Prof. Dr. Notger Slenczka, Humboldt-Universität zu

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Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin
Prof. Dr. Notger Slenczka, Humboldt-Universität zu Berlin
8. Sonntag nach Trinitatis, 13. Juli 2008, 18 Uhr
Predigt über Matthäus 5,13-16
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt.
"Als er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm. Und er
tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach …"
und dann folgt die Bergpredigt, aus der unser Predigttext stammt, den wir vorhin als Evangeliumslesung gehört haben. Dies hier ist die Anfangssituation: Der Wanderprediger aus Nazareth. Viel
Volk. Und die Jünger. Gemischtes Publikum also, zunächst die Jünger, die für Jesus optiert haben,
Personalgemeinde sozusagen, sie halten sich zu ihm, nennen sich nach ihm, folgen ihm nach auf dem
Weg zum Gottesreich. Aber es sind eben nicht nur sie angesprochen in der Bergpredigt, viel Volk ist da
auch noch. Suchende. Noch Zögernde. Zufällig vorbeigekommene. Durchreisende. Touristen, die die
Eintrittsgebühr zum Dom sparen wollen. Abendspaziergänger – 'ach guck, da ist Gottesdienst im Dom,
lass mal reinsehen …'
Sie alle, die Jünger, das Volk, hören die Stimme des Bergpredigers, eine Stimme, die vorzeiten sprach
und die längst verstummt ist und schweigt; sie ist pietätvoll begraben zwischen den Deckeln eines
Buches, zugedeckt vom Gerede von uns Predigern und der theologischen Kommentatoren, umgeben von
den Mauern unserer Kirchen, die an ihn, den Prediger auf dem Berg, erinnern wie gewaltige
Grabanlagen – eine verschollene Stimme, die seit 2000 Jahren schweigt.
Wir hören sie heute – und zuweilen kommt es vor, dass diese Stimme wirklich, wirksam zu sprechen
beginnt, dass ihre Worte nicht nur verlesen werden, sondern dass sie in müheloser Lebendigkeit den
Abstand über Räume und Zeiten hinweg überbrückt, dem einen oder anderen Menschen gegenwärtig
wird, ihn ergreift, durchrüttelt, ihn so packt, dass er nicht mehr derselbe oder dieselbe bleiben kann,
sondern neu anfängt. Augustin ist es so ergangen im 4. Jahrhundert, Franz von Assisi und seiner
Schwester Clara, Luther und Thomas Müntzer, Albert Schweitzer und Edith Stein. Sie erfuhren die
Lebendigkeit und Kraft der Stimme aus der Vergangenheit, die sich an sie richtete und sie ansprach:
"Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man dann noch salzen? Es
ist zu nichts mehr nütze, als dass man es wegschüttet und lässt es von den Leuten zertreten.
Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. Man
zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so
leuchtet es allen, die im Hause sind. So lasst Euer Licht leuchten vor den Menschen, damit sie Eure
guten Werke sehen und Euren Vater im Himmel preisen." (Matthäus 5,13-16)
Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt.
Salz. Für uns ein Gewürz, unscheinbar, aber unverzichtbar, mit Augenmaß zu verwenden, zu viel ist
mindestens genauso schlimm wie zu wenig. Für die Hörer der Bergpredigt zurzeit Jesu aber schwingt
viel mehr mit: Das Salz ist ein Konservierungsmittel. Rohes Fleisch beginnt damals in Israel sofort zu
verwesen, es zerfällt, löst sich auf, beginnt bestialisch zu stinken. Salz bewahrt. Es hält diesen Prozess
des Zerfalls auf; wo Salz ist, verliert die Auflösung, der Tod seine Macht. Ihr seid das Salz der Erde. Ihr
seid die Kraft gegen den Tod. Ihr bewahrt die Welt vor der Auflösung, vor dem Vergehen.
