Kunst und Wirklichkeit heute - Affirmation - Kritik

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Kunst, Wirklichkeit und Affirmation
Einige Gedanken zu Heideggers Kunstwerkaufsatz
T HOMAS H ILGERS
In welchem Verhältnis stehen Kunst, Wirklichkeit und Affirmation? Gehen
wir davon aus, dass es hier überhaupt ein positives Verhältnis gibt, dann
können wir dieses zunächst einmal auf zwei Arten ausbuchstabieren. Wir
können Affirmation als Behauptung oder Darstellung interpretieren und in
der Kunst etwas sehen, was Wirklichkeit zeigt. Andererseits können wir
Affirmation als Bekräftigung oder Bestätigung interpretieren und in der
Kunst etwas sehen, was Wirklichkeit nicht nur zeigt, sondern auch bejaht.
Verbunden mit einer Beschwörung des epistemischen Wertes der Kunst
wurde in der Philosophie vor allem die erste Position oft vertreten. Selten
jedoch wurde behauptet, dass die Kunst Wirklichkeit beziehungsweise die
Gegenstände der Wirklichkeit einfach nur eins zu eins abbilde. Vielmehr
ging es in der Ausbuchstabierung eines positiven Verhältnisses von Kunst,
Wirklichkeit und Affirmation zumeist darum zu beweisen, dass Kunst
Wirklichkeit so zeige, wie sie in Wahrheit ist. Kunst wurde also oft als etwas Aufdeckendes beschrieben, und als solches könnte sie durchaus Affirmation, Kritik und Transformation in sich vereinigen. Denn wenn Kunst
uns zeigt, was oder wie Wirklichkeit in Wahrheit ist, dann kann sie eine
Kritik alltäglicher Meinungen über Wirkliches ermöglichen und somit auch
zu einer Transformation unserer aktualen Lebensvollzüge beitragen.1
1
Die Gruppe der Philosophen, die ein enges Verhältnis zwischen Kunst und
Wahrheit sahen beziehungsweise sehen, ist groß. In diese Gruppe gehören so
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Nun klingt es zweifelsohne sehr imposant – und für die Kunst durchaus
schmeichelhaft – zu behaupten, Kunst zeige, was oder wie Wirklichkeit in
Wahrheit ist. Was genau jedoch wird hier eigentlich behauptet? Die Begriffe Wirklichkeit und Wahrheit sind schwierige Begriffe, die das metaphysische Denken seit der Antike beschäftigt haben. Ihr Gehalt ist alles andere als eindeutig und klar. Eine Kunstphilosophie, welche die Kunst als
etwas Aufdeckendes betrachtet, muss somit zwangsläufig zur Metaphysik
werden. Kaum ein Philosoph hat dies so klar gesehen wie Martin Heidegger. So schreibt er im Zusatz zu seinem Kunstwerkaufsatz: „Die Bestimmung darauf, was die Kunst sei, ist ganz und entschieden nur aus der Frage
nach dem Sein bestimmt.“2 Wenn Heidegger also nach dem Wesen der
Kunst fragt, dann fragt er gleichzeitig nach dem Sinn von Sein, dem Wesen
von Welt und Erde sowie dem Unterschied zwischen Ding, Werk und
Zeug. Im Fortgang dieses Fragens will Heidegger „die unmittelbare und
volle Wirklichkeit des Kunstwerks treffen“3. Letztlich zu treffen meint er
sie mit seiner These, dass im beziehungsweise durch das Kunstwerk Wahrheit geschehe. Fragen wir nach dem Verhältnis von Kunst, Wirklichkeit
und Affirmation, dann ist Heideggers Kunstwerkaufsatz ohne Zweifel ein
guter Ausgangspunkt. Im Folgenden werde ich mich daher mit diesem Aufsatz näher beschäftigen und untersuchen, inwiefern sich das Kunstwerk
durch so etwas wie ein Wahrheitsgeschehen charakterisieren lässt. Dabei
werde ich in drei Schritten vorgehen: Zunächst werde ich kurz Heideggers
Verständnis von Wahrheit darstellen; dann erkläre ich, wie ein Werk Heidegger zufolge eine Welt eröffnen und Erde herstellen kann; und schließlich diskutiere ich vor dem Hintergrund der eingangs gestellten Frage Heideggers zentrale These, dass im Kunstwerk Wahrheit geschehe.
verschiedene Philosophen wie Hegel, Schopenhauer, Adorno und eben auch
Heidegger. Für eine umfassende Darstellung der Wahrheitstradition innerhalb
der Kunstphilosophie vgl. Paul Guyer: A History of Modern Aesthetics,
Cambridge 2014.
