VU Grundlagen der Freizeit- und Tourismussoziologie: Texte zu Theorie und Empirie The Thrilling Fields oder: "Bis ans Ende - und dann noch weiter": Über extreme Outdoor Activities Hans Albrecht Hartmann Um die Abendnachrichten zu hören, schalte ich den Fernsehapparat ein. Die Mattscheibe hellt sich flimmernd auf. Totale: Eine weitgewölbte Brücke überspannt eine tiefe Schlucht. Halbtotale: Auf dem schmalen Brückengeländer steht ein Mann mittleren Alters im Straßenanzug und blickt besorgt in die Tiefe. Dann 'schluckt' er ein paar Mal. Sonore männliche Stimme aus dem Off: "Dieser Mann hat heute die Abrechnung für sein neues Girokonto bekommen. Dabei hat er festgestellt, ... <währenddessen springt er in die Tiefe> ... dass er jetzt jährlich bis zu 300 Mark Kontokosten spart". Totale: Inzwischen zappelt der Mann an einem Gummiseil auf und nieder. Stimme aus dem Off: "Davon hat er sich einen Traum erfüllt." Forsche Werbestimme: "Postbank. Schließlich ist es Ihr Geld." Haben die Werbefilmer endgültig abgehoben? Oder spielt die Postbank verrückt? Beides ist nicht zu befürchten. Endlich lässt eine Bank mal die Katze aus dem Sack und demonstriert, dass es Finanzjongleuren - auch das ist im gegebenen Kontext ein sehr verräterischer Begriff! - nicht nur um Sicherheit(en), sondern auch um mehr oder minder kalkulierte Risiken geht. Und Werbedesigner tragen, wie niemand sonst, ihre Nasen im Wind und wissen, was und worauf es ankommt. Mit hübschen Mädchen allein ist heute niemand mehr zu becircen und nur psychologische Laien mögen sich wundern, womit da manchmal wofür geworben wird: mit Rennsport aller Art, Fliegen, Bergsteigen, Eiskraxeln, Akrobatik zum' Beispiel für ein scheinbar so nüchtern-technisches Produkt wie Computer-Software (nicht von ungefähr - vgl. dazu Krafft & Ortmann 1988). Und während es früher reichte, dass ein Großvater für das Tonicum "Doppelherz" ein paar Klimmzüge machte, muss er heute Motorrad fahren oder mit einem Gleitschirm landen: "Ich bin sechzig, aber ich habe die Kraft der zwei Herzen". Wir sind ins Zeitalter der extremen (Freizeit-)Outdoor Activities eingetreten und schwärmen aus in die Thrilling Fields; was ich darunter verstehe, enumeriert der folgende Kasten, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Car-Racing, Motor-Cycle Racing, Speed-Boat Racing, Flying, Gliding, Kite Gliding, Paragliding, Parachuting, Sky Surfing, Base Jumping, Yacht Racing, Surf Riding, River Rafting, River Boogie, Deep-Sea Diving, Spelinauting, Ski Racing, Extreme Skiing, Speed Skiing, Trick Skiing, Bob Sleighing, Snow Boarding, Free Climbing , Solo Climbing, Jogging, Fell Running, Running, (long distance) Bicycle Riding, (long distance) Swimming, Triathloning, Survival Training, Trekking, Roller Boarding, Snake Boarding, Roller Skating, Inline Skating, Mountain Biking, BMXing, Roller Coaster Riding, Bungee Jumping, House Running, Body Flying, Train Surfing, Car Surfing, Break Dancing, Graffiti Spraying, Gotcha Playing. ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Bearbeitung: a.Univ.-Prof. Dr. Ingo Mörth, Mag. Christian Steckenbauer Seite 1 Arbeitsskriptum für die Lehrveranstaltung an der Universität Linz Ich habe mir die kleine Bosheit erlaubt, diese 48 (frei-)zeitgenössischen Aktivitäten mit entnervender Pedanterie und unter ihren notorisch neudeutschen Denominationen aufzulisten beides natürlich mit Hintergedanken. Im Sinne von Marshall McLuhans "The Medium is the Message" wollte ich anhand dieser 'endlosen' beredt-lakonischen Liste bereits etwas von der Fülle, Vielgestaltigkeit, Ubiquität, Verbreitung, aber auch von der Bizarrerie und vom 'inneren Leerlauf' des Phänomens vermitteln, um das es hier geht. Und die englische genauer usamerikanische - Terminologie leistet gleich dreierlei: in ihrer prägnanten Simplizität, einer Mischung aus Marketing- und Reporter-Slang, spitzt sie (1) die Litanei parodistisch zu und enthüllt ihre komischen Züge, wirft (2) ein Spotlight auf die Internationalität unseres Gegenstands (Amerikanisierung inklusive) und nimmt (3) implizit schon vorweg, daß die - auch freizeitbestimmende - Mentalität, von der hier die Rede sein soll, in den USA (seit den Tagen der Mayflower) besonders geballt auftritt und dort ihre schönsten Blüten treibt (Raeithel 1981; Hartmann 1985). 'Eingeweihten' oder assoziationsbereiten und einfallsreichen Leser/inne/n mag spontan eingeleuchtet haben, daß und weshalb die genannten Aktivitäten 'irgendwie zusammengehören'; anderen dürfte das fraglich und die Liste recht heterogen erscheinen. Das ist sie auch - und doch behaupte ich (gar nicht eimal so) 'geheime' Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den aneinandergereihten Aktivitäten. Zunächst ist offenzulegen, wie diese Liste zustande kam. Vorausschicken muß ich, daß mich das Grundphänomen und vor allem ein theoretischer Ansatz (Balint 1960), der womöglich dazu beitragen kann, es 'aufzuklären', seit nunmehr 35 Jahren ungemein faszinieren. Ich näherte mich dem Phänomen, über das ich bereits in ganz unterschiedlichen Kontexten nachgedacht habe, also durchaus mit Sympathie und keineswegs nur in kulturkritischer Absicht. Dergestalt thematisch und theoretisch programmiert betreibe ich seit 1992 ein zielbezogenes Channel Surfing auf allen mir erreichbaren TV-Kanälen und habe inzwischen Dutzende einschlägiger Sendungen aufgezeichnet, was zunächst einmal heißt: für das prominenteste Massenmedium, das mir als wichtigste Datenquelle diente, war und ist das Thema aktuell und interessant. Kein Sender, der sich nicht regelmäßig in fasziniert-enthusiastischen und/oder skeptisch-kritischen Features mit diesen und jenen Thrilling Fields befaßt und extreme Outdoor-Aktivist/inn/en jeglicher Provenienz zu seinen etablierten Talkshows und Diskussionsrunden eingeladen hätte - kein Wunder auch: Das Thema ist im doppelten Wortsinn spektakulär, und seine Protagonist/inn/en kommen gut an. Wer und was nun alles - in wechselnden personellen und sachlichen Kombinationen - in diesen Sendungen zur Sprache kam, ist in meine Liste eingegangen - oder anders gewendet: jedes 'Item' trat irgendwann einmal gemeinsam mit den (meisten) anderen auf. Die Zusammenstellung gibt also nicht nur meine Sicht wieder, sondern auch die der TV-Redakteure und Filmemacher. Da nicht vorausgesetzt werden kann, daß alle Outdoor Activities hinreichend bekannt und Fernstehenden geläufig sind, muß die Liste zunächst erläutert und schließlich durch einige TopItems vervollständigt werden. Ersichtlich handelt es sich ganz überwiegend um sportliche Aktivitäten, um Motorsport zu Lande, zu Wasser und in der Luft, um weitere Luft- und Wassersportarten, Wintersport, Bergsteigen, Laufen, Radfahren, Schwimmen und deren Kombination im neumodischen Triathlon, um sportlichen Abenteuerurlaub (Survival Training, Trekking) und schließlich um verschiedene Formen und Varianten von "Fun"-Sport, ergänzt um einige eher subkulturelle Aktivitäten, deren Sportlichkeit dahinstehen mag. Die 'klassischen' unter den genannten Sportarten haben sich zwar seit Beginn unseres Jahrhunderts entwickelt, doch inzwischen weisen Erscheinungsbild und Prognose zwei markante Tendenzen auf. Extremisierung und massenweise Verbreitung, zumindest massenhafte Faszinationskraft. Vor aller tieferen Ursachenforschung will bedacht sein, daß dafür zunächst gesellschaftliche Oberflächen-Phänomene (mit-)verantwortlich sind. Zum einen hat sich während der letzten Jahrzehnte die freie Zeit für Freizeitaktivitäten derartig ausgedehnt, daß alle Sparten davon profitieren, wenn auch der Sport wohl am meisten, und gestiegene Masseneinkommen haben ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Seite 2 Nur zum persönlichen, unentgeltlichen Gebrauch der Studierenden ! VU Grundlagen der Freizeit- und Tourismussoziologie: Texte zu Theorie und Empirie elitäre Sportarten auch für die Massen geöffnet.Sportartikel- und Sportbekleidungsindustrie, Ausbildungs-, Trainings- und Veranstaltungsanbieter, kommerzielle Vermarkter und Massenmedien, das Fernsehen vorneweg, heizen die Sportbegeisterung der Massen nach Kräften an. Der Sport ist ein Riesengeschäft, in sein Sponsoring und die um sich greifenden Übertragungen bedeutender Wettkämpfe im TV fließen Milliardensummen. Die Veranstalter und Nutznießer von Sportereignissen sind an immer extremeren Leistungen und - spektakuläreren Präsentationen interessiert, was am Beispiel des Rennsports, vor allem des Motor- und Skisports, besonders erkennbar wird; der Gefahrenzuwachs in vielen Sportarten ist die eine, das Dopingproblem die andere Folge dieser Entwicklung. Wenn bei unserer Fragestellung die gnadenlose Vermarktung des Sports mithin nicht vernachlässigt werden darf, so ist doch zugleich zu bedenken: diese Spirale liefe ins Leere, wenn sich nicht immer mehr Aktivist/inn/en fänden, die für Extremisierung des Sports auch zu haben sind, und wenn das die Massen nicht faszinierte. Vom Phänomen nochmals zu den Phänomenen; da ist wohl noch manches erklärungsbedürftig. Aus Raumgründen muß ich auf eine narrativ-ironische Präsentation der extremen Outdoor Activities leider verzichten und mich auf dürre Fakten beschränken, wobei ich die 'traditionellen' Varianten beiseite lasse. Risikosportarten Kite-/Paragliding: Drachensegeln / Gleitschirmfliegen; Parachuting: Fallschirmspringen; Sky Surfing: Sprung aus dem Flugzeug mit einem an die Füße geschnallten Surf-Brett, Salti und seitliches Figuren-Beschreiben im freien Fall, Landung am Fall- oder Gleitschirm; Base Jumping: Absprung von (bis zu l000 m) hohen senkrechten Felsmassiven (oder auch Skyscrapern), wiederum freier Fall und Landung am Schirm; River Rafting/River Boogie: Wildwasserfahren (bevorzugt durch Canyon-Schluchten) im Schlauchboot / mit einem Gummikissen unter dem Bauch; Spelinauting: Höhlentauchen (von griech. spélaion, lat. spelaeum = Höhle, Grotte); Extreme Skiing: Steilwandabfahrten; 'verrücktestes' Beispiel (von Hans Kammerlander und Diego Vellig): auf einer 60 Grad steilen Route vom 8125 in hohen Nanga Parbat hinunter; Speed Skiing: Geradeaus-Abfahrtslauf, bei dem über 200 km/h erreicht und rund 250 für möglich gehalten werden; Trick Skiing: (Schrauben-)Salti-Springen eingesprungenen Figuren; über Schanzen, Buckelpisten-Lauf Free-/Solo Climbing: 'elegantes' Extremklettern bei Verwendung möglichst Sicherungshaken / Alleinklettern unter extremen Bedingungen, zumeist ohne Seil. mit weniger Extreme Ausdauersportarten Triathlon: 3,8 km Schwimmen (= Breite einer Bucht von Hawaii, an der Captain Cook einst gelandet war und wo drei us-amerikanische Marinesoldaten den "Ironman" erfanden), 180 km Radfahren (eine durchschnittliche Etappe der 'Tour de France"), 42,2 km Laufen (die Marathonstrecke) - alles am Stück natürlich und in 8 Stunden gut zu schaffen; 4fächer "Ironman" in 2 ½ Tagen, ohne zu schlafen, 10facher in rund 50 Tagen - bei gelegentlich 1-2 Stunden Schlaf, ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Bearbeitung: a.Univ.