Ihr seid das Licht der Welt. Seid die helle Stadt auf dem Berg. Seid das Licht im Haus. Richtige
Dunkelheit kennen wir fast nicht mehr. Bei Tag und bei Nacht sind wir von Licht umgeben, manche
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Menschen lassen sogar noch ein Licht brennen, wenn sie schlafen. Wenn wir wirkliches Dunkel wollen,
müssen wir es herstellen, die Rollläden herunterlassen und alle Lichter löschen. Weil im Innern unserer
Autos immer ein Navigator bläulich leuchtet, wissen wir nicht mehr, wie das ist, wenn man nach
Sonnenuntergang unterwegs ist, die Sterne von Wolken verhangen sind, wenn es stockfinster ist und
jemand sich vorwärts tastet, ohne zu wissen, ob die Richtung stimmt – und wir wissen nicht mehr, wie
es ist, wenn man dann in der Ferne auf dem Berg die Lichter des Reiseziels sieht: Die Stadt; da wollen
wir hin. Wenn man Licht sieht, ordnet sich alles, die Richtung ist angegeben, das Dunkel verliert seinen
Schrecken, da ist der Weg. Ihr seid das Licht der Welt. Ihr seid Richtung. Orientierung. Wegweiser.
Rettung. Trost.
Salz der Erde, Licht der Welt seid ihr: Ihr bewahrt vor dem Tod, ihr gebt Richtung, Wegweisung, Trost.
Wohlgemerkt: Nicht die Geistlichen, die Kirchenleitungen und ihre Denkschriften, nicht das
Diakonische Werk, sondern: ihr! Ohne Prüfung der Eignung, ohne jede Frage nach der Vergangenheit,
nach der Vorgeschichte, nach dem Charakter, ohne Frage nach dem Tauf oder Konfirmationsschein und
nach der Kirchenzugehörigkeit; fraglos und unvermittelt wie die Jüngerberufungen "Auf, komm, und
folge mir nach": Ihr seid Salz – Quelle des Lebens; Licht: Trost und Orientierung.
Heißt auch: Ihr seid nicht Erde. Ihr seid nicht Welt. Sondern etwas anderes, Besonderes, Abgesonderte,
Salz und Licht für die Erde und die Welt. Aber nicht so, dass da ein Sonderbereich neben der Welt
stünde, keine Gemeinschaft der Heiligen und Reinen, die sich absondert von der Welt. Salz für sich und
Licht für sich ist sinnlos. Sondern beides ist für die Welt da; ihr habt einen Auftrag, eine Aufgabe,
einen Dienst: Ihr sollt dort sein, wo der Tod und die Verwesung herrscht, und dort, wo wortlose
Trostlosigkeit das Leben verdunkelt. Dort sollt ihr sein, aber trotzdem nicht dem Tod und dem Dunkel
gleich werden – das Salz, das seinen Geschmack verliert, ist so sinnlos wie das Licht, das unter den
Scheffel gestellt wird. Der Auftrag besteht darin: in der Welt etwas anderes zu sein als die Welt. Bei der
Welt zu sein und ihr zu dienen. Nicht für sich selbst zu leben, sondern für die Welt.
Salz der Erde, Licht der Welt ist jemand dann, wenn er beginnt, zum Helfer, zum Diener der Welt zu
werden. Jemand sieht beispielsweise Bilder im Fernsehen oder liest in der Zeitung von
Naturkatastrophen in China, in Burma, von Unterdrückung und Mord in vielen Ländern Afrikas – und
plötzlich packt es ihn: Da muss etwas geschehen, ich muss etwas tun, das kann und darf so nicht
weitergehen. Und es ist keine Augenblickslaune, plötzlich geht er erste Schritte, er beginnt, sich zu
engagieren, zu geben und zu spenden, nicht, weil er irgendwelche eigenen Interessen hat und nicht,
weil er gut dastehen will, sondern rein weil er etwas tun kann und will gegen dies namenlose Elend,
gegen die Herrschaft des Todes und gegen die schier aussichtslose Dunkelheit, die sich ausbreitet. Salz
der Erde. Licht der Welt.
Oder ein Mensch, der sich zerstritten hat mit einem anderen; guten Grund hat sie, kein Wort mehr mit
dem anderen zu reden – und sie hört: 'Ihr seid das Mittel gegen die Auflösung, ihr gebt Richtung und
Trost im Dunkeln' – und sie oder auch er lässt dann eben nicht los, sondern wendet sich dem anderen
zu, beginnt, nach ihm oder nach ihr zu fragen und nicht mehr nach dem eigenen Schmerz, den der
andere zugefügt hat. Dieser Mensch beginnt, Wege der Versöhnung zu suchen und betreibt nicht die
Trennung – Salz der Erde. Licht der Welt.
