Der Anfang und das Ende des Lebens aus der Sicht der Medizin

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III.
Der Anfang und
das Ende des Lebens
aus der Sicht der
Medizin und
der abrahamitischen
Religionen
Im Bewusstsein der Einzigartigkeit des Lebens, das sich in den immensen Dimensionen des Universums vielleicht nur auf der Erde bis zum Menschen entwickelt
hat, wandten wir uns den drei abrahamitischen Religionen zu, die sich, gleich der
Medizin, um seinen Schutz bemühen. Das beginnende und das zu Ende gehende
Leben wirft schwer zu beantwortende Fragen auf, denen wir uns jetzt im Lichte
der modernen Medizin und der drei Religionen zuwenden.
Anfang und Ende des Lebens sind die Grenzpunkte, über die der Mensch nicht
frei verfügen kann. Sie sind durch die bioethischen Richtlinien der ärztlichen Verbände und durch das staatliche Recht geschützt. Diese zu definieren und sich mit
ihnen auseinanderzusetzen übersteigt den Rahmen dieser Arbeit. Die Medizin integriert Geburt und Tod des Menschen in das allgemeine Werden und Vergehen,
dem alles Lebendige unterworfen ist. Judentum, Christentum und Islam verstehen
das Leben des Menschen jedoch als eine vorbestimmte Frist, innerhalb derer er
berufen ist, die Wunder der Schöpfung wahrzunehmen, den Willen Gottes auf der
Erde zu erfüllen und sich an der Verwirklichung seines Königtums auf Erden zu
beteiligen.
Leben ist ein Grundrecht des Menschen. Es ist einmalig, unersetzbar und vergänglich. Daher ist es für jeden einzelnen Menschen und für die Gesamtheit der
Menschen von höchstem Wert. Die Medizin hat die Erhaltung des Lebens zum
Ziel, und dieses ist der Hauptgrund des unaufhaltsamen Vorwärtsdrängens ihrer
Forschung. Im Judentum müssen bei Todesandrohung alle Gebote und Verbote der
Tora überschritten werden, um sich oder den Mitmenschen nicht töten zu lassen.
Nur bei Aufforderung zu Götzendienst, Unzucht und Mord muss der eigene Tod
der Sünde vorgezogen werden.1 Im Christentum gelten die Worte Jesu: «Grössere
Liebe hat niemand als die, dass einer sein Leben hingibt für seine Freunde.»2 Sie
weisen darauf hin, dass in gewissen Situationen das Leben des Nächsten einen höheren Wert hat als das eigene. Im Islam müssen ausnahmslos alle Gebote übertreten werden, um das eigene Leben oder das eines Mitmenschen zu retten. Qur’an
und Talmud sagen: Wer immer ein Menschenleben rettet, handelt so, als ob er die
ganze Menschheit am Leben erhalten hätte.3
1.
Der Anfang des Lebens
1.1.
Zeitpunkt des Lebensbeginns
Sicht der Medizin
Gynäkologische Ausgangssituation
Neues Leben bereitet sich schon mit der Partnerwahl vor, die im Hinblick auf die
Gründung einer eigenen Familie erfolgt. Im besten Fall entsteht neues Leben in der
Geborgenheit der elterlichen Intimität. Der Organismus der geschlechtsreifen Frau
ist nur einmal im Monat und kaum länger als 24 Stunden bereit für eine Schwangerschaft. Nach jedem Eisprung synthetisiert das Ovar (Eierstock) das Geschlechtshormon Progesteron, das zusammen mit den Östrogenen die Gebärmutterschleimhaut so vorbereitet, dass sich eine befruchtete Eizelle darin einnisten kann. Findet
keine Befruchtung statt, so werden die Östrogen- und Progesteronsynthese 12 Tage
nach dem Eisprung abgebrochen, die Gebärmutterschleimhaut wird aufgelöst, und
es erfolgt die Menstruation.
Chronologie der embryonalen Entwicklung
Im Keimepithel der Hodenkanälchen des Mannes beginnt mit der Pubertät die
Heranreifung der männlichen Keimzellen zu haploiden4 Spermien (Samenzellen),
die sich bis ins Greisenalter fortsetzt. Im Ovar der Frau reift normalerweise nur
zwischen dem 13. und 50. Lebensjahr und nur einmal pro Monat eine haploide
Ovozyte (Eizelle) aus, die etwa 24 Stunden befruchtungsfähig ist. Bei jedem Koitus
werden zwischen 40 und 100 Millionen Spermien in der Vagina deponiert, die je
zur Hälfte die Träger eines Y- oder eines X-Chromosoms sind und bei der Konzeption das Geschlecht des Kindes bestimmen. Ein Teil der Spermien durchquert, eng
aneinander geschmiegt und in grosser Eile, die Enge des Gebärmutterhalses, die
Gebärmutterhöhle und den Eileiter und macht auf diesem Weg die letzten Reifungsprozesse durch. Die schnellsten unter ihnen gelangen schon nach wenigen
1 Vgl. bSyn 74a.
2 Joh 15, 13.
3 Da alle Menschen von einem
einzigen Menschen abstammen,
bedeutet nach dem Verständnis
der Rabbiner und des Qur’ans
die Rettung eines einzigen Menschen die Rettung der ganzen
Menschheit (vgl. bSyn 37a;
vgl. al-Ma’idah Q 5, 32).
112
Der Anfang und das Ende des Lebens
aus der Sicht der Medizin und der abrahamitischen Religionen
Der Anfang des Lebens
4 Spermien sind wie die Ovozyten
haploide Keimzellen, d.h. ihre
Erbinformation besteht nicht
wie bei den diploiden Zellen
des Körpers aus 2⫻23, sondern
nur aus 1⫻23 Chromosomen.
Ein Spermium verfügt entweder
über 22 + Y oder 22 + X Chromosomen. Vereinigt es sich mit
den 22 + X Chromosomen der
Ovozyte, so entsteht bei der
Befruchtung entweder ein neues
männliches (44XY) oder ein
neues weibliches (44XX)
Genom.
113
Abb. 6. Eindringen des Spermiums in die Eizelle (aus L. Nilsson, 1990, S. 53, «Der Gewinner»).
Minuten in den distalen Bereich des Eileiters.5 Treffen sie dort auf die durch den
Eisprung freigesetzte Ovozyte (Eizelle), so setzen sie Enzyme frei, welche die sie
umgebende Zona pellucida6 für die Penetration vorbereiten. Unter dem Antrieb
ihrer Flagellen und mit der mechanischen Kraft ihrer Köpfe versuchen sie, diese zu
durchstossen. Das gelingt meistens nur einem einzigen Spermium, weil an der Stelle, an der es in die Zona pellucida eindringt, sofort strukturelle Veränderungen
auftreten, die verhindern, dass noch andere Spermien in die Ovozyte gelangen
(Abb. 6). Ob es sich dabei um ein «männliches» oder ein «weibliches» Spermium
handelt, ist vielleicht nicht zufällig. Seine Selektion könnte durch die Ovozyte erfolgen, die je nach Höhe des mütterlichen Testosteronspiegels7 im Ovar ein Y- oder
X-haltiges Spermium aufnimmt oder abweist.8 Die Stelle, an der dieses in die Ovozyte eindringt, scheint den Ort festzulegen, von dem die erste Zellteilung und die
darauffolgende Entwicklung des Embryos ausgehen werden.9 Das Spermium gibt
somit den Anstoss zum Befruchtungsvorgang, der sich auf folgende Weise vollzieht:
Am Anfang bewirkt das Eindringen des Spermiums in die Ovozyte deren zweite Reifeteilung.10 Dabei werden ihre Chromosomen durch mitotische Teilung11
ihrer Länge nach halbiert, sodass jedes der beiden Replikate dieselben 23 Chro-
114
Der Anfang und das Ende des Lebens
aus der Sicht der Medizin und der abrahamitischen Religionen
mosomen erhält. Das eine wird zum Vorkern der Eizelle umgeformt. Das andere
wird zum zweiten Polkörperchen, das in den perivitellinen Raum zwischen Ovozyte und Zona pellucida abgestossen wird. Zusammen mit dem sich bereits dort
vorfindenden ersten Polkörperchen wird es für die Präkonzeptionsdiagnostik12 von
Bedeutung sein.
Das Spermium ist die kleinste (5/1000 mm) und die plasmareiche Ovozyte die
grösste (1/10 mm) Zelle des menschlichen Organismus. Am Anfang des Befruchtungsprozesses verharren ihre haploiden Vorkerne während 16–20 Stunden nebeneinander im Zytoplasma der Ovozyte. Erst danach erfolgt ihre Vereinigung, und
durch die Vermischung und Reprogrammierung ihrer Gene entsteht das neue diploide Genom. Die Befruchtung ist ein mehrere Stunden dauernder Vorgang, während dem – je nach der Art des Spermiums – die männliche (44XY) oder weibliche
(44XX) Zygote entsteht, ein einzelliger diploider Embryo, der mit seinen 46 Chromosomen der Spezies Mensch angehört. Er ist vorerst eine einzigartige, hochspezialisierte totipotente Zelle, aus der sich alle 220 Zelltypen des menschlichen
Organismus entwickeln können. Sein Durchmesser beträgt 0,1 mm.
Während der 1. Woche nach der Befruchtung (Abb. 7): 24–30 Stunden nach
der Befruchtung (n.d.B.) findet die erste mitotische Kern- und anschliessend die
erste Zellteilung statt, wodurch zwei identische Zellen mit zwei identischen Zellkernen entstehen, die sich ihrerseits auf gleiche Weise weiter teilen. Die so entstehenden Furchungszellen sind nur locker miteinander verbunden und werden Blastomeren genannt. Mindestens bis zum Acht-Zellen-Stadium ist jede von ihnen
totipotent, d.h. dass mindestens während der ersten drei Zellteilungen jede Blastomere in der Lage ist, ein von den anderen Zellen unabhängiges, neues Individuum
5 Die Spermien finden denjenigen
der beiden Eileiter, der zur Eizelle führt, weil diese sich durch
chemotaktische Reize bemerkbar macht.
6 Zona pellucida: dicke, kompakte, nicht zelluläre Membran,
welche die Eizelle umgibt.
7 Testosteron: männliches Hormon, das in kleinen Mengen bei
der Frau in der Nebennierenrinde und im Ovar synthetisiert
wird.
8 Vgl. Grant, 1998, S. 103.
9 Vgl. Plusa et al., 2002,
S. 193–198.
10 Die Ureizelle oder primordiale
Eizelle ist diploid. Ihre erste
Reifeteilung erstreckt sich auf
Der Anfang des Lebens
die Zeit zwischen Fetalperiode
und Pubertät. Sie ist eine Reduktionsteilung (Meiose), durch
die aus einer Ureizelle mit
2⫻23 Chromosomen eine
haploide Keimzelle und das
erste Polkörperchen mit je
23 Chromosomen hervorgehen.
Während der Reduktionsteilung
wird durch Überkreuzung der
Längshälften der Chromosomen genetisches Material ausgetauscht, sodass die aus der
Meiose hervorgehende haploide
Eizelle nicht nur die Hälfte der
Chromosomen, sondern ein
neues genetisches Arrangement
erhält und dadurch befruchtungsfähig wird. Das erste Pol-
körperchen ist eine zytoplasmaarme Tochterzelle, d.h. eine
Kopie der Urkeimzelle, die sich
nicht weiterentwickeln kann.
Die Reduktionsteilung der
männlichen Urkeimzelle beginnt erst zur Zeit der Pubertät.
11 Eine mitotische Teilung führt zu
zwei genetisch identischen
Tochterzellen.
12 Vgl. Kapitel III.1.2, «Weiterentwicklung der Medizin aufgrund
der IVF – Sicht der Medizin –
Die Präkonzeptionsdiagnostik».
