei mit einer Verhinderung der
Entdeckung der göttlichen Schöpfungsgewohnheit vergleichbar. “Islam would place no
8
Vgl. Kalin, Three Views of Science, S. 1, Lewis, Bernard: The Muslim Discovery of Europe, New York 1982,
S. 114-116.
9
Vgl. Al-ÓahÔÁwÍ, RifÁ‘: Ein Muslim entdect Europa. Al-ÓahÔÁwÍ, RifÁ‘, Bericht über seinen Aufenthalt in
Paris 1826-1931, K. Stowasser (Hrsg.), München 1989.
10
Vgl. Rahman, Islam and Modernity, S. 64.
11
Salam, Abdus: The Renaissance of Sciences in Arab and Islamic Lands, in: Islamic Quarterly, Vol.
25, 1981, S. 98.
12
Hathout, Islamic Basis, S. 65.
13
Hathout u. Lustig, Bioethical Developments, S. 139.
14
Ebd.
15
Islamic Code of Medical Ethics, in: Bulletin of Islamic Medicine, Vol. 1 (Second Edition) Kuwait 1981, S.
748.
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4
obstacle upon genetic research”16 „[…] no ban should be put on scientific research for the
sake of furthering knowledge and revealing God’s traditions in His creation,…“17
Auf derselben Basis konzipiert Abdulaziz Sachedina, (der bei uns Gast war), eine
zustimmende Stellungnahme zur humangenetischen Forschung mit Embryonen. Er überträgt
das Partnerschaftsverständnis zwischen Gott und Mensch beim Schöpfungsakt in der
islamischen Lehre auf die Gentechnik, so dass Forschen und Klonen für „gute Zwecke“ zu
befürworten
sind.18
Unter
den
muslimischen
Gelehrten
erreicht
die
Wissenschaftsbegeisterung sicherlich ihren Höhepunkt bei dem schiitischen Schaich alHarandi aus Iran. Negative Folgen im sozialen Leben oder Missbrauchspotential sind ihm
zufolge keine guten Gründe, um die gentechnische Forschung und Klonen des Menschen zu
beschränken.19
2. Wissenschaftskritisch epistemologisch-metaphysische Ansätze
Die Grundthese dieser Ansätze ist die Untrennbarkeit der Wissenschaft von der Kultur, d.h.
die Methodologie, Zielsetzung und Anwendungsformen der Wissenschaften können nicht
unabhängig von den soziokulturellen Bedingungen der Gesellschaft, in der sie entstanden
sind, betrachtet werden. Da die Entwicklung und Entfaltung der Sozial- und
Naturwissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert auf säkularem Boden stattgefunden haben,
können sie nicht ohne eine Überprüfung und Beurteilung übernommen werden. Ihre
Zielsetzungen und Anwendungsformen von modernen Technologien sollen erst nach
islamischem Wissenschaftsverständnis, Menschenbild und Wertvorstellungen überprüft und
bewertet werden. Basierend auf diesen Grundannahmen entstanden in den 70’er Jahren
mehrere kritische Stellungnahmen zu modernen Wissenschaften und „westlicher Technik“ .
Ismail Raji al-Faruqi20 gehört zu den wichtigsten Namen, der den Begriff „Islamization of
Knowledge“ geprägt und etabliert hat. Faruqi zufolge ist die gegenwärtige Krise der
Muslimen nur durch die intellektuellen Probleme der islamischen Welt erklärbar. Die
Wissenschaften und ihre Methoden entstehen nicht isoliert von historischen und kulturellen
Prägungen. Deswegen sollen sich Muslime dem säkularen Charakter der modernen
Wissenschaften bewusst werden und reflektierend eine islamische Epistemologie
entwickeln.21 Für diese Zwecke gründete er mit anderen muslimischen Intellektuellen
„International Institute of Islamic Thought (IIIT) im Jahr 1981 Herndon/Virginia in den USA.
Das Argument „Different civilizations have produced distinctively different sciences“ 22 stellt
auch bei Ziyauddin Sardar bzw. Ijmali-Schule den Ausgangspunkt dar. Sardar sieht die
westliche Zivilisation mit ihrem universellen Anspruch als eine Bedrohung für die islamische
Welt an und spricht vom instrumentellen Charakter der modernen Wissenschaften. Ihm
