Pädagogik Patricia Müller Geschlechtererziehung in der Grundschule. Staatliche und kirchliche Verlautbarungen im Vergleich Examensarbeit Patricia Müller Pädagogische Hochschule Karlsruhe Wissenschaftliche Hausarbeit (Examensarbeit) zum Thema: Titel: Geschlechtserziehung in der Grundschule. Staatliche und kirchliche Verlautbarungen im Vergleich. Fach: Erziehungswissenschaft (Schulpädagogik) Abgabetermin: 8. Dezember 1999 © Monika Wilke INHALTSVERZEICHNIS Vorwort 1 I. Sexualität und Geschlechtserziehung – Ein Gesamtüber- 3 blick 1. Die Sexualität und der Mensch 3 1.1. Begriffserläuterung 3 1.2. Die Bedeutung der Sexualität für den Menschen 5 1.3. Die Enttabuisierung der Sexualität und der gegenwärtige Um- 1.4. 2. gang mit ihr 8 Die kindliche Sexualität im Vorschulalter 11 Der Anspruch des Kindes auf Geschlechtserziehung 14 2.1. Von der Notwendigkeit der Geschlechtserziehung 15 2.2. Unterschiedliche Erziehungsfunktionen bei Familie und Schule 2.3. 17 Aufgaben des Elternhauses – Theorie und Wirklichkeit 19 II. Staatliche Verlautbarungen 21 1. Geschlechtserziehung aus der staatlichen Sicht 21 1.1. Die KMK-Empfehlungen und ihre Inhalte 1.2. Geschlechtserziehung aus der Sicht der Richtlinien und Lehrpläne 1.3. 22 25 Die neuen Richtlinien und Lehrpläne der Grundschule im Ländervergleich 29 1.4. Die gerichtlichen Vorgaben zur Geschlechtserziehung 42 1.5. Das Elternrecht und Geschlechtserziehung 45 2. Didaktik und Praxis der Geschlechtserziehung in der Grundschule 50 2.1. Ziele und Methoden der Geschlechtserziehung 51 2.2. Anforderungen an die Lehrkräfte 62 2.3. Der Elternabend – Ein sinnvoller Weg zur Zusammenarbeit 65 2.4. Unterrichtsvorschläge zum Thema „Zeugung, Schwangerschaft und Geburt“ 67 III. Kirchliche Verlautbarungen 78 1. Das Christentum und die Sexualmoral 78 1.1. Sexualmoral und Sexualethik 78 1.2. Anthropologische Aspekte der Sexualität 81 1.3. Jesu´ Einstellung zur Sexualität und der biblische Standpunkt 83 2. Der geschichtliche Hintergrund 87 2.1. Paulus – ein Sexualfeind? 87 2.2. Lustfeindliche Tendenzen bei den Kirchenvätern 90 2.3. Die schwierige Zeit des Mittelalters 93 3. Gegenwärtige Positionen der Kirche 96 3.1. Das Thema Nummer Eins 97 3.2. Gegenwärtige Stellungnahmen der Kirche zur Sexualität 99 3.3. Die Reaktionen 108 4. 4.1. Konsequenzen für den Religionsunterricht Geschlechtserziehung – ein eigentlich notwendiger Bestandteil des Religionsunterrichtes 111 113 4.2. Kirchliche Verlautbarungen zur Geschlechtserziehung 118 4.3. Religionspädagogen nehmen Stellung 127 IV. Resümee Literatur 132 136 Vorwort Das von mir gewählte Thema „Geschlechtserziehung in der Grundschule. Staatliche und kirchliche Verlautbarungen im Vergleich“ befaßt sich, wie der Titel schon sagt, mit staatlichen und kirchlichen Verlautbarungen hinsichtlich der Geschlechtserziehung in der Grundschule, die zunächst von mir erläutert und schließlich in vergleichender Form gegenübergestellt werden. Die Wahl dieses Themas fiel mir im Grunde genommen nicht schwer: Denn zum einen gibt es im Bereich der Geschlechtserziehung, zumindest auf den Staat bezogen, mittlerweile ein unerschöpfliches und vielfältiges Angebot, so daß einem viele Möglichkeiten bezüglich der Vorgehensweise offen bleiben. Zum anderen erschien mir die Gegenüberstellung zweier bedeutender Institutionen – nämlich die des Staates und der Kirche – gerade im Hinblick auf das heikle Thema „Sexualität“ als herausfordernd und spannend zugleich. Darüber hinaus verbindet dieses Thema die beiden Fächer Heimat- und Sachunterricht sowie Theologie miteinander, die ich selbst als Fächerkombination für das Studium gewählt habe, so daß die Erstellung dieser Zulassungsarbeit für mich persönlich sehr lehrreich und mit Sicherheit von besonderem Nutzen war. Die Arbeit besteht aus insgesamt vier Teilen; der allgemeine Teil liefert einen Gesamtüberblick, indem er unter anderem den Begriff der Sexualität zu klären versucht und