115
4. Tag
(Morula)
5. Tag
(Blastozyste)
Ovar
7. Tag
beginnende
Implantation
Ovozyte
Uterusschleimhaut
Abb. 7. Transport der befruchteten Eizelle vom Ovar durch die Eileiter in die Uterushöhle.
mit gleichem Erbgut hervorzubringen.13 Über das Acht-Zellen-Stadium hinaus entwickelte Embryonen verlieren ihre Totipotenz zusehends, ihre einzelnen Zellen
werden pluripotent, d.h. sie besitzen noch die Fähigkeit, sich in bestimmte Zelltypen, aber nicht mehr in ein neues Individuum umzuwandeln. Im 12–16-ZellenStadium wird der Embryo als Morula (Maulbeere) bezeichnet. Bis jetzt wurde er
vom Zytoplasma der Ovozyte ernährt und von den mütterlichen Genen in seiner
Entwicklung gesteuert. Jetzt wird sein eigenes Genom aktiviert, und dies ermöglicht den Übergang von der mütterlichen zur embryonalen Steuerung seiner Proteinsynthese. Eine fehlerhafte Transkription führt zu genetischen Defekten.14 Im 16–
32-Zellen-Stadium bildet sich im Innern der Morula ein mit Flüssigkeit gefüllter
Hohlraum, und dadurch findet ihre Umwandlung zur Blastozyste statt.15 In diesem
Stadium gelangt sie am 4.–5. Tag n.d.B. aus dem Eileiter in die Uterushöhle. Dort
entschlüpft sie der schützenden Zona pellucida und dehnt sich aus. Die peripher
liegenden Blastomeren entwickeln sich zu dem die Blastozystenhöhle auskleidenden
Zellmantel, dem Trophoblasten, aus dem die Eihäute und der embryonale Anteil
der Plazenta entstehen. Die zentral liegenden und sich langsamer teilenden Blastomeren legen sich dicht aneinander an. Sie bilden den Embryoblasten, die innere
Zellmasse mit den embryonalen, pluripotenten Stammzellen, aus denen der eigentliche Embryo hervorgehen wird.16 Bis zum 6. Tag n.d.B. hält sich die Blastozyste
frei in der Gebärmutterhöhle auf und wird dort von den Sekreten der Uterusschleimhaut ernährt. Dann nähert sie sich der Gebärmutterwand, schmiegt sich ihr
an und beginnt, sich in ihre Schleimhaut einzunisten. Über 50% der Blastozysten
erliegen vor ihrer Implantation einem programmierten Zelltod (Apoptose) und
sterben spontan und unbemerkt ab.17
116
Der Anfang und das Ende des Lebens
aus der Sicht der Medizin und der abrahamitischen Religionen
Während der 2. Woche n.d.B. (Abb. 8a, b) findet die Implantation oder Nidation dadurch statt, dass der Trophoblast invasiv in die Gebärmutterschleimhaut
eindringt, sofern sie hormonell richtig ausbalanciert ist. Die Zellen des Embryoblasten teilen sich nun sehr schnell. Dadurch wird er in die vorerst zweiblättrige
Keimscheibe der Blastozyste umstrukturiert, die für die zielgerichtete Weiterentwicklung des Keimlings notwendig ist.
Die Implantation ist ein ausserordentlicher Vorgang, weil die Blastozystenwand
väterliche Gene enthält und das mütterliche Immunsystem, das sich normalerweise
gegen alles Fremde wehrt, nicht reagiert. Die fehlende Reaktion scheint sich dadurch zu erklären, dass die Trophoblastzellen Enzyme bilden, welche die aggressive Wirkung der mütterlichen T-Lymphozyten18 aufzuheben vermögen.19
Schon 48 Stunden nach begonnener Implantation erfolgt die Synthese von humanem Choriongonadotropin durch den Trophoblasten. Der zunehmende Blutspiegel dieses Schwangerschaftshormons stellt einen Schutz für den Embryo dar,
indem er die Ausreifung weiterer Eizellen, den Abbruch der ovariellen Östrogenund Progesteronsynthese und die Abstossung der für die Implantation vorbereiteten Gebärmutterschleimhaut verhindert. Humanes Choriongonadotropin kann ab
dem 8. Tag n.d.B. im Blut und ab dem 14. Tag im Urin der Mutter nachgewiesen
werden und dient als Schwangerschaftstest.
Um den 14. Tag n.d.B kerbt sich die äussere Zellschicht der Keimscheibe ventral in diese ein. Sie bildet den Primitivstreifen (Abb. 9), der die Achse des Embryos
sichtbar macht und seine zwei symmetrischen Hälften markiert. Dieser Vorgang
wird als das erste Stadium der Gestaltwerdung des Embryos bezeichnet und beendet die Entstehung von eineiigen Mehrlingen definitiv.20 Der fetale Trophoblast und
die mütterliche Uterusschleimhaut, die sich zu einer funktionellen Einheit verbunden haben, umschliessen den Embryo jetzt von allen Seiten und versorgen ihn mit
Nährstoffen, womit der Implantationsprozess beendet ist. Der Embryo ist zum
Zeitpunkt, da die Menstruationsblutung der Mutter ausfällt, zu einem unteilbaren,
d.h. individuellen Lebewesen geworden. Seine Implantationsstelle im Innern des
Uterus ist mit Hilfe der Vaginalsonographie zu erkennen.21
13 Ein Drittel der eineiigen
(monozygoten) Zwillinge oder
Mehrlinge entsteht auf diese
Weise.
14 Vgl. Häberle et al., 2000,
S. 5–10.
15 Vgl. O’Rahilly und Müller,
1999, S. 50.
16 Der Mehrzahl der monozygoten
Zwillingsbildungen liegt eine
Zweiteilung des Embryoblasten
Der Anfang des Lebens
zu Grunde (vgl. Coccia,
1992/93, S. 17–20).
17 Vgl. Munné und Cohen, 1998,
S. 842–855.
18 T-Lymphozyten gehören zum
zellulären Immunsystem. Sie
werden auch als «Killerzellen»
bezeichnet, weil sie körperfremde Strukturen angreifen und
vernichten können.
19 Vgl. Munné und Cohen, 1998,
S. 1191ff.
20 Im angelsächsischen Schrifttum
wird der Embryo in seinen ersten 14 Lebenstagen (von der
Befruchtung an bis zur Entwicklung des Primitivstreifens)
als Präembryo bezeichnet (vgl.
Bodden-Heidrich et al., 1997,
S. 80).
21 Vgl. Diedrich, 2000, S. 161.
117
Primitivstreifen
Uterusschleimhaut
Trophoblast
(Äussere Zellschicht)
äusseres Keimblatt (Ektoderm)
dorsale Oberfläche der Keimscheibe
Embryoblast
(Innere Zellmasse)
inneres Keimblatt (Entoderm)
Blastozystenhöhle
a
a
Abb. 9. Primitivstreifen (Einstülpung des äusseren Keimblattes).
Während der 3. Woche n.d.B. erfolgt die Umbildung der zweiblättrigen in die
dreiblättrige Keimscheibe. Aus ihr entstehen folgende embryonale Organanlagen:
aus dem äusseren Keimblatt (Ektoderm) Sinnesorgane, Nervensystem, Haut; aus
dem mittleren Keimblatt (Mesoderm) Knochen, Muskulatur, Herz, Nieren; aus
dem inneren Keimblatt (Entoderm) Verdauungsorgane und Lungen. Gleichzeitig
beginnt sich der uteroplazentare Blutkreislauf auszubilden. Der Embryo kann mit
Hilfe der Vaginalsonographie erkannt werden22, und mittels der Dopplersonographie kann frühestens jetzt schon die Aktivität seiner Herzanlage nachgewiesen
werden. Seine Scheitel-Steiss-Länge beträgt etwa 1,5 mm.23
Während der 4. Woche n.d.B. entsteht die Anlage des Gehirns. Sie ist eine Verdickung oberhalb des Primitivstreifens, die als Nervenplatte bezeichnet wird. Aus
ihrem kranialen Abschnitt bildet sich das Gehirn und aus ihrem kaudalen Abschnitt
das Rückenmark. Die Differenzierung des Grosshirns beginnt zwei Wochen später.
Die Scheitel-Steiss-Länge des Embryos beträgt etwa 4 mm.24
Während der 6. Woche, d.h. ungefähr 40 Tage n.d.B. (Abb. 10) werden die Extremitätenanlagen und die Fingerstrahlen der Hände sichtbar.25 Es bilden sich Nervenbahnen zwischen dem Stammhirn und dem Rückenmark, die das Auftreten der
ersten koordinierten Bewegungen ermöglichen.26 Eine schnellere Entwicklung durchläuft das Zentralnervensystem erst später, zwischen der 12. und 20. Schwangerschaftswoche, sowie kurz vor der Geburt und in den ersten Monaten danach. Mit
erstaunlicher Präzision werden Milliarden von Nervenzellen miteinander verbunden;
Abb. 8. a Beginnende Implantation der Blastozyste in die Uterusschleimhaut.
b «Acht Tage» (aus L. Nilsson, 1990, S. 65).
118
Der Anfang und das Ende des Lebens
aus der Sicht der Medizin und der abrahamitischen Religionen
22
23
24
25
Vgl. ib.
Vgl. Roche Lexikon, 1999.
Vgl. ib.
Vgl. O’Rahilly und Müller,
1999, S. 110.
Der Anfang des Lebens
26 Stammhirn: es besteht aus
dem verlängerten Rückenmark,
der Pons und dem Mittelhirn
(vgl. Roche Lexikon, 1999).
Aristoteles: erste koordinierte
Bewegungen am 40. Tag n.d.B.
Vgl. Kapitel I.1, Anm. 31.
119
Abb. 10. Sechs Wochen, d.h. 42 Tage alter Embryo (P.M. Motta und S. Makabe,
Science Photo Library, http://www.sciencephoto.com, «Six week old embryo»).
dabei ist weitgehend ungeklärt, auf welchen genetischen Grundlagen sich ihre Vernetzung abspielt. Woher «wissen» sie, wohin sie wandern und wie sie zielgerichtete
Verbindungen miteinander eingehen können?27 Die Scheitel-Steiss-Länge des Embryos beträgt jetzt etwa 20 mm.28
Während der 7. Woche n.d.B. werden die Zehenstrahlen der Füsse sichtbar,
und es beginnt die Differenzierung der männlichen und weiblichen Gonaden. In
den embryonalen Ovarien sind schon gegen 10 000 Ureizellen29 vorhanden. Ihre
Anzahl steigt bis zur 20. Woche auf zirka 7 Millionen an30 und nimmt dann kontinuierlich bis zur Menopause ab. Beim männlichen Embryo sind um die 7. Woche
n.d.B. die Urkeimzellen in die Gonaden eingewandert. Die Scheitel-Steiss-Länge
des Embryos beträgt etwa 27 mm.31
Während der 8. Woche n.d.B. erscheint der Kopf abgerundet, die Augenlider
und Ohranlagen werden sichtbar, das Gesicht nimmt menschliche Züge an. Es
können elektrische Hirnströme registriert werden, die denen beim Träumen ähnlich
sind, und es findet erstmals ein Informationsaustausch zwischen den peripheren
Nervenbahnen und den Grosshirnzellen statt. Der Embryo beginnt auf äussere
Reize zu reagieren. Seine Scheitel-Steiss-Länge beträgt etwa 31 mm.32 Mit der
8. Woche ist die Embryonalperiode beendet und es beginnt die Fetalperiode.
Während der 10. Woche n.d.B. sind alle Organe «en miniature» vorhanden.
Die fetale Blutbildung beginnt in der Leber. Die beiden Grosshirnhemisphären
nehmen an Grösse zu. Die Scheitel-Steiss-Länge des Fetus beträgt etwa 60 mm.33
Während der 16. Woche n.d.B. (Abb. 11) lässt sich das Geschlecht des Fetus sonographisch feststellen. Frühestens jetzt können die Kindsbewegungen von der Mutter
leicht verspürt werden. Die Scheitel-Steiss-Länge des Fetus beträgt etwa 140 mm.34
120
Der Anfang und das Ende des Lebens
aus der Sicht der Medizin und der abrahamitischen Religionen
Abb. 11. Sechzehn Wochen, d.h. 112 Tage alter Embryo
(aus L. Nilsson, 1990, S. 110, «Vier Monate»).
27 «One of the wonders of human
development is the manner in
which the human brain, which
consists of over a billion neurons, can develop so quickly
from just a few initial neural
cells» (Kolb, 1989, S. 1204).
Der Anfang des Lebens
28 Vgl. England, 1983, S. 18.
29 Keimzellanlagen, aus denen
nach Ablauf der verschiedenen
Entwicklungsstadien die Eizelle
entstehen wird.
30 Vgl. O’Rahilly und Müller,
1999, S. 312.
31 Vgl. England, 1983, S. 18.
32 Vgl. ib., S. 19; O’Rahilly und
Müller, 1999, S. 312.