-Prof. Dr. Ingo Mörth, Mag. Christian Steckenbauer Seite 3 Arbeitsskriptum für die Lehrveranstaltung an der Universität Linz Bicycle Riding: z.B. 600 km bei 30 Grad Kälte durch die Eiswüste Alaskas radeln, in 52 Stunden, ohne zu schlafen; oder: non-stop 5000 km quer durch die USA (Rekord: 8 1/2Tage), am besten gleich rund um Australien in 50 Tagen (15500 km); Swimming: dreimal hintereinander durch den Ärmelkanal schwimmen (120 km), in 10 Tagen von Korsika nach Sardinien (wie der 42jährige Franzose Guy Delange) oder - wie vom selben Schwimmer geplant - in 3 Monaten von Westafrika in die Karibik; Survival Training: 'Überlebenstraining' mit minimalen Ressourcen in 'wilden' Gegenden, etwa der Hochvogesen; Trekking: Hochgebirgstouren, bevorzugt im Himalaja; neuerdings Canyon-Trekking. Im Unterschied zu den Höchstleistungen im Triathlon, Radfahren und Schwimmen steht das Survival Training für jedermann offen und wird vor allem von jungen Leuten (Doppelpunkt Reportage: "Allein gegen mich", ZDF 1994) und Managern nachgefragt (Die Reportage: "Aus der Chefetage in die Wildnis", ZDF 1994), die tage- und wochenlang in der 'Wildnis' völlig unterversorgt und bei etlichen Kältegraden das Klettern, Abseilen, über Schluchten, Hangeln und sich Orientieren, Tiere und Fische erlegen, Feuermachen durch Hölzchenquirlen und Schlafen im Freien trainieren. In diese Sparte gehört auch die "Lust auf Stress" im "Wahnsinn < Erlebnisund Abenteuer-> Urlaub" (Der Spiegel Nr. 29 vom 18.7.94, S. 72-90). Das Trekking erfreut sich inzwischen solchen Zuspruchs, daß ökologische Schäden die Folge sind. Auch hierzulande protestieren Naturschützer gegen Extrem- und Fun-Sportarten wie wildes Klettern, Drachensegeln, Gleitschirmfliegen und Mountain Biking, deren Gefahren für das Ökosystem von den Sportfreaks, an ihrer Spitze der 'Querdenker' Heiner Geißler, freilich heruntergespielt werden (Ulrich Meyer: Einspruch - "Extremsport", SAT 1 am 5.7.1994). In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß sich das Trekking im Himalaja den spektakulären Expeditionen des Südtirolers Reinhold Messner und anderer Abenteurer verdankt. Dieses 'Item' fehlt noch in meiner Ausgangsliste und sei deshalb nachgetragen. Messner hat nicht nur binnen 10 Jahren alle 14 Achttausender bestiegen (einer seiner Brüder verunglückte tödlich; "Freunde sind erfroren, an Erschöpfung gestorben", Messner 1994, S. 11), er hat auch als erster den Mount Everest im Alleingang und ohne Sauerstoffgerät bezwungen (heute steht der Tagesrekord bei 32 Besteigern!), zusammen mit seinem Landsmann Hans Kammerlander die Gipfel des Gasherbrum I und II in einem Zuge erstiegen, nur mit einem geschulterten Rucksack (Film von Werner Herzog: "Gasherbrum - der leuchtende ]Berg" 1984), die Wüste Takla Makan, die Antarktis und Grönland durchquert und ist 1995, gemeinsam mit seinem Bruder Hubert, beim Versuch der Überquerung des Nordpols erstmals gescheitert - das alles auf demonstrative Weise, unter harten Strapazen und strenger Beachtung eines perfekten Marketing. Natürlich ist Reinhold Messner eine seltene Ausnahmeerscheinung, doch aufgrund seiner wortgewaltigen (Medien-)Omnipräsenz und verführerischen Lebensphilosophie, von der noch zu reden sein wird, ist er zu einem Inbegriff modernen Heroentums und zur Galionsfigur eines geradezu existentialistischen Extremsports geworden. Zumindest Berührungspunkte mit Messners Expeditionen besitzen spektakuläre berufliche Aktionen, etwa von Kriegsberichterstattern, die sich immer kühner zwischen den Fronten bewegen, und den "Médecins sans Frontieres" ("Ärzte ohne Grenzen"), die in Kriegs- und Krisengebieten Verwundete und Kranke versorgen - so sahen es jedenfalls "Mona Lisa" ("Frauen extrem", ZDF 27.11.1994) und der "Nachtclub" des Bayerischen Fernsehens ("Grenzgänger Zwischen Gipfelglück und Absturz ins Nichts", BR III 23.9.1994). Auch die politisch motivierten Aktionen von Greenpeace und Robin Wood, die eine betont sportliche, oft geradezu abenteuerliche Note aufweisen (z.B. "Brent Spar", Mururoa-Atoll), und die Demonstrationen zivilen Ungehorsams etwa von Sitzblockierern gehören im weiteren Sinne in diesen Zusammenhang. Ich möchte die humanitären, ökologischen und politischen Motive der Actricen ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Seite 4 Nur zum persönlichen, unentgeltlichen Gebrauch der Studierenden ! VU Grundlagen der Freizeit- und Tourismussoziologie: Texte zu Theorie und Empirie und Akteure gewiß nicht diskreditieren, doch das Erleben - um nicht zu sagen: der Genuß - von "Thrill" spielt auch bei den genannten Aktionen eine nicht unbedeutende Rolle. Um scheinbar ganz andere extreme (Freizeit-)Aktivitäten - und nun wirklich als Massenphänomen - geht es bei den "Fun-Sportarten", über die das ZDF in vier 1 1/2-stündigen Samstagnachmittag-Ausstrahlungen ein breites Publikum informierte (23.7.-13.8.1994). Der 30Sekunden-Introitus dieser Sendungen war folgendermaßen gestaltet: Zu stark rhythmisierter Musik blinkten sukzessiv und ganz kurz Begriffe auf: gehorsamkeit sauberkeit - fleissigkeit - sparsamkeit - auf ewigkeit? (Eine Infragestellung von Sekundärtugenden also). Dahinter eingeblendet wurden die Himmelsrichtungen: west - east north - south. Vor dem Zusammenschnitt von Fun-Sportarten erschien dann die Inschrift "West FUN CITY" und in schnellen Einblendungen die Sequenz: mut - speed - frei - power thrill - spass (offenbar die neuen Tugenden, die an die Stelle der 'überholten' treten). Der nächste Takt zeigte im Zentrum einer nach außen wirbelnden Spirale das Logo "x-treme", darunter die Zeile FUN SPORT TOUR '94 und schließlich ein Emblem mit Hochhäusern und der Aufschrift West FUN * CITY. Dann erfaßte die Live-Kamera einen jugendlichen Moderator, der "Herzlich willkommen!" rief, seine Arme ausbreitete und einen durchdringenden Lustschrei ertönen ließ. Jugendgemäß moderiert von vier bildhübschen schicken Twens beiderlei Geschlechts, die ein lupenreines Hochdeutsch in atemberaubenden Tempo sprachen, vermischt mit überdehnten Comic-Interjektionen (wooow!), wetteiferten in diesen Sendungen Kids und Teenies aus Hannover, München, Dresden und Frankfurt am Main jeweils im Zwei-Städte-Kampf in den Funsportarten miteinander. Eingeleitet wurde jeder einzelne Wettkampf durch Interviews mit älteren Cracks dieser Sportart, deren 'Vorbildfunktion' auf diese Weise zum Ausdruck kam. Neben Showeinlagen von Rockbands und Sumo-Ringern in aufgeblasenen Gummianzügen sowie Street-Ball-Spielen ging es dabei um die Fun-Sportarten, die in meiner Liste enthalten sind und die Millionen von Kids und Jugendlichen in der ganzen westlichen Welt betreiben. Fun-Sportarten Roller-/Inline Skating bzw. Roller-/Snake Boarding: Schnell-, Slalom- und Hindernislauf auf unterschiedlich konstruierten Rollschuhen/-brettern (weitere Möglichkeit: Luft-Figuren-Springen über U-förmigen Schwungrampen); Mountain Biking/BMXing: in den Sendungen Hindernisfahren und Akrobatik (ursprünglich und in der Regel Berg- und Querfeldeinfahren) auf Spezialrädern; Bungee Jumping: Sprung von einem hohen Kran (sonst auch von einer Brücke, aus einer Seilbahn- oder von einem 130m hohen Fernsehturm) an elastischen Gummiseilen; House Running: möglichst schnelles 'Hinunterrennen' von hohen Häusern, angeseilt, die Füße gegen die Fassade gestemmt und das Gesicht zur Straße gekehrt; Body Flying: bis zu 20 m hoch auf einem 200 km/h starken Luftstrom von 2,5 m Durchmesser 'schweben'; Könner springen von oben in den Luftstrom hinein; Free Climbing: in der Sendung am Kunstfelsen. Von den Funsportarten ergeben sich fließende Übergänge zu lebensgefährlichen und deshalb verbotenen 'Freizeitvergnügen' wie dem Train- und Car Surfing (Erklettern der Flanken und Dächer von S-Bahnen und Autos während hoher Geschwindigkeit) und privaten Autorennen auf nächtlichen Straßen und Autobahnen. Eine Restkategorie bilden das Roller Coaster Riding auf gigantischen Berg-und-Tal-Bahnen mit extremer Fall- und Querbeschleunigung (Extremvariante: ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Bearbeitung: a.Univ.-Prof. Dr. Ingo Mörth, Mag. Christian Steckenbauer Seite 5 Arbeitsskriptum für die Lehrveranstaltung an der Universität Linz 'touristisches' Absolvieren eines vollen Kampf-Jet-Programms) und eine Reihe subkultureller Aktivitäten, die wie die meisten anderen aus den Staaten stammen: Break Dancing: rauschhaft-akrobatischer Solotanz aus den Slums; Graffiti Spraying: verbotenes Besprühen von Wänden und U- oder S-Bahn-Zügen (bei JugendGangs und in der 'linken Anarcho-Szene' beliebt); Gotcha Playing: von gotcha = (ich) hab' dich, paramilitärischer Gruppenwettkampf am Rande der 'rechten Schiene', wechselseitiges 'Abschießen' mit bis zu 400 km/h schnellen Farbmarkierungskugeln aus 'Maschinenpistolen'. Überblickt man das Ensemble der extremen Outdoor Activities, so läßt sich wohl ohne Übertreibung behaupten, daß in westlichen Ländern ein großer und ständig wachsender Bevölkerungsanteil - von den Kids bis hin zu den 'reiferen' Jahrgängen - die eine und/oder andere Spielart mit Hingabe betreibt, überwiegend in der Freizeit, teilweise aber auch (semi)professionell. Gegen meine ausholende Vereinnahmungstendenz läßt sich allerdings einwenden: Bestehen zwischen den drei Klassen der von mir beschriebenen Aktivitäten nicht gravierende Unterschiede? Ist der Fun-Sport nicht bloß ein kommerziell angeheiztes Jugendkulturelles Massenphänomen, bei dem ein anstrengungsloses Vergnügen dominiert, das in der Regel bald verfliegt oder zugunsten eines anderen aufgegeben wird? Handelt es sich bei den subkulturellen (Risiko-)Aktivitäten nicht um abweichende Verhaltensformen jugendlicher Randgruppen, die für 'die Jugend' atypisch sind? Und geht es beim extremen Risiko- und Ausdauersport nicht um sportliche Höchstleistungen weniger 'Heroen', die sich einem asketischen Leben verschrieben haben? Ich verkenne solche, alters-, schicht- und wohl auch persönlichkeitsspezifischen Unterschiede zwar nicht, behalte meine These, daß es sich in allen drei Fällen um Varianten desselben Grundphänomens handelt, aber dennoch aus folgenden Gründen bei: die Betätigungen besitzen (1) im "Thrill" oder "Kick" und im Bedürfnis nach "Grenzüberschreitüng" eine vergleichbare