Franz Reithmayr Die Stimme des Herrn IV Man beisst auf Schaumgummi... 2003 * * Entstanden 1986 Schriftenreihe des IaM 7 Reithmayr: Die Stimme des Herrn III – Morbider Ton Steter Tropfen höhlt den Stein, so sagte einst ein weiser Mann. Aber der Schaumgummi, der sauft sich höchstens an.1 Bronner/Qualtinger Die von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrem amerikanischen Exil gemeinsam verfaßte Dialektik der Aufklärung ist vielleicht eines der wichtigsten Dokumente der Philosophie. Philosophie scheitert oft, vielleicht immer; aber nur selten ist dieses Scheitern so ehrenvoll und ergiebig wie in diesem Falle: und kaum je macht die Beobachtung des Scheiterns so wütend und hilflos. Betrachtet man die Dialektik der Aufklärung (in der Folge: DA) böse, wie ich es mitunter nicht vermeiden kann, dann muß man sie als eine sprachliche und intellektuelle Pirouette bezeichnen. Kaum ein zweites Werk dreht sich so behende um sich selbst. Doch was eine gute Pirouette sein will, das dreht sich sehr schnell, so daß der Zuschauer bald nur noch huschende Schatten wahrnimmt, die in Summe etwa den Ort des sich Drehenden angeben. Ich muß mich in meinen Randbemerkungen auf Momentaufnahmen beschränken und kann nur hoffen, daß man mir das verzeihen wird, aber wer sich in den Strudel stürzt, um ihn besser kennenzulernen, wird mit in die Tiefe gerissen. Eine zweite Warnung: Mein Verhältnis zur DA ist ein hochgradig ambivalentes. Anwechselnd nominiere ich sie für die Liste der zehn wichtigsten Bücher und für den Altpapoiercontainer. Ich sehe dieses Verhältnis nicht unbedingt als ein dialektisches, sondern als ein persönliches, das sich unter anderem durch mangelnde Objektivität auszeichnet. Insofern versteht sich der vorliegende Text auch nicht als eine Einführung in die DA, sondern als Dokumentation einer Haßliebe. Seit jeher hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschrittlichen Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herrscher einzusetzen.2 Im Grunde enthält bereits dieser eine Satz – es ist der erste des Haupttextes – den Kern jener Crux, an der die Autoren verzweifeln. Sie wird uns noch in vielerlei Variationen begegnen. Die Aufklärung will den Menschen befreien, dies ist die sicherlich gute Absicht, mit der sie ins Rennen geht. Doch schon bald stellt sich heraus, daß sie bestenfalls den Status des kleineren Übels für sich beanspruchen darf – und nicht einmal das, wie sich zeigen wird. Denn sie will auch – ich meine: zuallererst – „die Menschen als Herren einsetzen“3. Was sich zunächst auf die Natur richtet, schlägt auch auf den Menschen zurück und wird von Adorno später immer wieder als „Objektivierung“ angeprangert: Wo der Mensch Herr ist aufgrund seiner Fähigkeiten zur Handhabung, da ist er auch Herr über sich selbst, da erzeugt er zugleich Knechtschaft. Die Herrschaft, die vor dem Menschen nicht haltmacht, ist der Fluch, den Aufklärung auf sich lädt. Doch der Reihe nach. © 2003 by Institut für angewandte Menschenkunde 2 Reithmayr: Die Stimme des Herrn III – Morbider Ton Der Versuch ihrer Legitimierung als Befreierin der unterdrückten Massen besteht für die Aufklärung immer nur darin, anklagend auf das zu verweisen, was sie überwunden hat, überwunden haben will, überwunden zu haben vorgibt und wohl auch überwunden zu haben glaubt. Dieses – angeblich oder tatsächlich – Überwundene nennen Horkheimer/Adorno Mythos bzw. Mythologie. Über Begriffe kann man immer streiten, aber selbst wenn wir diese Terminologie, die selbst eminent „aufklärerisch“ klingt, akzeptieren, fällt doch eines auf: Der geheimnisvolle Tyrann wird nur recht dürftig beschrieben. Wenn es außerdem heißt: „Auf Naturverhältnisse lassen sich auch die Vorstellungen der Mythen ohne Rest zurückführen“4 (Hervorhebung von mir), scheint es an der Zeit, an die Autoren die Frage zu richten, ob sie denn auch wissen, wovon sie sprechen.a Die Terminologie der DA – ebenso wie die der Negativen Dialektik – läßt nur allzudeutlich erkennen, daß es hier wieder einmal gegen den guten alten Erzfeind jeglichen fortschrittlichen Denkens geht. Pappkamerad Mythos muß einmal mehr dafür herhalten, daß die Aufklärung auch tatsächlich etwas zu bekämpfen hat. Mythos als Inbegriff der überwundenen Vergangenheit muß für alles das geradestehen, von dem der gute Gott von Athen, ´ ς, behauptet, er würde es in seinem Reich nicht dulden.a Eine explizite Definition des Mythos-Begriffs gibt es in der DA nicht, wir sind daher auf mehrere Nebenbemerkungen angewiesen, wenn wir uns genauere inhaltliche Vorstellungen machen wollen. Horkheimer/Adorno sprechen synonym von „neuer Barbarei“5, von einem „Rückfall“6 von Aufklärung in Mythologie und von „nationalistischen, heidnischen und sonstigen Mythologien“7. Sie sprechen von „falscher Klarheit“8 und davon, daß Aufklärung sich in Mythologie „verstricke“9. Jeder Zweifel verbietet sich: Mythos bzw. Mythologie weisen hin auf Dogmatik, Doktrin, Intoleranz, Unfreiheit, Unterdrückung, auf all das, was die Vernunft nach eigener Aussage schon längst vom Erdboden hätte tilgen müssen. Der Teufel, der Horkheimer/Adorno geritten haben muß, als sie sich dafür entschieden, alles Schlechte in der Welt unter dem Begriff Mythos zusammenzufassen, heißt Walter Benjamin. Benjamin stellt mit kritischem Blick auf die Gegenwart fest, daß die Vernunft ihr Pensum nicht erfüllt hat: Mythisch beherrscht nennt Benjamin auch noch die aktuelle Geschichte; und zwar nicht etwa, weil sich die Götterlehre der Griechen durchgesetzt hätte, sondern weil auch in der Moderne der Mensch sich unverändert einer übermächtigen Wirklichkeit gegenübersieht, weil er die Bedingungen seines Daseins nicht in der Hand hat...10 Insbesondere im Recht sieht Benjamin eine Nachfolgegestalt der alten Verhältnisse. „Mythos und Gewalt sind ihm dabei synonyme Begriffe.“11 Das hat zwei Gründe: Zum ersten beruhen a Diese Frage geht von der Voraussetzung aus, daß hier nicht ein unendlich dehnbarer Naturbegriff im Spiel ist, wofür es allerdings nicht den geringsten Hinweis gibt. © 2003 by Institut für angewandte Menschenkunde 3 Reithmayr: Die Stimme des Herrn III – Morbider Ton die Rechtsverhältnisse auf Gewalt und nur die Androhung von Gewalt kann die Einhaltung des Rechts garantieren. Dies bringt sich auch dort noch zum Ausdruck, wo einem Vertrag für den Fall der Nichteinhaltung eine Sanktionsklausel angeschlossen wird. Der zweite Grund ist derjenige, der für die DA und für den späten Adorno im Zentrum der Kritik steht: Weil und insofern das Recht für alle gelten will, muß es von den Besonderheiten abstrahieren. Damit verbleibt es im Allgemeinen, das ihm den Blick auf die wahren Verhältnisse verbaut. Der Adorno der Negative Dialektik wird später zusammenfassend sagen: Recht ist das Urphänomen irrationaler Rationalität. In ihr wird das formale Äquivalenzprinzip zur Norm, alle schlägt es über den selben Leisten. Solche Gleichheit, in der die Differenzen untergehen, leistet geheim der Ungleichheit Vorschub; nachlebender Mythos inmitten einer nur zum Schein entmythologisierten Menschheit.12 So ist auch Benjamins klassisch gewordener Satz zu verstehen: „Solange es noch einen Bettler gibt, solange gibt es noch Mythos.