Die soziale Organisation des Tourismus

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VU Grundlagen der Freizeit- und Tourismussoziologie: Texte zu Theorie und Empirie
The Thrilling Fields oder:
"Bis ans Ende - und dann noch weiter": Über extreme Outdoor Activities
Hans Albrecht Hartmann
Um die Abendnachrichten zu hören, schalte ich den Fernsehapparat ein. Die Mattscheibe hellt
sich flimmernd auf.
Totale:
Eine weitgewölbte Brücke überspannt eine tiefe Schlucht.
Halbtotale:
Auf dem schmalen Brückengeländer steht ein Mann mittleren Alters im Straßenanzug und blickt
besorgt in die Tiefe. Dann 'schluckt' er ein paar Mal.
Sonore männliche Stimme aus dem Off:
"Dieser Mann hat heute die Abrechnung für sein neues Girokonto bekommen. Dabei hat er
festgestellt, ... <währenddessen springt er in die Tiefe> ... dass er jetzt jährlich bis zu 300 Mark
Kontokosten spart".
Totale:
Inzwischen zappelt der Mann an einem Gummiseil auf und nieder.
Stimme aus dem Off:
"Davon hat er sich einen Traum erfüllt."
Forsche Werbestimme:
"Postbank. Schließlich ist es Ihr Geld."
Haben die Werbefilmer endgültig abgehoben? Oder spielt die Postbank verrückt? Beides ist
nicht zu befürchten. Endlich lässt eine Bank mal die Katze aus dem Sack und demonstriert, dass
es Finanzjongleuren - auch das ist im gegebenen Kontext ein sehr verräterischer Begriff! - nicht
nur um Sicherheit(en), sondern auch um mehr oder minder kalkulierte Risiken geht. Und
Werbedesigner tragen, wie niemand sonst, ihre Nasen im Wind und wissen, was und worauf es
ankommt. Mit hübschen Mädchen allein ist heute niemand mehr zu becircen und nur
psychologische Laien mögen sich wundern, womit da manchmal wofür geworben wird: mit
Rennsport aller Art, Fliegen, Bergsteigen, Eiskraxeln, Akrobatik zum' Beispiel für ein scheinbar
so nüchtern-technisches Produkt wie Computer-Software (nicht von ungefähr - vgl. dazu Krafft
& Ortmann 1988). Und während es früher reichte, dass ein Großvater für das Tonicum
"Doppelherz" ein paar Klimmzüge machte, muss er heute Motorrad fahren oder mit einem
Gleitschirm landen: "Ich bin sechzig, aber ich habe die Kraft der zwei Herzen".
Wir sind ins Zeitalter der extremen (Freizeit-)Outdoor Activities eingetreten und schwärmen aus
in die Thrilling Fields; was ich darunter verstehe, enumeriert der folgende Kasten, ohne
Anspruch auf Vollständigkeit.
Car-Racing, Motor-Cycle Racing, Speed-Boat Racing, Flying, Gliding, Kite Gliding,
Paragliding, Parachuting, Sky Surfing, Base Jumping, Yacht Racing, Surf Riding, River
Rafting, River Boogie, Deep-Sea Diving, Spelinauting, Ski Racing, Extreme Skiing, Speed
Skiing, Trick Skiing, Bob Sleighing, Snow Boarding, Free Climbing , Solo Climbing,
Jogging, Fell Running, Running, (long distance) Bicycle Riding, (long distance) Swimming,
Triathloning, Survival Training, Trekking, Roller Boarding, Snake Boarding, Roller Skating,
Inline Skating, Mountain Biking, BMXing, Roller Coaster Riding, Bungee Jumping, House
Running, Body Flying, Train Surfing, Car Surfing, Break Dancing, Graffiti Spraying, Gotcha
Playing.