Motivationsbasis, verzeichnen (2) wachsenden Zulauf, (3) beträchtliche Reizvariation und Innovationsschübe sowie (4) steigende Schwierigkeits- und Perfektionsstandards, und (5) werden bestimmte Spielarten des Fun - und -Extremsports durch Angebotsstrategien der Industrie, des Handels und der Tourismusbranche immer stärker miteinander verzahnt: Man denke etwa an das Schnupper-'Package' von Klettern, Tauchen, River Rafting, Canyon Trekking, Paragliding und Mountain Biking bei "Online Tours" für junge Leute mitten durch 'wildes' Gelände (z.B. Abenteuerclub Salzkammergut). Zumindest den Anbietern scheint ein 'Karrieremodell' - vom Fun- zum Extremsport - vorzuschweben und erfolgversprechend zu sein. Ich behandle deshalb im Folgenden das Phänomen des 'Thrill"Bedürfnisses und der Risikobereitschaft ganz allgemein und überlasse es den kritischen Leser/inne/n, das Tertium comparationis zwischen Fun- und Extremsport jeweils selbst zu bestimmen - oder zu vermissen. Bevor ich mich mit den Voraussetzungen und Konsequenzen dieser Diagnose befasse, sind die gemeinsamen und spezifischen Faktoren herauszuarbeiten, welche die beschriebenen Aktivitäten verbinden und unterteilen. Mindestens elf solcher Faktoren unterschiedlicher Allgemeinheit bzw. Spezifität lassen sich 'extrahieren', die in wechselnder Kombination und variablem Ausmaß die einzelnen Tätigkeiten bestimmen. Körperbetonung, Exponierung des eigenen Körpers; körperliche Fitness, Körperbeherrschung, Geschicklichkeit, 'Technik' als Voraussetzung; motorische Bedürfnisse, Bewegungsdrang, Mobilität; ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Seite 6 Nur zum persönlichen, unentgeltlichen Gebrauch der Studierenden ! VU Grundlagen der Freizeit- und Tourismussoziologie: Texte zu Theorie und Empirie Bedürfnis nach Geschwindigkeit und (Quer-)Beschleunigung; Aufsuchen von Tiefen- und/oder Drehschwindel; Aufsuchen körperlicher und/oder seelischer Belastungen, teilweise über längere Zeit mit extremen Anforderungen an Dauerleistungsfähigkeit; Aufsuchen von Risiken und Gefahren - vom einfachen Verletzungsrisiko bis hin zur akuten Todesgefahr; Aufsuchen von unterschiedlich getönten Erregungszuständen: "Fun", Hochgefühl, Angst, Nervenkitzel, Thrill, "Angstlust"; Aufsuchen von 'Trance'- und 'Rausch'-Zuständen; Voraussetzung und Herausforderung bestimmter Charaktereigenschaften: Mut, Wagemut, Tollkühnheit, Nervenstärke, Gelassenheit, Coolness, Diszipliniertheit, Umsicht, Konzentrationsfähigkeit, Geistesgegenwart, Flexibilität, Durchhaltevermögen ... Implikation des Steigerungsmotivs: höher, tiefer, schneller, weiter, länger, strapaziöser, spektakulärer, tollkühner, eleganter, perfekter ..., Bedürfnis nach Überschreitung persönlicher und absoluter Grenzen (wovon fast alle Extrem- und Funsportler sprechen), zwischen Rekordleistungen und Vorstoß in völlig neue Leistungsdimensionen ('das Unmögliche möglich machen'). Einige dieser Faktoren ließen sich weiter aufspalten. Ich möchte hier freilich das Gegenteil tun: versuchen, sie zu gruppieren. Im gegebenen Kontext sind die drei ersten Faktoren von sehr allgemeiner Art: durch Körperbetonung, Körperbeherrschung oder doch eine gewisse Fitness und durch Bewegungsdrang respektive Mobilität sind alle behandelten Aktivitäten wesentlich mitbestimmt - kein Wunder angesichts ihrer starken sportlichen Komponente. Für den präsentierten 'Datensatz' stellen diese Faktoren also eine Art körperbezogener 'Generalfaktoren' da, die ihr psychisches Gegenstück in den letzten vier Faktoren besitzen: Erregungs- oder gar Trance- und Rauschzustände sind gleichfalls bei den meisten der genannten Betätigungen möglich, auch (unterschiedliche) Charakterzüge sind jeweils gefragt, und das Steigerungsmotiv ist überall impliziert. Von den somatischen und psychischen 'Generalfaktoren' abzugrenzen sind die spezifischen Faktoren, welche die einzelnen Aktivitäten als (lebens-)gefährlich oder als Ausdauerleistung oder als spielerisch-akrobatisch bestimmen. ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Bearbeitung: a.Univ.-Prof. Dr. Ingo Mörth, Mag. Christian Steckenbauer Seite 7 Arbeitsskriptum für die Lehrveranstaltung an der Universität Linz Fragen an Geschichte und Gesellschaft Soweit also die Phänomenologie der Thrilling Fields und mein Versuch, die beschriebenen extremen Outdoor Activities ein wenig zu strukturieren. Gehen wir über zur Theorie. Es stellen sich nun vier sozialwissenschaftlich-psychologische Fragen, die ich im folgenden diskutieren möchte: 1. Ist das behandelte Grundphänomen etwas Neues - oder gab es dergleichen schon früher? 2. Wenn und soweit dieses Phänomen 'neu' sein sollte: wie ist sein (Wieder)Auftreten in unseren (westlichen) Gesellschaften zu erklären? 3. Weshalb widmen sich bestimmte Menschen solchen extremen Aktivitäten und andere nicht gegebenenfalls damals wie heute? 4. Wie ist dieses (Massen-)Phänomen gesellschaftlich zu bewerten? Die erste Frage ist zunächst einmal so zu beantworten: Das "Leben ... [war] immer lebensgefährlich" (Erich Kästner, Epigramme), und Ausdauer wurde schon dem Frühmenschen abverlangt. Man denke an die Jagd und den Kampf Mann gegen Mann bei unseren JägerUrahnen, an die Exploration von Umweltgegebenheiten und die Aufbrüche prähistorischer Stämme ins Ungewisse, zu Zeiten der Völkerwanderungen, bei Entdeckungs- und Eroberungszügen (z.B. der Griechen, Römer, Portugiesen, Spanier und Briten) bis hin zu den massenhaften Emigrationen von Europäern nach Nordamerika. In der menschlichen Vor- und Frühgeschichte waren Jagd, Kampf, Erkundung des Neuen und Migration Not-wendigkeiten, erzwungen durch die Veränderungen von Natur- und sozialen Verhältnissen. Die Risikobereitschaft einzelner Stammesmitglieder bot einen evolutionären Vorteil für das biologische Überleben der Gruppe (vgl. dazu Apter 1994, S. 222ff.). Ob die prä- und frühhistorischen Menschen dabei 'Thrills" in unserem Sinne empfunden haben, wissen wir nicht; plausibel erscheint die These, daß "Thrill" die Verfügbarkeit einer (Überlebens-)Technik voraussetzt, die in. gefährlichen Situationen eine Chance des 'Durchkommens' bietet. Spätestens bei den neuzeitlichen Entdeckern, Eroberern und Emigranten treten neben das 'Know-how' neue Motive. Für die europäischen Auswanderer nach Nordamerika seit dem 18. Jahrhundert unterscheidet Gert Raeithel (1981) zwischen "Push-Faktoren" (Armut, politische Unterdrückung) und "Pull-Faktoren" (Veränderungsstreben, Abenteuerlust, Freiheitsdrang, "SteigerungsMotive" = Absicht, die eigene Lage und Befindlichkeit zu verbessern). Die zweite Motivklasse ist es, die uns hier interessiert. Halten wir fest: die Initiatoren der weltweiten 'Landnahme' sind natürlich jeweils nur wenige gewesen, besessene Führernaturen oder habgierige Hasardeure wie Christobal Co1ón und Francisco Pizarro mit ihren winzigen, zu allem entschlossenen Crews aus Desperados, die 'nichts zu verlieren' hatten, doch der erregende Drang in die Ferne wuchs sich gleichwohl zu einem Massenphänomen aus. Eine Parallele zum Verhältnis von Extrem- und Fun-Sport? Man brauchte in frühen und früheren Zeiten indessen kein Entdecker, Eroberer oder (Aus)Wanderer zu sein, um Spannungsreize kennen zu lernen: auch das Leben zu Hause war gefährlich genug (und strapaziös dazu). Bis in die Neuzeit hinein - für viele Völker gilt das noch immer - waren die Menschen dem Unbill der Natur, wilden Tieren und feindlichen Stämmen ausgesetzt, später dann feudalherrlicher Willkür, umherziehenden Räuberbanden und einer marodierenden Soldateska. Und als die Alte Welt sich zunehmend 'zivilisierte', blieb doch - bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts - für die Massen die tägliche Fron: akut drohende äußere Gefahren wurden durch körperliche Dauerbelastung ersetzt, vom psychischen Existenzstress gar nicht zu reden. Dann die frühen 'Freizeitvergnügen'; auch da ging es ruppig und spektakulär zu: 'wüste' heilige Orgien, ekstatische Saturnalien, Menschenopfer, Gladiatorenkämpfe, Wagenrennen, Ritterturniere, öffentliche Gottesurteile und Hinrichtungen, derbe Jahrmarktsdarbietungen, Hexenverfolgung, die Pilgerzüge der Geißelbrüder auch das eine ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Seite 8 Nur zum persönlichen, unentgeltlichen Gebrauch der Studierenden ! VU Grundlagen der Freizeit- und Tourismussoziologie: Texte zu Theorie und Empirie respektable Liste, die sich beliebig verlängern ließe. Die Menschen früherer Zeiten waren jedenfalls - als Täter und Opfer, als Zuschauer und Akteure - um 'spannende' Erlebnisse nicht verlegen. Je weiter der 'Zivilisationsprozess' fortschritt, desto stärker neigten Menschen dazu, Gefahren und Strapazen freiwillig aufzusuchen oder sogar zu 'genießen', und sei es als Spektateure - im römischen Colosseum oder heute vor dem Fernsehgerät. Damit bin ich schon bei der Beantwortung meiner zweiten Frage, wie die zeitgenössische Neuauflage des geschichtlich notorischen Bedürfnisses nach 'Thrills" zu erklären ist. Nach den 'barbarischen Epochen' des ausgehenden Mittelalters, des Dreißigjährigen Krieges und anderer Religions- und Eroberungskriege war in der Alten Welt im Zuge der Aufklärung, des Liberalismus und der Industrialisierung, also durch den Modernisierungsprozeß, eine wachsende 'Beruhigung' eingetreten: das Leben wurde - selbst für die Massen - immer 'gefahrloser', aber auch langweiliger (die "Biedermeier" zwischen Revolution und Restauration 'stellten' sich geradezu 'tot'). Wer ein Bedürfnis nach Abwechslung, Aufregung und Abenteuer verspürte, dem blieb nur die Möglichkeit, sich als Entdeckungs- und Forschungsreisender oder als Kolonialkrieger auszutoben. Mit der hundertjährigen beschaulichen Ruhe des Bürgertums und dem Tretmühlendasein der Arbeiterklasse war es plötzlich vorbei, als der aggressive Nationalismus den Ersten Weltkrieg vom Zaun brach. Bekanntlich hat ein Großteil der europäischen Jugend - halb aufbegehrend gegen eine erstarrte Väterwelt, halb von ihr scharfgemacht - diesen Krieg als willkommenen Ausbruch aus der Lebensroutine emphatisch begrüßt. Prototyp dieser Ekstase war der unsägliche Ernst Jünger, dessen "abenteuerliches Herz" den "Stahlgewittern" jubelnd entgegenschlug. 