“13 b Diesem Mythos steht nicht nur in der Tradition das gegenüber, was sich selbst unter anderem Aufklärung nennt und als die große Befreierin von idealen und materiellen Ketten versteht. Aufklärung wird vorerst noch verstanden als Antithese zu Mythologie. Sie soll und will alles das wiedergutmachen, was diese an den Menschen verbrochen hat. Doch so einfach ist die Sache nicht, denn der vorgegaukelte Dualismus ist eben keiner: Grob ließe sich die erste Abhandlungc in ihrem kritischen Teil auf zwei Thesen sich bringen: schon Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.14 Beginnen wir mit der ersten These: Schon Mythos ist Aufklärung. Was lange Zeit hindurch von Philosophen und anderen Logophilen nicht nur angezweifelt, sondern aufs Heftigste bestritten wurde, beginnt im 20. Jahrhundert langsam zu einer vertretbaren Meinung zu werden. Mythen werden salonfähig, auch jenseits der vor allem im Romantizismus geübten kontemplativen Schau. Aber Horkheimer/Adorno gehen weiter: Mythen haben nicht nur irgendwie mit Aufklärung qua richtigem und vernünftigem Denken zu tun, sie sind sogar „Produkte der Aufklärung“15, ja mehr als das, „die Mythologie selbst hat den endlosen Prozeß der Aufklärung ins Spiel gesetzt.“16 a Ein argumentatives Schema, das sich bei der Atomwirtschaft wiederfindet, die Verzicht auf Atomstrom gleichsetzt mit Kerzenlicht und Kaltwasser. b Im Sinne einer philosophiegeschichtlichen Randbemerkung, die nichts weiter sein will als Randbemerkung, sei auch noch auf eine bemerkenswerte Stelle in Blaise Pascals Pensées hingewiesen. In einem längeren Abschnitt, der sich wie ein Vorgriff auf Benjamin, Horkheimer und Adorno liest und ebenfalls um das Problem der Legitimität von Gesetzen kreist, finden sich unter anderem folgenden Sätze: Die Gewohnheit schafft alle Gerechtigkeit, und zwar allein darum, weil sie allgemein anerkannt wird; das ist die mythische Grundlage ihrer Autorität. Wer sie auf ihr Prinzip zurückführt, zerstört sie c Gemeint ist der Haupttext der DA: Begriff der Aufklärung © 2003 by Institut für angewandte Menschenkunde 4 Reithmayr: Die Stimme des Herrn III – Morbider Ton Der Mythos wollte berichten, nennen, den Ursprung sagen: damit aber darstellen, festhalten, erklären.17 Damit vollbringt er das Pensum der Aufklärung. Indem er die Welt darstellt und erklärt, nimmt er die Furcht von den Menschen und setzt sie als Herren ein, hat also immer schon das Ziel der Aufklärung auch erreicht. Als sprachlich entfaltete Totalität, deren Wahrnehmungsanspruch den älteren myythischen Glauben, die Volksreligion, herabdrückt, ist der solare, patriarchale Mythos selbst Aufklärung, mit der die philosophische auf einer Ebene sich messen kann.18 Alle aufklärerischen Mechanismen lassen sich bereits in den Mythen nachweisen. Die Mythen, wie die Tragiker sie vorfanden, stehen schon im Zeichen jener Disziplin und Macht, die Bacon als das Ziel verherrlichte. An die Stelle der lokalen Geister und Dämonen war der Himmel und seine Hierarchie getreten... Die olympischen Gottheiten sind nicht mehr unmittelbar mit Elementen identisch, sie bedeuten sie.19 Wo der Magier noch direkten Umgang mit den Naturgewalten hat, die ihm als Wesen gegenübertreten, da vollzieht der Mythos der Hochreligion bereits den ersten Schritt der Abstraktion und Objektivierung. „Die Götter scheiden sich von den Stoffen als deren Inbegriffe.“20 Doch schon der Magier, für den die Natur noch nicht bloße Objektivität ist, legt den Grundstein: „Die Substitution beim Opfer bezeichnet einen Schritt zur diskursiven Logik hin.“21 Das Opfertier stellt bei aller Individualität, die es gegebenenfalls aufweisen muß (bestimmt Eigenschaften), ein beliebiges Exemplar der Gattung dar. Doch dadurch, daß es in Stellvertretung eines Einmaligen zum Opfer geführt wird, bewahrt sich „die Heiligkeit des hic et nunc.“22 Das hic et nunc fällt ebenso wie das personale Prinzip der Magie bereits dem solaren Mythos zum Opfer. Die chaotische Vielfalt der Naturkräfte wird geordnet und den Göttern unterworfen, die ihrerseits in den hierarchischen Systems ihren festen Platz haben, von dem aus sie ihre Untergebenen kommandieren. Nicht mehr tritt der Magier selbst mit der Natur in Verbindung, um sie sich wohlwollend zu stimmen (in einem Deal zwischen Gleichen), sondern der Priester erkauft sch beim Herrn der Naturwesen deren Gehorsam. „Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie die Macht ausüben.“23 Diese Entfremdung beginnt bereits hier, als erster Schritt zur umfassenden Objektivierung der Natur. Sie wird vom Gesprächspartner zum Verhandlungsgegenstand. Doch all das können erst Annäherungen an den Gehalt der ersten These sein, denn um sie wirklich zu verstehen, müssen wir uns zunächst mit der (auch umfagsmäßig) gewichtigeren zweiten auseinandersetzen. Was in der Einleitung noch relativ harmlos geheißen hatte: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück, zeigt sich bei genauerer Betrachtung als einer der fürchterlichsten Flüche, die je im Namen der Philosophie ausgesprochen wurden. Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt.24 © 2003 by Institut für angewandte Menschenkunde 5 Reithmayr: Die Stimme des Herrn III – Morbider Ton So heißt es im Anschluß an ein längeres Zitat aus Bacons In Praise Of Knowledge, dem Horkheimer/Adorno zweierlei zugestehen: Zum einen eine großartige Einsicht in das Wesen und die Zukunft der Wissenschaften; und zum zweiten, daß er erkennt, wohin der Hase läuft: Die sich hier anbahnende Ehe zwischen Natur und Verstand ist eine – im schlimmsten Sinn des Wortes – patriarchalische. Einzig der Verstand hat das Sagen, die Natur muß bloß gehorchen. In dieser Vision einer unterjochten und beherrschten Welt liegt ebendiese Einsicht. Horkheimer/Adorno: Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und den Menschen vollends zu beherrschen.25 Die Aufklärung darf, sofern sie die Furcht vom Menschen nehmen will, nichts Unbekanntes dulden. Das Unbekannte wird bekannt gemacht, indem es auf Bekanntes zurückgeführt wird. Soweit ist Aufklärung immer schon, auch in den ersten Anfängen. Doch im Sinne der besseren Handhabung gilt es, der Vielfalt entgegenzutreten. Die bürgerliche Gesellschaft ist beherrscht vom Äquivalent. Sie macht ungleichnamiges komparabel, indem sie es auf abstrakte Größen reduziert. Der Aufklärung wird zum Schein, was in Zahlen, zuletzt in der Eins, nicht aufgeht.26 Die Eins bezeichnet das Ideal der Aufklärung, das eine System, in dem alles seinen ihm zugewiesenen Platz hat, und aus dem alles abgeleitet werden kann. Vor den Augen der Aufklärung wird „die Welt ... zum Chaos und Synthesis zur Rettung.“27 Die Absage des Xenophanes an die Vielzahl von Göttergestalten hat hier ebenso seinen Platz wie der systematische Trieb Hegels und die Denunzierung der Sprache durch die Logiker. „Was dem Maß von Berechenbarkeit und Nützlichkeit sich nicht fügen will, gilt der Aufklärung für verdächtig.“28 „Aufklärung ist totalitär.“29 Die Berechenbarkeit der Welt vernichtet das Wesen der Welt, die Besonderheit. Vergleichbarkeit geht über in Gleichwertigkeit und schließlich in Gleichheit. Diese Gleichheit ist aber keine, und deshalb „repressive Egalität“30. „Die Abstraktion, das Werkzeug der Aufklärung, verhält sich zu ihren Objekten ... als Liquidation.“31 „Was anders wäre, wird gleichgemacht.“32 Wo Aufklärung den Mythos als Anthropomorphismus entlarvt, der bloß die Kategorien der Subjekts auf die Natur anwendet, da kehrt sie den Spieß um und verwandelt Subjekt in Objekt, in einen Gegenstand der Herrschaft. Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu dem Menschen. Er kennt sie, insofern er sie machen kann. Der Mann der Wissenschaften kennt die Dinge, indem er sie machen kann.33 Der Aufklärung verschwimmt der Unterschied zwischen Objekt und Subjekt, zwischen Dingen und Menschen. Ich könnte nahezu beliebige Sätze aus dem Begriff der Aufklärung herausgreifen, die Tendenz des wütenden Angriffs, der schweren Vorwürfe halten sich durch. Faktum ist, daß dort, wo die Entwicklung von ein wenig Aufklärung zu sehr viel Aufklärung geschildert wird, wo man also annehmnen sollte, daß die der Furcht ledigen © 2003 by Institut für angewandte Menschenkunde 6 Reithmayr: Die Stimme des Herrn III – Morbider Ton Menschen ein besseres, freieres Leben führen könnten, daß ebendort nicht anderes als eine Beschreibung des stetigen und unaufhaltsamen Anwachsens der Tyrranei gegeben wird. Wer durch die beiden Thesen einmal durchgegangen ist, wer sie verstanden hat und sie sich gegenwärtig hält, der ist nun gerüstet, sich mit der zweiten These wieder an die erste heranzumachen. Jetzt wird er sie mit anderen Augen betrachten, kann tiefer in sie eindringen, um sich, solchermaßen gestählt, wieder der zweiten zuzuwenden usw. Das ist zwar nicht das von Horkheimer/Adorno geforderte Prozedere, aber das ist die Situation, in der sich jemand wiederfindet, der – wie ich – die DA mehrmals liest. Es ist durchaus empfehlenswert, das zu tun, und noch bei der soundsovielten Lektüre findet sich mitunter ein Gedanke, der zuvor nicht warhgenommen wurde. Doch das oftmalige Lesen der DA hat einen weiteren Effekt: Heidegger kennt Ähnliches als Spiegel-Spiel, Akustiker kennen es als Rückkoppelung, und jeder kann es mittels einer Videocamera und eines Bildschirms in der Variante Bild im Bild im Bild im Bild im Bild reproduzieren. Ach ja, eine Rückkoppelung hört sich nicht besonders gut an. Und nach ein Ach ja: außer unzähligen, immer kleiner werdender Bildschirmen, die sich schließlich in einer imaginären Unendlichkeit verlieren, hat der vor dem Bildschirm Sitzende nichts, an dem sein Auge sich erfreuen könnte. Und über die spät-todtnauschen Spiegelfechtereien gibt es nicht viel mehr zu sagen als über jedes andere in die Jahre gekommene Spiegelkabinett, das mit halbblindem Inventar von Kirmes zu Kirmes zieht. In diesem Sinne ergibt sich folgende Bilanz der DA: Mythologie unterdrückt die Menschen. Dagegen erhabt sich Aufklärung, um sie von ihrem Joch zu befreien. Aber Aufklärung ist immer schon Rückfall. Also: Je mehr Aufklärung, um so mehr Tyrannei. Trotzdem: Je weniger Mythos, um so mehr Freiheit. Obwohl: Je weniger Nicht-Mythos, also Aufklärung, auch um so mehr Freiheit. Aber trotz allem: Je mehr Aufklärung, um so weniger Mythos. Und: Je weniger Aufklärung, um so mehr Mythos. In summa: Je mehr Aufklärung, um so mehr Rückfall, um so mehr Mythos, um so mehr Tyrannei, um so weniger Aufklärung, um so weniger Rückfall, um so weniger Mythos, um so weniger Tyrannei, um so mehr Aufklärung, um so mehr Mythos, um so mehr Tyrannei, um so weniger Aufklärung, um so weniger Mythos, um so weniger Tyrannei, um so mehr Aufklärung, um so mehr Mythos, um so weniger Aufklärung, um so weniger Mythos, um so mehr Aufklärung... Das ist Dialektik! Das ist Dialektik? Die DA ist ein Denkmal der Enttäuschung zweier Männer, die sich von ihrem Ideal verraten fühlen. Dieselbe Aufklärung, in deren Namen auch sie angetreten waren zum Kampf gegen Unrecht und Unterdrückung, stellt sich ihnen nach einer Reihe von Aha-Erlebnissen als das dar, gegen das sie ursprünglich vorgegangen waren. Die höchste intellektuelle Anstrengung nicht nur umsonst, sondern sogar dem Feind zugute kommend. Aufklärung ist nicht, was sie schien. Ein Engel stürzte. Aber es ist trotz allem noch die Aufklärung. Mit wahrer Nibelungentreue werfen sich Horkheimer/Adorno in die Schlacht, um Aufklärung vor sich selbst zu verteidigen. © 2003 by Institut für angewandte Menschenkunde 7 Reithmayr: Die Stimme des Herrn III – Morbider Ton Aufklärung ist aber seit Menschengedenken gegen den Mythos. Damit hat das Kind einen Namen, der Feind scheint gebannt. Mit dieser Überzeugung im Rücken machen sich die Autoren an die Inszenierung einer unfreiwilligen Verwechslungstragikomödie, die ihresgleichen nicht findet. Aber so ist die Dialektik eben. Dialektik muß so sein. Aber muß Dialektik sein? Die Kernaussage der DA läßt sich vielleicht ganz einfach, ganz undialektisch formulieren, etwa so: Das Anwachsen von Naturbeherrschung, das nach dem Willen der Menschen allen anderen und nach dem Plan der frühen Aufklärer vor allem den Unterprivilegierten zugute kommen sollte, kommt noch in verstärktem Ausmaß den Herrschenden zugute. Kein Ideal darf zum erratischen Block erstarren, der sich zum Selbstzweck wird, da es sonst Gefahr läuft, aus Gründen der Selbsterhaltung – also quasi aus Sachzwang – repressiv zu werden, repressiv werden zu müssen. Wenn dieses Ideal aber ausgerechnet gegen Repression auftritt, dann führt es sich selbst ad absurdum, dann pervertiert es. Diese Darstellung verkürzt, wie ich gerne gestehe. Sie enthält gerade die wichtigsten Aussagen nicht, nämlich die Analyse der Mechanismen, den Aufweis der Notwendigkeit solchen Geschehens. Genau das soll die Dialektik aber ans Licht befördern: Das Resultat ist dann ... der gesamte Gedankenprozeß mit allen Behauptungen, Analysen, Einschränkungen und so fort, in welchem nicht allein die aufgetretenen Meinungen, sondern auch die realen Verhältnisse in ihrer Relativität und Vergänglichkeit erkannt werden...34 Doch auch die Summe der Behauptungen, Analysen, Einschränkungen und so fort könnte anders formuliert werden. Dies würde zwar die sprachliche Schönheit (?) der beiden Thesen schmälern, weil die Kontrastwirkung verloren ginge, aber ein Verzicht auf die kreisende Bewegung des Gedankens ließe sich möglicherweise ein Resultat erkennen, das nicht immer schon keines mehr ist, weil es die ihm zugrundeliegende Tautologie wiederholt. Doch ein Denken, das sich ständig im Kreise bewegt, ist – ich möchte fast sagen: a priori – dazu verdammt, früher oder später die Suche nach einem Ausweg als sinnlos abzubrechen. In dieser Hinsicht erinnert die DA an den Betrunkenen, der sich mehrmals um eine Litfaßsäule herumtastet und schließlich verzweifelt feststellt: Eingemauert! Der Mythos (oder die Aufklärung?) ringt mit sich selbst in Gestalt der Aufklärung (oder des Mythos?), und wir lesen die Sportberichterstattung von Horkheimer/Adorno, die sich immer nur um die zentrale Frage Nestroyscher Philosophie dreht: Wer ist stärker? Ich oder ich? Sei es ein Versehen, sei es ein wohlgeplanter Ausdruck dessen, daß auch die DA im Mythos verhaftet bleibt, jedenfalls fällt noch etwas auf. Horkheimer/Adorno schreiben über die Aufklärung: Als Grund des Mythos hat sie seit je den Anthropomorphismus ... aufgefaßt. Das Übernatürliche, Geister und Dämonen, seien Spiegelbilder der Menschen, die von Natürlichem sich schrecken lassen.35 Ob absichtlich oder nicht, jedenfalls bekennen sich Horkheimer/Adorno recht deutlich zum Mythos, denn manche Formulierungen lassen den Eindruck entstehen, in der DA sei die Rede von spirituellen Wesenheiten, die auf der Erde schalten und walten und mit denen die © 2003 by Institut für angewandte Menschenkunde 8 Reithmayr: Die Stimme des Herrn III – Morbider Ton Menschheit gar nichts zu tun hat. Ich meine damit nicht so sehr die unzähligen Stellen, in denen berichtet wird, was die Aufklärung alles tut oder läßt. Ich meine Sätze wie diese: Tritt er [der triumphierende Gedanke] willentlich aus seinem kritischen Element heraus als bloßes Mittel in den Dienst eines Bestehenden, so treibt er wider Willen dazu, das Positive, das er sich erwählte, in ein Negatives, Zerstörerisches zu verwandeln.36 Der Gedanke an einen selbstbewußten Gedanken, der sich – es lebe die Dialektik! – willentlich wider Willen ist, erschreckt mich. Was nun, wenn mir morgen oder übermorgen ein triumphierender Gedanke begegnet, der aus seinem kritischen Element herausgetreten ist? Soll ich ihn auffordern, sich schleunigst wieder dahin zu begeben, wo er herkommt? Wer kommt für den Flurschaden auf, den er doch sicherlich hinterläßt, da er doch sein Positives in ein Negatives, und was noch schlimmer ist, in ein Zerstörerisches verwandelt hat? Gedanken mögen frei sein, aber so weit ist meines Wissens ihre Emanzipation noch nicht gediehen, daß sie als selbständige Wesen unter uns wandeln. Horkheimer/Adorno bewegen sich nicht selten in einer menschenleeren Welt, die von Gedanken beherrscht wird.a Hinter