33 Vgl. England, 1983, S. 20.
34 Vgl. ib., S. 23.
121
Während der 18. Woche n.d.B. verspürt die Mutter die Kindsbewegungen mit
Sicherheit. Die ersten Lanugohaare bedecken die Haut des Fetus. Seine ScheitelSteiss-Länge beträgt etwa 230 mm und sein Gewicht 250 g.35
Ab der 20. Woche n.d.B. haben die etwa 260 mm langen36 und etwa 400 g
schweren Frühgeburten eine zunehmende Chance, ausserhalb des Mutterleibes
überleben zu können. Dank modernster Reanimationstechnik gelingt dies bei etwa
20% der 20 Wochen alten Feten. Die Hälfte von ihnen wird jedoch wegen ihrer
Unreife an schwersten körperlichen und geistigen Dauerschäden leiden.37
Die Schwangerschaft wird eingeteilt in die Embryonalperiode, welche die ersten
8 Wochen nach der Befruchtung umfasst, und die daran anschliessende Fetalperiode. Während der Embryonalperiode findet die Organogenese statt und entstehen
die meisten kongenitalen Missbildungen. Auf die Embryonalperiode folgt die Fetalperiode, die bis zur Geburt dauert.
Es ist nicht möglich, eindeutig festzustellen, wann Leben beginnt. Als Anfang
des menschlichen Lebens werden folgende entwicklungsbiologische Daten diskutiert: Befruchtung (ein mehrere Stunden dauernder Vorgang); erste Kern- und Zellteilung (24–30 Stunden n.d.B.); Beginn der embryonalen Genaktivität (3–4 Tage
n.d.B.); abgeschlossene Implantation (um den 14. Tag n.d.B.); beginnende Hirnfunktion (8 Wochen n.d.B.); Abschluss der Organogenese (10 Wochen n.d.B.);
Geburt.
Sicht der Religionen
Allgemein
Judentum, Christentum und Islam verstehen Sexualität und Fortpflanzung als jenen Teil der Schöpfungsordnung, der sich im geschützten Rahmen der Ehe vollziehen soll. Die Bibel und der Qur’an sagen nicht, wann menschliches Leben beginnt.
Sie beschreiben die Entstehung des Menschen nach göttlichem Plan und bestimmen, ab wann ihm im Laufe seiner Entwicklung ein absoluter Schutz zukommt.
Judentum
Die Bibel sieht in Braut und Bräutigam zwei Hälften, die sich gesucht haben, um
ein Ganzes zu bilden und damit ihre ursprüngliche Schöpfungseinheit, ha-adam,
wiederherzustellen.38 Aus einem «Wir» soll ein «Ich» im Ebenbilde Gottes werden,
aus dem das Kind entstehen kann. Der Talmud sagt: «Wer nicht verheiratet ist, ist
ohne Freude, ohne Segen39, ohne Gutes»40, und «ein Mann, der nicht verheiratet
ist, ist kein Mann»41. Gott erschuf die Frau als Helferin, Begleiterin und Vertraute
des Mannes, damit er nicht allein sei42, und beiden schenkte er, kaum waren sie
erschaffen, seinen Segen43 zur Fortpflanzung. Damit machte er sie zu Partnern in
seinem Schöpfungswerk.44 Später, nachdem er mit der Sintflut alles Lebendige auf
der Erde zerstört hatte, wiederholte Gott seinen Segen an Noah und seine Söhne
122
Der Anfang und das Ende des Lebens
aus der Sicht der Medizin und der abrahamitischen Religionen
und sprach zu ihnen: «Seid fruchtbar und mehret euch (peru u-r’vu) und füllet die
Erde.» Schliesslich richtete er sich mit denselben Worten an Jakob, denn aus ihm
sollten die Stämme Israels hervorgehen.45
Diese göttliche Zuwendung wird in der rabbinischen Tradition als Imperativ
verstanden, von dem sie drei Pflichten46 ableitet, die den jüdischen Mann, nicht
aber die jüdische Frau betreffen.47
a) Die Pflicht der Eheschliessung.48 Diese muss in einer bestimmten Form erfolgen
und besteht aus zwei Teilen, die gleichzeitig gefeiert werden: kidduschin49 ist
die Anheiligung der Frau an ihren Mann50 entsprechend der Anheiligung des
jüdischen Volkes an seinen Gott. Nissuin ist die Heimführung der Frau in ihre
neue Lebensgemeinschaft. Wenn der Mann das Alter von 18 Jahren erreicht
hat, ist er verpflichtet, zu heiraten51 und Kinder zu zeugen. Denn «wer 20 Jahre alt ist und unverheiratet, lebt in Sünde».52 Wer aber befürchtet, das Torastudium wegen seiner Heirat unterbrechen zu müssen, um seine Familie zu
erhalten, kann die Heirat hinausschieben, solange sein Trieb ihn nicht beherrscht.53
35 Vgl. O’Rahilly und Müller,
1999, Abb. C2 und D.
36 Vgl. S. 488.
37 Vgl. Chevernak und
McCullouh, 1997, S. 418ff.
Das kleinste lebende Baby der
Welt wurde als Zwilling am
19.09.2004 im Loyola University Medical Center in Maywood, Illinois geboren. Sein
Geburtsgewicht betrug 240 g
(vgl. [email protected]
22.12.04), und nach dem
Bericht der Loyola University
vom 20.09.2005 feierte es bei
guter Gesundheit seinen ersten
Geburtstag.
38 «Und Gott schuf den Menschen
in seinem Bild» (Gen 1, 27).
Nach dem Midrasch schuf er
ihn als einen androgynen Menschen, denn Adam hatte zwei
Gesichter (vgl. bEr 18a), und
dann teilte er ihn (vgl. Raschi
zu Gen 1, 27).
39 Segen allgemein als Zuwendung
und Schutz Gottes (vgl. RGG).
Der Anfang des Lebens
40
41
42
43
44
45
46
47
bJab 62b.
bJab 63a.
Vgl. Gen 2, 18.
Für die Bibel ist die Fortpflanzung ein Segen Gottes, eine Zusage von Kraft, die sich an
Menschen und Tiere richtet
(vgl. RGG).
Vgl. bNid 13a.
Vgl. Gen 1, 28; 9, 1; 35, 11;
Übers. Zunz.
Erst nach der Zerstörung des
zweiten Tempels wurde der
Fortpflanzungssegen zum Gebot, welches das Überleben des
bedrohten Volkes sichern sollte
(vgl. Daube, 2000).
Weil die Frau nicht zum Gebären gezwungen werden soll,
kann sie nicht zur Heirat verpflichtet werden. Weil die Tora
das Gebot der Fortpflanzung
mit der Aufforderung verknüpft, sich die Erde untertan
zu machen, ist der Mann –
dessen Art es sei zu unterwerfen – zur Fortpflanzung verpflichtet (vgl. bJab 65b).
48 Ein zölibatäres Leben aus Liebe
zum Torastudium ist im Judentum zwar vereinzelt vorgekommen. Im Vergleich zur Ehelosigkeit ist die Heirat jedoch das
höhere Lebensideal (vgl. Jacobs,
1999, S. 145).
49 Kidduschin (von kadosch, «abgesondert, geheiligt»): Absonderung. Erklärung des Mannes,
dass die Frau, abgesondert von
anderen Männern, ausschliesslich ihm gehört.
50 Vgl. Dtn 22, 13; Sefer
Hachinuch: 552. Mizwa.
51 Vgl. MAb 5: 21.
52 bQid 29b.
53 Vgl. ib.
123
b) Die Pflicht zum Geschlechtsverkehr54 mit dem Ziel der Fortpflanzung (peru
u-r’vu). Diese ist dann erfüllt, wenn der Mann mindestens einen Sohn und eine
Tochter55 hat, die ihrerseits imstande sind, eigene Kinder zu zeugen. Sollten seine Kinder jedoch sterben, ohne eigene Kinder zu hinterlassen, so hätte er das
Gebot nicht erfüllt. Er soll daher vorsichtshalber – im Alter wie in der Jugend – Kinder zeugen56 und dies umso mehr, als «die Welt zur Fortpflanzung
erschaffen worden ist».57 Denn die prophetische Aufforderung, die Welt zur
Wohnung zu machen, gilt für alle Menschen: «Er ist Gott, der gebildet die Erde
und sie gemacht. Er hat sie eingerichtet, nicht umsonst hat er sie geschaffen,
zur Bewohnung (la-schevet) hat er sie gebildet: ich bin der Ewige und keiner
sonst.»58
c) Die Pflicht von onah (Beiwohnung) bezeichnet den ehelichen Verkehr neben
Kost und Kleidung als eine der drei Pflichten des Mannes gegenüber der Frau.59
Diese muss auch dann erfüllt werden, wenn sie nicht der Fortpflanzung dient.
Die rabbinische Vorschrift verlangt, dass der Mann die Initiative zur ehelichen
Beziehung nur dann ergreift, wenn sie von seiner Gattin erwünscht ist. Er darf
sie nicht dazu zwingen. Dass er auf ihre Wünsche eingeht und ihr sexuelle Freude (simchat ischto) bereitet, ist ein Recht, das ihr zukommt.60
Seit dem Dekret des R. Gerschon von Mainz (965–1028) sind aschkenasische
Juden zur Monogamie verpflichtet, und diese Verpflichtung gilt heute auch für die
sephardischen Juden.61
Die Ehe ist eine von Braut und Bräutigam freiwillig gewählte, heilige Verbindung zur Gründung einer Familie, die nach dem jüdischen Gesetz lebt. Sie hat zur
Voraussetzung, dass keine Ehehindernisse62 vorliegen und dass eine vom Bräutigam
und von zwei Zeugen unterschriebene Ketuba, ein in aramäischer Sprache verfasster Ehevertrag, vorgelegt wird. Dieser sichert seit dem 3. Jahrhundert n.d.Z. die
Rechte der Frau, besonders die finanzielle Fürsorge durch den Gatten oder seine
Erben im Falle von Scheidung oder Tod.63 Mit dem Vorlesen des Ehevertrages während des Gottesdienstes geht der Ehemann öffentlich seine Verpflichtungen gegenüber seiner Gattin ein. Die von Segenssprüchen begleitete zentrale Handlung von
Kidduschin besteht in der Übergabe eines einfachen Goldringes durch den Bräutigam an die Braut. Dabei spricht er in hebräischer Sprache vor zwei Zeugen folgende Worte64 aus: «Durch diesen Ring bist du mir angetraut gemäss dem Gesetz
Moses und Israels», und mit der Annahme des Ringes bezeugt die Braut ihr Einverständnis. Dadurch ändert sich ihr Status: Sie wird von einer jungen Frau zu
einer eschet isch, zu einer Gattin, die allen Männern, ausser ihrem Ehemann, verboten ist.
Die Scheidung einer zerrütteten Ehe ist im jüdischen Recht vorgesehen. Sie erfolgt durch den Get, den Scheidebrief, der zwar nur vom Ehemann ausgestellt wird,
der aber nicht gegen den Willen der Frau gegeben werden kann. Bevor sie wieder
heiraten darf, ist ihr eine Wartezeit von 3 Monaten auferlegt.65 Soll die Scheidung
auf Wunsch der Ehefrau erfolgen, so muss sie ihren Gatten um die Ausstellung des
124
Der Anfang und das Ende des Lebens
aus der Sicht der Medizin und der abrahamitischen Religionen
Scheidebriefes bitten. Widersetzt er sich und liegen schwerwiegende Gründe vor,
so kann das jüdische Gericht ihn dazu zwingen.
Nach der Bibel ist das menschliche Leben die Krönung der Schöpfung. Es ist
heilig, weil es von Gott stammt. Seine Zeugung setzt unter anderem die Abgesondertheit der sexuellen Beziehungen voraus: diese dürfen nur während den Tagen
der Reinheit der Frau66, nur während bestimmter Tage im Jahreszyklus67 und nur
in innerer Übereinstimmung zwischen den Ehegatten stattfinden. Im Zohar68 heisst
es: «Der Mann soll seine Frau betreten in grosser Ehrfurcht und Demut, wie den
Tempel vor dem Ewigen. Er soll liebevoll mit ihr sprechen, ihre Zustimmung erhalten, damit sie eines Willens sind, kein Drängen stattfindet und durch seine Küsse seine Seele mit ihrer Seele vereint ist.»69 Über ein solches Paar breitet die Schechina70, die Gegenwart Gottes, ihre Flügel aus.71
Tritt eine Schwangerschaft ein, so sind an der Entstehung des Menschen drei
Partner beteiligt: der Allmächtige, der Vater und die Mutter. Neues Leben wird
nicht allein aus dem Willen der Eltern gezeugt und nicht allein aus ihrem «Samen»,
denn Geist und Seele stammen von Gott.72 «Er hat uns geschaffen», sagt der Psalmist, «und sein sind wir».73
54 Vgl. Gen 1, 28; 9, 7.
55 Vgl. mJab 61b; vgl. Platon:
Nomoi 6, 784.
56 Vgl. Koh 11, 6; bJab 62b.
57 bGit 41b.
58 Jes 45, 18; Übers. Zunz; MEd I:
13; vgl. Kapitel III.1.2, «Sicht
der Religionen – Judentum».