'Unbegreiflicherweise' wurde die Katastrophe des Kriegs von den Massen nur allzu schnell und bereitwillig vergessen. Einem (auf-)putschenden Rattenfänger gelang es, die - nunmehr 'großdeutsche' - Jugend ("flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl") ein zweites Mal zu berauschen und für Kampf und Tod zu begeistern. Nun blicken wir in der westlichen Welt auf einen 50jährigen 'Frieden' zurück. Der "Kalte Krieg" (inzwischen ad acta gelegt) und die atomare Bedrohung (fürs erste entschärft) sind 'Papiertiger' gewesen, die uns im Grunde gar nicht berührten - und der "heiße Frieden", von dem Antje Vollmer (1995) neuerdings spricht, berührt uns noch nicht. Nur ein paar Uno-Soldaten bekommen ihn mit. Zwar droht nun die ökologische Katastrophe, doch die entwickelt sich fast unmerklich und ist 'hautnah' und 'sinnlich' noch kaum zu erleben. Und allen ökonomischen Baissen zum Trotz: "Der Hunger ist gebannt, die Konjunktur ist unserm Land geblieben", wie Georg Kreisler in den frühen 60er Jahren sang ("Seltsame Liebeslieder"). Die "Zweidrittel"Gesellschaften der westlichen Welt schwimmen noch immer im Überfluß - satt, verwöhnt, durch ein halbes Dutzend Policen gegen alle Risiken und Wechselfälle des Lebens weitgehend abgesichert. "Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit. 'Wir haben das Glück erfunden' - sagen die letzten Menschen und blinzeln. -" (Nietzsche, "Also sprach Zarathustra" 1883, Abschn. 5). Drohen wir zu verketten und einzuschlafen, wie einst die "Biedermeier" und die Bourgeoisie "zu Kaisers Zeiten"? "Ja, da liegt's: / Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen, / Wenn wir den Drang des Ird'schen abgeschüttelt, / Das zwingt uns stillzustehn" (Hamlet 3,1; kursiv von mir). Das ist ein bißchen 'Shakespeare mit Gewalt', ich benutze das Zitat für meine eigenen Zwecke. Ja, da liegt's: Die Wohlstandsmenschen haben. den unmittelbaren Drang von Not und Bedrohung weitgehend abgeschüttelt und sind mehr oder minder in trägen Schlummer verfallen. Ihr Leben in seiner Saturiertheit und Absicherung ist fade geworden, im Berufsleben folgen sie einer öden Routine, und in der Freizeit gehen sie ihren "Lüstchen" nach und schlagen die Zeit tot. Doch "Der Schlaf [und/oder Traum] der Vernunft gebiert Ungeheuer" (Francisco de Goya, "Los Caprichos" 1796-98, Capricho 43) - zumindest 'Ungeheuerliches', ganz im Sinne von Nietzsches Zarathustra: "Es ist an der Zeit, daß der Mensch sich sein Ziel stecke". Schwärmen nicht auch ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Bearbeitung: a.Univ.-Prof. Dr. Ingo Mörth, Mag. Christian Steckenbauer Seite 9 Arbeitsskriptum für die Lehrveranstaltung an der Universität Linz alle Extremsportler von sich übersteigenden heroischen Zielen und barmen wie Zarathustra, die "heutige Jugend" entrate Ihnen? Aber so ist es ja gar nicht - oder nicht ganz. Die vielen jungen Leute, die sich den FunSportarten verschrieben haben oder noch Gewagteres unternehmen - verbotene nächtliche Autorennen, S-Bahn- und Auto-Surfing -, singen unisono alle dasselbe Lied wie die gestandenen Cracks aus der Extremsportszene: Sie wollen der arbeitsteiligen, hochautomatisierten, fremdbestimmten und immobilen Berufsroutine und dem grauen Alltag entkommen, über sich selbst bestimmen, freiwillig etwas tun, vor allem ihren Körper spüren, Gefahren und Schwierigkeiten meistern, ihre Angst überwinden, Spaß haben, "Thrills" empfinden. ActionFilme" und "Thriller" anzusehen, Eishockey- und Fußballspielen nur beizuwohnen (und komme es auch zur Randale), reicht vielen nicht mehr; sie wollen selber aktiv werden, fangen bescheiden an, benutzen die Funsportarten als Trainingsmethode - jeder ein Akrobat - und träumen "von der großen Magie" der körperlichen Omnipotenz, vom kühnen Abenteuer, vom Glück der Einsamkeit und Freiheit des Nur-auf-sich-selbst-Gestellt- und Für-sich-selbstVerantwortlichseins. Es ist also womöglich gerade die - scheinbare - Gefahrlosigkeit unserer westlichen Welt und die Langeweile, die sich in ihren Gesellschaften breitgemacht hat, die immer mehr Menschen dazu bewegen, Gefahren zu provozieren, sich ihnen freiwillig auszusetzen und lustvoll ganz überflüssige Strapazen auf sich zu nehmen. In der "Dritten Welt", die ums Überleben kämpft, kommt kaum einer auf den Gedanken, etwas derart 'Sinnloses' zu betreiben. Auch in Kriegs- und Krisenzeiten hat man für hausgemachte Zusatzgefahren und -strapazen, ja selbst für Neurosen, weder den Nerv noch die Zeit. Aus dieser Perspektive betrachtet wären die Outdoor Activities auf den "Thrilling Fields" also ein Kontrastprogramm und Kompensationsphänomen: Wem es 'zu wohl' ist, begibt sich freiwillig in Gefahr oder schindet sich ab freilich auch: Wer der Probleme in einer komplexen, arbeitsteiligen, fremdbestimmten und anonymen Welt nicht mehr Herr wird, der setzt sich ganz einfache, überschaubare Ziele, die durch Körpereinsatz, Mut, motorische Geschicklichkeit, Training und Ausdauer im Alleingang erreichbar sind. Das Gesetz des Kontrasts und der Kompensation ist indessen nur eine Seite des Phänomens. Aus einem anderen Blickwinkel gesehen folgen unsere extremen Freizeitaktivitäten ja zugleich dem 'Gesetz der Angleichung'. Entsprechen sie nicht auf geradezu lachhafte Weise einer gesellschaftlichen Entwicklung, die seit der frühen Neuzeit im Zuge des Modernisierungsprozesses eine schwindelerregende Dynamik entfaltet, auf Bewegung, Tempo, Beschleunigung gesetzt und sich anheischig gemacht hat, alle Gefahren zu meistern und alle Probleme zu lösen? In seiner Altersphilosophie hat Goethe diese Entwicklung sehr präzise diaund prognostiziert. In Briefen an Nicolovius und den Grafen Reinhard aus dem Jahr 1825 (Goethes Briefe IV, S. 159, 165) verwandte er den Begriff "veloziferisch" (von franz. vélocifère = Eilwagen), wortspielerisch auch: "Die Eile ist Teufelszeug" (velocitas + Luzifer!). Goethe verteufelte jede Art von "Übereilung", sowohl die "des ängstlichen Verstandes, der die Phänomene gerne loswerden möchte" (z.B. in der spekulativen Transzendentalphilosophie), wie die der Lokomotion; nach seiner Auffagsung war für die "mittlere Reisegeschwindigkeit der Seele" schon die Postkutsche fast zu schnell. Der Olympier wetterte gegen alles, was die physischen Fähigkeiten des Menschen vervielfachte: gegen Fernrohre, Dampfschiffe, Eisenbahnen und Schnellpost, und er lehnte auch das Zeitungs(un)wesen ab, die heraufkommende 'Informationsgesellschaft' (vgl. ebd., S. 146, 379).In der geistigen Übereilung und in der Geschwindigkeit und Beschleunigung von Lokomation und Nachrichtenumlauf sah Goethe den Keim des Irrtums und der Zerstörung der (menschlichen) Natur. Wie er dachten die meisten europäischen Geistesgrößen der vormodernen Epochen; Pascal etwa war davon überzeugt, "daß alles Unglück der Menschen einem entstammt, daß sie ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Seite 10 Nur zum persönlichen, unentgeltlichen Gebrauch der Studierenden ! VU Grundlagen der Freizeit- und Tourismussoziologie: Texte zu Theorie und Empirie unfähig sind, in Ruhe in ihren Zimmern zu bleiben" (zit.n. Raeithel 1981, S. 28; dort weitere Beispiele). Goethe und seine Geistesverwandten hatten 'recht', doch ihre Warnungen haben nichts gefruchtet. Im Gegenteil: die weitere Entwicklung Europas und der westlichen Welt wurde in damals unvorstellbarem Maße durch das bestimmt, was Goethe "veloziferisch" nannte, und mündete in die beschleunigte Lokomotions- und Informationsgesellschaft. Um diese Entwicklung zu analysieren und ihr Ergebnis auf den Begriff zu bringen, hat der französische Philosoph Paul Virilio (1980) eine neue Spezialdisziplin, die "Dromologie", und sogar eine neue Herrschaftsform 'erfunden', die "Dromokratie" (von griech. drómos = schneller Lauf, Wettlauf, Wettfahren). Geschwindigkeit wurde zuerst im militärischen Sektor (Truppenbewegung und Logistik), dann im zivilen Transportbereich und schließlich bei der Übertragung und Verarbeitung von Nachrichten und Daten zum wichtigsten Herrschaftsinstrument der Moderne. In diese sozialevolutionäre Dynamik fügen sich der moderne Sport und seine Mutation zum Extremsport aufs Schönste ein: alles, was mit Geschwindigkeit, Beschleunigung und Rekorden, mit Beweglichkeit, Flexibilität und Geschicklichkeit beim Überwinden von Hindernissen zu tun hat. Die extremen Ausdauersportler wirken zwar - dromologisch betrachtet - reichlich bizarr, geradezu atavistisch, doch sie halten immerhin ein dromokratisches Grundgesetz hoch: stets in Bewegung sein. Wie formulierte es der Filmregisseur Werner Herzog? "Bis ans Ende - und dann noch weiter" (Film-Essay von Peter Buchka, BR 1988). Als komplexeres Zwischen-Resümee bietet sich nunmehr an: Der Extremsport und seine jugendliche 'Trainingsvariante', der Fun-Sport, reagieren zwar einerseits auf unbestreitbare Defizite des (Post-)modernen Berufs- und Alltagslebens an Abwechslung, 'Aufregung' und Körpereinsatz, zugleich sind sie aber auch Initiationsriten (für die Jugend) und Vergewisserungsrituale (für verunsicherte Erwachsene), (Ein-)Übungen in Mentalität und Sozialcharakter, wie sie in unserer Gesellschaft von denen erwartet werden, die reüssieren wollen. Wie hat man diese Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet? Zunächst als Leistungs-, Markt- und Ellenbogengesellschaft - die pejorative Sequenz war überaus konsequent! -, dann als "Risikogesellschaft" (Beck 1986), die nun ihre im Fortschrittsoptimismus selbstproduzierten Risiken (!) teils zu bewältigen sucht, teils verdrängt. Schließt der neueste 'Gesellschaftstypus', die postmoderne "Erlebnisgesellschaft" (Schulze 1992), nicht nahtlos an diese Entwicklung an? Reagiert der marktgesteuerte und leistungsorientierte postmoderne "Erlebniswahn" nicht auf die herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen? Tatsächlich rühmt ein hochrangiger Extremsportler wie Heiner Geißler in einschlägigen Fernsehauftritten (z.B. in Boulevard Bio: "Die Lust an der Angst?", ARD 29.11.1994) zunächst einmal den Transfereffekt etwa des Bergsteigens auf Charaktereigenschaften, die man in der beruflichen Auseinandersetzung wirkungsvoll ausspielen kann, und nicht umsonst sind prominente Extremsportler als Vortragsredner und Management-Trainer gefragt. Dies ist die eine Funktion des Extremsports: daß er die Leistungsgesellschaft in 'vorbildlicher' Weise repräsentiert. Doch er kopiert auch ganz offensichtlich die 'Risikogesellschaft'. Nicht genug damit, daß wir unabsehbare und unkontrollierbare gesellschaftliche und ökologische Risiken produzieren: nun drängt es immer mehr Menschen auch persönlich zu riskanten Aktivitäten. Wie ist diese Funktion des Extremsports zu deuten, "die Lust an der Angst" (Boulevard Bio, ARD 24.11.1994) "im Rausch der Sinne" (ZDF 22.6.94), "der letzte Kick", die "Freizeit an der Schmerzgrenze" (SDR 1993), "allein gegen mich" (ZDF 30.11.1994) "hart am Abgrund" (ZDF 11.4.1993), als "Grenzgänger - zwischen Gipfelglück und Absturz ins Nichts" (BR III, 23.9.1994)? Ist das bereits der "Tanz auf dem Vulkan" einer Epoche, die insgeheim vor den globalen Risiken und drohenden Katastrophen schon kapituliert hat - und zugleich das magische Ritual einer je persönlichen Selbstvergewisserung, daß man provozierte Risiken durch Mut, Coolness, Geschicklichkeit, die 'richtige Ausrüstung' und den 'langen Atem' auch meistern kann? ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Bearbeitung: a.Univ.-Prof. Dr. Ingo Mörth, Mag. Christian Steckenbauer Seite 11 Arbeitsskriptum für die Lehrveranstaltung an der Universität Linz Langeweile - sei sie nun saturiert oder durch Arbeitslosigkeit bedingt -, persönliche Chancenlosigkeit, verbreitete Zukunftsängste: die junge Generation reagiert ganz unterschiedlich darauf. Die Passiven durch Apathie und durch Drogensucht (der einzige "Thrill" für den, der sich aufgegeben hat), die Aktiven unter den sozial und psychisch 'Stabilen' zum Beispiel durch Funund Extremsport und die Aktivsten unter den sozial Benachteiligten und/oder psychisch Labilen etwa durch Abgleiten in Vandalismus und Kriminalität oder durch Hinwendung zur rechtsextremen politischen Szene, die in Gotcha- und Wehrsportvereinen, bei paramilitärischen Übungen und beim "Abfackeln" von Ausländerunterkünften ihr 'sportliches' Mütchen kühlt. Überdies ist in meinem Beitrag ja nur von den sportlichen Varianten der "Erlebnisgesellschaft" die Rede; die "thrilling" Outdoor- besitzen ein ebenso vielfältiges und verbreitetes Gegenstück in "thrilling" Indoor Activities: angefangen beim Gambling, auch dies eine - freilich unkontrollierbare - Herausforderung des eigenen Glücks, die sich zur stoff-ungebundenen Sucht auswachsen kann, über den Konsum von Action- und Horrorfilmen, Hardcore Pornos und "Splatter Pictures" (in denen Schädel und Körper zerplatzen), die zugleich dem "Thrill" und - bei Jugendlichen zumal - der Einübung von Angstbewältigung und "Gefühlsmanagement" dienen (vgl. Haubl 1993, S. 24ff.; Grimm 1992), weiter über die unendlichen Video-Varianten des Gotcha Playing in ohrenbetäubenden Spielsalons bis hin zum Computer Hacking und zu den virtuellen, den Realitätssinn verwirrenden Aktivitäten im "Cyberspace" (vgl. dazu den Beitrag von Damaris Stengel in diesem Band). Selbst das - (ver-)öffentlich(t)e - Sexualverhalten, an sich schon "thrilling" genug, nimmt immer extremere Formen an; die Thesen von "Lustverlust" und Beziehungslosigkeit verhalten sich dazu komplementär. Der größte 'Thrill' ist natürlich der, im Zeitalter von Aids - wieder zunehmend - promiskuitiv und ungeschützt zu verkehren. Bemerkenswert auch, daß sich - gerade junge - Angehörige der Sado-Maso-Szene, die noch vor Kurzem nur im Verborgenen blühte, inzwischen ganz offen und unbefangen im Fernsehen präsentieren. Maria von Welser hatte ganz recht, als sie im Aufmacher der Mona-Lisa-Sendung "Selbsterfahrung - grenzenlos? Was ist pervers?" (ZDF 12.3.1995) Szenen vom Drachenfliegen, Roller Skating, Bungee Jumping und Sky Surfing mit SM-Szenen abwechseln ließ und die Sendung wie folgt anmoderierte: "Müssen wir, um noch zu spüren, daß wir leben, unbedingt an elastischen Seilen von Brücken springen, uns mit Ringen und Nadeln verstümmeln und quälen, immer auf der Suche nach diesem ultimativen 'Kick'? Sicher sind wir uns alle einig, daß die Gesellschaft sich immer atemloser dreht." Nun kann man - selbst massenhaft auftretende - Verhaltensweisen nicht so abstrakt und nur der 'Gesellschaft' anlasten, auch wenn sie ihr noch so sehr entsprechen, wir sind die Gesellschaft, das wußte die Moderatorin auch. Deshalb fragte sie die eingeladene Psychologin: "Woher kommen denn die Wünsche ... nach diesem besonderen Kick?" (Antwort: "... letztendlich aus der frühen Kindheit"). Die Frage gewinnt an Gewicht, wenn man bedenkt, daß ein derartiger Lustgewinn untrennbar mit Ängsten verbunden ist (thrill!) - angesichts (lebens-)bedrohender Gefahren und Strapazen, die man seinetwegen auf sich zu nehmen bereit ist. Weshalb also tun Menschen das überhaupt und im einzelnen Fall? ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Seite 12 Nur zum persönlichen, unentgeltlichen Gebrauch der Studierenden ! VU Grundlagen der Freizeit- und Tourismussoziologie: Texte zu Theorie und Empirie Evolutionstheoretische Thesen Eine erste, ganz 'natürliche' Antwort, die tief in die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Spezies greift, ist biologischer Provenienz. Unter allen Arten sei der Mensch als das höchstentwickelte, unspezifischste, dann freilich auch anpassungsfähigste Lebewesen somatopsychisch vorab besonders gefährdet und in der vitalen Sphäre auf vererbte physiologische Notfallfunktionen angewiesen, die sich im Zuge der Evolution gebildet haben. Beim Auftreten von Gefahr etwa werden Hormone und Neurotransmitter freigesetzt, die Prozesse des Stoffwechsels sowie des autonomen und zentralen Nervensystems regulieren, um kurzfristige Höchstleistungen möglich zu machen, sei es beim Kampf oder auf der Flucht. Im Fall extremer Dauerbelastung produziert der Organismus Endorphine, morphinartige Substanzen bzw. körpereigene Opiate, die eine schmerzhemmende und zugleich psychotrope Wirkung entfalten oder gar rauschartige Zustände auslösen können ("Glückshormone"!). Hier setzt nun eine ganz elementare und kühne 'Erklärung' des "Thrill"-Bedürfnisses an. Von der Evolution sei der Mensch nicht als Stubenhocker und Supermarktkunde 'geplant' gewesen, sondern als konkurrierendes und gefährdetes (Wald-)'Tier unter Tieren', mit aussichtsreichen Karrierechancen als Steppenläufer, 'Raubtier' und 'Beute'. Der rezente Mensch, der vergleichsweise bequem und gefahrlos dahinlebt, sei dagegen physiologisch permanent unterfordert und müsse deshalb seine ererbten vitalen Notfallfunktionen, die er noch immer mit sich herumschleppt, gelegentlich aktivieren, schon gar bei hoher Konzentration gewisser Erreger-Stoffe, um sein Aktivationspotential probehalber zu realisieren - vergleichbar einem hochgezüchteten Automobil, dessen Motor von Zeit zu Zeit auf Touren gebracht werden muß, wenn er nicht korrodieren soll. Ein erfreulicher Nebeneffekt stelle sich dadurch ein, daß ein geregelter somatopsychischer "Kick-down" die durch Unterforderung entstandene Langeweile vertreibe oder sogar zu einem rauschhaften 'Glückszustand' führe. Das nährt dann auch den Verdacht, daß die Ausschüttung der Endorphine eine stoffgebundene Sucht erzeuge. Diese Argumentenkette liefert ein biologisches Unterfutter für die historischsozialwissenschaftliche Beobachtung, daß der Mensch bei wachsender äußerer 'Befriedung' dazu neigt, sich bedrohliche oder erregende Situationen komplementär zu schaffen. Das biologische Modell beruht freilich nur auf einer kaum beweisbaren Hypothese, für die es immerhin Anhaltspunkte gibt (s.u.). Mich erinnert sie - fast möchte ich sagen: fatal - an die präfaschistoide Auffassung Gottfried Benns, die er Gertrud Hindemith 1930 brieflich mitgeteilt hat: "Vergessen Sie nie, der menschliche Geist ist als Totschläger entstanden u als ein ungeheures Instrument der Rache, nicht als Phlegma der Demokraten, er galt dem Kampf gegen die Krokodile der Frühmeere u die Schuppentiere in den Höhlen - nicht als Puderquaste! " (Benn 1978, S. 15). Weshalb sollte die - soziokulturell veredelte - Evolution des Menschen nicht 'umdisponieren' können? Doch das nur nebenbei. Recht unwahrscheinlich ist dagegen, die These, daß die in winzigen Dosen freigesetzten Endorphine eine stoffgebundene Sucht auslösen können; wenn und soweit extreme Aktivitäten tatsächlich 'süchtig' machen, ist allenfalls eine stoffungebundene psychische Abhängigkeit anzunehmen. Aber weiter: Durch äußere Gefahren oder Strapazen ausgelöste somatische Notfallfunktionen haben ein psychisches Korrelat in der Angst, und der Mensch ist ja nicht nur Gefahren aus der Umwelt, Körperstress und Realängsten konfrontiert, sondern auch psychischen Belastungen und Konflikten sowie Trieb-, Bestrafungs-, existentiellen und metaphysischen Ängsten, die er zudem antizipiert und für die es keine autonomen Notfallfunktionen gibt. Seine unausweichlichen Ängste sucht der Mensch auf unterschiedliche Weise in den Griff zu bekommen: verhaltensbiologisch gesprochen durch "Bewegungssturm" oder "Totstellreflex", psychologisch formuliert: indem er sich ihnen widerwillig, trotzig oder heroisch 'stellt', sie neurotisch 'agiert', verleugnet oder verdrängt oder aber theologisch und philosophisch legitimiert. "In der Welt habt ihr Angst", stellte Jesus fest und versprach, "aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden" (Joh 16, 33), und der Lebensphilosoph Georg Simmel (1918) tröstet uns mit dem Argument, ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Bearbeitung: a.Univ.-Prof. Dr. Ingo Mörth, Mag. Christian Steckenbauer Seite 13 Arbeitsskriptum für die Lehrveranstaltung an der Universität Linz ohne Todesangst würden wir unser Leben 'bewußtlos verdämmern'; erst sie bringt uns richtig in Trab. Damit erhält die Angst ein paradoxes Doppelgesicht: Als Universalie des (höheren) Lebens, als psychisches Antriebserlebnis und nicht zuletzt als die authentischste Gefühlsregung des Menschen - selten sind wir so sehr mit uns selbst identisch wie im Zustand der Angst - ist sie anthropologisch hoch 'besetzt'. Andererseits wurde sie schon immer und überall sozial abgewertet: Angsthasen und Hasenfüße - vorab des 'starken' Geschlechts - fallen Spott und Verachtung anheim. Kombiniert man die ambivalenten Bewertungen, dann resultiert die externe und im Sozialisationsprozeß internalisierte Erwartungshaltung, mit der Angst aktiv und produktiv umzugehen. Das ist sozialwissenschaftlich-psychologisch gedacht, doch auch dieses Argument wurde verschiedentlich biologisch 'fundiert': durch die Annahme eines Angsttriebs oder gar -instinkts (vgl. dazu Semler 1994, S. 82-88), der nach (relativ) angstfreien Perioden Ängste generiert oder angstauslösende Situationen 'aufsucht', damit sein Träger nicht aus der Übung kommt und Angstbewältigung für den Ernstfall trainieren kann - und sei es im 'Leerlauf', aus "Angst vor der Angst", nach dem Motto: Denn eben, wo die Ängste fehlen, da stellt ein Angstanlaß zur rechten Zeit sich ein. Daß ein Angstinstinkt existiert, halte ich für ganz unwahrscheinlich: wie die Ethologie gezeigt hat, ist die Instinktausstattung des Menschen recht rudimentär und auf wenige, eher reflektorische Mechanismen beschränkt. Auch die Annahme eines Angsttriebs gehört - wie Freuds "Todestrieb" - der Spekulation an. Natürlich gibt es das angstgeschüttelte Leerlaufverhalten, wie es Angstneurotiker zeigen, doch das ist wohl in psychischen Prozessen begründet, etwa der pathogenen