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Karl Kardinal Lehmann
Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz
Predigt im Pontifikalamt aus Anlass des 24. Jahrestages der Erwählung
von Papst Johannes Paul II (16.10.) am Sonntag, 20. Oktober 2002,
in der St. Hedwigs-Kathedrale in Berlin
Herr Kardinal,
Herr Apostolischer Nuntius,
meine sehr verehrten Herren Botschafter und Vertreter vieler Länder,
sehr verehrte, liebe Schwestern und Brüder im Herrn!
Es ist für die Kirche, aber auch für die Welt ein besonderes Geschenk, wenn ein Nachfolger
Petri über 24 Jahre durch sein Wirken nach innen und nach außen breite Anerkennung und
hohe Wertschätzung erfährt. Was er sagt und was er tut, findet über die katholische
Glaubensgemeinschaft hinaus bei vielen Menschen Aufmerksamkeit und Resonanz. Dies gilt
vor allem auch für die Wertschätzung bei den Armen und Unterdrückten in aller Welt,
besonders in Afrika sowie in Latein- und Südamerika. So hat Papst Johannes Paul II. in
seinem Pontifikat für die Wirksamkeit der Kirche in die Welt hinein eine neue Intensität und
eine gewaltige Steigerung erreicht. Ein besonderes Zeugnis dafür sind die fast 100 Pastoral-,
Pilger- und Besuchsreisen in alle Kontinente hinein. Wer wiederum Zeuge vor allem beim
Weltjugendtreffen im Juli in Toronto sein durfte, konnte erleben, wie die anwesenden
Jugendlichen aus fast allen Ländern diesen zunächst so gebrechlich wirkenden, jedoch geistig
vitalen und leidenschaftlich engagierten Papst feierten und – man wird es so sagen müssen –
regelrecht liebten.
Welches ist das Geheimnis seines Lebens und Wirkens? Es ist nicht möglich, dies in einer
kurzen Predigt zu entfalten. Dafür gibt es auch eindrucksvolle Biographien seines Lebens und
Darstellungen seines Pontifikates. Aber einen zentralen Zug möchte ich besonders
hervorheben. Dies ist sein im Glauben begründeter Einsatz für die Menschenwürde, die
zugleich die Grundlage aller Menschenrechte ist.
Wenn der Papst über die Würde des Menschen und seine Rechte spricht, hat das sehr oft auch
eine politische Dimension und Wirkung. Aber es ist nicht direkt politisch gezielt. Der Anstoß
ist genuin religiös. Immer geht es um die Verkündigung der Heilsbotschaft der Kirche. Da
aber das Geheimnis Jesu Christi und besonders seine Erlösung radikal auf die Menschen
bezogen ist, erscheint in der Christusbotschaft auch die ganze Wahrheit über den Menschen:
seine Würde, seine endgültige Bestimmung, seine Freiheit, seine Rechte. So gibt es wohl
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kaum einen anderen Satz, den der Papst von der ersten Enzyklika „Redemptor hominis“ (4.
März 1979) bis in die jüngsten Äußerungen hinein so oft anführt: Der Mensch ist der Weg der
Kirche. Damit ist auch eine wesentliche Zusammenfassung einer zentralen Intention des
Zweiten Vatikanischen Konzils gegeben (vgl. GS 18-22), so wie dieser Papst auch ganz
bewusst mit Johannes Paul II. sich die Namen der beiden großen Konzilspäpste Johannes
XXIII. und Pauls VI. zu eigen gemacht hat.
Es ist eine besondere Eigenschaft dieser Äußerungen von Papst Johannes Paul II, wie er
nämlich diese Botschaft ausrichtet. Zwar ist immer ein universaler, menschheitlicher Horizont
gegeben, denn die Würde und die Rechte des Menschen gelten buchstäblich für alle. Aber es
bleibt nicht bei einer allgemeinen Aussage, die am Ende wie eine unverbindliche
Menschheitsverbrüderung aussehen könnte. Der Papst hat immer die konkreten und
geschichtlichen Menschen in ihrer Existenz und ihrer Situation vor Augen. Freilich sind in
ihnen auch alle mitgemeint, denen die Würde und die Rechte versagt bleiben. Wenn der Papst
die Nöte, die Unterdrückung und Bedrohung, den Hunger und die Krankheiten beim Namen
nennt, trifft er immer auch die konkreten Gegebenheiten des einzelnen Menschen. Dies gibt
seiner Verkündigung eine eindrucksvolle Konkretheit, Farbe und Überzeugungskraft,
besonders wenn auch immer wieder die konkrete Person Jesu Christi im Zentrum erscheint,
der Bruder aller Menschen. Dabei gelingt es dem Papst auch, die Strukturen ins Auge zu
fassen, die hinderlich sind für die Verwirklichung der Würde und der Rechte der Menschen.