auf die Bedeutung der Sexualität für den Menschen sowie auf die Notwendigkeit einer Geschlechtserziehung in der Schule eingeht. Der zweite und der dritte Teil bilden den Kernpunkt der Ausarbeitung. Sie gehen auf die jeweiligen Verlautbarungen ein, indem sie diese vorstellen sowie deren Entwicklung, Standpunkte und Forderungen schildern. Der vierte Teil – das Resümee – zieht schließlich einen Vergleich zwischen den staatlichen und kirchlichen Verlautbarungen und sucht sowohl nach Unterschieden als auch nach Gemeinsamkeiten. Im allgemeinen war es mir wichtig aufzuzeigen, auf welch unterschiedlichen Hintergründen beide Verlautbarungen entstanden sind und wie dementsprechend unterschiedlich die einzelnen Standpunkte sein können. 2 Vor allem bezüglich der kirchlichen Verlautbarungen habe ich versucht - obwohl es manchmal recht schwierig war - , stets so objektiv wie möglich zu sein, um die Thematik ohne jede Wertung, sachlich darzustellen. Schließlich möchte ich mich bei Herrn Priesner und Herrn Binder für die aufschlußreichen Gespräche sowie für ihre Bereitschaft, sich meiner anzunehmen bedanken und hoffe, ihre Erwartungen mit dieser Zulassungsarbeit im Wesentlichen erfüllt zu haben. 3 I. Sexualität und Geschlechtserziehung – Ein Gesamtüberblick 1.Die Sexualität und der Mensch Sexualpädagogische Forscher gehen davon aus, daß Sexualität von frühester Kindheit bis ins hohe Alter eine wichtige Lebensäußerung darstellt und darüber hinaus in allen Lebensphasen ein wesentliches menschliches Bedürfnis ist.1 Sie spiegelt also das fundamentale Bedürfnis, sich einem Mitmenschen körperlich und seelisch mitzuteilen und findet in der Regel ihre höchste Steigerung und Vollendung in der Liebe.2 Im folgenden möchte ich den Begriff der Sexualität etwas näher erläutern, die Bedeutung der Sexualität für den Menschen verdeutlichen, den gegenwärtigen Umgang mit ihr skizzieren sowie auf die spezifisch kindliche Sexualität eingehen. 1.1. Begriffserläuterung Man vermutet, daß der Begriff “Sexualität“ wissenschaftlich zuerst von dem Botaniker August HENSCHEL (1790-1856) verwendet wurde, jedoch ausschließlich unter dem Fortpflanzungsaspekt. So sind “sexuell“ und “Sexualität“ offensichtlich recht junge Begriffe, die bis hin zur Gegenwart aufgrund des langanhaltenden sogenannten Sexualtabus wortgeschichtlich unerforscht blieben. 1 2 vgl. Hilgers, A.; 1995, S.10 vgl. Schmetz,D.;1982, S.26 4 Beide Ausdrücke sind zum Teil bis heute noch mit ideologischen und moralischen Vorurteilen überladen, die eine neutrale Verwendung der Wörter erschweren. Während “sexuell“ und “Sexualität“ bei den einen für das Unerlaubte, Schlechte und Obszöne stehen und somit bei den Betreffenden Aggressionen und Angst auslösen können, werden die beiden Begriffe bei anderen wi ederum glorifiziert und überbewertet. Dies liegt mitunter darin, daß die Bezeichnung “Sexualität“ wenig Präzision aufweist.3 Ferner kommt KLUGE zu dem Ergebnis, daß eine erste Definition des Begriffs der Sexualität zuerst im „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ 4 versucht wird. Dort heißt es, daß Sexualität als die „Gesamtheit der aus dem Geschlechtsverkehr sich ergebenden Äußerungen und Verhaltensweisen“ bestimmt wird.5 Obwohl selbst in der neueren enzyklopädischen Literatur der Begriff der Sexualität lediglich mit „Geschlechtlichkeit“ wiedergegeben wird, bemüht man sich, das Sexualverständnis über den Fortpflanzungsaspekt hinaus zu erweitern (z. B. Brockhaus 1973, 1976, 1981). Brockhaus zum Beispiel betrachtet die Sexualität „als Gesamtheit aller Verhaltensweisen, Triebe und Bedürfnisse bei Mensch und Tier, die sich auf den Geschlechtsakt oder im weiteren Sinne auf die Befriedigung des Sexualtriebes beziehen“. 