Antizipation, wie bei der "klugen Else" im Grimmschen Märchen, die jammernd den frühen Tod ihres ungezeugten Kindes vorwegnimmt. Vergessen wir auch nicht, daß im Normalfall dessen, der wie Grimms Märchenheld "auszieht, das Fürchten zu lernen", sich ganz einfach ein angebotenes Neugierverhalten durchsetzen könnte, wie es schon an höheren Tierarten und auch noch ganz unverstellt an kleinen Kindern zu beobachten ist, die bei der Erkundung des Neuen und Unvertrauten Scheu und Ängste spielerisch überwinden. Das alles erklärt nun freilich noch nicht die markanten interindividuellen Unterschiede im Risikoverhalten; nach dem "ultimativen Kick" sehn(t)en sich ja längst nicht alle, im Gegenteil: es gab und gibt wohl noch immer mehr ängstliche Menschen - auch wenn ihre Zahl heute womöglich sinkt -, für die alle beschriebenen "Kicks" und "Thrills" Horrorvorstellungen sind. Ich spezifiziere deshalb meine dritte Frage: weshalb sind die einen auf etwas lustvoll versessen, was bei anderen nur Unlust und Angst erzeugt, warum tun manche so 'verrückte' Dinge, während andere sie sorgsam vermeiden oder weit von sich weisen? Antworten der Psychologie Zu dieser Frage gibt es drei Haupt-Antwort-Modelle - ein biopsychologisches, ein lerntheoretisches und ein psychoanalytisches Modell -, die sich wechselseitig nicht ausschließen. Für das erste, der Evolutionstheorie verwandt, steht der amerikanische Psychologe Marvin Zuckerman (leicht zugänglich: Zuckerman 1978), der seit den 1960er Jahren das Phänomen der Risikobereitschaft ("sensation seeking") empirisch -untersucht und deren Ausprägung bei Probanden anhand einer Skala von alternativ formulierten Statement-Paaren erfaßt, die folgende Hauptfaktoren abdeckt: (1) Suche nach Aufregung und Abenteuern, (2) Suche nach tiefen Erfahrungen, (3) Enthemmung, (4) Anfälligkeit für Langeweile, und deren Gesamtscore mit der Ausübung bzw. Vermeidung riskanter Aktivitäten hoch korreliert. Aus vergleichenden Untersuchungen von High- und Low-Scorern schließt Zuckerman auf eine biologische Grundlage von 'Reizhunger' respektive -vermeidung. Als ersten Beleg dafür präsentiert er seinen Befund, daß sich eineiige Zwillinge in ihrer (mangelnden) Risikobereitschaft ähnlicher sind als zweieiige (und 'normale' Geschwister). Der Autor hält "sensation seeking" deshalb für ein (bis zu 50-65%) genetisch (mit-)bestimmtes Persönlichkeitsmerkmal. Diese Auffassung sieht er dadurch ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Seite 14 Nur zum persönlichen, unentgeltlichen Gebrauch der Studierenden ! VU Grundlagen der Freizeit- und Tourismussoziologie: Texte zu Theorie und Empirie gestützt, daß sich - verglichen mit Reizvermeidern - bei Reizsuchern eine höhere Konzentration der Neurotransmitter (etwa des Noradrenalins), welche die Erregbarkeit bestimmter Hirnzentren steuern, und ein erhöhter Spiegel beider Sexualhormone nachweisen ließ. Zuckerman fand aber auch psychologische Korrelate des 'Reizhungers': positive Beziehungen zur Intelligenz - wobei Reizsucher aufgrund ihrer Anfälligkeit für Langeweile nicht unbedingt gute Schüler- und Student/inn/en sind; ein kreatives Potential, das indessen häufig nicht umgesetzt wird, weil sich Reizsucher durch ihre hedonistischen Aktivitäten ablenken lassen; keine Beziehungen zwischen 'Reizhunger' und Neurotizismus, wobei dieses Persönlichkeitsmerkmal allerdings verhaltenspsychologisch (Selbstbeschreibung anhand eines Inventars), nicht psychoanalytisch definiert ist; Neigung zu professionell helfenden Berufen (viele Ärzte und Psychologen sind starke Reizsucher). Alles in allem also eine sehr positive Bilanz von 'Reizhunger' und Risikobereitschaft, die uns Zuckermans biopsychologisches Modell da serviert. Zudem wäre beides, Reizsuche und Reizvermeidung in ihren Abstufungen, etwas ganz Natürliches, 'Normales' und somatopsychisch Gesundes: Jeder sucht das Stimulations-, Erregungs- und Aktivierungs-Niveau, auf dem er sich, seiner genetisch mitbestimmten physiologischen Ausstattung gemäß, am wohlsten und leistungskräftigsten fühlt. Ob diese Neigung allerdings einer persönlich und gesellschaftlich produktiven Tätigkeit oder eher dem eigenen Hedonismus zugute kommt, ist eine andere Frage. Kritisch sei zu den Thesen Zuckermans und anderer Autoren vermerkt: (1) die Zwillingsforschung hat sich aufgrund der ideologischen Präokkupation ihrer Protagonisten schon so oft diskreditiert, daß angesichts ihrer Befunde Skepsis angebracht ist - und was (2) die physiologischen Unterschiede zwischen den untersuchten Kontrastgruppen angeht: bei hinreichender Verfeinerung der Meßinstrumente und ab einem bestimmten Stichprobenumfang lassen sich statistische Signifikanzen nahezu beliebig 'erzielen', ohne daß dies etwas über die substantielle Bedeutsamkeit der Ergebnisse aussagen muß (vgl. Hartmann 1970, S. 65). Zuckerman immerhin hält seine These für "ziemlich plausibel", räumt aber ein, daß auch familiäre Verhaltensvorbilder, Lernprozesse, frühe Umwelteinflüsse und kulturelle Faktoren 'Reizhunger' und -vermeidung mitprägen können. Und damit sind wir beim zweiten Erklärungsmodell. Nicht reflex- oder instinktgebundene Verhaltensweisen werden gelernt, im gegebenen Fall nicht nur das körper- wie situationsbezogene und technische Know-how, sondern - so die lerntheoretische These - auch die vorgängige Verhaltensbereitschaft, das Aufsuchen (oder Vermeiden) von Risiken und Strapazen. Beide Lemprozesse erfolgen nach dem Modus der "operanten Konditionierung", des "Lernens am Erfolg", bei dem Verhaltenskonsequenzen 'belohnt' werden. Bei ausschließlicher oder - im Falle eines Appetenz-Aversions-Konflikts ("ich möchte ja gern, doch ich trau' mich nicht") - dominierender Aversion ist "passives Vermeidungslernen" die wahrscheinlichste Folge; gelernt wird dabei, erfolgreich und unauffällig solche Situationen zu meiden, in denen man sich exportieren müßte. Zur 'Belohnung' wird die spezifische Angst Schritt für Schritt abgebaut, weil der Anlaß entfällt. Damit verspielt der Reizvermeider freilich die Chance sich mit seiner Angst auseinanderzusetzen, und handelt sich sofern neben und hinter ihr andere (spezifische oder diffuse) Ängste bestehen - womöglich sogar ein höheres allgemeines Angstniveau ein. Beim "aktiven Vermeidungslernen" wird der Appetenz-Aversions-Konflikt nicht durch die Vermeidung von Reizsituationen gelöst, sondern indem man sich der Situation aussetzt - durch schrittweise Angstreduktion infolge wachsender Kompetenz. Der 'Erfolg' dieses Lemtyps - so wird unterstellt - besteht in der effektiven ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Bearbeitung: a.Univ.-Prof. Dr. Ingo Mörth, Mag. Christian Steckenbauer Seite 15 Arbeitsskriptum für die Lehrveranstaltung an der Universität Linz Bearbeitung nicht nur der jeweils spezifischen, sondern - vermöge des gewonnenen Selbstvertrauens - auch anderer Ängste und einer generellen Senkung der Angstbereitschaft. Der Übergang zum dritten Lerntyp ist fließend. Dominiert, auch im Konfliktfall, die Appetenz, dann folgt in der Regel eine aktive Annäherung an die Situation, die vielfach verstärkt und 'belohnt' wird: wiederum durch Kompetenzsteigerung und Angstreduktion, durch öffentliches Bewundertwerden, zunehmendes Selbstvertrauen und durch rauschhaft-beglückende Erlebnisse und Erfahrungen. Der Psychologe und Fallschirmspringer Gert Semler (1994, S. 110ff.) vergleicht das Erleben während einer riskanten Aktion mit dem, was sein philosophierender Fachkollege Mihaly Csikszentmihalyi (1985; 1993) "Flow" nennt, "das Geheimnis der Glücks"; gemeint ist damit das völlige Einswerden mit einer Tätigkeit, die bruchlose Identität mit sich selbst. Reinhold Messner hat das so formuliert: "Ich bin, was ich tue" (1994, Umschlag). Das gilt wohl für alle Risiko- und für viele Ausdauersportler, im Augenblick der stärksten Konzentration oder solange die Dauerbelastung anhält. Offenbar ist die immer wieder durchlaufene Sequenz: situative Herausforderung - Appetenz - Angst/Aversion - "Angstlust" - völlige Konzentration und Angstfreiheit während der höchsten Gefahr (Semler 1994, S. 156) - Meisterung der Situation - Spannungsabfall - Erleichterung - Stolz - das 'Geheimnis' des "Lernens am Erfolg" durch aktive Annäherung an extreme Situationen. Das Annäherungs- und Vermeidungslernen vollzieht sich nun nicht isoliert, sondern in einem sozialen Raum: dem Lernen am eigenen Erfolg geht in der Regel das soziale oder Modell-Lernen an (erfolgreichen) Vorbildern aus Familie, Peer Group und Profilager voraus. Die Anzahl solcher Modelle und Modellsituationen scheint in unserer Gesellschaft zu wachsen - und zugleich der soziale Druck, ihnen nachzueifern und zu genügen. Für die Individuen brächte das doppelten Gewinn: Lerntheoretisch betrachtet diente es der Angstbewältigung, dem Selbstbewußtsein und Lusterleben, aus gesellschaftlich-funktionalistischer Perspektive der sozialen Angepaßtheit oder gar Evolution. Wer dagegen in einem 'ängstlichen Milieu' aufgewachsen ist, traumatische Erfahrungen gemacht oder sich an den 'falschen' Vorbildern orientiert hat, müßte auf den genannten, individuellen Nutzen verzichten und wäre gesellschaftlich unangepaßt. Das dritte, psychoanalytische Erklärungsmodell extremen (Vermeidungs-) Verhaltens teilt zwar die lerntheoretische Bewertung gravierender Risikoscheu, schätzt aber den Gegentypus ganz anders ein, indem es beide Extremvarianten als psychopathogen qualifiziert. Die erste, prägnanteste und konkreteste Version dieses Modells ist eine Idealtypologie, die Michael Balint (1959) in seinem Buch "Thrills and Regressions" entwickelt hat. In der deutschen Ausgabe dieses Buchs ist der unübersetzbare "Thrill"-Begriff durch das Kompositum "Angstlust" wiedergegeben (vgl. dazu Balint 1960, S. 5f.9 21 Fn. 2), das damit in unseren Sprachgebrauch eingeführt wurde. Balints Typologie hat mich seit ihrer Publikation anhaltend fasziniert, und ich habe sie später auf ganz unterschiedliche außerklinische Fragestellungen angewandt (Hartmann 1978ff.). Gert Raeithel (1981) nutzte sie für seine Analyse der us-amerikanischen "basic personality structure", und andere Autoren entdeckten Parallelen zu Persönlichkeit und Verhaltensweisen 'besessener' Computerbauer und "süchtiger Programmierer" (vgl. den Sammelband von Krafft & Ortmann 1988) - beides in unserem Kontext durchaus relevant. Für meinen Beitrag ist diese Typologie wie geschaffen. In seinem Buch geht Balint von der Beobachtung unterschiedlicher Reaktionsweisen auf schwindelerregende Jahrmarktsvergnügen aus (Schaukeln, Karussell-, Berg-und-TalbahnFahren), später erweitert er dann die Perspektive