Aber nie sind es die Strukturen allein, gleichsam ohne die Beteiligung und Verantwortung des
Menschen.
Woher hat der Papst über die Zeit von 24 Jahren die Kraft, um unermüdlich und unverkürzt,
heute mit derselben Leidenschaft wie am Anfang für die grundlegenden Rechte und die
Würde des Menschen konkret einzutreten? Er nennt immer wieder das Unrecht beim Namen,
erhebt Anklage und fordert Abhilfe. Es sind nicht nur die aktuellen Verstrickungen in das
Unrecht, sondern auch die vielfältigen Bedrohungen des Menschen durch politische,
gesellschaftliche und ökonomische Situationen und Systeme. Der Papst ist zutiefst davon
überzeugt, dass der Mensch nicht Sklave der Dinge, Sklave der Wirtschaftssysteme, Sklave
der Produktion, Sklave der eigenen Produkte werden darf (vgl. Ansprache in der
Generalaudienz am 21. Februar 1979).
Ich bin immer wieder und immer stärker davon überzeugt, dass der Papst von den
Erfahrungen geprägt ist, die er während des Krieges in Polen und ganz besonders in der Nähe
des KZ-Lagers Auschwitz mit der unvorstellbaren Missachtung der Würde des Menschen
gemacht hat. Im Sommer 1979 sagte er dies auch in Auschwitz sehr persönlich: „Kann sich
eigentlich noch jemand wundern, dass der Papst, der in diesem Land geboren und erzogen
wurde..., der ... aus jener Diözese kam, in deren Gebiet das Lager Auschwitz liegt, seine erste
Enzyklika ... insgesamt der Sache des Menschen widmete, der Würde des Menschen, seinen
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Bedrohungen und schließlich seinen Rechten? Unveräußerlichen Rechten, die so leicht mit
Füßen getreten und zunichte gemacht werden können durch die Menschen.“ Diese konkrete
Erfahrung sitzt tief und motiviert ihn immer wieder ganz neu.
Der Papst hat mit diesen Ermahnungen und Ermutigungen, ohne es direkt anzuzielen, schon
oft eine große politische Wirkung erzielt. Aber im Kern argumentiert er streng religiös und
theologisch. Als Person hat der Mensch dadurch, dass er Ebenbild Gottes ist, eine einzigartige
Würde. Nicht die Eltern oder der Staat, religiöse, soziale und politische Autoritäten verleihen
dem Menschen Anerkennung. Er ist vor aller menschlichen Bemühung – sei es der
Zuerkennung oder der Aberkennung – immer schon von Gott selbst angenommen. Er ist ein
Ziel in sich selbst und darf darum niemals erniedrigt werden als Mittel zum Zweck, als
Instrument für andere Interessen.
Dies wird in doppelter Richtung ganz besonders entfaltet. Einmal geht es nicht nur um eine
allgemeine Aussage über den Menschen überhaupt, sondern der Papst kommt am Ende immer
von einem christologischen Fundament her: Diese Würde des Menschen ist über die
Erschaffung jedes Einzelnen hinaus im menschgewordenen Sohn Gottes, in Jesus Christus,
grundgelegt, geoffenbart und so dem Menschen verkündigt worden. Wer sich am Menschen
vergreift, greift Jesus Christus an. Wer den Armen zu Hilfe kommt, tut dies für Jesus Christus
selbst. Dies gibt zusätzlich zur Kraft und Verbindlichkeit der Menschenrechte einen religiösen
Schub, damit eine große Vertiefung und eine Verstärkung des Einsatzes. Es ist aber auch
immer wieder so konkret, weil der Papst die Verletzung dieser Würde bei jenen Menschen ins
Auge fasst, die die Opfer sind. Sie dürfen nicht verschwiegen werden. Der bedrängte und der
unter die Räder gekommene, der wehrlose und hilflose Mensch, den man meist übergeht, wird
zum Kriterium aller Rede über die hohe Berufung und die unveräußerlichen Rechte des
Menschen. Es liegt auch hier begründet, warum der Papst immer wieder für die Rechte des
Menschen bei Behinderten, Kindern, Kranken, Alten und Sterbenden eintritt.