jeder Ecke lauern dämonische Kategorien und Ideen, die die umherschweifende Gedanken hinterrücks anspringen und sich parasitär in ihnen einnisten. Ich habe gewarnt: Mein Verhältnis zu DA ist ein sonderbares. Aber ich habe auch vorbereitet: Ich weise methodische Eigenheiten auf. a Eine spätmarxistische re-hegelianisierende Konterrevolution, die wieder einmal alles umkehrt, diesmal eben zurück auf den Kopf? © 2003 by Institut für angewandte Menschenkunde 9 Reithmayr: Die Stimme des Herrn III – Morbider Ton Intermezzo: Das Unbehagen des J.A. Finster war´s, der Mond schien helle, Schnee lag auf der dunklen Flur, Als ein Auto blitzeschnelle langsam um die Ecke fuhr. Drinnen saßen stehend Leute, schweigend ins Gespräch vertieft, als ein totgeschoss´ner Hase auf dem Randstein Schlittschuh lief Kindervers Das Unbehagen des J.A. besteht schon viel länger als meines. Er drückte es bereits zu einem Zeitpunkt aus, als ich vermutlich gerade die Berechnung einer Rechtecksfläche zu erlernen versuchte, 1967. J.A. hat mich zur Philosophie gebracht, sinnigerweise dadurch, daß er meine pubertäre Koketterie mit dem Selbstmord philosophisch untermauerte und eine Schilderung des Alterns gab, die schon den etwa Fünfzehnjährigen ein erstes Mal sterben ließ. Der inzwischen schon lange nicht mehr Fünfzehnjährige, der sich bereits von der bloßen Verehrung der DA losgemacht hatte, fand eines Tages ein Buch seines ersten Lehrers. Und – nachdem er ihn eine Zeit lang aus den Augen verloren hatte – er fand darin seinen Lehrer wieder, als er sich selbst als Schüler wiedererkannte. Der Lehrer: J.A., Jean Améry. Das Buch: Widersprüche.37 Die Quäler sind jene Opfer, die dadurch weniger leiden, daß die Gesellschaft sie im Gequälten sich objektivieren läßt.38 Dieser Satz bietet Améry Anlaß, um sich in einem Aufsatz mit dem Titel Jargon der Dialektik mit den zunächst nur sprachlichen, damit aber auch inhaltlichen Verfehlungen dialektischen Denkens auseinanderzusetzen. Die Quäler, deren Opferrolle hier hervorgestrichen werden soll, sind die Männer der SS, die – wie der ehemalige KZ-Insaße Améry wenig schonungsvoll paraphrasiert – „sich in uns mit Foltereisen ,objektivierten’“39. Der Inhalt des oben wiedergegebenen Aphorismus ist klar: Nicht nur die Juden, die Rassefremden, die Abartigen, die Unwerten usw., sondern auch die Mitläufer, diejenigen, die das Regime mit Rat und vor allem mit Tat unterstützten, seien als Opfer anzusehen. Es werfen sich hier allerdings Fragen auf: Wo ist die Grenze zwischen den „Quäler-Opfern“ und den „Opfer-Opfern“? Wer sind die Quäler im Gegensatz zu den gequälten Qäulern? Wo liegt der Punkt, an dem – mit Améry zu sprechen – die Teufel auch arme Teufel sind? Gibt es noch so etwas wie konkrete Schuld, oder liegt diese immer nur bei der Gesellschaft, die sich doch aus ihren eigenen Opfern zusammensetzt? Die Frage, die Améry in diesem Zusammenhang am meisten interessiert, gleicht derjenigen, die ich oben an die Autoren der DA richtete: Warum mußte der geschilderte Zusammenhang unbedingt auf eine Weise formuliert werden, die beide Seiten des ungleichen Verhältnisses auf einen Begriff bringt? Warum nicht den Henker Henker und den Delinquenten Delinquent nennen? Was veranlaßt den Autor, nicht ganz einfach von gesellschaftlichem © 2003 by Institut für angewandte Menschenkunde 10 Reithmayr: Die Stimme des Herrn III – Morbider Ton Druck zu sprechen, dem auch die Quäler unterliegen? Welcher Wahnsinn steht hinter dem Versuch, einen von der Gesellschaft bedrängten Mörder, der im Namen ebendieser Gesellschaft mordet, und den von ihm Ermordeten zumindest sprachlich in einen Topf zu werfen? Amérys Verdacht, dem sich anzuschließen, nicht schwerfällt, geht dahin, daß – banal gesagt – komplizierte Sätze nach mehr klingen. Der Inhalt dieses Satzes ist „möglicherweise richtig“, gewiß aber „sehr unoriginell“, wobei weiters die Frage offen bleibt, inwieweit der gesellschaftliche Druck als Halb-und-halb-Rechtfertigung für Bestialitäten unsäglichen Ausmaßes evoziert werden darf. Wie dem auch sei: es wäre sich jedenfalls der Dialektiker als altmodischer Tropf vorgekommen,40 hätte er den Satz unter Verzicht auf die dialektische Sprachgestaltungsmittel formuliert. Der zitierte Autor ist ein Opfer(?) des Jargons der Dialektik. Jargon, was ist das? Améry wehrt sich gegen die Gleichsetzung von Jargon und Fachsprache. Jargon, so sagt er, entsteht nicht aus einer vom Gegenstand oder von der Methode geforderten Notwendigkeit, sondern ist im Gegensatz zu einer hochgradig durchdefinierten und in ihren Begriffen eindeutig festgelegten Sondersprache ein „regelloses Sprachspiel“41. Als Hinweis führt Améry an, daß wohl kaum jemals eine hochqualifizierte Terminologie Eingang in die gesellschaftliche Konversation fände, weil jeder, der sich ihrer bediente, Gefahr liefe, von einem wirklichen Kenner der Materie als „Tiefenschwätzer“42 entlarvt zu werden. Der Jargon hingegen nimmt vom Sprecher die Furcht, Blödsinn zu reden, präziser: Er nimmt dem Sprecher die Furcht, dabei ertappt zu werden. Wer vom Sein und vom Nichts, von der Reflektiertheit und von der Entfremdung und der, nun ja: der Dialektik redet, läuft diese Gefahr nicht. Spricht er in einer Unterhaltung über Existenzphilosophie ausgleitenderweise vom Seienden, das sich im Sein verbirgt, statt umgekehrt, gilt das gleichviel; mit hoher Wahrscheinlichkeit darf gerechnet werden, daß der etwa anwesende Philosoph, statt verächtlich die Achseln zu zucken, sich überlegt, ob ihm selbst nicht diese Variation Heideggers in der Fülle der Literatur entgangen sei und er darum die ontologischen Chancen dieser neuen Spielart mit Sorgfalt zu erwägen habe.43 Um wieviel mehr muß das gelten für eine Denkweise, die sich nicht scheut, den Satz Schwarz ist Weiß mit der Feststellung zu kommentieren, man sehe hier „die Dialektik am Werk“. Die Gefahr der Jargonisierung ist gerade in der Philosophie äußerst groß, da es kaum (kaum?) Begriffe gibt, über deren Inhalt und Bedeutung Konsens besteht. Ein kurzer Blick in die Geschichte zeigt, daß nicht selten Schüler gerade auf den Fehlern und Mißverständnissen ihrer Lehrer neue Gedankengebäude errichtet, die trotz – oder vielleicht sogar wegen – ihrer zweifelhaften Abstammung großen Erfolg haben. Jeder Gedanke ist zumindest implizite schon gedacht, jedem Gedanken läßt sich deshalb auch eine Heimat geben. Irgend jemand war immer schon da, auf den man sich berufen kann, so schlimm kann man gar nicht danebengreifen. In dieser Situation kann die Dialektik leicht immunisierende Wirkung zukommen. Unter Berufung auf sie kann alles als zumindest auch richtig erwiesen werden. © 2003 by Institut für angewandte Menschenkunde 11 Reithmayr: Die Stimme des Herrn III – Morbider Ton Es gibt keine Disziplin, die so dem tödlichen Eindringen von Unsinn ausgeliefert wäre wie die Philosophie. Und keine andere Sprache ist so sehr wie die ihre bedroht von der Jargonisierung. [...] Es gibt ... kaum eine Philosophie, die nicht Jargon geworden wäre.44 Améry hat bereits einmal auf den allerdings recht leicht zu treffenden Heidegger eingeschlagen. Doch dieser ist es nicht, der ihn beunruhigt. Der Jargon der Eigentlichkeit hat sich als sehr uneigentlich ... erwiesen. Die Tiefenschwätzerei solchen Musters versickert.45 Dafür steht ein anderer Jargon im Begriff, die Sprache aufzublähen. Dieser ist nicht reaktionär, im Gegenteil: er gibt sich progressiv bis progressivistisch. Er ist nicht raunend, sondern schneidend, nicht wuchtig-gewichtig, sondern scharfelegant. [...] Es ist der Jargon der Dialektik... Dort geht es hoch her mit Reflektiertheit und negativer Positivität, mit Verdinglichung, unglücklichem Bewußtsein und Fungibilität.46 Als Zeugen ruft Améry unter anderem den sicherlich unverdächtigen Herbert Marcuse auf. Als dieser eines Tages befragt wurde, welches Buch seiner Meinung nach geschrieben werden sollte, antwortete der: Ich schlage vor ein sehr seriöses, Titel „Ganz ohne Dialektik geht die Chose nicht – Zur Pathologie des Zeitgeistes“. Damit es kein Wälzer wird, Beschränkung auf die letzten fünf Jahre. Kapitel eins: Wie oft ist das Wort „dialektisch“ gebraucht worden? Es genügt, wenn die Zählung bis zu einer Million durchgeführt wird.47 Was Marcuse hier anspricht, ist ein Phänomen, in dem Améry das deutlichste Symptom für den Ausbruch des Jargons erblickt: Alles wird dialektisch. „Man spricht dann nicht mehr von ,Spannungen’, sondern von ,dialektischen Spannungen’. Ein Gegensatz wird zum dialektischen Gegensatz.