auch auf andere 'spannungsreiche' Aktivitäten und Situationen: Betreiben unfallträchtigen Sports, Entdeckungs- und Forschungsreisen, kühne wissenschaftliche Experimente, Glücksspiel, Wetten und Börsenspekulation, persönliche Exponierung (Zivilcourage), Verführung unerfahrener Partner/innen. Das alles ist risikoreich: man kann dabei 'draufgehen' oder 'mit heiler Haut davonkommen', 'alles gewinnen oder alles verlieren', Ruhm und Befriedigung ernten oder blamiert und frustriert den Rückzug antreten müssen. Balint nennt Menschen, die sich solchen Situationen freiwillig und lustvoll aussetzen, ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Seite 16 Nur zum persönlichen, unentgeltlichen Gebrauch der Studierenden ! VU Grundlagen der Freizeit- und Tourismussoziologie: Texte zu Theorie und Empirie "Philobaten" (in Analogie zu "Akrobaten" nach griech. batéo=springen, besteigen) - und Menschen, die sie vermeiden und im Ernstfall mit Unbehagen, purer Angst und Suche nach einem festen Halt reagieren, "Oknophile" (von griech. oknéo=sich scheuen, zögern, sich anklammern). Ganz allgemein unterscheiden sich die beiden (Ideal-)Typen in ihrer - so der psychoanalytische Terminus - "Objektbeziehung" zu Menschen und Dingen: Philobaten 'benutzen' beide virtuos, halten sie aber auf Distanz und vermögen sich leicht von ihnen zu trennen, während Oknophile sich an sie 'klammern' und in Abhängigkeit von ihnen geraten. Balint führt diese unterschiedlichen Reaktionsweisen und Beziehungsmuster auf das traumatische Urerlebnis des Verlustes der frühen Mutter-Kind-Symbiose zurück, in der noch eine völlige Einheit von 'Ich', 'Wir' und 'Welt' bestand. Der Erfahrungsschock, daß die Mutter ein von ihm getrenntes "Objekt" ist, das sich von ihm gar entfernen kann, löst - so der Autor - beim Kind den Versuch aus, die verlorene Einheit zurückzugewinnen. Da das unmöglich ist, muß das Kind entweder allmählich ein soziales Realitätsempfinden entwickeln - oder es bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Realität zu verleugnen und in pathogenen Verhaltensweisen sein Heil zu suchen. Im - illusionären - Vertrauen auf das unverbrüchliche Wohlwollen und die Verläßlichkeit von "Objekten" verstärkt die oknophile Strategie das Anklammerungsbemühen und verzichtet auf 'Autonomie', während der 'grenzenlose', aus der Harmonie der frühen Symbiose stammende und nicht minder illusionäre philobatische Optimismus auf Unabhängigkeit setzt, nach der Devise: "Ich hab mein Sach auf nichts gestellt" und "Selbst ist der Mann". Der Philobat verläßt mut-willig die Sicherheitszonen und schweift in die "freundlichen Weiten" ("friendly expanses"), setzt sich Risiken aus, deren "thrills" er genießt, in der Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang und im Vertrauen auf seine eigenen Kompetenzen ("skills") und seine Ausrüstung ("equipment"), die er souverän zu gebrauchen versteht. Für den Oknophilen sind die Weiten abschreckende Gefahrenzonen, "furchterregende Leerräume" ("horrid empty spaces"), in denen es nichts gibt, woran man sich festhalten kann. Spannungsreize erregen in ihm nur Unlust und Angst, er mißtraut dem ungebundenen Glück und den eigenen Fähigkeiten und vermag mit seinem 'Klammerreflex' Hilfsmittel nicht effektiv zu gebrauchen. Nur eins ist den reizvermeidenden oknophilen Bübchen und den reizsuchenden philobatischen Bürschchen (samt ihren jeweiligen Schwestern) gemeinsam: sie ahnen nicht, daß sie - jeder auf seine Weise - verschmähter Liebe Pein verleugnen, ihrer Mutter die Treue halten und durch ihr regressives Risiko- oder Absicherungsbedürfnis den frühen Trennungsschmerz 'agierend' fixieren und - letztlich vergebens - zu bewältigen trachten. Balint zufolge sind solche Extremvarianten der Objektbeziehung "natürlich beide krank, sehr krank sogar" (Balint 1960, S. 15): sie leiden an einem frühen psychischen Trauma, das sich ausdifferenziert, verfestigt und zum Formenkreis der narzißtischen Persönlichkeitsstörung gehört (vgl. zum Philobatismus die Fallstudie von Argelander 1972), während eine gesunde Entwicklung die Integration der beiden Verhaltensstile voraussetzt. Die Psychopathologie solcher 'isolierter Karrieren' kommt im - ohne Bezug auf Balint formulierten - explizit narzißmustheoretischen Ansatz Heinz Kohuts und in seiner Terminologie noch stärker zum Ausdruck. In vergleichbarer Weise unterscheidet Kohut (1974) zwei frühkindlich 'normale' - Reaktionsweisen auf das Trauma der Trennung von Subjekt und primärer sozialer Umgebung, welche - sofern später nicht 'aufgelöst', sondern fixiert - zu Persönlichkeitsstörungen führen: (1) die einer "Selbstfragmentierung" vorbeugende Entfaltung eines kontraphobischen "Größen-Selbst" mit seinen "Allmachtsphantasien" (was annähernd dem Philobatismus korrespondiert) und (2) die Errichtung einer "idealisierten Elternimago" zur Abwehr eigener Macht- und Hilflosigkeit (was der Oknophilie entspricht). Während die Persistenz der Idealisierung primärer Bezugspersonen in die Depression münden kann, schlägt sich ein fixiertes "Größen-Selbst" in manischen Störungen nieder, zu deren Symptomen Kohut beispielsweise auch Flugphantasien (ebd., etwa S. 170f.) sportliche Aktivitäten (etwa S. 166) und riskante Betätigungen (etwa S. 172) zählt. ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Bearbeitung: a.Univ.-Prof. Dr. Ingo Mörth, Mag. Christian Steckenbauer Seite 17 Arbeitsskriptum für die Lehrveranstaltung an der Universität Linz Ein Vergleich der drei skizzierten 'Erklärungsmodelle' - des biologischen, lerntheoretischen und psychoanalytischen Ansatzes - bestätigt zunächst, daß sie sich theoretisch nicht ausschließen, sondern eher ergänzen. Wenn es zutreffen sollte, daß "sensation seeker" - sei es im Risiko- oder extremen Ausdauersport - erhöhte Hormonspiegel und Konzentrationen von Neurotransmittern aufweisen, über ein höheres Aktivationspotential verfügen und deshalb mehr Stimulierung brauchen, dann liegt die Annahme nahe, daß sie - verglichen mit ihrem Kontrasttyp - riskante Verhaltensbereitschaften auch leichter 'erlernen'. Womöglich ist sogar das - genetisch angelegte optimale Erregungsniveau schon so früh ausgeprägt, daß es die Präferenz oknophiler oder philobatischer Strategien als traumatischer Reaktionen mitzubestimmen vermag. Andererseits dürften verschiedene 'Lernprogramme' objektbeziehungs-typologisch gebahnt sein. Und das 'Motiv' für die Reizsuche oder -vermeidung ist in allen drei Modellen im weitesten Sinne die Angst und ihre Bewältigung: im biopsychologischen Ansatz die physiologisch bedingte ängstliche Spannung bei Unter- oder Überforderung, im lerntheoretischen Modell situationsspezifische und diffuse Ängste, im psychoanalytischen Ansatz die durch das frühe Trennungstrauma ausgelöste Angst vor Isolation, "Fragmentierung" und Hilflosigkeit. Bei der Bewertung von Reizsuche und -vermeidung unterscheiden sich die drei Ansätze freilich markant: biopsychologisch betrachtet sind beide Verhaltensbereitschaften quasi physiologisch notwendige Reaktionen, die Lernpsychologie neigt im gegebenen Fall zur Abwertung - zumindest passiver Vermeidungs- und zur Aufwertung von Annäherungsstrategien, während die Psychoanalytiker Balint und Kohut in ihren narzißmustheoretischen Modellen beide Extremvarianten als neurotisch betrachten. Freilich sind selbst extreme Formen von Mut und Durchhaltevermögen sozial derart hochgeschätzt, daß die zugrundeliegende psychische Störung für Laien nicht erkennbar und therapeutisch kaum zugänglich ist. Auf dem Weg in die narzißtische Gesellschaft? Damit ergibt sich der Übergang zur Beantwortung meiner vierten Frage: wie ist das (Massen)Phänomen der Fun- und Extremsportarten gesellschaftlich zu bewerten? Zunächst scheint nichts dagegen zu sprechen, daß jeder versucht, nach seiner physiologischen Façon selig zu werden auch der Risikosucher. Dagegen stocke ich schon, wenn von fun- und extremsportlicher Angstbewältigung oder gar Glückserfahrung die Rede ist. Beide sind den Betreffenden ja herzlich zu gönnen, doch ich frage mich: werden auf diese Weise Ängste wirklich bearbeitet und bewältigt - oder nur in sinnlosem Leerlauf 'agiert' und 'genossen'? Und was die philobatischen Glücks- und Rauschzustände betrifft: werden sie nicht erkauft um den Preis des eigenen Realitätsbewußtseins und der Verleugnung gesellschaftlicher Realität? Wobei mir das wuchtige Wort einfällt, mit dem Sigmund Freud (1960c, S. 434) unser "Unbehagen in der Kultur" begründet: "... die Absicht, daß der Mensch 'glücklich' sei, ist im Plan der 'Schöpfung' nicht enthalten". Illusionslos fügt Freud hinzu: "Was man im strengsten Sinne Glück heißt, entspringt der eher plötzlichen Befriedigung hoch aufgestauter Bedürfnisse und ist seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich. Jede Fortdauer einer vom Lustprinzip ersehnten Situation ergibt nur ein Gefühl von lauem Behagen; wir sind so, eingerichtet, daß wir nur den Kontrast intensiv genießen können..." Haben da aber die Risikosucher nicht ganz recht, wenn sie ihr privates Glück dort suchen, wo der Kontrast zum lauen (Un-)Behagen im Alltag am schärfsten ist: im "Thrill" und im Rausch? Trotzdem wird man - wie angesichts aller Selbst- und Fremdansprüche - auch fragen dürfen: Wird diese Form von Glückserfahrung nach gelungener Angstbewältigung wenigstens persönlich produktiv? Die Betroffenen behaupten das. Ihre Protagonisten schwärmen öffentlich vom Transfereffekt des intimen Umgangs mit Extremsituationen auf ihr privates und berufliches Leben, was ihnen vom staunenden Publikum und schon gar von verunsicherten Führungskräften ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Seite 18 Nur zum persönlichen, unentgeltlichen Gebrauch der Studierenden ! VU Grundlagen der Freizeit- und Tourismussoziologie: Texte zu Theorie und Empirie der Wirtschaft, die nach dem Strohhalm jeder 'Erfolgsmethode' greifen, auch widerspruchslos abgekauft wird. Gewiß ist dem Astronauten Ulf Merbold zuzustimmen, der Alfred Biolek anvertraut hat: "... man muß in seinem Leben versuchen, das Verhältnis zwischen Zugewinn an Erkenntnis oder was auch immer - zum Risiko, das man dafür eingehen muß, zu optimieren ... Wer versucht, im Leben nur immer ein minimales Risiko auf sich zu nehmen, der macht einen kardinalen Fehler. Der müßte ja genaugenommen das ganze Leben lang im Bett liegen bleiben..." (Boulevard Bio: "Die Lust an der Angst?' ARD, 29.1 1. l994). - doch Ulf Merbold riskiert seine Haut immerhin für ein öffentliches Ziel (von dem man im übrigen halten mag, was man will). Damit liegt nun auch die Antwort auf die Frage nach dem gesellschaftlichen