59 Vgl. Ex 21, 10f.
60 Vgl. Ex 21, 10; bEr 100b.
61 Vgl. Kapitel VIII.5.1.
62 Ehehindernisse sind unter
anderem: Alter unter 16 Jahren
für Frauen (vgl. Klein, 1979,
S. 396f.), Blutsverwandtschaft
(vgl. Lev 18, 6), Verschwägerung, nicht geschiedene Ehe,
Unfähigkeit zum Beischlaf,
nicht beendete Wartezeit der
Frau nach Scheidung und Tod
(je 90 Tage). Die Ehe mit einem
Nichtjuden ist ungültig (vgl.
Dtn 7, 3).
63 Vgl. bKet 82b.
64 Hebr.: Hari at mekuddeschet li
betabbaat (Sidur Sefat Emet,
1999, S. 285).
Der Anfang des Lebens
65 Vgl. bJab 41a; MT Hil. Gerushin, 11: 18.
66 Vgl. Lev 15, 19; 20, 18. Wie die
Trennung zwischen nicht koscherem und koscherem Essen,
so bedingt die Reinheit der Familie, taharat ha-mischpacha,
die Trennung von Profanem
und Heiligem im sexuellen Bereich. Die Gesetze, die sie betreffen, werden chuqqim genannt, weil es keine rational zugängliche Erklärung für sie gibt
(vgl. Maimonides, Führer der
Unschlüssigen, III, 26). Die familiären Reinheitsgesetze richten sich vor allem an die jüdische Frau und bestimmen, dass
sie während der Dauer ihrer
Menstruations- und postpartalen Blutung rituell unrein und
für ihren Gatten unberührbar
ist.
67 Ehelicher Verkehr soll sowohl
an den beiden hohen Fastentagen Yom Kippur (Versöhnungstag) und Neunter Aw (Trauer
68
69
70
71
72
73
um die Zerstörung des ersten
und zweiten Tempels) als auch
während der Trauertage um einen nahen Verwandten unterlassen werden. Wenn das Gebot
von peru u-r’vu (Fortpflanzung)
erfüllt ist, soll auch bei nationalen Kalamitäten (z.B. Hungersnot) auf Geschlechtsverkehr
verzichtet werden (vgl. bTan
11a).
Zohar (hebr.), «Buch des
Glanzes», bedeutendstes Werk
der jüdischen Mystik, das entsprechend der jüdischen Tradition aus dem 2. Jahrhundert
stammt und von Simon bar
Jochai verfasst worden ist.
Zoh 49b.
Schechina (hebr. schochen,
«wohnen»), nach rabbinischer
Lehre: Einwohnung Gottes,
Gegenwart Gottes in der Welt.
Vgl. bSot 17a.
Vgl. bNid 31a.
Ps 100, 3.
125
Die rabbinischen Gelehrten zur Zeit der Mischna und des Talmuds haben sich
nicht über den Anfang des menschliches Lebens geäussert, aber sie haben sich im
Laufe der Zeit Fragen gestellt, die man damit in Verbindung bringen kann, beispielsweise: Wann bekommt der Mensch eine Seele? Bei der Konzeption74, nach
40 Tagen75 oder bei der Geburt?
a) Bei der Konzeption: Es sei hier auf ein Gespräch verwiesen, das im 3. Jahrhundert zwischen dem jüdischen Gelehrten R. Jehuda ha-Nasi76 und dem in griechischer Philosophie bewanderten römischen Kaiser Antoninus77 stattfand. Dieser fragte: «Wann kommt die Seele in den Menschen, beim Bedenken78 oder bei
der Bildung79 des Embryos?» R. Jehuda liess sich überzeugen, dass die Seele bei
der Konzeption in den Menschen gelangt, dann, wenn Gott die Erschaffung
des Menschen bedenkt.80 Um welche Seele es sich handelt, um die sterbliche
neschama oder die unsterbliche nefesch, wurde nicht gesagt.81 Nur vereinzelte
jüdische Gelehrte teilen die Ansicht R. Jehudas. Zu ihnen gehören R. Aharon
Wieder vom Rabbinischen Gericht Sanz in Brooklyn82 und R. J. David Bleich,
bekannte Autorität im Gebiet jüdischer Bioethik. Letzterer antwortet auf die
Frage nach dem Anfang des Lebens: «Judaism endorses the principle that
ensoulment takes place at conception, hence human life begins at conception»83. Der ebenfalls heute lebende orthodoxe Rabbiner und Mikrobiologe
Mosche David Tendler weist darauf hin, dass die Lehre vom Anfang des Lebens
bei der Konzeption keine Basis in der biblischen Moraltheologie hat.84 Andere
zeitgenössische jüdische Gelehrte sagen, dass die Seele zu den Geheimnissen
Gottes zähle, und was die Aussage von R. Jehuda betreffe, so finde sich weder
in der Tora noch im Talmud eine diesbezügliche Basis.85
b) Nach 40 Tagen: Gemäss dem Talmud sagten R. Johanan und R. Eleazar, dass
die Seele in 40 Tagen gebildet werde.86
Andere Weise bestimmen, dass die Entstehung87 eines männlichen und eines
weiblichen Embryos gleich viel Zeit brauche, nämlich 41 Tage.88 Wenn eine Frau
bis zum 40. Tag nach der Konzeption «etwas ausstösst», so handelt es sich nicht
um eine Geburt, und das «Ausgestossene» muss nicht begraben werden, denn
der Embryo ist nicht geformt und besitzt noch keine Identität. Die auf seine
Ausstossung folgende Unreinheit entspricht der einer Monatsblutung89 und nicht
der einer Geburt. Gleichermassen verpflichtet die Fehlgeburt bis zum 40. Tag
nicht zum Sühneopfer90 im Tempel. Wenn die Frau aber nach dem 40. Tag «etwas ausstösst», so ist sie unrein, wie nach einer Geburt.91 Sie ist zum Sühneopfer verpflichtet, und das «Ausgestossene» muss wie jede Totgeburt begraben,
aber nicht betrauert werden.
Auf die Frage, wann sich das Geschlecht des Kindes entscheide, sagt der Talmud: «In den ersten drei Tagen flehe man, dass der Same nicht verwese; von
drei bis 40 flehe man, dass es ein Knabe werde»92, d.h. vom 41. Tag an ist das
Geschlecht des Embryos festgelegt.
126
Der Anfang und das Ende des Lebens
aus der Sicht der Medizin und der abrahamitischen Religionen
Auf die Frage, bis wann die Tochter eines Priesters Teruma93 essen dürfe, wenn
sie mit einem in der Zwischenzeit verstorbenem Nicht-Priester verheiratet war,
mit dem sie bisher keine Kinder hatte, antwortete R. Hisda94: «Sie darf bis zum
40. (Tage) essen [...]; ist sie schwanger, so ist (der Same) bis zum 40. (Tage)
nichts weiter als Wasser, maya b’alma.»95
c) Vom 41. Tag bis zu Beginn der Geburtswehen ist der Fetus noch keine nefesch
chaia, noch kein lebender Mensch, noch keine Person.96 Er ist ein Teil der Mutter, ubbar yerech imo, oder pars viscerum matris97. Als solcher wird er z.B.
durch die Konversion der Mutter während der Schwangerschaft mitkonvertiert98, und träfe sie die Todesstrafe, so träfe diese auch das ungeborene Kind.
Würde er sterben, so müsste er begraben werden. Sobald jedoch die Geburtswehen einsetzten, musste die Todesstrafe der Mutter hinausgeschoben werden,
bis das Kind geboren war.99
74 Vgl. bSyn 91b.
75 Vgl. bMen 99b; Aristoteles,
De anim. hist., 583b.
76 R. Jehuda ha-Nasi (150–222),
herausragender jüdischer
Gelehrter, Vorsteher des Sanhedrions in Tiberias, Verfasser
der Mischna.
77 Die genaue Identifizierung dieses Kaisers ist nicht möglich. Es
könnte sich um den nicht jüdischen, aber philosophisch gebildeten Kaiser Marcus Aurelius
(gest. im Jahr 180 in Rom) oder
um dessen Nachfolger gehandelt haben.
78 D.h. bei der Konzeption, wo
die Erschaffung des Menschen
von Gott bedacht wird.
79 D.h. am 41. Tag, wenn der
Embryo menschliche Form annimmt (MNid. III: 7).
80 Vgl. bSyn 91b.
81 Vgl. MT Hil. Yesodei Hatorah,
4: 8f.
82 Vgl. Wieder, 1995, S. 139.
83 Bleich, 1998, S. 217.
84 Vgl. Tendler, 2000, H-I, S. 26.
85 Vgl. Feldmann, 1968, S. 272ff.
86 bMen 99b.
Der Anfang des Lebens
87 Entstehung bedeutet hier Form
annehmen, in den Besitz seiner
Glieder kommen.
88 Vgl. bNid 30a.
89 Vgl. bNid 66a.
90 40 Tage nach der Geburt eines
Knaben und 80 Tage nach der
eines Mädchens erfolgte die
Rückkehr in den Tempel und
die Vornahme des Sühneopfers
zur inneren Reinigung und erneuerten Gottesbeziehung (vgl.
Hirsch Samson Raphael zu Lev
12, 6). Mit der Zerstörung des
zweiten Tempels in Jerusalem
(70 n.d.Z.) ist dieses Gebot hinfällig geworden.
91 Vgl. MKer 1: 6.
92 bBer 60a.
93 Teruma ist eine Abgabe an den
Priester, eine heilige Speise, für
ihn und seine nächsten Angehörigen. Sie zu geniessen war
Nicht-Priestern und auch deren
aus priesterlicher Familie stammenden Gattinnen verboten.
Diesen letzteren wurde der Genuss von Teruma dann wieder
erlaubt, wenn ihr Gatte gestorben war, sie keine Kinder hatten und nicht schwanger waren
(vgl. Lev 22, 12f.).
94 R. Hisda (zirka 217–310), Vorsteher einer Talmud-Akademie
in Sura (Babylonien).
95 bJab 69b. Maya b’alma, «wie
Wasser», d. h. er ist noch nicht
geformt und kann noch nicht
als Kind bezeichnet werden (bestätigt durch Prof. Abraham S.
Abraham, Jerusalem, Telefonat
vom 1.2.2004).