6 Der heutige Schülerduden definiert den Begriff als „das Phänomen, daß Lebewesen in zwei Geschlechtern (männlich, weiblich) vorkommen und sich geschlechtlich fortpflanzen“. Er fügt weiter hinzu, daß Sexualität darüber hinaus „beim Menschen auch die Gesamtheit aller Lebensäußerungen, Empfindungen und Verhaltensweisen, die mit Geschlechtlichkeit zusammenhängen“ 3 vgl. Schmetz,D.;1982, S.13 zitiert nach: Klappenbach/Steinitz;1976, S.3404 5 vgl. Kluge,N.; Bd.1,1984, S.6 6 zitiert nach: Brockhaus;1973, S.349 4 5 bezeichnet.7 Demnach versteht man unter Sexualität heute nicht nur den Geschlechtsve rkehr und Orgasmus, sondern eine Fülle konkreter Verhaltensweisen (Handlungen) und möglicher Erlebnisformen, deren Ursache im Geschlechtstrieb liegt. Um welche Verhaltensweisen und Erlebnisformen es sich im näheren handelt und welche Bedeutung die Sexualität für den Menschen hat, möchte ich im folgenden Unterpunkt erläutern. 1.2. Die Bedeutung der Sexualität für den Menschen Neben ihrer Fortpflanzungsfunktion erfüllt Sexualität im starken Maße kommunikative, zwischenmenschliche sowie identitätsstabilisierende Bedürfnisse. Sie ist eng verbunden mit Intimität, Erleben und Ausleben von Phantasien, mit Vertrauen und Sichöffnen aber auch mit der egoistischen Triebbefriedigung. Für GLÜCK ist Sexualität „ein lebenswichtiger körperlicher Ausdruck von Zuneigung zu einem (anderen) Menschen, eine Form der Kommunikation, die sanft und sinnlich, wild und zärtlich, lustig und verspielt, geistig und kindlich zugleich, ernst und leidenschaftlich sein kann“. 8 Kurzum: Sexualität hat viel mit Gefühlen und dem Körper zu tun. Wie bereits erwähnt, begleitet sie den Menschen zeit seines Lebens und ist für ihn von fundamentaler Bedeutung. Schon der Säugling und das Kleinkind besitzen eine ganz bestimmte Art der Geschlechtlichkeit, die sich in ve rschiedenen Phasen artikuliert. Darauf möchte ich später noch etwas näher eingehen. 7 8 zitiert nach: Schülerduden;1997, S.278 zitiert nach: Glück,G.;1990, S.15 6 Obwohl die Sexualität im Leben eines jeden Menschen eine Rolle spielt, ist ihr Stellenwert bei jedem Einzelnen recht unterschiedlich. Bei den einen können sexuelle Beziehungen von größter Bedeutung sein, bei anderen wiederum haben sie einen geringeren Stellenwert. Darüber hinaus kann sich die Einstellung zur Sexualität im Laufe des Lebens verändern. Hierbei spielen diverse Einflüsse wie Erziehung, Kultur, Gesellschaft sowie die eigenen zwischenmenschlichen Erfahrungen eine entscheidende Rolle. SCHMETZ sieht in der komplexen Struktur der Sexualität ein dynamisches Gefüge und weitet mit seiner Feststellung den Begriff der Sexualität zusätzlich aus: Sie sollte demnach nicht nur der biologischen Fortpflanzung dienen, „sondern sie kann und sollte mit Zärtlichkeit und Liebe verbunden sein und der Normvorstellung sittlicher Selbstbestimmung wie auch kultur- und gesellschaftskritischen Verhaltenstendenzen entsprechen“. 9 Neben der Klärung des Begriffs der Sexualität ist es ebenso wichtig zu beantworten, wie sie überhaupt entsteht. Es geht also um die Frage, was den Menschen eigentlich dazu bringt, sexuellen Kontakt zu suchen, beziehungsweise was motiviert ihn sexuell. Im Laufe ihrer Forschungen haben sich die Sexualwissenschaftler neben dem Sexualverhalten auch mit der sogenannten „sexuellen Motivation“ eines Menschen auseinandergesetzt. Die bis dahin geltende „Dampfkesseltheorie“, die ihren Ursprung in der Psychoanalyse hatte und die Meinung vertrat, die Sexualität sei ein festgelegter Trieb, aufgebaut in regelmäßigen Abständen durch hormonell gesteuerte Prozesse und innere Reize und einer “Entladung“ bedürftig, wurde von den Wissenschaftlern durch ein neues Erklärungsmodell ersetzt.10 Es handelt sich um das 1966 von R.E. WHALEN entwickelte ZweiKomponenten-Modell, das in Deutschland von G. SCHMIDT (1975,1982,1983) bekannt gemacht und in einigen Aspekten weitergeführt worden ist. Whalen sieht in der sexuellen Motivation die Ursache für jegliches Sexualverhalten und unterscheidet folgende zwei Komponenten: 11 9 zitiert aus: Schmetz,D.;1982, S.14 vgl. Glück u.a.;1990, S.15 11 vgl. Kluge,N.; Bd.1, 1984, S.7/Glück u.a.; 1990, S.15 10 7 1. Die Erregbarkeit (arousability) stellt eine Bereitschaft dar (psychische Disposition), auf bestimmte Reize (auch Innenreize wie Phantasien) und Situationen schnell zu reagieren. Sie hat je nach Person eine unterschiedliche Ausprägung und wird größtenteils durch Erfahrung erworben. 