“48 Was ist Dialektik? Unter Berufung auf einen Mann aus dem dialektischen Lager – Robert Heiss – hält Améry an seiner Aussage fest, daß sie keine Methode „im Sinne systematischer wissenschaftlicher Wegbereitung der Erkennntis“49 ist (was ihm auch der Adorno der Negative Dialektik bestätigen würde). Darin sieht Améry einen Hauptgrund dafür, daß Jargondialektik kaum von authentischer Dialektik unterscheidbar ist. Dialektik ist aber auch nicht – und noch viel weniger – „auffindbare Realität“ oder „Eigenschaft der Natur“. Ich proponiere, im vollen Bewußtsein der Vorläufigkeit meines Vorschlags, eine Definition, die bereits angedeutet war: Dialektik ist eine Allüre des Denkens.50 Die Crux besteht nun darin, daß Dialektik so erschreckend leicht nachahmbar [ist], wobei zur Nachahmung auch Selbstnachahmung gehört. Nicht selten sehen wir denn authentische dialektische Denker als Opfer ihres eigenen Jargons, an den sie sich gewöhnt haben und den sie nun serienmäßig reproduzieren.51 „Nur eines ist inmitten dialektischer Spiegelfechterei sicher: banal ist der dialektische Satz niemals.“52 Hier sieht Améry die Fäden zusammenlaufen. Im Verein mit einem Satz des Großmeisters der Dialektik des 20. Jahrhunderts, Adornos „Das Banale kann nicht wahr sein“53, ergibt sich eine Diagnose, die interessanterweise an jene der DA erinnert. © 2003 by Institut für angewandte Menschenkunde 12 Reithmayr: Die Stimme des Herrn III – Morbider Ton Horkheimer/Adorno wollen nach eigenen Angaben in der DA zeigen, daß „die Ursache des Rückfalls von Aufklärung in Mythologie ... bei der in Furcht vor der Wahrheit erstarrenden Aufklärung selbst liegt.“54 Améry sieht den Grund für den Verfall authentischer Dialektik zum Jargon in einer „Furcht vor der Banalität, die allenthalben Panik erzeugt.“55 Den dialektischen Denkern sitzt allerwegen die Furcht vor der Banalität im Nacken – etwa der Banalität, Opfer Opfer und Quäler Quäler sein zu lassen, wie sie es beide waren, als geschlachtet wurde.56 Nicht zufällig ist es Adorno, dem Améry die Hauptschuld an der Verbreitung des Jargons im deutschsprachigen Raum zuschreibt, der die „geradezu terroristische Behauptung“57 aufstellt, wonach das Banale nicht wahr sein kann. Doch Adorno ist nicht allein: Isaak Babel skandiert: „Die Banalität ist die Konterrevolution.“58 Und Michael Landmann ruft bei dem Versuch, den verblichenen Bloch gebührend zu ehren, diesem ins frische Grab nach: „Man hörte von ihm kein banales Wort.“59 Zweiundneunzig Jahre, und nicht eine Banalität. Wenn wir uns allerdings vor Augen halten, daß das Banale per definitionem auch das Wahre ist, dasjenige, das – wenn eine Steigerung noch möglich ist – so wahr ist, daß man es gar nicht erst auszusprechen braucht, weil´s ohnehin jeder weiß, dann wir der Zusammenhang zwischen einer Dialektik, die sich vor dem Allzuwahren im Kreise dreht und einer Aufklärung, die in Furcht vor der Wahrheit erstarrt, noch deutlicher (wobei dieses Bild sogar das Dynamische der Dialektik wiedergibt). Demnach wäre also Dialektik spätestens seit Adorno die Krankheit, als deren Heilmittel sie sich ausgibt. Demnach wäre aber auch Amérys Aufsatz im Grunde ein unter anderem auch auf Adorno angewandter Adorno (+Horkheimer). Wir können vielleicht sogar so weit gehen zu fragen, ob und wie sehr die DA ein Bewältigungsversuch und damit ein Eingeständnis ist. Wir können dann versuchen, die DA als eine autohermeneutische Selbstdarstellung zu lesen. Verweilen wir noch kurz bei Adornos Äußerung über das Banale. Adornos Begründung, wonach „[w]as in einem falschen Zustand von allen akzeptiert wird ... vor jedem Inhalt schon sein ideologisches Unwesen [hat]“60, kann nicht restlos befriedigen. Améry verweist auf das Alltagsleben als den Ort des im engeren Sinne Banalen, und stellt fest, daß dort Sätze ständig einer Realitätsprüfung niedrigen Grades unterworfen sind, von einer Information über das eben herrschende Wetter bis zur Rechnung im Restaurant. Das „ideologische Unwesen“ redet hier, wie oft, eben nicht drein und die „Kruste verdinglichter Meinungen beschirmt“61 hier rein gar nichts. Eine ähnliche Abfuhr erteilt Améry Adorno im Bereich der Wissenschaften, deren Arbeit nun einmal Banalisierung ist. Abgesehen davon erstreckt sich das Banale auch auf dasjenige, das in einem richtigen Zustand von allen akzeptiert wird. Notgedrungen müßte also jenseits aller Banalität die Trennung von richtig und falsch bzw. wahr und unwahr hier Platz finden – die ihrerseits allerdings höchst banal ist. © 2003 by Institut für angewandte Menschenkunde 13 Reithmayr: Die Stimme des Herrn III – Morbider Ton Ulrich Sonnemann definiert Banalität als die „Selbstabsperrung des Menschen gegen das Wahre in der Welt“62. Diese Selbstabsperrung legt mittels der von ihr gezogenen Grenzen der Wahrheit Schranken auf und ist daher „Ableugnung des Wahren..., ein Angriff auf dieses selbst“63. Die weiteren Ausführungen Sonnemanns übersetzt und entblößt Améry wie folgt: Hier erträgt [die Banalität] sich eben nicht und das Nicht-Ertragen ihrer selbst läßt sie in der Welt die Rolle des Nicht-Ertragens des Wahren spielen, worin zugleich ihre Unerträglichkeit für dieses beschlossen ist. Das ganze aber ist ihr, der Banalität, Sein.64 Auch das erinnert an die DA und wirft die Frage auf: Ist die Aufklärung so, wie sie dort beschrieben wird, weil sie genau weiß, daß sie, sofern sie Banalitäten produziert, böse ist? Weshalb sie es gleich sein läßt? Diese Beispiele erinnern mich stark an die berühmte Katze, die sich in den Schwanz beißt. Was hier vorexerziert wird, wäre aber eher schon ein Fall für´s Panoptikum. Diese Katze – ist es vielleicht gar die nichtvorhandene schwarze Katze in dem schwarzen Raum, die die Philosophen suchen, die Theologen finden und die Dialektiker zur Schau stellen? – hat so viele Köpfe und Schwänze, daß nicht genau gesagt werden kann, wer da wen wo hineinbeißt. Auch der „vorläufig letzte Triumph dialektischen Denkens“65 – wie Améry eindeutig zweideutig die Negative Dialektik nennt – sei „durchzogen von Expressionen violenter AntiBanalität, in denen sich schließlich Sprache und Denken so sehr auflösen, daß der Leser am Ende dasteht wie Peer Gynt mit der Zwiebel.66“ Adornos Sprache sei „von sich selbst bis zur Selbstblendung entzückt“67. An anderer Stelle spricht Améry von „Delirien dialektischer Glossurgie“68 und sagt Adorno „erdrückende, ja nachgerade terroristische BegriffsScholastik“69 nach. Améry richtet eine Empfehlung an alle diejenigen, die dem Jargon bereits verfallen sind oder im Begriffe stehen, ihm zu verfallen. Er rät ihnen eine „Geistes und Psychotherapie gegen die Furcht, banal zu werden“70, als Mittel zu einer Wiederentdeckung einer verständlichen Sprache, die den Leser von der Pflicht enthebt, „im depremierenden Gefühl eigener Blödheit sein Heil in der Flucht zu suchen.