96 Vgl. Kapitel III, Anm. 142.
97 Vgl. bGit 23b.
98 Vgl. bJab 28a.
99 Vgl. bAr 7a.
127
d) Bei der Geburt: Auf die Frage, bis wann ein Fetus getötet werden dürfe, um das
Leben der Mutter zu retten, antwortete R. Jose: «bis der grössere Teil des Kopfes» geboren ist.100 R. Hisda entschied: «Ist der Kopf hervorgekommen, so darf
man ihm nichts mehr tun, weil man nicht ein Leben für ein anderes opfern
kann».101 Wenn dieses «den Kopf herausstreckt», sagt der Talmud, ändert sich
der Status des Fetus von einer Nichtperson zu einer Person, die vom Recht geschützt und erbberechtigt ist. Sie zu töten, wäre Mord.102
Wegen der hohen perinatalen Mortalität zur Zeit der Mischna galt ein neugeborenes Kind erst nach 30 Tagen als sicher lebensfähig, sodass erst dann bestimmte Vorschriften, z.B. die Pflicht zur Auslösung des erstgeborenen männlichen Kindes103, wirksam wurden. R. Schimon ben Gamliel sagte: «Was bei einem Menschen
dreissig Tag alt wird, ist keine Fehlgeburt».104 Die Mischna sagt, dass ein Knabe
von einem Tag «erbt und erben lässt. Wer ihn tötet, ist schuldig.»105 Nach Maimonides steht jedoch auf die Tötung eines Neugeborenen nur dann die Todesstrafe,
wenn es nach einer voll ausgetragenen Schwangerschaft geboren wurde. Ein Kind,
das vor dem beendeten 9. Schwangerschaftsmonat entbunden wird, ist noch kein
voller Mensch und wird solange als Abort (nefel) bezeichnet, bis es den 30. Lebenstag beendet hat.106 Überlebt es den 30. Tag nicht, so wird es nur begraben.107
Stirbt es nach dem 30. Lebenstag, so wird es nicht nur begraben, sondern wie ein
erwachsener Mensch auch betrauert.108
Trotz ihrer verschiedenen Ansichten über den Anfang des Lebens sind sich die
jüdischen Gelehrten darüber einig, dass der Embryo, sobald er sich im Mutterleib
eingenistet hat, eine potentielle Person wird. Zu seinem Schutz müssen zwar, wenn
nötig, die Sabbat-Gesetze gebrochen werden, jedoch ist er nicht im Besitz der vollen Rechte eines geborenen Menschen. Yves Nordmann zitiert einen an ihn gerichteten Brief des ehemaligen Oberrabiners Englands, Lord Jakobovits, der besagt:
«Basically human life begins at conception and progressively gains in status, until
full human rights are established at birth.»109
Christentum
Die Ehe und die in Enthaltsamkeit gelebte Ehelosigkeit sind die zwei Wege der
Gotteshingabe im Christentum. Die Ehelosigkeit ist für das römisch-katholische
und das orthodoxe Christentum das höhere Lebensideal, weil der Ehelose auf die
Vermittlung der Liebe Gottes durch den Ehepartner verzichtet.110 Er tut es «um des
Reiches der Himmel willen»111, wo es die Ehe nicht mehr gibt.112 Paulus sagt, dass
es für den Mann gut sei, keine Frau zu berühren. Er dränge darauf, jungfräulich
zu bleiben, weil das Reich Gottes nahe bevorstehe. Den Unverheirateten sagt er
aber, es sei besser zu heiraten, «als sich in Begierde zu verzehren»113. «Somit tut
sowohl der, welcher seine Jungfrau verheiratet, gut, als auch wird der, welcher sie
nicht verheiratet, (gut, ja sogar) besser tun.»114 Wer nicht zölibatär lebt, rechtfertigt
seinen niedereren Stand in der Ehe durch die Weitergabe des Lebens.115 Die Son-
128
Der Anfang und das Ende des Lebens
aus der Sicht der Medizin und der abrahamitischen Religionen
derstellung des Zölibates wurde von den Reformatoren abgeschafft, und allen Getauften, verheiratet oder ehelos, wurde dieselbe Würde zugebilligt.116 Auch Karl
Barth versteht die Einzigkeit des Menschen in seiner Pluralität als Mann und Frau,
in der dieser «Gottes Ebenbild zu sein durch Gottes Gnade gewürdigt ist»117. In der
Ehe, sagt er, verkörpern Mann und Frau das eine Abbild Gottes, leben in seiner
Liebe und teilen sie einander mit.118 Sie weisen auf die vollkommene Gemeinschaft
hin, die Gott mit seinem Volk Israel und Christus mit seiner Kirche verbindet. «Dieses Geheimnis ist gross», schreibt der Verfasser des Epheserbriefes.119 Weiter sagt
er: «Seid einander untertan in der Furcht Christi.»120 Die Frauen sollen ihren Männern untertan sein, die Männer aber sollen sie lieben «wie auch Christus die Kirche
geliebt und sich für sie hingegeben hat»121, und «jeder einzelne (soll) seine Frau so
lieben wie sich selbst, die Frau aber soll vor dem Mann Ehrfurcht haben»122.
In der menschlichen Sexualität drückt sich die für die monogame, heterosexuelle Ehe bestimmte Kraft des Schöpfers aus. Sie hat ihren Ursprung in seiner Liebe
und soll Ort seines Lobpreises und seiner Verherrlichung im Leibe sein.123 Das gelingt nur dann, wenn das eigene Ich dem Du Raum gibt, wenn im Zentrum der
Sexualität nicht die eigene Begierde, sondern der Geist Gottes steht, der «Leben
und Frieden» gibt.124 Chrisostomos und andere Kirchenväter des 4. Jahrhunderts
verstanden die eheliche Fruchtbarkeit nicht nur als Fortpflanzung125, sondern auch
als Multiplizität der geistlichen Tugenden.126 Geistliche Mutter- und Vaterschaft
standen bei ihnen höher als biologische Elternschaft.127
Die römisch-katholische Kirche lehrt, dass «Gott selbst der Urheber der Ehe»
sei.128 Er berufe die christliche Familie, Vater, Mutter und Kinder dazu, die dreieinige Gemeinschaft Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes
widerzuspiegeln.129 Die katholische Ehe ist ein zweiseitiger, unteilbarer und unverbrüchlicher Vertrag130, der von Christus für die in seinem Namen Getauften zum
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bNid 29a.
bSyn 72b.
Vgl. Raschi zu bSyn 72b.
Vgl. Kapitel III.1.3, «Sicht der
Religionen – Religiöse Vorschriften – Judentum».
bSab 135b.
Vgl. MNid V: 3.
Vgl. MT Hil. Rotzeach 6: 2.
Vgl. Fink, 1997, S. 50.
Vgl. bHul 12a.
Nordmann, 1999, S. 46.
Dionysius Aeropagita (um 500)
versteht den Mönch als einen
Menschen, der die Polarität
zwischen Mann und Frau über-
Der Anfang des Lebens
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123
windet und zum androgynen
Zustand des Anfangs zurückkehrt (vgl. Grün, 1989, S. 13).
Mt 19, 12.
Vgl. Mk 12, 25.
1 Kor 7, 9.
1 Kor 7, 38.
Vgl. Augustinus, S. 381.
Vgl. Luther, 1990, S. 495.
Barth, 1947, KD III/1, S. 210.
Ib.
Eph 5, 32.
Eph 5, 21.
Eph 5, 25.
Eph 5, 33.
Vgl. 1 Kor 6, 20.
124 Röm 8, 6.
125 Vgl. Gen 9, 1.
126 Vgl. Basilius von Caesarea,
zit. in Larchet, 1998, S. 28.
127 Vgl. Chrisostomos, zit. in ib.,
S. 27.
128 Vgl. KKK 1603.
129 Vgl. KKK 2205.
130 Vgl. Sebott, 1990, S. 20.
129
Ehesakrament131 erhoben wurde. «Deshalb kann unter Getauften nur ein Ehevertrag gültig sein, der zugleich Sakrament ist.»132
Wenn zwischen den Brautleuten kein Ehehindernis133 vorliegt, so sind sie selbst
mit ihrem gegenseitigen Jawort die Spender des Sakramentes. Dies geschieht in
einem liturgischen Akt in Gegenwart der Trauzeugen und unter Assistenz des Priesters, der im Namen der Kirche den freiwillig bezeugten Ehekonsens von Braut und
Bräutigam entgegennimmt und bestätigt.134 Nachdem diese ihre Eheringe als Zeichen des Bundes ausgetauscht haben, segnet er sie mit folgenden Worten: «Gott,
der allmächtige Vater [...] segne euch (in euren Kindern) alle Tage eures Lebens
[...]. Seid in der Welt Zeuge der göttlichen Liebe und hilfsbereit zu den Armen und
Bedrückten, damit sie euch einst in den ewigen Wohnungen empfangen.»135
Die im gegenseitigen Einverständnis vollzogene sakramentale Ehe ist nach göttlichem Recht unwiderruflich und unscheidbar.136 Liegen schwerwiegende Gründe
vor, die ihre Weiterführung verunmöglichen, so kann ein kirchlicher Entscheid zur
Trennung bei bleibendem Eheband beantragt werden.137 Eine Wiederverheiratung
ist nach kanonischem Recht ausgeschlossen. Der «Ehepartner, der sich wiederverheiratet [...], befindet sich in einem dauernden, öffentlichen Ehebruch.»138 Die eheliche Liebe, sagt die Kirche, ist «auf die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft hingeordnet» und findet «darin gleichsam ihre Krönung».139 Die sexuellen Beziehungen sind daher das Privileg der sich liebenden und sich einander
hingebenden Ehegatten, aus denen neues Leben entstehen kann.
Was das neu beginnende Leben betrifft, so stützte sich die katholische Kirche
bis ins 19. Jahrhundert unangefochten auf die von Thomas von Aquin (1225–1274)
übernommene Lehre des Aristoteles von der sukzessiven Beseelung.140 Danach beginnt die Entwicklung zum Menschen ab dem 40. Tag nach der Konzeption, wenn
der Embryo Form angenommen hat, sich zu bewegen beginnt und in den Besitz
der rationalen Seele gelangt.141 Diese Lehre wurde von der Kirche nie verworfen,
und einzelne katholische Theologen beziehen sich noch heute auf sie. Die katholische Kirche lehrt jedoch spätestens seit dem 19. Jahrhundert, dass schon die Zygote ein menschliches Geschöpf sei, dem nicht nur das Recht auf Leben, sondern
auch «die Rechte der Person»142 zukämen.143 Von der Vermischung der Keimzellen
an ist der Embryo «ein menschliches Subjekt mit einer ganz bestimmten Identität,
das sich von diesem Zeitpunkt an kontinuierlich entwickelt».144 Sein Leben ist vom
ersten Augenblick seiner Existenz an heilig und unantastbar.145 Aber, fragt Claude
Sureau146: «entre le moment où le spermatozoide s’accole à l’ovocyte et celui où la
double cellule commence à se diviser, il se passe environ une trentaine d’heures.
Où est donc l’instant?»147
Die orthodoxe Kirche bezeichnet das Ehesakrament als das Sakrament der Liebe, als «eine heilige Handlung göttlichen Ursprungs»148, dessen Gnade zur gegenseitigen Hilfe und Geduld und zur «gelassenen Überwindung aller Schwierigkeiten»
beiträgt.149 Es setzt voraus, dass keine Ehehindernisse150 vorliegen und dass Braut
und Bräutigam vor vier Zeugen sich freiwillig zu einem ewigen Bündnis verpflich-
130
Der Anfang und das Ende des Lebens
aus der Sicht der Medizin und der abrahamitischen Religionen
ten, dessen Ziel die Gründung einer Familie und die Vertiefung des Glaubens ist.
Der Vollzieher des Sakramentes ist der Priester, «da in ihm Christus selbst vor die
zu Trauenden und in ihre Mitte tritt»151. Das konstituierende und sichtbare Element des Ehesakramentes ist die Krönung von Braut und Bräutigam im Namen
Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, denn diese «sind ein königliches Geschenk füreinander, das von der Gegenwart des Schenkenden zeugt
und zu ihm führt»152. So betet die Kirche für die vollkommene Liebe des Brautpaares: «Herr, entflamme diese Liebenden mit dem Feuer der Liebe.»153 Grundsätzlich
gilt auch für die orthodoxe Kirche die Unauflösbarkeit der Ehe. Doch erlaubt sie
aus besonders schwerwiegenden Gründen154 die Ehescheidung und die Wiederverheiratung, weil sie die Menschen aus der Tragödie der zerbrochenen Ehe hinaus in
einen neuen Anfang mit Gott führen will.155 Eine Person kann nach entsprechender
Busse bis zu drei Mal getraut werden. Einer zweiten Eheschliessung soll ein zwei-
131 Das Sakrament – griech.
mysterion oder lat. sacramentum – ist das sichtbare Zeichen
der verborgenen Heilswirkung
des Todes und der Auferstehung Christi. In den Sakramenten ruft Christus in seine
Schicksalsgemeinschaft, «damit
wir filii in filio» werden
(Courth, 1995, S. 350). Die orthodoxe Kirche bezeichnet die
Sakramente als «Handlungen,
in denen unter einem sichtbaren
Zeichen unsichtbar eine bestimmte Gabe des Heiligen Geistes dargereicht wird» (Bulgakov, 1990). Im Gegensatz zur
römisch-katholischen und zur
orthodoxen Kirche, die sieben
Sakramente feiern, anerkennen
die protestantischen Kirchen
nur die zwei Sakramente Taufe
und Eucharistie, die von Jesus
selbst eingesetzt worden sind.
132 Sebott, 1990, S. 21.
133 Ehehindernisse sind unter anderem: Alter unter 14 Jahren für
die Frau, unter 16 Jahren für
den Mann (vgl. Sebott, 1990,
S. 93); bestehender Ehebund;
religiöse Weihe; unterschiedli-
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144
145
che Religionszugehörigkeit (die
Ehe zwischen zwei Ungetauften
oder zwischen einem Getauften
und einem Nichtgetauften ist
kein Sakrament); Blutsverwandtschaft oder gesetzliche
Verwandtschaft (z.B. Adoption); Unfähigkeit zum Beischlaf (vgl. ib., S. 95); Verbrechen.
Vgl. ib., S. 22, 163.
Die Feier der Trauung, 1993.
Vgl. Sebott, 1990, S. 29.
Vgl. ib., S. 259.
KKK 2384.
KKK 1652.
Vgl. De anim. hist. 7: 3.
Vgl. ST, I, q. 118, I ad 4.
Erste Bewegungen des Embryos
6 Wochen n.d.B. (vgl. Kapitel
III.1.1, «Sicht der Medizin –
Chronologie der embryonalen
Entwicklung»).
Person: griech. prosopon, ursprünglich «Maske», lat. persona. Eine Person ist ein unteilbares, unvertauschbares menschliches Wesen.
KKK 2270.
Serra und Colombo, 2000, S. 8.
Vgl. KKK 2270.
146 Claude Sureau, Professor für
Gynäkologie, ehemaliger Präsident der Académie Nationale
de Médecine, Paris.