2. Die Erregung (arousal) bedeutet das momentane, spezifische Niveau sexueller Stimulation in einer konkreten Situation. Erregbarkeit ist demnach die Voraussetzung für Erregung und die Intensität der Erregung ist wiederum von der Stärke der Erregbarkeit sowie dem situativen Moment abhängig. Erregbarkeit und Erregung zusammen bewirken nach Whalen also ein sexuelles Verlangen oder eine sexuelle Motivation. Glück meint weiterhin, daß „je stärker ein Mensch sexuelle Erlebnisse in Verbindung mit sexueller Befriedigung, mit Lust und Entspannung, aber auch mit Akzeptiertwerden und Zuneigung erfahren hat, desto größer wird auch seine Erregbarkeit sein“. 12 Während der Begriff des Sexualverhaltens alle sexuellen Verhaltensweisen, wie Petting oder Selbstbefriedigung umfaßt, garantiert der moderne sexuelle Motivationsbegriff nach Kluge außer einer endogenen (z.B. Hormone) auch eine exogene Blickrichtung .13 Schließlich erweitert Kluge den Sexualitätsbegriff und verdeutlicht somit den allgemeinen Stellenwert der Sexualität für den Menschen. Er beschreibt das heutige Verständnis von Sexualität folgendermaßen: „Sie umfaßt alle die dem Sexualleben des Menschen zuordnenden Ausdrucksformen (...), die sowohl endogen wie exogen motiviert und stets im sozialen Kontext zu interpretieren sind. Daher hat jedes Sexualverhalten eine individuelle/subjektive, soziale/kommunikative sowie neurophysiologisch und lernspezifisch bedeutsame Bezugsebene,...“. 14 12 zitiert nach: Glück u.a.; 1990, S.16 vgl. Kluge,N.; Bd.1, 1984, S.7 14 zitiert nach: a.a.O., S.8 13 8 1.3. Die Enttabuisierung der Sexualität und der gegenwärtige Umgang mit ihr Nach Kluge hatte die Erforschung der menschlichen Sexualität ihre erste Blütezeit im ersten Drittel unseres Jahrhunderts in Berlin.15 Von der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen, war die Gründung der neuen Wissenschaft in erster Linie dem privaten Engagement einiger Ärzte zu verdanken. Es folgten verschiedene Veröffentlichungen von einschlägigen Werken zu Fragestellungen in der Sexualwissenschaft, Gründungen von Zeitschriften, Gesellschaften und einem Institut sowie Veranstaltungen von internationalen Kongressen. Man hatte sich nämlich zum Ziel gesetzt, das Sexuelle zu enttabuisieren und somit die Bevölkerung aufzuklären. Diese Entwicklung, die auf Wissenschaftler wie Iwan BLOCH oder Max MARCUSE zurückging, wird von Kluge als eine „Keimzelle“ für die spätere sexuelle Liberalisierung bezeichnet, die sowohl bei Kirchen als auch bei politischen Parteien auf Widerstand stieß.16 Es dauerte jedoch nicht lange, da wurde diese noch junge sexualwissenschaftliche Bewegung auf abrupte und gewaltsame Weise vom Nationalsozialismus unterbrochen, mit der Folge, daß die Enttabuisierung erst in den 60er Jahren in vielen Industriegesellschaften, also auch in Deutschland, Schritt für Schritt einsetzte. Die Liberalisierung des Sexuellen äußerte sich unter anderem in der 1968 neu eingeführten schulischen Sexualerziehung in der Bundesrepublik Deutschland sowie in der einschlägigen Reform des Sexualstrafrechts von 1969 .17 Mit Hilfe von Protesten setzten sich größtenteils junge Leute für die sexuelle Enttabuisierung ein und versuchten, die Thematik mittels einflußreicher Medien zur Sprache zu bringen. Die Zeitung “Stern“ verkündete zum Beispiel 1978, in Deutschland habe eine sexuelle Revolution stattgefunden . Die Mehrheit der Jugendlichen propagierte die Freude am Sex, lehnte die Institution Ehe ab und setzte sich für Toleranz gegenüber Andersdenkenden ein. 15 vgl. a.a.O., S.3 vgl. Kluge,N.; Bd.1, 1984, S.3 17 vgl. a.a.O., S.4 16