Nutzen und evolutionären Vorteil der Risikobereitschaft, an denen der Amerikaner Michael Apter (1994, Kap. 12) immer noch festhält, wortwörtlich 'in der Luft'. Evolutionstheoretisch betrachtet besitzt das Bedürfnis nach "Thrills" heutzutage doch allenfalls in der Raumfahrt, dem letzten grenzüberschreitenden "Up, up, and away", eine Bedeutung - denn die Erde, das Meer und die Atmosphäre sind durch die "Risikogesellschaft" doch schon weitgehend ruiniert. Wenn also die Zukunft des Menschen in den Sternen zu suchen ist: bitte sehr, weiter so! Auf Erden bieten dagegen allenfalls die zivilcouragierten riskanten Einsatzkommandos von Greenpeace und Robin Wood gesellschaftlich eine Chance auf Gewinn und selbst das schreibe ich nur unter Vorbehalt. Neigt Greenpeace nicht immer stärker zu einer "Politik der Symbole" (vgl. Voigt 1989)? Was nützen uns spektakuläre (Einzel-)Erfolge auf symbolisch hochstilisierten Feldern in der Manier von James Bond? Zum Grundgedanken zurück: Allmählich dämmert es mir, daß ich in meinem Beitrag jene antihedonistische und bürgerlich-normative Freizeitauffassung vertrete, die Martin Stengel ironisch gegeißelt hat (s.o. S. 25, 27, 42). Dabei wollte ich gar nicht moralisieren; mein schärfster Selbsteinwand mündet in die rhetorische Frage: Was hat denn die eher oknophile bürgerliche Gesellschaft mit ihrer vertieften Bildung zustande gebracht und - schlimmer noch angerichtet?! Sind wir berechtigt, an unseren Philobaten und Fun Kids herumzunörgeln, die ihr persönliches Glück in Abenteuern und körperlichen Aktionen suchen und dabei - einstweilen noch - niemanden stören? Was mich so bedenklich stimmt, ist weniger die private Glückssuche der vereinzelten Vielen, als der unbestreitbare Umstand, daß sich die Gesellschaft als Ganze dabei immer tiefer in jene "Culture of Narcissism" verstrickt, die Christopher Lasch (1982) in nahezu allen Sektoren für die USA diagnostiziert hat - kein Wunder, denn die westliche 'Führungsmacht' wurde seit den Tagen der "Pilgerväter" durch die Selektion philobatischer Immigranten geprägt (Raeithel 1981) und hat inzwischen ihren in Jahrhunderten entwickelten Sozialcharakter samt den dazugehörenden Lustbarkeiten längst ins ehedem überwiegend oknophile Europa exportiert. Die Philobaten, die wir einst ins "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" entließen, bleiben nun im Lande, nähren - und vermehren - sich redlich. Was wir uns damit eingehandelt haben, ist im doppelten Wortsinn 'unübersehbar': eine wachsende narzißtische Beziehungslosigkeit, (soziale) Kälte und "innere Leere" (Lasch 1982, S. 40ff.) in den Köpfen vieler Gesellschaftsmitglieder, den lärmenden Leerlauf der Freizeitindustrie - nicht nur im Bereich des Extrem- und Fun-Sports -, den sinnlos rotierenden Amüsierbetrieb der "Erlebnisgesellschaft". Diesen "süßen Brei", durch den man sich ins Schlaraffenland durchessen muß, würzen exponierte einsame Wölfe wie Reinhold Messner dann mit ihren scheinbar kontrastierenden, heroischen oder gar quasireligiösen Omnipotenzphantasien (die sich bei vielen Extremsportler/inne/n finden): "Ich definiere für mich den Grenzgänger so, daß er unterwegs ist zwischen Durchkommen und Umkommen. [...] Das Ziel ist das Nichtumkommen. Aber das Spiel, das ich spiele, wäre nicht möglich, wenn die Todesgefahr nicht da wäre ... Eine Expedition, die nicht todesintensiv ist, ist kein Grenzgang: dann ist sie nur ein kleines Spielchen, Kinderspielchen oder was auch immer..." (Nachtclub: "Grenzgänger - zwischen Gipfelglück und Absturz ins Nichts", BR III, 23.9.1994) ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Bearbeitung: a.Univ.-Prof. Dr. Ingo Mörth, Mag. Christian Steckenbauer Seite 19 Arbeitsskriptum für die Lehrveranstaltung an der Universität Linz "Ich selbst hab' ab und zu das Gefühl, daß ich ... an diesen drei-viertausend Meter großen Wänden zeichnen kann ... und zwar nicht nur Linien, gedachte Linien, sondern ich lebe diese Linien. Ich hab' auch das Gefühl, daß nachher diese Linien da sind ... Sie sind da und bleiben für alle Zeiten. [...] Heute stelle ich mir manchmal vor oder wünsch' ich mir, daß ich über Jahrzehnte, ja vielleicht für immer einfach nur weitergehe, ... von einem Himalajatal ins nächste, über Wüsten, über Wälder, ohne irgendwo anzukommen, ohne wieder zurückzuschaun, ... bis die Welt aufhört ... [...] Entweder hört mein Leben auf oder die Welt auf, und vermutlich isses wohl so, dass mit meinem Leben auch die Welt aufhört" ("Gasherbrum - der leuchtende Berg", SDR 1984). Exakt die philobatische Phantasie: Ich und die Welt sind Eins. Und Werner Herzog, der wahlverwandte Regisseur dieses Films, sekundierte: "Das ist seltsam, weil ganz genau dieselbe Vorstellung hab' ich auch. Ich möcht' gerne einen Hund haben, einen Huskie, mit zwei Satteltaschen drauf, aus Leder, und gehn, bis kein Weg mehr übrig ist". Größen-Selbste unter sich, River of no return. Sind auf der Straße ins Nichts nur Messner und Herzog unterwegs - oder insgeheim schon ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft? In einer Hommage von Peter Buchka (BR 1988) an die "ekstatische Welt des Filmemachers Werner Herzog" mit dem Titel "Bis ans Ende - und dann noch weiter", begeisterte sich Herzog daran, "...daß wir eben in eine außergewöhnliche Zeit reingeboren sind, ... die's nur drei-viermal in der Menschheitsgeschichte gibt, nämlich eine heroische Zeit. Mit allen Ingredienzen einer heroischen Zeit, also wo alle Werte, die bisher da waren, nicht mehr gelten, wo alles außer Kraft gesetzt wird, wo riesige Entdeckungen gemacht werden, wo's Katastrophen von unbeschreiblicher Größe gibt..." "Umwertung aller Werte", der Traum "Zarathustras": "Ich sage euch: man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch" (Nietzsche, "Also sprach Zarathustra" 1883, Abschn. 5) - faszinierend und fatal. Natürlich fasziniert das auch mich würde ich mich sonst immer wieder damit befassen? Doch ich versuche, gegen meine Faszination anzuschreiben. Nun wird man einwenden: Herzog, Messner und ihresgleichen sind "rare Vögel", die jeder zwar kennt und viele bewundern, doch keiner ernstnimmt, schon gar nicht die junge Generation. Der sei solcherart heroische Ideologie völlig fremd oder "ganz egal"; auch durften der Fun- und Extremsport nicht in denselben Topf geworfen werden. Der Fun-Sport sei eine Mischung aus Marketing und (post-)moderner Jugendkultur, die Jugend nutze in aller Unschuld und Spontaneität ein - zugegebenermaßen verführerisch-überschäumendes - Angebot, wollle nur ihren Spaß, wisse im übrigen zwischen "Fun" und Ernst durchaus zu unterscheiden, leiste ganz nebenbei soziale Anpassungsarbeit, und irgendwann sei der ganze Spuk ohnehin vorbei. Die grämlichen Bedenken der älteren Generation gegenüber der "heutigen Jugend" kenne man doch seit Olims Zeiten. Ich wollte, die Kritiker hätten recht, aber ich bleibe skeptisch. Meine Kritik richtet sich ja nicht gegen die Jugend, sondern gegen eine Erwachsenenwelt, die ihr als Modell dient - wie die Cracks den Kids und der Extrem- dem Fun-Sport. Die 'Extremisten' reklamieren sogar eine Vorbildfunktion: Auf die Frage: "Ich habe von Ihnen gelesen ... : für Sie war es deprimierend, wie schnell Jugendliche heutzutage aufgeben", antwortete der Extremradfahrer und einstige Jugendpfleger Hubert Schwarz: "Das ist richtig. [...] Und ich möcht' Vorbild sein für viele Menschen, daß die auch sagen, o.k., man muß bei sich anfangen. Ich kann nicht die Welt verändern wollen und von anderen erwarten, was zu machen, ich muß, ich kann bei mir anfangen, das kann ich beeinflussen und da würd' ich gern auch für Jugendliche ein Stück weit ein Vorbild sein." Entsprechend äußerte sich ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Seite 20 Nur zum persönlichen, unentgeltlichen Gebrauch der Studierenden ! VU Grundlagen der Freizeit- und Tourismussoziologie: Texte zu Theorie und Empirie der Speedskifahrer Peter Schaupp: "Das fehlt ... den Jugendlichen heutzutage, daß sie sich ein Ziel vorgeben und das dann erreichen wollen" (DSF offensiv: "Extremsportarten", DSF 6.21993). Weltveränderung durch Extremradfahren? Ein erstrebenswertes Ziel, mit 250 'Sachen' einen Berg runterzubrettern? Oder glauben Schwarz und Schaupp an eine gesellschaftlich nützliche Konvertibilität ihrer zielbezogenen Willenskraft? Einstweilen arbeitet eine hochspezialisierte Sportartikel- und Dienstleistungsindustrie gezielt darauf hin, aus uns ein Volk extremer Freizeit-Aktivist/inn/en zu machen, und im Fun-Sport wird Risikobereitschaft trainiert, deren gesellschaftlich-evolutionärer Nutzen mich immer weniger überzeugt. Ob freilich die genannten Tendenzen zu einer neuen "basic personality structure", zur narzißtischen Philobaten-Gesellschaft führen werden, bleibt abzuwarten; zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit liegt ein weites, offenes Feld. Ich frage mich immerhin, wie sich ein wachsender Teil dieser Jugend der nervösen Unruhe und diffusen Angst in unserer Gesellschaft eigentlich noch entziehen soll, der steigenden, sinnentleerten Bereitschaft zum Risiko, die - wie bei anderen zeitgenössischen Verhaltenstentenzen auch - alle Merkmale einer psychischen Abhängigkeit zeigt (Entzugserscheinungen, Erhöhung der 'Dosis', Reizvariation, Transfereffekte auf die Ausbildung anderer 'Süchte'). Die "Kultur des Narzißmus" wuchert doch allenthalben: in der verbreiteten 'Körperverfallenheit' (vgl. den Beitrag von Handschuh-Heiß, S. 167ff. und den Fernsehfilm der Reihe Zeichen der Zeit: "Aufgegeilt und unbefriedigt. Deutschlands Absturz in die Körperfalle", WDR 1995), bei der Zunahme narzißtischer Persönlichkeitsstörungen, im beruflichen, Freizeit-, sozialen und politischen Sektor. Wenn dieser gesellschaftliche Trend sich fortschreibt oder gar potenziert und sich mit der vom Bremer Informatiker Klaus Haefner zustimmend prognostizierten sozialevolutionären Entwicklung zur "Homuter-Society" trifft (vgl. Der Spiegel Nr. 10, 1987, S. 92), marschieren wir stracks in den narzißtischen Super-GAU unserer Gesellschaft, deren "Größen-Selbste" dann zwischen den verwüsteten "freundlichen Weiten" und virtuellen Hyperräumen hin- und herpendeln werden. Spätestens dann wird es heißen: "Jeder für sich und Gott gegen alle", (Titel des Kaspar-Hauser-Films von Werner Herzog, 1974). Text entnommen aus: Hartmann, Hans A., & Rolf Haubl (Hg.): Freizeit in der Erlebnisgesellschaft. Amüsement zwischen Selbstverwirklichung und Kommerz, Opladen 1996: Westdt. Verlag ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Bearbeitung: a.Univ.-Prof. Dr. Ingo Mörth, Mag. Christian Steckenbauer Seite 21