147 Sureau, 2000, S. 19.
148 Staniloae, 1995, S. 149.
149 Ib., S. 171.
150 Ehehindernisse sind unter anderen: drei geschiedenen Ehen;
nicht getaufter Partner; gültige
Ehe mit anderer Person; kirchliche Weihen; nahe Blutsverwandtschaft.
151 Staniloae, 1995, S. 165.
152 Evdokimov, 1995, S. 183, 107.
153 Ib., S. 156.
154 «Ich aber sage euch: Jeder, der
seine Frau entlässt, ausser wegen Unzucht, gibt Anlass, dass
ihr gegenüber Ehebruch begangen wird; und wer eine Entlassene heiratet, begeht Ehebruch.» Mt 5, 32.
155 Vgl. Ware, 1991, S. 295.
131
jähriger «Ausschluss vom Heiligen Abendmahl», einer dritten Eheschliessung soll
ein «fünfjähriger Verzicht auf die Eucharistie» vorausgehen.156
Das Verständnis vom Anfang des Lebens als Frucht der sich liebenden und
durch die Ehe verbundenen Gatten stützt sich in der orthodoxen Kirche auf die
griechischen Kirchenväter, die in ihrer Mehrheit eine sukzessive Beseelung des
Menschen ausgeschlossen haben. So sprechen vor allem Gregor von Nyssa
(4. Jahrhundert), Maximus der Bekenner (7. Jahrhundert) und Johannes Damascenus (7.–8. Jahrhundert) von der initialen Koexistenz von Leib und Seele.157 Auf
sie bezieht sich die orthodoxe Kirche mit ihrer Lehre, dass sich mit der Konzeption
Leib und Seele des Embryos im Bilde Gottes konstituieren und er von da an eine
eigene Identität besitzt.158 Sie entspricht damit der heutigen Lehre der römischkatholischen Kirche.
Die protestantischen Kirchen bezeichnen die Ehe mit den Worten Martin Luthers als «ein weltliches Ding»159 und segnen Braut und Bräutigam erst, nachdem
diese den zivilrechtlichen Ehevertrag unterschrieben haben. Die Ehe ist für sie eine
natürliche Institution und nicht ein Sakrament. Mann und Frau bedürfen keiner
«Divinisation», weder durch den Eros noch durch die Kirche. Die Ehe ist ohnehin
gesegnet und hat ihre Verheissung: «Schon die Schöpfung ist als ein Akt der göttlichen gratia, misericordia, bonitas zu verstehen», in welcher der Mensch in seiner
Zweisamkeit Mann-Frau nach dem Urbild Gottes geschaffen und dadurch ausgerüstet ist, mit ihm im Bunde zu stehen.160 Er ist darauf angewiesen, «Gottes Segen
sowohl zu seiner Fortpflanzung als auch zu seiner Betätigung als das ihm ebenbildliche Wesen» zu empfangen.161
Die protestantischen Kirchen verstehen die Scheidung als den Bruch eines exklusiven und dauernden Treueversprechens, das durch die Kirche gesegnet worden
war. Wenn eine Lebensgemeinschaft jedoch nicht mehr möglich ist, so ist es den
Gatten freigestellt, die Ehe zivilrechtlich scheiden zu lassen und sich nochmals zu
verheiraten.162
In der Auseinandersetzung über den Beginn des menschlichen Lebens sind sich
die protestantischen Kirchen nicht einig. Unter ihren unterschiedlichen Positionen
finden sich solche, die die Befruchtung, und solche, die die abgeschlossene Implantation als Ausgangspunkt der Menschwerdung verstehen. Im allgemeinen geben
diese Kirchen der befruchteten Eizelle nicht denselben Personenstatus und dieselben Rechte wie dem geborenen Menschen. In diesem Zusammenhang macht der
evangelische Bischof Wolfgang Huber163 darauf aufmerksam, «dass wir erst dem
geborenen Menschen einen Namen geben und dass erst ein geborener Mensch getauft wird»164.
Verherrlichung Gottes und zur Sicherung einer Gemeinschaft zahlreicher Gläubiger, «die zum Guten aufrufen, das Rechte gebieten und das Verwerfliche verbieten»166. Wer gesund ist, ein Brautgeld bezahlen, Frau und Kinder erhalten kann,
der soll heiraten, «denn dadurch wird er seinen Trieb beherrschen können und
bescheiden bleiben»167. Der Qur’an empfiehlt die Ehe (nikah) und rät von Ehelosigkeit ab.168 «Heiraten ist eine Verpflichtung, ist meine Sunna», sagt der Prophet,
«und wer ihr nicht anhängt, gehört nicht zu den Meinen.»169 Mann und Frau sollen sich, bevor sie heiraten, im Hinblick auf gute Nachkommenschaft prüfen. Eine
Frau mag wegen ihres Vermögens, ihrer Abstammung, ihrer Schönheit und ihrer
Frömmigkeit geheiratet werden, aber, sagt der Prophet, «unter den erlaubten Frauen sollt ihr die Fromme wählen»170. Wer nicht heiraten kann, soll durch Fasten
seinen Sexualtrieb mildern.171
Während die Muslima durch die Ehe untrennbar an ihren Mann gebunden ist,
erlaubt der Qur’an dem Mann die gleichzeitige Ehe mit vier Frauen172 und sagt:
«heiratet, was euch an Frauen beliebt, zwei, drei und vier. Wenn ihr aber fürchtet,
(sie) nicht gleich zu behandeln, dann nur eine.»173 Er warnt: «ihr werdet es nicht
schaffen, die Frauen gleich zu behandeln, ihr mögt euch noch so sehr bemühen.»174
Die Mehrzahl der Muslime lebt heute in Monogamie, und auf ihre gegenseitige
Treue zählen zu können, ist das Recht der beiden Gatten.175
Die Ehe soll zwischen zwei geschlechtsreifen176, gesunden, sozial und intellektuell möglichst ebenbürtigen Menschen geschlossen werden, gegen die kein Ehe-
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Staniloae, 1995, S. 157.
Vgl. Larchet, 1998, S. 85.
Vgl. Breck, 1998, S. 143.
WA 42, 100, 25.
Vgl. Barth, 1947, KD III/1,
§42, S. 378.
Vgl. Barth, 1947, KD III/1,
§41, S. 212f.
Vgl. Grimm, 1995, S. 423.
Wolfgang Huber, aktueller Landesbischof der Evangelischen
Kirche in Berlin-Brandenburg.
Huber in FAZ, 11. Jan. 2003.
Vgl. ar-Rum Q 30, 21.
Al ‘Imran Q 3, 104.
Bukhari, Sahih VII: 2.
Vgl. Rahman, 1998, S. 103.
Islam
Nach islamischem Verständnis erschuf Gott Mann und Frau, damit sie sich gegenseitig beistehen, sich lieben, Kinder zeugen, sie erziehen und miteinander nach den
Geboten Gottes im Frieden leben.165 Kinderreiche Familien sind erwünscht zur
132
Der Anfang und das Ende des Lebens
aus der Sicht der Medizin und der abrahamitischen Religionen
Der Anfang des Lebens
169 Bukhari, Sahih VII: 62, 1. Dennoch gibt es in der Geschichte
des Islams einzelne Menschen,
wie Rabi’a al ’Adawiya, die um
Gottes Willen ehelos blieben
(vgl. Amri und Amri, 1992,
S. 102).
170 Bukhari, Sahih VII: 62, 27.
171 Vgl. ib. VII: 62, 3.
172 Jakobs 12 Söhne stammen von
4 Frauen (Lea, Rachel und ihren Mägden) ab.
173 An-Nisa’ Q 4, 3.
174 Ib. 4, 129.
175 Vgl. an-Nur Q 24, 2f.
176 Die Rechtsschulen stimmen
darin überein, dass das Erwachsensein für Knaben mit der ersten Ejakulation und für Mädchen mit der ersten Periodenblutung beginnt. Die Hanafi bestimmen dafür eine minimale
Altersgrenze von 12 Jahren für
Knaben und von 9 Jahren für
Mädchen. Die Schafi’i und
Hanbali setzen die Altersgrenze
für beide Geschlechter auf 15
Jahre (vgl. Enc. Islamic Law,
1996, 10.3).
133
hindernis177 vorliegt. Alle Rechtsschulen sagen, dass die Ehe ein freiwilliger178,
öffentlicher und feierlicher Vertrag (mithaq) zwischen Braut und Bräutigam
ist, der vor zwei männlichen Zeugen179 schriftlich festgehalten werden muss. Er
enthält unter anderem die Übereinkunft über die Höhe der Brautgabe (mahr),
auf welche die Braut entsprechend dem Qur’an180 und der Sunna Anspruch hat.181
Zum Schutze der Gattin kann er zusätzliche Bedingungen enthalten, wie zum
Beispiel die Verpflichtung des Gatten zur Monogamie, das Besuchsrecht der Angehörigen, das Recht, ein Studium aufzunehmen oder einen Beruf auszuüben. Im
Ehevertrag kann festgelegt werden, dass nicht nur der Mann, sondern auch die
Frau das Recht hat, die Scheidung auszusprechen. Zustande kommt die Ehe durch
die öffentliche Rezitation des Ehevertrages durch die Braut oder ihren Vormund
(wali) und durch die Aussprache des Wortes ankathu («ich traue mich ihm an»)
durch die Braut, auf die der Bräutigam mit raditu («ich habe angenommen») zu
antworten hat.182
Der Ehemann ist verpflichtet, seine Frau und seine ganze Familie mit seinem
Vermögen zu erhalten. Die Ehefrau leistet keinen Beitrag dazu. Sie verwaltet ihr
Vermögen unabhängig von ihrem Mann und von ihrer Familie. Als Kompensation
erhält sie einen kleineren Erbanteil als ihr Sohn, der die finanzielle Verantwortung
für die Familie zu übernehmen hat.
Das Fundament, auf dem sich die islamische Ehe aufbauen soll, ist der Gottesdienst (al-Ibadah) und die Befolgung der Gebote Allahs nach dem Beispiel des
Propheten. Darauf gründend lernen Gatte und Gattin einander zu tolerieren, einander beizustehen und Gott zu lieben, in sich selbst und in den anderen Menschen.183 Als Gottesdienst soll auch die Anweisung des Propheten zur Fortpflanzung
verstanden werden. Der Qur’an sagt: «Und es gehört zu seinen Zeichen, dass Er
euch aus euch184 selbst Gattinnen erschaffen hat, damit ihr bei ihnen wohnet [...].
Sie sind eine Bekleidung185 für euch, und ihr seid eine Bekleidung für sie. [...] Verkehrt nun mit ihnen und trachtet nach dem, was Gott euch vorgeschrieben
hat.»186
Sexuelle Beziehungen dürfen nur innerhalb der Ehe, nur zu bestimmten Zeiten187
und nur bei ritueller Reinheit der Frau188 stattfinden. Vor der geschlechtlichen Vereinigung sollen die Liebenden den Schutz Gottes anrufen und ihn um guten Nachwuchs bitten.189 Der Gatte soll die Gattin erheitern und mit Küssen und Umarmungen erfreuen. Er soll nicht auf sie fallen wie ein Maultier, sondern er soll zuerst
einen Kuss, gleich einem Botschafter, zu ihr schicken, bevor er sich zu ihr legt.190
Ziel ist die leidenschaftliche sexuelle Begegnung der Ehegatten auch dann, wenn
sie nicht der Fortpflanzung dient. Die Freude an ihrer geschlechtlichen Vereinigung
soll ein Vorgeschmack der Freude sein, die sie in der kommenden Welt erwartet.191
Der Qur’an spricht nicht nur von der ehelichen Liebe. Er befasst sich auch mit
den Ehepaaren, deren Lebensgemeinschaft nicht mehr aufrechterhalten werden
kann. Die Scheidung muss durch die Schari’a begründet sein, und das Recht sie
134
Der Anfang und das Ende des Lebens
aus der Sicht der Medizin und der abrahamitischen Religionen
auszusprechen steht dem Ehemann zu. Er darf seine Ehefrau zweimal entlassen.192
Spricht er nach erfolglosen Versöhnungsversuchen193 die Scheidung vor Zeugen ein
drittes Mal aus, so leitet er mit den Worten anti taliq («du bist geschieden») die
Scheidung ein. Es folgt nun eine Wartezeit (idda) von drei Menstruationszyklen,
während der die Gattin im Hause des Gatten wohnt und von ihm erhalten wird.194
Ist die Frau schwanger, so dauert die Wartezeit bis zur Geburt des Kindes. Während dieser Zeit soll zwischen den beiden sexuelle Enthaltsamkeit eingehalten werden. Die Wartezeit ist eine Bedenkfrist und hat die Versöhnung des Paares zum
177 Permanent verboten sind (vgl.
an-Nisa’ Q 4, 22–24): a) Verwandte durch das Blut und Verwandte durch die Milch, denn
die Amme und ihr Gatte werden den leiblichen Eltern gleichgestellt (vgl. an-Nisa’ Q 4, 23).