“71 Darin sieht Améry die größte Gefahr des Jargons. Eine Sprache, die nicht nur traditionellerweise die der Linken ist, tendiert zur Unverständlichkeit und damit zur Unwirksamkeit. Diese Gedanken muten – heute gelesen, nach ´68, Studentenbewegung und RAF – nachgerade prophetisch an. Es kann zwar nur vermutet werden, daß eine sprachlich flexiblere Organisation als die Rote Armee Fraktion zumindest einigen Menschen hätte deutlich machen können, worum es überhaupt ging, aber die Erfahrung vergleichbarer Gruppen weist doch darauf hin, daß eines der Kardinalprobleme des deutschen „Terrorismus“ – auf den der Initialaphorismus mit unendlich größerer Berechtigung angewandt werden könnte – darin bestand, daß sie nicht vermitteln konnten, daß sie nicht einfach irgendwelche Bundesbürger waren, denen sie ans Leben wollten. Keines ihrer Manifeste war geeignet, auch nur einen kleinen Teil der Arbeiterschaft auf die Idee zu © 2003 by Institut für angewandte Menschenkunde 14 Reithmayr: Die Stimme des Herrn III – Morbider Ton bringen, daß es sich hier nicht einfach um Massenmörder handelte. Nicht umsonst lautet nach wie vor die gängigste Frage im Hinblick auf die RAF: Was wollen die eigentlich? Wer aber nicht imstande ist, diese Frage selbst so zu beantworten, daß die Antwort auch verstanden wird, der muß damit rechnen, daß der Gegner sie beantwortet; wer selbst seine Botschaft hinter einem kaum durchdringlichen Schleier eines mystifizierenden Jargons verbirgt, muß sich vor Augen halten, daß die Springer-Presse allein durch ihre Sprache einn uneinholbaren Vorsprung eingeräumt bekommt. Wie Améry völlig richtig feststellt, macht eine unverständliche und daher abstoßende Sprache nicht nur die Bemühungen zunichte, sondern verkehrt die Intention des Sprechenden geradezu in ihr Gegenteil. Es ist dies ein Punkt, der ebenfalls bereits in der DA angesprochen ist, allerdings etwas abstrakter, und, wie könnte es anders sein, ins Gegenteil gewandt. Dort heißt es: Indem [der herrschende Begriff von Klarheit] das an den Tatsachen wie den herrschenden Denkformen ansetzende Denken als dunkle Umständlichkeit, am liebsten als landesfremd tabuiert, hält er den Geist in immer tieferer Blindheit gefangen.72 Dem hält Améry entgegen – man könnte auch sagen: dem stimmt Améry gegen Horkheimer/Adorno zu: Die geistige Gangart der modernen, geschichtlichen Dialektik begreift sich als ein Unternehmen, gesellschaftliche Prozesse zu erhellen und durch die Erhellung zugleich auch zu verändern. Wo freilich nicht erhellt, sondern durch rein verbale Schein-Auflösung von Kontradiktionen verdunkelt wird, unterliegt der Prozeß gleichfalls einer Beeinflussung: Nur daß er nicht vorangetrieben wird, sondern aufgehalten.73 Man könnte anhand dieser beiden Zitate eine neuerliche Dialektik sich entfalten lassen. Beide sagen dasselbe und doch das Gegenteil. Beide erweisen einander als reaktionär. Man könnte an dieser Stelle auch fragen, ob nicht Dialektik vielleicht doch nichts anderes sei als die Vorspiegelung von Progreß dort, wo tatsächlich Regreß oder zumindest Stillstand statthat. Da ich mich in der Situation sehe, diese Fragen auflösen zu sollen, kann ich – aufgrund der eben angeführten Fragen – nicht Umhin, Verzicht zu leisten. Améry vertritt die Meinung, Dialektik sei für den Fortschritt der Menschheit unverzichtbar. Ich stehe dem skeptisch gegenüber, will ihm aber trotzdem – vielleicht sogar eben deshalb – das Schlußwort überlassen: Fortschrittliches Denken kann auf die dialektische Allüre nicht verzichten; es kann aber nicht bestehen, wenn die Allüre zur sakralen Pantomime wird. Die kritische Aufklärung steht, gesellschaftlich, an einem Punkt, wo sie sich sozial nur bewähren kann, wenn sie sich sprachlich radikal entschlackt. Anders wird sie versagen – vielleicht früher und dramatischer, als wir es in unseren schlimmsten Befürchtungen auszumalen vermögen.74 © 2003 by Institut für angewandte Menschenkunde 15 Reithmayr: Die Stimme des Herrn III – Morbider Ton Man beißt auf Schaumgummi... Fortsetzung und Ende Der letzte Abschnitt der DA, betitelt Skizzen und Entwürfe, enthält eine Fülle von kleinen und noch kleineren Texten, die zum Gutteil unmittelbar an den Haupttext anknüpfen. Mit zweien dieser Texte will ich mich noch kurz beschäftigen; Der eine wurde schon erwähnt: Verwandlung der Idee in Herrschaft; der andere trägt den Titel Qand même. Der erste der beiden Texte knüpft an die Entwicklung an, die vom BrihadaranyakaUpanishad zum Ica-Upanishad, von den Kynikern zu den Stoikern und von Johannes dem Täufer zum Paulinischen Christentum führt. Diese Entwicklung wird am Ica-Upanishad geschildert als „Verrat an jugendlichem Radikalismus, an revolutionärer Opposition gegen die herrschende Wirklichkeit“.75 Was – um die Thematik aus Indien wieder nach Hellas zurückzuführen – die Kyniker von den Stoikern unterscheidet, ist ein Mangel an Disziplin: Die theoretischen und praktischen Systeme solcher Außenseiter der Geschichte sind jedoch nicht so straff und zentralisiert, sie unterscheiden sich von den erfolgreichen durch einen Schuß von Anarchie.76 Es wäre hier anzufragen, wie sich dieser Schuß von Anarchie mit dem Begriff des Systems verträgt, in dessen Umkreis er hier gestellt wird. Ist es nicht eine Aporie, von einem anarchoiden System zu sprechen? Systeme, wo sie nicht ohnehin geschlossen sind bzw. zu sein vorgeben, drängen doch zumindest darauf hin, es zu sein. Es ist kein System denkbar, das mit dem Anspruch bricht, alle Wirklichkeit zu erfassen. Das System akzeptiert kein Draußen. Das trifft sich mit den Ausführungen Adornos über das System, wie er sie in der Negative Dialektik liefert, und es deckt sich inhaltlich mit den Aussagen des Aufsatzes über den Begriff der Aufklärung, nur daß in diesem das System bestenfalls als Anhängsel der Aufklärung in Erscheinung tritt. Anders, fragend formuliert: Verhält es sich so, daß – von der Negative Dialektik her gesehen – die DA Aufklärung und System verwechselt? Der Zusammenhang von Aufklärung und System ist bereits in der DA kurz angezogen, wo es heißt: Als Sein und Geschehen wird von der Aufklärung vorweg nur anerkannt, was durch Einheit sich fassen läßt; ihr Ideal ist das System, aus dem alles und jedes folgt.77 Fragen: Braucht Aufklärung dieses Ideal? Braucht sie überhaupt ein methodisches Ideal? Ist das System nur das falsche Ideal? Schlagen Horkheimer/Adorno den Esel Aufklärung, während sie doch den falschen Sack System meinen? Ist nicht das Ideal der Aufklärung vielmehr die Ideallosigkeit, mit Nietzsche zu sprechen: die Götzendämmerung, also ein mimetisch vorgeschobenes Pseudoideal gegen alle Ideale? Liegt vielleicht die wahre Problematik dort, wo, wie Hegel sagt, die Negation ihrerseits negiert wird und umschlägt in Positivität? Wo nicht mehr Kritik, sondern Affirmation zum Geschäft der Aufklärer wird? © 2003 by Institut für angewandte Menschenkunde 16 Reithmayr: Die Stimme des Herrn III – Morbider Ton Besteht der Rückfall der Aufklärung in Mythologie darin, daß sie sich plötzlich als ein Positives vorfindet und daher ihren Untergang nicht mehr wollen kann? Halten wir vorerst nur fest, daß sich auch Adorno ähnliche Fragen gestellt haben dürfte. Nicht anders verstehe ich die programmatische Aussage zu Beginn der Negativen Dialektik: Die Formulierung Negative Dialektik verstößt gegen die Überlieferung. Dialektik will bereits bei Platon, daß durchs Denkmittel der Negation ein Positives sich herstellt; die Figur einer Negation der Negation benannte das später prägnant. Das Buch möchte Dialektik vn derlei affirmativem Wesen befreien...78 Wenn wir uns nun wieder der Verwandlung der Idee in Herrschaft zuwenden – konkret: dem daraus zitierten Satz über die Außenseiter und die Erfolgreichen –, dann müssen wir die Frage stellen, was das „erfolgreich“ bedeutet. Im genannten Kontext wird unterschieden zwischen den Erfolgreichen und – den Kompromißlosen. Allein das zeigt, was Inhalt dieses Textes ist: Erfolg und Kompromißlosigkeit