Oder jemand, der innehält, wenn in der Nachbarschaft, bei Kollegen das Schweigen des Todes sich
ausbreitet – Krankheit, Depression, Tod von Angehörigen, oder Arbeitslosigkeit. Und der dann nicht so
rasch wie möglich zur Tagesordnung übergeht und die Not wie eine unangenehme Sache vergisst – die
im Dunkeln sieht man nicht und man verdrängt sie gern. Wer dann aber dieser Schwerkraft zum
Vergessen nicht folgt, nachgeht; sich per Telefon meldet oder einfach vorbeigeht, Hilfe anbietet,
zuhört, sich kümmert, nicht nur einmal, sondern dauerhaft mit den vielen einfachen Gesten, die
Erleichterung verschaffen, nachhaltig und treu. Dienst am anderen, es geht in keiner Weise um ihn
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selbst, er unterbricht die Routinen seines Lebens für den anderen, der sein Nächster ist: Salz der Erde
und Trost der Welt.
Wenn ich das so sage, stehen mir ganz konkrete Menschen vor Augen, die meine Nächsten sind, denen
ich Salz der Erde und Licht der Welt bin – oder besser: hätte sein sollen, kranke Verwandte, die ich
nicht angerufen oder besucht habe und an deren Dunkel ich achtlos und gedankenlos vorbeigegangen
bin – sicher: Viele Entschuldigungen: viel zu tun, alle möglichen Hinderungsgründe; aber das heißt
zugleich: Sie waren mir nicht wichtig. Ich habe sie nicht zu meiner Aufgabe gemacht. Ich bin nicht
gemeint mit dem 'Salz' und dem 'Licht'. Ich bin’s nicht. Ich bin Erde und Welt.
Aber vielleicht fängt der Dienst am anderen, das Dasein als Salz und Licht, gar nicht mit der Bewährung
an, mit der heroischen Anstrengung, sondern eben genau damit, dass wir Welt sind und Erde und nicht
Salz und Licht. Vielleicht fängt unser Dienst an den anderen damit an, dass wir Teil des Problems und
nicht der Lösung sind und auf unsere Weise paktieren mit dem Tod und dem Vergehen und mit der
Dunkelheit. Vielleicht fängt es damit an, dass wir und unser Leben gezeichnet ist vom Tod, und dass
wir selbst ohne Richtung und Trost sind. Vielleicht fängt es alles damit an, dass jemand anders uns
bewahrt, uns trägt, uns begleitet, uns Licht gibt, tröstet, ausrichtet.
Es steht am Anfang der Bergpredigt nicht die Anspannung aller Kräfte, sondern dies: Wir stehen unter
dem Volk und hören die Stimme des Predigers auf dem Berg. Hören, wie er uns anspricht, in der
Gebrochenheit und in den Dunkelheiten unseres Lebens, in unserer Selbstzufriedenheit und
leichtsinnigen Achtlosigkeit – und über seinen Tod hinweg nach uns fragt. Mit uns spricht. Interesse
hat an unserem Leben. Es bewahrt und trägt mit der eigentümlichen Kraft, mit der er das Grab der
Buchdeckel und die Mausoleen der Kirchengebäude durchbricht und lebendig zu uns spricht: "Ihr seid
das Salz der Erde. … Ihr seid das Licht der Welt." Ihr gehört nicht zum Tod, nicht zur Dunkelheit,
sondern zum Licht. Ihr dient nicht dem Tod, sondern dem Leben.
Am Anfang der Bergpredigt steht eben dann nicht unsere Anstrengung, sondern der Prediger vor 2000
Jahren, der lebendig zu uns spricht: "Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht
wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben." (Johannes 8,12)
"Beglänzt von seinem Lichte, hält uns kein Dunkel mehr" (Jochen Klepper, EG 16,4). Neu berufen, Salz
der Erde, Licht der Welt zu sein im Dienst an denen, die die Finsternis und den Tod erfahren. Das
Kreisen um uns selbst, die satte Selbstzufriedenheit kommen an ihr Ende.
"Lebt als Kinder des Lichts; die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit."
(Epheser 5,8b.9 [Wochenspruch zum 8. Sonntag nach Trin.])
Vielleicht erfahren ja wirklich in der kommenden Woche andere durch uns das Licht der Welt.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus
unserem Herrn. Amen.
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