Volkes Stimme Vor allem die Politiker sind noch nicht reif für die direkte Demokratie Das Volk soll gefragt werden. Alle Parteien haben sich mittlerweile dazu durchgerungen, der direkten Demokratie in der Bundespolitik irgendeine Bresche zu schlagen. Die Parteien tun das, weil die Forderungen nach direkter Demokratie in der Öffentlichkeit lauter werden und weil sie zurecht um ihren Rückhalt im Volke fürchten. Findet eine Wahl des Bundespräsidenten statt, ertönt von vielen Seiten der Ruf nach Direktwahl des Staatsoberhauptes. Soll eine europäische Verfassung kommen, verlangen nicht wenige, das Volk solle darüber abstimmen. Geht es um den Türkei-Beitritt zur EU, fordern vor allem Gegner dieses Projektes Unterschriftenaktionen oder ein Referendum. Auffällig ist, dass sich Befürworter und Gegner direkter Demokratie in der Bundespolitik jeweils danach sortieren, welche politische Rolle sie gerade einnehmen: Regierung oder Opposition. So sind die SPD und besonders die Grünen von ihrer politischen Grundausrichtung her eher Befürworter direkter Demokratie, während die „Bürgerlichen" - Union und FDP – eigentlich Verteidiger der repräsentativen Demokratie sein müssten. Aber als Regierungsparteien haben Rot und Grün da so ihre Bedenken im Einzelnen: „Jetzt den Bundespräsidenten vom Volke wählen zu lassen, wäre wohl etwas überstürzt!“ – „ Eine Abstimmung über die europäische Verfassung lässt das Grundgesetz nicht zu!“ - „Über den Türkei-Beitritt kann man vielleicht in 15 Jahren abstimmen!“ In der CDU/CSU dagegen kann man sich ein Erforschen des Volkswillens speziell in der Türkei-Politik durchaus schon früher vorstellen. Da macht es gar nichts, dass man eigentlich von direkter Demokratie wenig zu halten vorgibt: Die Aktion könnte nach hessischem Muster Wählerstimmen bringen. Die FDP machte sich geradezu zur Lobbyistin für die Direktwahl des Bundespräsidenten. Mit treuem Augenaufschlag wird bei der vereinigten Opposition darüber diskutiert, wie es wäre, wenn man forderte, die europäische Verfassung vom Volke legitimieren zu lassen: Das könnte doch der Regierung lästig werden... Da es mittlerweile zur politischen Korrektheit gehört, für direkte Demokratie zu sein, sinken auch die Parteien dahin: im Prinzip haben sie immer weniger dagegen. Aber jede Partei denkt taktisch. Die Union könnte mit einer „privaten“ Befragung – „Unterschriftensammlung“ genannt - der Regierung in der Türkei -Politik eins auswischen. Die Regierung fürchtet sich in dieser Frage vor Volkes Meinung: Also verteufelt die neu-alte Parteivorsitzende der Grünen eine mögliche Unterschriftenaktion. Der Herr Westerwelle musste vor der 1 Bundespräsidentenwahl 2004 wissen, dass die Bundesversammlung kurzfristig gar nicht durch das Volk ersetzt werden konnte. Gerade wegen der zu erwartenden Folgenlosigkeit seiner Reden konnte Westerwelle sich daher ruhig auf die allgemeine Popularitätswoge setzen und die Direktwahl des Präsidenten fordern. Das Problem ist: Die Politiker denken, Volksabstimmungen und -Befragungen seien mittlerweile „in", also reden sie dafür, bringen Gesetzesentwürfe im Bundestag ein. Aber ihre Politik wollen sie sich durch Volkes Meinung nicht nehmen lassen. Also gehen sie mit den Plebisziten in der Theorie großzügig um, bei Abstimmungen im einzelnen aber sind sie pingelig. Ihre Haltung ist: „Wasch mir den Pelz, aber mach` mich nicht nass!" Das Volk soll abstimmen, aber die Parteipolitiker wollen weiterhin entscheiden. Sie wollen alles in der Hand behalten. Da war nach 1945 der Schöpfer des Grundgesetzes - der Parlamentarische Rat – in seiner Art weiser. Nach Diskussionen über dieses Thema entschied er sich konsequent gegen direkte und für repräsentative Demokratie: Das auf Zeit vom Volk gewählte Parlament sollte Ort der Entscheidungen sein. Dass die Weimarer Republik in die Hitler-Diktatur gerutscht war, habe auch mit einem Zuviel an direkter Demokratie zu tun gehabt, glaubte man damals. Und man hatte vor Augen, wie die Nazis die Zusammenlegung der Ämter des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten ebenso wie den „Anschluss" Österreichs plebiszitär untermauert hatten. Schlecht ist die alte Bundesrepublik mit ihrer repräsentativen Ausrichtung nicht gefahren. Erst in den 80er Jahren und dann im Zuge der Wiedervereinigung wurde der Ruf nach direkter Demokratie lauter. Drei Argumente wurden dafür angeführt: - Das Volk sei mittlerweile reif genug, wichtige Fragen der Nation verantwortlich zu