sind Gegensätze, einander ausschließende Alternativen. Wer Erfolg will, muß zum Kompromiß bereit sein. Das ist es, was hier behauptet wird. Was aber ist Erfolg? Sowohl die von Horkheimer/Adorno angeführten Beispiele als auch die Ausführungen machen deutlich, daß erfolgreich diejenigen Ideen genannt werden, die lange Zeit über aktuell sind und viele Anhänger gewinnen können. Erfolgreich sind Christentum und Stoizismus, erfolglos dagegen die Kyniker und der chaotische Johannes. Die Kompromißlosen mochten zur Vereinigung und Kooperation bereit sein, zum soliden Bau einer nach unten abgeschlossenen Hierarchie jedoch waren sie ungeschickt.79 Ein interessanter Satz, der es wert ist, genauer angesehen zu werden. Die Kompromißlosen, so erfahren wir hier, waren ungeschickt. Das kann zweierlei bedeuten: Einerseits waren sie vielleicht zu dumm und sahen nicht, daß ohne Hierarchie nichts geht; andererseits kann es sich auch um eine Stilblüte handeln, die aussagen will, daß sie eben keine Hierarchie bauen wollten. Beginnen wir beim andererseits und halten wir fest: Die Kompromißlosen wollten nicht innerhalb der eigenen Reihen genau das installieren, wogegen sie aufgetreten waren. Es ging ihnen nicht darum, eine etablierte Hierarchie durch eine noch neue und unverbrauchte zu ersetzen, sie wollten nicht den Teufel mit Beelzebub austreiben. Hegelisch: Sie wollten der Gefahr einer durch Negation in Positivität umschlagenden Negation entgehen. Adornitisch: Sie wollten den Mechanismus des Umschlags der Aufklärung umgehen. Deutsch: Die Kompromißlosen waren kompromißlos. Ein unbefriedigendes Ergebnis – und trotzdem vermutlich das richtige. Sehen wir uns also die zweite Lesart an und gehen wir davon aus, daß das ungeschickt wörtlich zu nehmen ist, wie auch der Satz bestätigt, der im Text folgt: Weder in ihrer Theorie, die der Einheitlichkeit und Konsequenz, noch in ihrer Praxis, die der stoßkräftigen Zusammenfassung ermangelte, reflektiert ihr eigenes Sein die Welt, wie sie wirklich war.80 © 2003 by Institut für angewandte Menschenkunde 17 Reithmayr: Die Stimme des Herrn III – Morbider Ton Auch das kann auf zwei Weisen verstanden werden: erstens und im Anschluß an das gerade beiseitsgelegte Ergebnis: sie waren anders als die anderen; diese Erkenntnis stünde in keinem Verhältnis zu Aufwand, der betrieben wird, also halten wir uns an die zweite Möglichkeit: Sie waren weltfremd, soll heißen, es war vorherzusehen, daß sie immer nur einige wenige Exoten bleiben würden, sie hatten sich jegliche Chance zur Expansion im vorhinein genommen. Was aber, wenn die Kompromißlosen gar nicht vorhatten zu expandieren? Was also, wenn ihre Ungeschicklichkeit nicht Ungeschicklichkeit, sondern mißverstandener Radikalismus war? Wenn sie sozusagen ungeschickt sein wollten? Auch damit wären wir wieder auf die Aussage zurückgeworden, daß die Kompromißlosen eben kompromißlos waren. Ich unterstelle, daß hier keine Tautologie geliefert werden sollte. Daraus ergibt sich aber, daß der Horkheimer/Adornosche Fatalismus sich keine anderen Ideen vorstellen kann als solche, die Macht nur durch neue Macht ersetzen wollen. Die Kompromißlosen waren also wirklich nur zu dumm. Sie erkannten nicht, daß „der Preis fürs Überleben das praktische Mitmachen“81 ist. Das ergibt folgende zusammenfassende Lösung: Kompromißlosigkeit ist dumm, weil nicht zielführend, soll heißen: weil nicht Erfolg verheißend, soll weiter heißen: weil nicht das Überleben sichernd. Eine Idee, die überleben will, kann gar nicht anders als sich mit dem Bestehenden zu arrangieren, eben „mitzumachen“. Jede Idee sieht sich vor die Wahl gestellt, ob sie kompromißlerisch überleben oder kompromißlos untergehen will. Das dialektische Postulat, es müsse Positives sich herstellen, läßt nicht zu, an einen Untergang zu denken. Die Idee muß aufgehoben werden, auch um den Preis, daß sie damit aufgehoben wird. Adorno spricht es oftmals aus: Das Geschäft der Dialektik ist Versöhnung. Wo diese aber im Hinblick auf die allerleletzte Synthesis betrieben wird, da ist erstens kein Platz für Kompromißlosigkeit, und zweitens dem Gegner Tür und Tor geöffnet, dann Das Ganze ist das Wahre. Wo Horkheimer/Adorno die radikalen Oppositionellen für ihre angebliche Ungeschicklichkeit schelten, da finden sie für die – wie sie selbst schreiben – „verräterische“82 Spielart des Buddhismus die Worte: „Der ganze Orden erfreute sich der Gunst der Herrschenden.“83 Damit wirft sich allerdings die Frage auf, was es mit einem solchen Orden auf sich haben kann im Sinne der Intention aufklärerischen Denkens, des Wegs in die Freiheit. Die Beispiele, die Horkheimer/Adorno anführen, sind ebenso wie die Formulierungen Indizien dafür, daß „Idee“ zunächst „kritische Idee“ bedeutet. Kritik kann aber nie und nimmer dann erfolgreich genannt werden, wenn sie möglichst lange sich durchhält. Zu behaupten, der Erfolg der Marxschen Gesellschaftskritik bestünde darin, daß sich bis auf den heutigen Tag Menschen in ihrem Namen erheben, ist blanker Zynismus, vergleichbar dem, mit dem die bürgerliche Demokratie Meinungsfreiheit mit Möglichkeit zur Veränderung verwechselt und die Freiheit sich darin erschöpfen läßt, seine Unfreiheit laut auszusprechen. © 2003 by Institut für angewandte Menschenkunde 18 Reithmayr: Die Stimme des Herrn III – Morbider Ton Dem halte ich entgegen, daß erfolgreiche Kritik diejenige ist, die schließlich mangels Kritisierbarem zum Verstummen verurteilt ist. Kritik, die erfolgreich sein will, ist Kritik, die sich selbst abschaffen will. Ebenso, wie sich gute Medizin nicht in der Heilung möglichst vieler Krankheiten auszeichnet, sondern dadurch, daß möglichst wenige Krankheiten auftreten, ist der wahre Sinn der Aufklärung der, den sexuelle Aufklärung als einzige sich erhalten hat: den Übergang in eine Praxis, die die Aufklärung hinfällig und überflüssig macht. Wenn wir Verwandlung der Idee in Herrschaft konsequent ernstnehmen, müssen wir daraus fogern, daß es erfolgreiche Ideen, die sich gegen Herrschaft richten, gar nicht geben kann (erfolgreich hier nicht im Sinne von etabliert, sondern im Sinne von: die ursprüngliche Intention realisierend). Kritik richtet sich wesentlich gegen die herrschende Wirklichkeit. Wenn es sich aber tatsächlich so verhält, daß der Preis fürs Überleben einer Idee ihre Verwandlung in Herrschaft ist, so bestünde der Preis für das Überleben einer Idee ihr Tod. Kritik bestünde demnach nicht nur in der Abschaffung alter, sondern gleichzeitig in der Installation neuer Herrschaft. Eine prachtvoll dialektische Entwicklung: die Kritische Idee ist dann und nur dann erfolgreich, wenn sie keinen Erfolg hat. Kritik, die sich postwendend an die Stelle des Angegriffenen und vielleicht sogar Abgeschafften setzt, ersetzt Herrschaft durch Herrschaft. Dies kann nun das kleinere oder das größere oder gar kein Übel sein. Kleineres wie größeres Übel sind als Übel erneut zu kritisieren, Herrschaft ohne Übel ist aber undenkbar, wie wir seit Hegel wissen. Wir haben also die Wahl zwischen einer – vielleicht gar nicht möglichen – Herrschaftsfreiheit und einer endlosen Abfolge von Kritiken. Politisch formuliert: Anarchie oder permanente Revolution. Aber wie immer wir die Sache drehen und wenden: In jedem Falle erweist sich die Verwandlung der Idee in Herrschaft, insofern sie „erfolgreich“ und „überleben“ zusammenbringt, als schlichte Tautologie, die noch weniger aussagt als es ohnehin schon beim ersten Verdacht nach scheint. Gegen Horkheimer/Adorno bleibt es dabei: Die Kompromißlosen waren kompromißlos. Gegen Horkheimer/Adorno führe ich das nicht auf ihre Dummheit zurück – sondern auf ihre Kompromißlosigkeit. Wenden wir und nun einem der geheimnisvollsten Texte zu, die dieses – an Geheimnissen sicherlich nicht arme – Buch enthält: Qand même. Schon der Titel macht stutzig. Quand même heißt trotzdem. Trotz´ dem! Ist das nicht der Imperativ unseres Jahrhunderts? Ein Trotzdem in der DA ist eine zweideutige Angelegenheit. Es hat seinen Ort wohl irgendwo zwischen der ästhetischen Theorie und dem Strick. Es ist ein – auch das gibt es – resigniertes Trotzdem. Zur Überwindung der eigenen Schwere, zur Produktion materieller und geistiger Werte sind die Menschen durch äußeren Druck gekommen. ... Der Schluß, daß Schrecken und Zivilisation untrennbar sind, den die Konservativen gezogen haben, ist wohl begründet.84 © 2003 by Institut für angewandte Menschenkunde 19 Reithmayr: Die Stimme des Herrn III – Morbider Ton Die Begründung, warum Horkheimer/Adorno in dieser Angelegenheit mit den Konservativen mitziehen, fehlt ebenso wie die Erklärung, warum Schrecken und Zivilisation untrennbar sind. Ein erster Ausweg – der Pfad des Papiertigers – wird sichtlich nur erwähnt, um verworfen zu werden: „Gespielter Zwang ist ohnmächtig.