2
Martin Heidegger: „Der Ursprung des Kunstwerkes“, in: ders.: Holzwege,
8. Aufl., Frankfurt am Main 2003, S. 1–74, hier: S. 73. (Die erste Ausgabe der
Holzwege erschien 1950. Der Kunstwerkaufsatz selbst geht zurück auf einen
Vortrag aus dem Jahr 1935.)
3
Ebd., S. 4.
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I.
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W AHRHEIT
Wie die meisten Philosophen meint auch Heidegger, dass ein Kunstwerk
einen wirklich vorhandenen Gegenstand nicht einfach nur abbilde. Im
Gegensatz zu einem Philosophen wie Schopenhauer ist Heidegger aber deswegen keineswegs der Ansicht, dass ein Kunstwerk das Wesen eines empirischen Gegenstandes beziehungsweise die diesem Gegenstand zugrunde
liegende Idee darstelle.4 Das Wahrheitsgeschehen eines Werkes lasse sich
außerdem nicht in einem Behauptungssatz ausdrücken. Angesichts der Tatsache, dass Behauptungen oder Urteile gewöhnlich dasjenige sind, dem wir
Wahrheit zusprechen beziehungsweise absprechen, stellt sich hier aber die
Frage, ob Kunst tatsächlich etwas mit Wahrheit zu tun haben kann, wenn
Heideggers Bestimmung zutrifft.
Heidegger weiß natürlich, dass wir üblicherweise Behauptungen, Urteile, Aussagen, Sätze oder Darstellungen ‚wahr‘ beziehungsweise ‚falsch‘
nennen. Außerdem weiß er, dass der traditionelle Wahrheitsbegriff Wahrheit als die Übereinstimmung von Urteil und Sache definiert.5 Seit Sein und
Zeit verteidigt Heidegger jedoch die These, dass der traditionelle Wahrheitsbegriff Wahrheit nicht in ihrem ursprünglichen Wesen treffe. Dieses
Wesen müsse nämlich als „Unverborgenheit“6 definiert werden. Was aber
verbirgt sich hinter dieser Definition?
In Sein und Zeit behauptet Heidegger, dass der Mensch beziehungsweise „das Dasein“7 etwas in seiner Unverborgenheit sehen müsse – es also
so sehen müsse, wie es sich von sich selbst her zeigt – damit er wahre Urteile über es treffen könne. Wahrheit hat für Heidegger also ihren Ursprung
4
Vgl. ebd., S. 22. Für Schopenhauers Explikation der Kunst als etwas Aufdeckendes vgl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung,
2. Aufl., München 2002, S. 247–251. (Die erste Ausgabe des ersten Bandes von
Die Welt als Wille und Vorstellung erschien im Dezember 1818.)
5
Vgl. Heidegger: „Der Ursprung des Kunstwerkes“, S. 38. Vgl. hierzu auch ders.:
Sein und Zeit, 18. Aufl., Tübingen 2001, S. 214, und ders.: „Vom Wesen der
Wahrheit“, in: ders.: Wegmarken, 2., erw. u. durchges. Aufl., Frankfurt am Main
1978, S. 177–180. (Die erste Ausgabe von Sein und Zeit erschien 1927, die erste
Ausgabe der Wegmarken 1967.)
6
Heidegger: Sein und Zeit, S. 219.
7
Ebd., S. 7.