entscheiden. - Bürgerrechtler aus der DDR schütteten das Kind mit dem Bade aus und meinten 1990, das „Bonner" System sei ebenso wenig zeitgemäß wie die abgewirtschaftete Gerontokratie Ostberlins. Die „friedliche Revolution" habe mit direkter Demokratie und runden Tischen den Weg in die Zukunft gewiesen, auch bei den politischen Verfahren. - Schließlich gab es in der alten Bundesrepublik auf Länder- und Kommunalebene bereits direkte Demokratie - interessanter Weise vor allem im „CSU-Staat" Bayern. Es sei dahin gestellt, ob das medienabhängige Volk 2004 wirklich politisch um vieles reifer ist als 1949. Auch ist es evident, dass sich ein großer Industriestaat auf die Dauer nicht mit runden Tischen organisieren lässt. Schließlich sind die Erfahrungen mit der direkten Demokratie in Ländern und Kommunen nicht durchweg so, dass das Volk seine Möglichkeiten tatsächlich wahrnähme und dichter dran wäre an der Politik als im Bund. 2 Dass in der Bundespolitik über direkte Demokratie viel geredet, sie aber nicht praktiziert wird, liegt jedoch vor allem daran, dass die führenden Politiker dafür nicht reif sind. Sie fürchten um ihre Macht. Wenn sie sicher sein könnten, dass sie jedes Referendum über den Beitritt der Türkei zur EU bestehen würden, wären die leitenden Damen und Herren von RotGrün für eine Volksabstimmung. So sind sie dagegen – zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls, wie sie sagen. Wenn er erwarten müsste, eine Flut direkter Demokratie komme auf die Bundesrepublik zu, würde der Vorsitzende der FDP aus Eigeninteresse vorsichtiger sein bei seinem Rufen nach Volkes Stimme. Wenn ihr jemand garantieren könnte, dass die politischen Gegner der CDU keine Unterschriftenaktion gegen ihre Gesundheitspolitik in Gang setzt, würde sie Unterschriftensammlungen vielleicht nicht nur fordern, sondern auch praktizieren. Und wenn sie wüssten, dass das Volk einer EU-Verfassung sein Plazet geben würde, wären auch die Grünen für eine Volksabstimmung hierüber. Die Parteien und die Parlamente in Deutschland haben mittlerweile ein Legitimationsproblem. Höchstens zwei Prozent der Bevölkerung beteiligen sich aktiv an der Arbeit in den Parteien. Zu allgemeinen Wahlen gehen manchmal mehr als 50% der Berechtigen gar nicht hin, und wenn eine Wahlbeteiligung bei 70% liegt, dann gilt das als guter Wert. Der Parlamentarismus braucht eine Ergänzung und Auffrischung durch direkte Demokratie, durch Volkes Wort auch während der Legislaturperioden. Wenn alle Bereiche der Gesellschaft sich reformieren müssen, dann auch die Parlamente und die Parteien. Davor fürchten sich die führenden Politiker. Es wird ihnen nichts helfen. Früher oder später werden Referenden zur Demokratie in Deutschland gehören wie in Frankreich, in Skandinavien und sogar gelegentlich im Mutterland des Parlaments, Großbritannien. Die Politiker hierzulande müssen ihre taktische Einstellung zu den Plebisziten aufgeben und von ihren Kollegen in Westeuropa lernen, dass die Kunst des Politikers nicht nur aus Kungeln in kleinen Runden besteht, sondern dass auch die Fähigkeit zum Dialog mit dem Volk dazu gehört – auch zwischen den Wahlen. Wenn Rot-Grün von der eigenen Türkei-Politik überzeugt ist, muss es den Willen zeigen, die Bevölkerung direkt davon zu überzeugen. Wenn die FDP wirklich die Direktwahl des Bundespräsidenten will, muss sie jetzt, spätestens 2006 eine große Verfassungsreform anregen, bei der die Gewichte zwischen Präsident, Kanzler und Bundestag neu justiert werden. Und wenn die CDU eine Gesundheitsreform mit „Kopfpauschalen“ durchsetzen will, dann muss sie im Volke so viele Anhänger dafür werben, dass sie ein Referendum hierüber nicht fürchten brauchte. 3 Die Zeit ist reif für Dialoge der Politik mit dem Volke auch über Angelegenheiten von nationaler Bedeutung. Dazu müssen die Politiker eine neue Dimension ihres Beruf erschließen: Die Dimension des bundesweiten Gesprächs mit denen, die in ihrem Jargon immer noch die „Menschen draußen im Lande“ genannt werden. Wenn diese Menschen da draußen reinkommen in die Politik, werden auch sie dadurch hinzulernen, „reifer“ werden eben. Eines allerdings ist klar: Bei keinem Referendum wird es eine Erfolgsgarantie für irgendjemand geben. Man kann eine Abstimmung gewinnen, aber auch verlieren. Das muss ein Politiker akzeptieren. Deswegen sollte Politik ja das Geschäft von verantwortlichen und wegweisenden Persönlichkeiten sein und nicht von nach Sicherheit suchenden Karrieristen. Jürgen Dittberner 4