Die Milchverwandtschaft entsteht dann, wenn das Kind mindestens fünfmal an der Brust
gesaugt hat (vgl. Muslim, 8,
342). b) Ungläubige oder Polytheistinnen (vgl. al-Baqarah
Q 2, 221). Ein Muslim darf
eine Frau «des Buches» (ahl
al-kitab), das heisst eine Jüdin
oder Christin, heiraten (vgl.
al-Ma’idah Q 5, 5). Einer Muslima ist es jedoch verboten, einen Mann des Buches zu heiraten, da die Religionszugehörigkeit vom Vater auf das Kind
übertragen wird und dieses in
die muslimische Gemeinschaft
aufgenommen werden soll.
c) Die Heirat einer 5. Frau.
Temporär verboten sind unter
anderem: 1) Frauen während
ihrer Wartezeit: diese beträgt
nach dem Tod des Gatten
4 Monate und 10 Tage (vgl.
al-Baqarah Q 2, 234) und nach
einer Scheidung die Dauer von
drei Periodenblutungen (vgl.
ib., 228). 2) Mädchen vor ihrer
ersten Menstruation und Knaben vor ihrer ersten Ejakula-
Der Anfang des Lebens
178
179
180
181
tion. 3) Die Heirat mit einer mit
einem anderen Mann verheirateten Frau. Das Verbot verfällt,
wenn ihre Ehe durch Scheidung
oder Tod des Gatten beendet ist
(vgl. Doi, 1997, S. 125).
Eine Muslima hat das Recht,
eine eigene Entscheidung zur
Heirat zu treffen. Alle Rechtsschulen, ausser derjenigen der
Hanafi, erachten den freiwilligen Konsens beider Ehepartner
als Conditio sine qua non für
die Rechtsgültigkeit der Ehe.
Nur für die Hanafi ist auch ein
unter Zwang unterschriebener
Ehevertrag gültig (vgl. Doi,
1997, S. 123).
Die Rechtsschule der Hanafi
erlaubt anstelle zweier männlicher Zeugen auch einen männlichen und zwei weibliche.
Vgl. an-Nisa’ Q 4, 20.
Die Brautgabe erfolgt entsprechend den finanziellen Möglichkeiten des Ehemannes. Sie dient
zur finanziellen Sicherstellung
der Gattin bei eventueller Scheidung oder Tod des Gatten (vgl.
an-Nisa’ Q 4, 20) und ist ihr
unantastbarer Besitz (vgl.
al-Baqarah Q 2, 236). Wird die
Ehe vor ihrem Vollzug geschieden, so steht ihr nur die Hälfte
des festgesetzten Betrages zu
(vgl. al-Baqarah Q 2, 237).
182 Vgl. Enc. Islamic Law, 1996,
10.1.
183 Vgl. Doi, 1997, S. 116.
184 «Aus eurer Rippe».
185 Schutz, wärmende Fürsorge.
186 Al-Baqarah Q 2, 187.
187 Sie sind untersagt während bestimmter Zeiten des Hajj; während des Monats Ramadan
(vom Aufgang bis zum Untergang der Sonne); während der
Monats- und Wochenbettblutung; während der durch eine
Scheidung (vgl. al-Baqarah Q 2,
228) oder den Tod des Gatten
erforderten Wartezeit (vgl. ib.,
Q 2, 234).
188 Während der Menstruation und
der postpartalen Blutung ist die
Frau unrein, während dieser
Zeit darf kein Koitus stattfinden. Jeder andere Austausch
von Zärtlichkeit ist erlaubt.
Nach Abschluss der Blutung
muss die Zeit der Unreinheit
durch die Ganzwaschung
(ghusl) abgeschlossen werden
(vgl. Kapitel II, Anm. 414).
189 Vgl. Al ‘Imran Q 3, 38.
190 Vgl. Al-Ghazali, 1984, Ihya’ II:
2, 3.
191 Vgl. ib., III: 3.
192 Vgl. al-Baqarah Q 2, 229.
193 Vgl. an-Nisa’ Q 4, 35.
194 Vgl. at-Talaq Q 65, 1.
135
Ziel. Findet auch nur ein Koitus statt, so gilt er als Zeichen der Versöhnung und
hebt alle bisherigen Scheidungsbemühungen auf. Findet keine Versöhnung statt,
so wird die Scheidung nach abgelaufener Wartefrist definitiv. Während der Menstruation und während der Blutung nach der Geburt darf die Scheidung nicht ausgesprochen werden.195
Wenn die Gattin wegen Nichterfüllung des Ehevertrages durch den Gatten –
oder wegen seiner Konsumation von Alkohol oder Drogen, Brutalität, Apostasie
oder einem anderen schwerwiegenden Grund – die Scheidung wünscht, so muss
sie ihren Gatten darum bitten. Unter Umständen muss sie ihm dafür einen Teil ihrer Brautgabe zurückerstatten.196 Ist er zur Einwilligung nicht bereit, so kann sie
sich mit dem Gesuch um Scheidung an ein islamisches Gericht wenden.
Der Islam legt grosses Gewicht auf ein friedliches Familienleben, in dem Kinder
entstehen und Geborgenheit und Schutz finden können. Wiederholt spricht der
Qur’an über das neu beginnende Leben im Mutterleib und darüber, wie Gott den
Menschen «in Phasen» erschaffen hat197:
– «Er ist es, der euch im Mutterschoss gestaltet, wie Er will»198, «der dich erschaffen und gebildet und zurechtgeformt hat und dich in der Gestalt, die Er wollte,
zusammengefügt hat.»199
– «Wir schufen den Menschen aus einem entnommenen Ton. Dann machten Wir
ihn zu einem Tropfen in einem festen Aufenthaltsort. Dann schufen Wir den
Tropfen zu einem Embryo, und Wir schufen den Embryo zu einem Fötus, und
Wir schufen den Fötus zu Knochen. Und Wir bekleideten die Knochen mit
Fleisch. Dann liessen Wir ihn als eine weitere Schöpfung entstehen. Gott sei
gesegnet, der beste Schöpfer! Dann werdet ihr nach all diesem sterben. Dann
werdet ihr am Tag der Auferstehung auferweckt werden.»200
– «O ihr Menschen, wenn ihr über die Auferstehung im Zweifel seid, so bedenket, dass Wir euch aus Erde erschaffen haben, dann aus einem Tropfen, dann
aus einem Embryo, dann aus einem Fötus, [...] um es euch deutlich zu machen.
Und Wir lassen, was Wir wollen, im Mutterleib auf eine festgesetzte Zeit ruhen.
Dann lassen Wir euch als Kind herauskommen. Dann (sorgen Wir für euch),
damit ihr eure Vollkraft erreicht.»201
Das wunderbare Geschehen der Menschwerdung wird vom Propheten als Zeichen der Erweckung zum Leben nach dem Tode gedeutet: «Hat denn der Mensch
nicht gesehen, dass Wir ihn aus einem Tropfen erschaffen haben.»202 Der Qur’an
sagt: «Wer macht diese Gebeine wieder lebendig, wenn sie auseinandergefallen
sind? [...] Wieder lebendig macht sie der, der sie das erste Mal hat entstehen lassen.»203 Entsprechend einem Hadith von al-Bukhari204 und bezogen auf die Sure
al-Mu’minun205 wird die Frühschwangerschaft 120 Tage n.d.B. durch die Beseelung
des Embryos abgeschlossen. Diese Zeitspanne wird in 3 x 40 Tage aufgeteilt:
a) Die ersten 40 Tage (al-nutfah) beginnen im Uterus mit einem Tropfen (Blut und
der befruchteten Eizelle) an einem festen Ort.206 Aus diesem Tropfen erschafft
Gott beide Geschlechter.207
136
Der Anfang und das Ende des Lebens
aus der Sicht der Medizin und der abrahamitischen Religionen
b) Die zweiten 40 Tage (al-alaqah) beginnen mit einem Blutkoagulum in Flüssigkeit, das gleich einem Blutegel an der Uteruswand saugt. Aus dem Koagulum
wird ein Embryo.208
c) Die dritten 40 Tage (al-mudghah) beginnen mit der Entstehung kleiner Knochen, die mit Fleisch bedeckt sind. Der Embryo entwickelt sich jetzt zum Fetus.209
Nach 120 Tagen haucht der für die Beseelung zuständige Engel dem Embryo
die Seele (ruh) ein. Spätestens von diesem Augenblick an ist er für alle Rechtsschulen eine Person, ein Mensch, und es stehen ihm folgende Rechte zu:
– Recht auf Leben: Ab jetzt darf sein Leben in keiner Weise gefährdet werden, es
sei denn, um die Mutter aus akuter Todesgefahr zu retten. Ihn zu töten wäre
Mord.210 Die Todesstrafe einer schwangeren Frau muss solange hinausgeschoben werden, bis die Geburt erfolgt und das Kind 2 Jahre gestillt oder eine Amme
gefunden worden ist.211
– Recht auf einen ehrenvollen Namen, beispielsweise den Namen des Propheten,
des Vaters, oder der Tochter des Propheten.
– Erbberechtigung212: Zur Verteilung des Erbes muss die Geburt des Kindes abgewartet werden, denn der Erbanteil hängt von seinem Geschlecht und von
eventuellen Zwillingsgeschwistern ab, mit denen das Erbe zu teilen wäre.
– Recht auf Begräbnis und Trauer: Auch ein totgeborener Fetus hat das Recht,
begraben zu werden.
– Recht auf Zakat: Es wird empfohlen, für den Fetus Zakat zu bezahlen.213
Die islamischen Gelehrten sind sich nicht einig darüber, wann menschliches
Leben beginnt. Der oben genannte Hadith von Bukhari spricht von der Beseelung
des Feten am 120. Tag. Ein Hadith von Muslim spricht von der embryonalen Organdifferenzierung, die am 40. Tag durch den Engel im Mutterleib vorgenommen
195
196
197
198
199
200
201
202
203
204
Vgl. Bakhtiar, 1996, S. 40.
Vgl. al-Baqarah Q 2, 229.
Vgl. Nuh Q 71, 14.
Al ‘Imran Q 3, 6.
Al-Infitar Q 82, 7f.
Al-Mu’minun Q 23, 12–16.
Al-Hajj Q 22, 5.
Ya Sin Q 36, 77.
Ya Sin Q 36, 78f.
Vgl. Bukhari, Sahih VIII 77:
593.
205 Vgl. al-Mu’minun Q 23, 12ff.
206 Dazu sagt der Qur’an: «Ist er
nicht ein Samentropfen, der
sich ergiesst, dann ein Embryo
gewesen?» (al-Qiyamah Q 75,
Der Anfang des Lebens
207
208
209
210
211
212
37f.); «Wir haben den Menschen aus einem […] Gemisch
erschaffen» (al-Insan Q 76, 2)
und «Aus was für einem Stoff
hat Er ihn erschaffen? Aus einem Tropfen [...] und ihm sein
Mass gesetzt» (‘Abasa Q 80,
18f.).
Vgl. al-Nadm Q 53, 45f.
Vgl. al-Mu’minun Q 23, 14.
Vgl. al-Hajj Q 22, 5.
Vgl. Sachedina, 2000, G-I.
Vgl. Arabische Charta, 1994,
http.
Vgl. Enc. Islamic Law, 1996,
7.9.
213 Zakat: dritter Glaubenspfeiler
des Islams: jährliche Abgabe
von mindestens 2,5% des Vermögens, das den Armen als
ihr Recht zukommt. Vgl. Ibn’
Affah, 1994, S. 936.
137
wird.214 Sowohl die Konzeption, die beginnende Organdifferenzierung am 40. Tag
als auch die Einhauchung der Seele am 120. Tag können im Islam als Anfang des
Menschseins verstanden werden. Scheich Yussuf Qaradawi aus Ägypten und mit
ihm andere zeitgenössische Gelehrte sind der Meinung, dass der Anfang des Lebens
mit der Konzeption zusammenfällt.215 Sie folgen damit der Lehre Al-Ghazalis
(1058–1111), dem bedeutendsten islamischen Gelehrten des Mittelalters, welcher
der Rechtsschule der Schafi’i216 anhing.