In seinen vielen Enzykliken, Katechesen und Predigten spricht der Papst viele Rechte des
Menschen an. Es ist das Recht auf Arbeit und Bildung, auf eine angestammte Heimat und die
Freizügigkeit (Mobilität) des Menschen. Aber es sind wohl besonders vier Bereiche, die der
Papst immer wieder hervorhebt. Dies ist das Evangelium vom Leben (vgl. die Enzyklika
„Evangelium vitae“), das Pochen auf das Recht der Religionsfreiheit, die Forderung nach
einer gerechten Wirtschaftsordnung mit dem notwendigen ökonomischen Ausgleich zwischen
den Ländern des Nordens und des Südens und schließlich die Absage an jeden Weg der
Gewalt zur Erreichung gesellschaftlicher und politischer Ziele.
Auch hier wird man sagen dürfen, dass der Papst durch die Erfahrung von zwei Diktaturen in
seinem eigenen Leben, besonders aber auch durch seine Verantwortung für die Kirche und die
Menschen in allen Ländern der Welt, schließlich eben auch durch seine Reisen und die
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entsprechenden Kontakte sich elementar gedrängt empfindet, diese Botschaft immer wieder in
diesen exemplarischen Feldern zu konkretisieren.
Es gibt viele Zugänge zu diesen Texten (vgl. jetzt Johannes Paul II, Gewissen der Welt. Mit einer
Einleitung von Ernst-Wolfgang Böckenförde, hrsg. von Ulrich Ruh = Spektrum-Taschenbuch, 5334,
Freiburg i.Br. 2002, Verlag Herder). Ich möchte ganz besonders das Recht auf Leben in den
Vordergrund stellen. Dies ist das fundamentale Recht des Menschen mit dem grundlegenden
Gebot Gottes: Du sollst nicht töten! Besonders die unschuldigen und wehrlosen Menschen
sollen in Schutz genommen werden. Wobei dies sich auch auf die Bedrohung, Misshandlung
und z.B. Folterung des Menschen bezieht. Immer wieder kommt der Papst auch auf den
tödlichen Hass zwischen den Völkern, Nationen und Rassen zu sprechen. Das Recht auf
Leben darf auch nicht auf subtile Weise eingeschränkt und abgestuft werden. Es gilt vom
ersten Augenblick der Empfängnis bis zum natürlichen Tod. So eindringlich die Worte des
Papstes sind, so sehr will er diese Ermahnungen und Weisungen unterstützen durch Hilfen
verschiedener Art, vor allem für die Frauen und Mütter, die sich in Not und Bedrängnis
fühlen.
Vieles konnte nur angedeutet werden. In den 24 Jahren des Pontifikates unseres Hl. Vaters
sind in den gesamten Texten unendlich viele Schätze gesammelt. Die Jahresbände der
Veröffentlichungen haben oft über tausend Seiten. Aber hier konnte es nicht um die
Entfaltung in der Fülle gehen, sondern vor allem um das Aufzeigen der innersten, radikalen
Mitte des Lebens und Wirkens von Papst Johannes Paul II. Darum wollen wir ihm in diesen
Tagen seiner Wahl (16.10.) und des feierlichen Beginns seines Petrusdienstes (22.10.) ein
herzliches Vergelt´s Gott sagen für dieses unermüdliche Eintreten zugunsten des Menschen,
seiner Würde, seiner Freiheit und seiner Rechte.
Einem Papst dankt man aber am besten dadurch, dass man sein Vorbild anspornend aufgreift
und seine Initiativen und Weisungen als eigene Zeugnisse je im eigenen Leben und am
eigenen Ort weiterführt. Amen.
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