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in einem Verhalten des Menschen, das ihn Gegenstände innerhalb der Welt
entdecken lässt. Um aber Gegenstände innerhalb der Welt zu entdecken,
müsse sich dem Menschen sein je eigenes „In-der-Welt-Sein“8 erschlossen
haben. „Erschlossenheit“9 ist Heideggers Terminus für das, wodurch dem
Menschen sein eigenes In-der-Welt-Sein und somit auch die Welt als der
Sinnhorizont all seiner Lebensvollzüge gegeben ist. Die Erschlossenheit
des je eigenen In-der-Welt-Seins basiere dabei auf der je eigenen Befindlichkeit und dem je eigenen Verstehen; und erst die so konstituierte Erschlossenheit erlaube es dem Menschen, sich auf Gegenstände innerhalb
der Welt zu beziehen und Urteile über diese zu fällen. Erschlossenheit sei
also die unverzichtbare Grundlage jeder Bezugnahme auf und jedes Erscheinens von Gegenständen. In Sein und Zeit nennt Heidegger sie auch
„die Lichtung“10 und setzt sie letztendlich mit Wahrheit als Unverborgenheit sogar gleich: „Wahrheit im ursprünglichsten Sinne ist die Erschlossenheit des Daseins, zu der die Entdecktheit des innerweltlichen Seienden gehört.“11
In seinen späteren Schriften rückt Heidegger von dieser Gleichsetzung
zusehends ab. So versteht er Wahrheit im Sinne der Unverborgenheit
schließlich nicht mehr als zugehörig zur „Grundverfassung des Daseins“12,
sondern als einen „Grundzug des Seienden selbst“13. Auch im Kunstwerkaufsatz findet sich nicht mehr die Gleichsetzung von Erschlossenheit,
Lichtung und Wahrheit. Heidegger versteht Wahrheit zwar weiterhin als
Unverborgenheit und Lichtung, aber diese sei nun ein unserem Verhalten
vorgängiges Geschehnis, das „seiender als das Seiende“14 selbst sei.
Insgesamt bleiben seine Erklärungen hier allerdings eher dunkel.15 Für die
8
Ebd., S. 52.
9
Ebd., S. 133.
10 Ebd., S. 133.
11 Ebd., S. 223.
12 Ebd., S. 226.
13 Martin Heidegger: „Platons Lehre von der Wahrheit“, in: ders.: Wegmarken,
S. 203–238, hier: S. 228.
14 Heidegger: „Der Ursprung des Kunstwerkes“, S. 40.
15 Diese Erklärungen lassen sich wahrscheinlich nur dadurch transparent machen,
dass man Heideggers späteren Ereignisbegriff in die Diskussion miteinbezieht.
Ich habe mich hier dennoch für eine andere Herangehensweise entschieden,
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Fragestellung dieses Aufsatzes scheint es mir tatsächlich am besten, sich an
Heideggers Beispiele zu halten und zu versuchen, anhand ihrer nachzuvollziehen, inwiefern Kunstwerke Wahrheit geschehen lassen. Bevor wir
uns diesen Beispielen zuwenden, bleibt aber noch ein genereller Einwand
gegen die Bestimmung der Wahrheit als Unverborgenheit zu diskutieren.
In seiner berühmten Studie zu Husserls und Heideggers Wahrheitstheorien behauptet Ernst Tugendhat, dass Heidegger sowohl in Sein und Zeit als
auch in seinen späteren Schriften den Begriff der Wahrheit letztlich preisgebe. Für diesen Begriff sei es nämlich wichtig, die Differenz zwischen
Seiendem, das sich unmittelbar zeigt, und Seiendem, das sich so zeigt, „wie
es selbst ist“, mitzudenken. Außerdem verlange der Wahrheitsbegriff das
Mitdenken eines Leitfadens oder Maßes, das unsere Orientierung auf das
Seiende, das sich so zeigt, „wie es selbst ist“, leiten und unser Verhalten
damit zu einem verantwortlichen machen könne. Beides werde durch die
Gleichsetzung von Wahrheit, Unverborgenheit, Lichtung und Erschlossenheit nicht geleistet:
„Aber man kann nicht das, wonach die wahre Aussage sich richtet, einfach im SichZeigen, in der Unverborgenheit als solcher sehen. Auch die falsche Aussage richtet
sich nach etwas, was sich zeigt. […] Die wahre Aussage […] richtet sich gerade
nicht nach dem Seienden, wie es sich unmittelbar zeigt, sondern nach dem Seienden,
wie es selbst ist.“16
Tugendhat zufolge erkennt Heidegger in seinen späteren Schriften, dass er
mit seiner Gleichsetzung von Erschlossenheit und Wahrheit fehlgeht. So
thematisiere er in „Vom Wesen der Wahrheit“ dann auch explizit den
„Maß-Charakter“17 der Wahrheit. Da er diesen nun aber mit dem Seienden
als Offenbarem einfach gleichsetze, gehe er erneut in eine falsche Richtung:
wohl wissend, dass diese einer ergänzenden Untersuchung des Ereignisbegriffes
bedarf.
16 Ernst Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 1967,
S. 334.
17 Ebd., S. 395.
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