Vergleich
Gemeinsames
Die Ehe ist ein lebenslänglicher, freiwilliger Vertrag, der den Rahmen bildet, in dem
neues Leben entstehen und sich entfalten soll. Für das Judentum ist die Ehe ein
religiöses Gebot, für das Christentum eine Berufung und für den Islam eine Tradition. Sie steht unter Gottes Gebot und muss von Braut und Bräutigam aufgrund
ihrer freiwilligen Entscheidung und eines vor Zeugen unterschriebenen und rechtsgültigen Vertrages zu einem Bund der Treue und des gegenseitigen Beistandes werden. In ihm sollen Kinder entstehen zum Fortbestand der religiösen Gemeinschaft
und der Menschheit.
Unterschiede
Judentum. Der jüdische Mann ist zur Fortpflanzung verpflichtet und soll im Rahmen der Ehe mit Hilfe seiner jüdischen Gattin mindestens einen eigenen Sohn und
eine eigene Tochter zeugen, die ihrerseits wieder Kinder auf die Welt bringen. Die
Ehe ist eine von Braut und Bräutigam freiwillig gewählte heilige Verbindung, die
einen vor zwei Zeugen unterschriebenen Vertrag voraussetzt. Eine schwer zerrüttete Ehe kann geschieden werden. Auf die Frage nach der Entstehung des Menschen
antwortet die rabbinische Tradition, dass der Embryo am 41. Tag n.d.B. menschliche Form annimmt und sich zu bewegen anfängt. Von der Implantation an ist er
ein Organ seiner Mutter bis zum Augenblick, in dem er durch die Geburt zu einer
nefesch chaia, zu einer eigenen Person und am 31. Tag danach zu einem lebensfähigen Menschen wird.
Christentum. Die Ehe ist kein Gebot, sondern eine Berufung von Braut und
Bräutigam zu einem freiwillig gewählten, lebenslänglichen Bund. Er verpflichtet zu
einer christlichen Eheführung und ist auf die Zeugung von Kindern ausgerichtet.
In der römisch-katholischen Kirche ist die Ehe ein Sakrament, das sich Braut und
Bräutigam in Gegenwart des Priesters und der Zeugen mit ihrem Jawort spenden.
Weil Gott selber der Urheber der Ehe217 ist, ist sie unwiderruflich und kann auch bei
schwersten Verfehlungen nicht geschieden werden.218 Vom Naturrecht219 ausgehend
entschied die Kirche, dass der Mensch von seiner Konzeption an eine Person, ein
Mensch mit all den Rechten ist, die ihm auch nach der Geburt zukommen.
In der orthodoxen Kirche ist die Ehe das Sakrament «der unauflöslichen Vereinigung eines Mannes mit einer Frau»220, das vom Priester gespendet, in der Krö-
138
Der Anfang und das Ende des Lebens
aus der Sicht der Medizin und der abrahamitischen Religionen
nung des Brautpaares aktualisiert wird und die Fruchtbarkeit ihrer Liebe zum Ziel
hat. Nur bei Ehebruch und einzelnen schwerwiegenden Verstössen erlaubt die Kirche die Scheidung, und nach Busse und auferlegter Wartezeit erlaubt sie die Wiederverheiratung. Von der Entstehung des Menschen lehrt die orthodoxe Kirche,
dass sie mit der Konzeption und der gleichzeitigen Beseelung des Embryos ihren
Anfang nimmt. Schon im Stadium der Zygote, sagt Breck, ist der Embryo «une
personne à part entière»221.
In den protestantischen Kirchen ist die Ehe ein «weltliches Geschäft». Sie ist
ein freiwilliges, zivilrechtlich abgesichertes Bündnis zwischen Braut und Bräutigam,
das von der Kirche gesegnet wird, damit sich in der Lebensgemeinschaft der beiden
die Liebe Gottes zu den Menschen und der Menschen zu ihm in «intimster Weise»
realisieren kann.222 Die zivilrechtliche Scheidung wird von den protestantischen
Kirchen anerkannt, wodurch eine erneute kirchliche Heirat möglich wird. Über
die Anfänge des Menschen lassen diese Kirchen verschiedene Verständnisse zu und
legen sich nicht auf eine einheitliche Lehre fest.
Islam. Die Ehe ist Mann und Frau nicht durch den Qur’an, sondern durch die
Sunna geboten. Sie ist ein freiwilliger, zivilrechtlicher Vertrag (mithaq), der den
Willen zu einer dauernden Lebensgemeinschaft und die Festlegung des Brautgeldes
voraussetzt. Durch die öffentliche Rezitation des Ehevertrages wird die Ehe in Gegenwart des Imams und der Zeugen legalisiert. Der Wille zur Monogamie ist keine Voraussetzung zur Eheschliessung. Ein wichtiges Ziel der Ehe ist die Zeugung
von Nachwuchs. Entsteht eine Schwangerschaft, so wird der Embryo durch die
beginnende Organdifferenzierung um den 40. Tag zu einem lebenden Wesen, aber
noch nicht zu einer menschlichen Person. Diese entwickelt sich über drei Etappen
und ist spätestens am 120. Tag n.d.B. vollendet, wenn der Fetus eine menschliche
Form angenommen hat, sich zu bewegen beginnt und ihm die Seele eingehaucht
wird. Von diesem Zeitpunkt an ist er eine Person mit eigenem Rechtsanspruch.
214 Muslim, Sahih 33: 6393:
«When 40 nights pass after the
semen gets in the womb, Allah
sends the angel and gives him
the shape. Then he creates his
sense of hearing, his sense of
sight, his skin, his flesh, his
bones and he says: My Lord,
would it be a male or a female?»
215 Vgl. Qaradawi, 1995, S. 204.
Der Anfang des Lebens
216 Al-Ghazali begründet damit
seine Stellungnahme zum
Schwangerschaftsabbruch. Vgl.
Kapitel III.1.4, «Sicht der Religionen – Islam».
217 Vgl. KKK 1603.
218 Vgl. Mk 10, 9.
219 Das Naturrecht besteht unabhängig von jeder staatlichen
Festlegung, ist verwurzelt in
Gottes Schöpfung und hat «den
Charakter der Heiligkeit und
Unverbrüchlichkeit» (Kriele,
1994, S. 132; vgl. Kapitel
II.3.3, «Das Naturrecht als
ethische Forderung»).
220 Staniloae, 1995, S. 159.
221 Breck, 2001, S. 21.
222 Grimm, 1995, S. 949.
139
niger als 0,5 g223. Einem 41 Tage alten Embryo kommt eine grössere Schutzwürdigkeit zu als einem Embryo, der weniger als 40 Tage alt ist.
– Der 120. Tag bzw. die 18. Woche n.d.B. (Abb. 11) bedeutet für den Islam das
definitive Stadium der Entwicklung, in welchem der jetzt 10–15 cm lange und
135 g224 schwere Fetus zur Person wird. Seine Organe sind gesamthaft vorhanden, aber ihre Entwicklung ist noch nicht beendet. Sein Geschlecht ist im Ultraschall feststellbar, und seine Bewegungen können von der Mutter wahrgenommen werden. Dem Feten kommen ab jetzt dieselben Rechte zu wie dem
schon geborenen Menschen, es sei denn, seine Mutter befinde sich in Lebensgefahr und müsste durch seinen Tod gerettet werden.
– Die Geburt: Für das Judentum wird der Fetus dann zu einer nefesch chaia, zu
einer lebenden Person, wenn sein Kopf während der Geburt sichtbar wird. Sein
Lebensrecht ist erst jetzt demjenigen der Mutter gleichgestellt.
– Der 31. Tag nach der Geburt ist für das Judentum der Zeitpunkt, an dem die
postnatalen Gefahren für das neugeborene Kind überwunden sind. Dieses ist
jetzt etwa 54 cm lang und 4 kg schwer. Sein Kopfumfang beträgt etwa 37 cm.
Auf dem Bauch liegend, kann es den Kopf für kurze Momente hochheben und
zur Seite drehen. Es beginnt, lustbetont zu lallen. Sein Blick folgt Gegenständen,
die sich bewegen. Sein Lächeln beginnt mehr zu sein als ein Reflex. Es sucht
aktiv nach Wahrnehmungen, als wolle es die Notwendigkeit, seine Umwelt zu
verstehen (make sense of the world), befriedigen.225 Es ist, vor allen Augen
sichtbar, ein zunehmend autonomer Mensch geworden, sodass jetzt gewisse
Vorschriften wirksam werden und das erstgeborene männliche Kind ausgelöst
werden kann.
Ab wann ist der Embryo eine Person mit unantastbarem Recht zum Leben?
Judentum
1. Die befruchtete Eizelle ist vor abgeschlossener Implantation noch kein menschliches
Leben, dieses beginnt am 41. Tag n.d.B.
2. Der Embryo/Fetus ist ein Teil der Mutter, solange er im Uterus weilt.
3. Der Fetus wird zur Person, wenn er bei der Geburt den Uterus verlässt und in die Welt
eintritt.
Christentum
1. Römisch-katholische, orthodoxe und evangelikale Kirchen:
Von seiner Konzeption an ist der Embryo eine Person mit unantastbarem Recht auf
Leben.
2. Mehrheit der protestantischen Kirchen, einige römisch-katholische Theologen:
Erst nach beendeter Implantation erfolgt die Entwicklung des Embryos zur Person.
Islam
1. Die befruchtete Eizelle ist vor abgeschlossener Implantation nur potentielles Leben.
2. Progressive intrauterine Entwicklung. Spätestens nach seiner Beseelung am 120. Tag
n.d.B. erhält der Fetus die Seele und wird dadurch zur Person.
Die embryonale Entwicklung des Menschen im Hinblick auf
die Aussagen der drei Religionen
Die verschiedenen Aussagen der drei Religionen über den Anfang des Lebens beziehen sich auf die folgenden Entwicklungsstadien des Menschen:
– Die Konzeption ist für die römisch-katholische, die evangelikalen Kirchen und
die orthodoxe Kirche nicht nur der Anfang des menschlichen Lebens, sondern
auch der Anfang der im Bilde Gottes erschaffenen Person und ihrer Schutzwürdigkeit. Das dabei entstandene neue Genom macht für sie den Anfang des neuen Menschen aus.
– Die Implantation (Abb. 8) ist 14 Tage n.d.B. abgeschlossen. Der 0,2 mm lange,
ringsum von der Gebärmutterschleimhaut umschlossene Embryo ist nicht mehr
zur monozygoten Zwillingsbildung fähig. Er hat seine unteilbare biologische
Individualität erlangt und nimmt jetzt wechselseitige Beziehungen mit seiner
Mutter auf. Vor der Implantation besitzt er für das offizielle Judentum und den
Islam noch kein schutzbedürftiges Leben, und auch für einige protestantische
Kirchen beginnt das Leben des Menschen mit seiner Implantation.
– Der 40. Tag (Abb 10) n.d.B. wird vom Judentum und Islam und von einigen
protestantischen Kirchen als wesentliches Stadium der Menschwerdung bezeichnet, weil der Embryo jetzt menschliche Form angenommen hat und sich zu bewegen beginnt. Sein Kopf ist grösser als die Hälfte seines Rumpfes. Die Augen
und die Ohranlagen, die Wirbelsäule und die rudimentären Arme und Beine
sind erkennbar. Mit der Vaginalsonographie kann seine Herzaktion beobachtet
werden. Die Scheitel-Steiss-Länge beträgt knapp 14 mm und das Gewicht we-
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Der Anfang und das Ende des Lebens
aus der Sicht der Medizin und der abrahamitischen Religionen
Für die meisten Menschen ist das eigene Kind ihr wichtigster Lebensinhalt.
Weltweit bleiben jedoch 60–80 Millionen Paare kinderlos, und in Europa sind ungefähr 15% aller Ehen ungewollt steril.226 Kommt eine Schwangerschaft spontan
nicht zustande, so muss durch medizinische Abklärung die Ursache herausgefunden werden. Da die Erfolgsaussichten der meisten traditionellen Therapien beschränkt sind, wird die medizinisch assistierte Reproduktion zunehmend der verheissungsvollste Weg zum eigenen Kind. Man nimmt an, dass diese Art der Reproduktion heute von 35–70 Millionen Menschen in Anspruch genommen wird.227
1.2.
Medizinisch assistierte Reproduktion
Mit dem Begriff der medizinisch assistierten Reproduktion werden therapeutische
Massnahmen bezeichnet, die ausserhalb der sexuellen Begegnung von Mann und
223 Vgl. Hamilton et al., 1976,
S. 175–189.
Der Anfang des Lebens
224 Vgl. ib.
225 Vgl. Behrman, 1999, S. 32–35.
226 Vgl. Schill et al., 2000, S. 90.
227 Vgl. Heinzl, 2003, S. 307f.
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Zugehörige Unterlagen
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