zufolge sind die modernen Wissenschaften keine objektiven Phänomene, sondern dienen eher
16
Hathout u. Lustig, Bioethical Developments, S. 144.
Hathout, Islamic Basis, S. 70.
18
Vgl. Sachedina, Cloning, S. 1-3.
19
Vgl. Rispler-Chaim, Genetic Engineering, S. 567-573.
20
Als al-Faruqi am 27.5.1986 ermordet wurde, war er Professor für Geschichte der Religion und islamische
Studien an der Temple University-Philadelphia in den USA.
21
Vgl. FÁrÚqÍ, IsmÁ‘Íl RÁjÍ: Islamisation of Knowledge: Problems, Principles and Prospective, in: Islam:
Source and Purpose of Knowledge, The International Institut of Knowledge (Hrsg.), Herndon 1988, S. 13-63.
22
Sardar, Ziauddin: Arguments for Islamic Science, Delhi 1985, S. 1.
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als Instrumente für die von westlichen Weltanschauung geprägten Ziele. Eine kritiklose
unmittelbare Übernahme dieser Wissenschaften und Technologien würden sicherlich mit
islamischer Lebensweise kollidieren und im schlimmsten Fall die muslimischen
Wertvorstellungen schwinden lassen. Für die Zukunft der islamischen Welt ist die
intellektuelle Auseinandersetzung mit modernen Wissenschaften und Ausarbeitung der
relevanten Umgangsformen mit der modernen Technologien unabdingbar.23
Seyyid Hussein Nasr, Professor für islamische Studien an der George Washington Universität
in den USA, prägt innerhalb dieser Diskussionen den Begriff „sacred science“ und plädiert für
die Rekonstruktion des islamischen Denkens auf der Basis der Offenbarungserkenntnis mit
ontologischen und metaphysischen Reflektionen. Nasr macht den säkularen Charakter der
modernen Wissenschaften und Technologien für die sozialen und ökologischen Krisen der
modernen Welt verantwortlich. Sein Konzept „sacred science“ basiert auf dem Einheitsglaube
(tawhid) und der sich aus diesem Glauben abzuleitenden Kosmologielehre. Nicht eine
Konkurrenzvorstellung zwischen Mensch und Natur, sondern ein kosmologisches
Harmonieverständnis ist für die Mensch-Natur-Beziehung maßgeblich.24
Diese kritischen Einstellungen haben weder mit epistomologischem Ansatz wie bei Faruqi
und Sardar noch mit ontologisch-metaphysische Ansatz wie bei Nasr und Naquib al-Attas25
bis jetzt eine ausgearbeitete Stellungnahme zu ethischen Probleme der Biomedizin entworfen.
Dennoch sollen nun einige nennenswerte Auseinandersetzungen - entstanden im Rahmen der
skizzierten Diskurse - behandelt werden.
Syeds Aufsatz „Islamization of Attitude and Practise in Embryology“, erschienen in den IIITPublikationen, begnügt sich damit, nur einige Parallelitäten zwischen Koranversen über die
Entwicklung des Embryos und den Erkenntnissen der modernen Embryologie aufzuzeigen. In
Publikationen dieser Art, deren Anzahl nicht gering ist, geht es dabei nicht in erster Linie um
eine theologisch-philosophische Position zum Status des Embryos mit Hilfe der ersten
Hauptquelle des Islam zu bearbeiten. Dabei wird eher die koranische Angabe über die
embryologische Entwicklung des Menschen vor 1400 Jahren vor der modernen Embryologie
hervorgehoben, wobei eine apologetische Gesinnung nicht zu verkennen ist. Sicherlich
erreichen diese Art von Publikationen ihren Höhepunkt im Werk „La Bible, le Coran et la
science“ von Maurice Bucaille, der zum Islam übergetretene französische Mediziner. Er selbst
betrachtet seine Studie als einen Versuch, mit Hilfe der modernen Wissenschaften die Verse
Gottes besser zu verstehen.26 (Publikationen dieser Art gehören zu 1. Position)
Munawar Ahmad Anees, der pakistanische Biologe und Islamwissenschaftler, konstatiert eine
ganz andere Einstellung als Buccaile zu den modernen Biowissenschaften. Er kritisiert solche