“85 Der letzte Rettungsanker – eine Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation – wird über Bord geworfen: „Im Zeichen des Henkers vollzog sich die Entwicklung der Kultur.“86 Und mit einer typischen, aber nicht unabweisbaren Figur fahren sie fort – „die Genesis, die die Vertreibung aus dem Paradies erzählt, und die Soirées de Petersbourg stimmen darin überein.“87 Dem widersprechen heißt aller Wissenschaft, aller Logik ins Gesicht schlagen. Man kann nicht den Schrecken abschaffen und die Zivilisation übrigbehalten. Schon jenen zu lockern bedeutet den Beginn der Auflösung.88 Was mag hier passiert sein? Es fällt schwer, auf diese Ausführungen genauer einzugehen, so sehr verstört die Behauptung, daß „Druck“, „Schrecken“, „Brutalität“, „Strenge“, „blutige Strafen“ und „Zwang“ notwendig seien, damit die Menschheit nicht in einen bellum omnia contra omnes zurückfällt (und wenn die Menschheit erst wieder in Barbarei versunken ist, entspringt dieser Barbarei genügend Brutalität und Schrecken, auf daß es wieder aufwärts gehe?). Doch Horkheimer/Adorno gehen noch weiter: Dem widersprechen heißt aller Wissenschaft, aller Logik ins Gesicht schlagen. Ich wage die Behauptung, daß wohl eher die Autoren die Schläger sind. Der ohnehin eher dürftige Versuch, die Terrorthese aus dem Dunkel der Vergangenheit herzuleiten, kann als gescheitert betrachtet werden: Der Widerstand der äußeren Natur ... setzt sich innerhalb der Gesellschaft durch die Klassen fort und wirkt auf jedes Individuum von Kindheit an [wohlgemerkt, wir sprechen immer noch vom Widerstand der äußeren Natur] als Härte der Mitmenschen.89 Etwas sonderbar mutet auch die Aussage an, daß sich der antreibende Widerstand zunächst im Vater inkarniere. Und der Schritt vom Widerstand der Natur – Widerstand, nicht Druck! – zum Zeichen des Henkers, unter dem die Entwicklung der Kultur stattfindet, scheint doch etwas zu groß geraten. Es genügt eigentlich ein relativ kurzer Blick in die Wissenschaftsgeschichte und die Kulturgeschichte, um die aufgestellten Behauptungen zu widerlegen. Die Anzahl der Erfindungen und Entdeckungen, die zufällig gemacht wurden, ist ansehnlich. Das Prinzip des trial and error, das getrost als Ursprung – und als im Experiment immer noch vorhandener Hinweis auf denselben – bezeichnet werden kann, kann aufgrund der rein statistischen Erfolgsaussichten, die es hat, bei größerem Druck kaum Anwendung finden. Angesehen davon gibt uns die Ur- und Frühgeschichte Auskunft darüber, daß die Menschheit schon damals nicht ums nackte Überleben kämpfte, sondern einfach zufällig entdeckte Verbesserungen adaptierte. Die Menschen waren auch ohne Kenntnisse des Ackerbaus nicht vom Aussterben bedroht, sie konnten sich´s allerdings mit dessen Hilfe immens verbessern. © 2003 by Institut für angewandte Menschenkunde 20 Reithmayr: Die Stimme des Herrn III – Morbider Ton Des weiteren stellt sich die Frage, wie weit bzw. wie eng hier der Begriff „Zivilisation“ gefaßt wird. Nachdem Horkheimer/Adorno aber sogar die Genesis als Beleg heranziehen, darf getrost angenommen werden, daß sie ihr Gesetz gern ab dem homo cromagnensis beginnen ließen. Das heißt, das Zeichen des Henkers erscheint nicht erst in den Sklavenhaltergesellschaften am Horizont der Zivilisation, sondern in genau jenem Moment, in dem Stanley Kubrick in 2001 hinter dem schwarzen Monolithen, dem geheimnisvollen Kulturbringer unbekannter Herkunft, die Sonne der Menschwerdung aufgehen läßt. Wer den Film kennt, wird mir entgegenhalten, daß die relevante Handlung dieser Szene die Entdeckung ist, daß man einen Knochen als Schlaginstrument benutzen kann, was prompt dazu führt, daß dem weniger innovativen Mitaffen damit der Schädel eingeschlagen wird, daß also am Anfang der Menschwerdung ein Mord steht, daß der erste Primat, der sich auf den Weg zum Menschen macht, dies dadurch tut, daß er die Rolle des Henkers einnimmt. Es ist unbestritten, daß die Aggression in der Geschichte der Menschheit ständig präsent ist, und die Ethologie bestätigt diesen Stellenwert auch für Primaten. Was Horkheimer/Adorno hier vorlegen, ist jedoch nicht bloß ein Hinweis auf eine stimulierende Wirkung äußeren Drucks unter der besondern Berücksichtigung der Rolle zwischenmenschlicher Aggressivität, sondern eine Theorie der Unverzichtbarkeit des Terrors. Doch nicht nur aller Wissenschaft, sondern gar aller Logik soll ins Gesicht schlagen, wer die Rolle von Zwang und Brutalität als deus creator civilisationis nicht anerkennen will. Das leiten die Autoren offensichtlich aus der Tatsache ab, daß sie nicht gewillt sind, die rhetorische Frage zu beantworten, die sie stellen: Was könnte die Menschen sonst dazu bringen, sich so zu entfalten..., wenn nicht die ... Entwicklung, die am äußeren Widerstand sich entzünden muß90 a Von dieser in Frageform vorgelegten Prämisse ausgehend, ist es nicht schwer, zum ausgewiesenen Resultat zu gelangen. Aber stimmt sie? Die Menschheit macht im spielerischen, also gerade nicht zwanghaften Umgang mit der Welt die meisten ihrer Entdeckungen. In diesem, gar nicht unter demZeichen des Henkers stehenden, Bereich macht die Menschheit ihre großen Schritte. Die Entwicklung der Menschheit ist nicht ein ständiges Davonlaufen vor dem drohenden Untergang, sondern ein beständiges Verbessern der Lebensbedingungen, ein Verbessern allerdings, das unter dem Zeichen des Zufalls noch eher steht als unter dem des Henkers. Warum aber – nach all dem Gesagten – heißt der Text nun gerade quand même? Die Antwort gibt der letzte Satz, der vielleicht merkwürdigste des ganzen Buches. Ich gestehe es freimütig, ich kann ihn nicht erklären (also auch nicht verstehen). Deshalb gebe ich ihn unkommentiert wieder. Zunächst aber weisen Horkheimer/Adorno darauf hin, daß aus dem a Erneut: Sobald es etwas konkreter wird, ist von Widerstand die Rede; an den übrigen Stellen kommen Henker, Zwang und Terror ins Spiel. © 2003 by Institut für angewandte Menschenkunde 21 Reithmayr: Die Stimme des Herrn III – Morbider Ton von ihnen Angeführten verschiedene Konsequenzen gezogen werden können, „von der Anbetung faschistischer Barbarei bis zur Zuflucht zu den Höllenkreisen“91. Dann kommt´s: Es gibt noch eine weitere: der Logik spotten, wenn sie gegen die Menschheit ist.92 © 2003 by Institut für angewandte Menschenkunde 22 Reithmayr: Die Stimme des Herrn III – Morbider Ton 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 © 2003 by Institut für angewandte Menschenkunde 23 Reithmayr: Die Stimme des Herrn III – Morbider Ton 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 © 2003 by Institut für angewandte Menschenkunde 24 Reithmayr: Die Stimme des Herrn III – Morbider Ton 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 © 2003 by Institut für angewandte Menschenkunde 25