Sichtweisen, die den Koran als ein Lehrbuch der Embryologie betrachten und dessen
normativen Gehalt missachten.27 In seinen Veröffentlichungen unterstreicht er den
23
Vgl. zu einer detaillierten Darstellung dieser Position Stenberg, Leif: The Islamization of Science. Four
Muslim Positions Developing an Islamic Modernity, Lund 1996, S. 41-96.
24
Vgl dazu Nasr, S. Hossein: The Need for a Sacred Science, New York 1993 und Hahn, Lewis E. et al. (Hrsg.):
The Philosophy of Seyyed Hossein Nasr, The Library of Living Philosophers, Vol. 28, Chicago 2001.
25
Vgl. Al-Attas, S. M. Naquib: IslÁm, Secularism and the Philosophy of the Nature, London 1985.
26
Vgl. Bucaille, Maurice: La Bible, le Coran et la science. Les Ecritures saintes examinées à la lumière des
connaissances modernes, Paris 1976.
27
Vgl. Anees, Re-defining.
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ideologischen Charakter der modernen Biologie und spricht von „Biological Despotism“.28 Er
macht auf den Unterschied zwischen islamischen und biologischen Menschenbild
aufmerksam, und erfordert eine möglichst schnelle intellektuelle Auseinandersetzung mit den
jetzigen und in der Zukunft möglichen gentechnischen Anwendungen. „The Islamic view of
human nature does not consider biology as an inevitability. This single most important
distinction between reductive, deterministic, exploitative biology and the universal worldview
of Islam is crucial in the total elimination of sexism, racism and socioeconomic inequities. We
must confront the biological ideology with the Islamic worldview.“29 Wissenschaftlicher
Reduktionismus, biologischer Determinismus und Objektivismus in den modernen
Biowissenschaften bilden ihm zufolge eine Trinität des Instrumentalismus, die ihren
Höhepunkt durch Gentechnik und deren Klonierung des Menschen erreichen wird.30
Deswegen sollen diese philosophisch-ideologischen Dimensionen auch bei einer islamischen
Rechtsentscheidung mitberücksichtigt werden. „It is no longer sufficient to confine ourselves
to assorted juridical opinions on isolated matters. These issues must be considered in their
ideological context. Muslim individuals must not remain prisoners to their biology that is
definded only through Western technology.“31 Er gibt auch konkrete Beispiele in seinem
Werk “Islam and Biological Futures” an, die mittels moderner Reproduktionstechniken und
Gentechnik machbar sind, aber mit einem islamischen Wertesystem nicht vertretbar sind.32
Eine ähnliche Position vertritt Osman Bakar, Professor für „Islamic Science“ an der
University of Malaya in Kuala Lumpur Malaysia. Er betont den holistischen Charakter der
islamischen Wissenschaften, darunter auch den des islamischen Medizinverständnisses. Der
menschliche Körper ist – vor allem in der mystischen Tradition des Islam - ein kleiner
Kosmos, dessen Studium nicht auf biomedizinische Wissenschaften und Zwecke reduziert
werden kann. Im islamischen Glaubensverständnis kann der Wert eines Menschen nicht auf
körperliche und gesundheitliche Perfektion reduziert werden. Deswegen ist eine
Technikanwendung, die solche Grundprinzipien ignoriert, nicht mit dem islamischen
Menschenbild vereinbar.33
28
Vgl. Anees, Munawar A.: Islam and Biological Futures. Ethics Gender and Technology, London 1989, S. 11
ff.
29
Anees, Biological Futures, S. 15.
30
Vgl. Anees, Re-defining.
31
Anees, Biological Futures, S. 15.
32
Vgl. Anees, Biological Futures.
33
Vgl. Bakar, Islamic Science, S. 181 ff.
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Einige Schlussgedanken (in Bearbeitung!):
Bedeutung dieser Positionen und Argumente
im Algemeinen:

Es gibt keine Einstellung oder Stellungnahme in bioethischen Fragen, die kein Bild
von modernen Naturwissenschaften und Technikanwendung hat (auch wenn man
dieses Verständnis explizit nicht genannt oder nicht reflektiert wird).

Die Mehrheit der Fatwas, institutionelle Stellungnahmen, Gesetzgebung in der
islamischen Welt haben die erste Position (d.h. prowissenschaftlich–
konsequentialistischer Ansatz) als Grundlage für ihre Entscheidungen.

Die Vertreter der zweiten Position haben ein nicht zu unterschätzendes Gewicht in den
akademischen Diskussionen, auch wenn sie keine ausgearbeitete Konzepte haben. Ihr
Einfluss auf die gesetzlichen Regelungen ist kaum zu spüren.

Die Vertreter der zweiten Position leben mehrheitlich in den nicht-muslimischen
Ländern (USA und Europa); sie sind Intellektuellen und keine Gelehrten. Ein neues
Phänomen in der islamischen Geistesgeschichte „Gelehrte versus Intellektuelle“ durch
neue bioethische Probleme (?)
für die Muslime:

Diese Diskussionen weckte Aufmerksamkeit auf den Globalisierungsprozess auf und
ermöglichte eine intensive Auseinandersetzung mit diesem Prozesses. „Was bedeutet
für uns Westen, westliche Technik und Globalisierung?“

Eine gewisse hermeneutische Sensibilität bei der Annäherung zu klassischen Quellen,
z.B. koranische Beschreibung der menschlichen Entwicklung im Muterleib und ihre
normative Implikationen

Kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Denk- und Rechtstradition

Veränderung der klassischen Argumentationsform: kasuistische versus normative
Argumente (?), z.B.:
kasuistisch: Die Beseelung verändert den Status des Embryos kategorisch und somit ist sie
entscheidend für die Schutzwürdigkeit bzw. Nicht-Schutzwürdigkeit des Embryos.
normativ: Die Beseelung verändert den Status des Embryos nur graduell, man könnte daraus
(vor der Beseelung) nicht eine „Nicht-Schutzwürdigkeit“ des Embryos ableiten.
Fragestellung: Können die bioethischen Probleme ein Anlass für die Strukturveränderung in
der klassischen Argumentation sein?
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
Wiederbelebung der philosophischen Tradition in der islamischen Denktradition?
für den interkulturellen und interreligiösen Dialog und die kulturübergreifende Forschung:

Die differenzierte Bearbeitung der normativen Begriffe wie Menschenwürde, Person,
Integrität kann zum besseren Verständnis der Denk- und Argumentationsformen
führen und das Menschenbild und Lebensbild können dadurch besser verstanden
werden. (Meinungsaustausch auf der selben Augenhöhe?)
für die wertplurale Gesellschaft:

Besseres Verständnis der Meinungspluralität, Klarheit im Dissens

Berücksichtigung dieser Argumente in einem Gesetzgebungsverfahren

praxisrelevante (offiziell und inoffizielle) Regelungen

Laienaufklärung

Weitere politische Konsequenzen z.B. EU Beitritt der Türkei
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