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Ich habe mir die kleine Bosheit erlaubt, diese 48 (frei-)zeitgenössischen Aktivitäten mit
entnervender Pedanterie und unter ihren notorisch neudeutschen Denominationen aufzulisten beides natürlich mit Hintergedanken. Im Sinne von Marshall McLuhans "The Medium is the
Message" wollte ich anhand dieser 'endlosen' beredt-lakonischen Liste bereits etwas von der
Fülle, Vielgestaltigkeit, Ubiquität, Verbreitung, aber auch von der Bizarrerie und vom 'inneren
Leerlauf' des Phänomens vermitteln, um das es hier geht. Und die englische genauer usamerikanische - Terminologie leistet gleich dreierlei: in ihrer prägnanten Simplizität, einer
Mischung aus Marketing- und Reporter-Slang, spitzt sie (1) die Litanei parodistisch zu und
enthüllt ihre komischen Züge, wirft (2) ein Spotlight auf die Internationalität unseres
Gegenstands (Amerikanisierung inklusive) und nimmt (3) implizit schon vorweg, daß die - auch
freizeitbestimmende - Mentalität, von der hier die Rede sein soll, in den USA (seit den Tagen der
Mayflower) besonders geballt auftritt und dort ihre schönsten Blüten treibt (Raeithel 1981;
Hartmann 1985).
'Eingeweihten' oder assoziationsbereiten und einfallsreichen Leser/inne/n mag spontan
eingeleuchtet haben, daß und weshalb die genannten Aktivitäten 'irgendwie zusammengehören';
anderen dürfte das fraglich und die Liste recht heterogen erscheinen. Das ist sie auch - und doch
behaupte ich (gar nicht eimal so) 'geheime' Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den
aneinandergereihten Aktivitäten. Zunächst ist offenzulegen, wie diese Liste zustande kam.
Vorausschicken muß ich, daß mich das Grundphänomen und vor allem ein theoretischer Ansatz
(Balint 1960), der womöglich dazu beitragen kann, es 'aufzuklären', seit nunmehr 35 Jahren
ungemein faszinieren. Ich näherte mich dem Phänomen, über das ich bereits in ganz
unterschiedlichen Kontexten nachgedacht habe, also durchaus mit Sympathie und keineswegs
nur in kulturkritischer Absicht. Dergestalt thematisch und theoretisch programmiert betreibe ich
seit 1992 ein zielbezogenes Channel Surfing auf allen mir erreichbaren TV-Kanälen und habe
inzwischen Dutzende einschlägiger Sendungen aufgezeichnet, was zunächst einmal heißt: für das
prominenteste Massenmedium, das mir als wichtigste Datenquelle diente, war und ist das Thema
aktuell und interessant. Kein Sender, der sich nicht regelmäßig in fasziniert-enthusiastischen
und/oder skeptisch-kritischen Features mit diesen und jenen Thrilling Fields befaßt und extreme
Outdoor-Aktivist/inn/en jeglicher Provenienz zu seinen etablierten Talkshows und
Diskussionsrunden eingeladen hätte - kein Wunder auch: Das Thema ist im doppelten Wortsinn
spektakulär, und seine Protagonist/inn/en kommen gut an. Wer und was nun alles - in
wechselnden personellen und sachlichen Kombinationen - in diesen Sendungen zur Sprache
kam, ist in meine Liste eingegangen - oder anders gewendet: jedes 'Item' trat irgendwann einmal
gemeinsam mit den (meisten) anderen auf. Die Zusammenstellung gibt also nicht nur meine
Sicht wieder, sondern auch die der TV-Redakteure und Filmemacher.
Da nicht vorausgesetzt werden kann, daß alle Outdoor Activities hinreichend bekannt und
Fernstehenden geläufig sind, muß die Liste zunächst erläutert und schließlich durch einige TopItems vervollständigt werden. Ersichtlich handelt es sich ganz überwiegend um sportliche
Aktivitäten, um Motorsport zu Lande, zu Wasser und in der Luft, um weitere Luft- und
Wassersportarten, Wintersport, Bergsteigen, Laufen, Radfahren, Schwimmen und deren
Kombination im neumodischen Triathlon, um sportlichen Abenteuerurlaub (Survival Training,
Trekking) und schließlich um verschiedene Formen und Varianten von "Fun"-Sport, ergänzt um
einige eher subkulturelle Aktivitäten, deren Sportlichkeit dahinstehen mag. Die 'klassischen'
unter den genannten Sportarten haben sich zwar seit Beginn unseres Jahrhunderts entwickelt,
doch inzwischen weisen Erscheinungsbild und Prognose zwei markante Tendenzen auf.
Extremisierung und massenweise Verbreitung, zumindest massenhafte Faszinationskraft. Vor
aller tieferen Ursachenforschung will bedacht sein, daß dafür zunächst gesellschaftliche
Oberflächen-Phänomene (mit-)verantwortlich sind. Zum einen hat sich während der letzten
Jahrzehnte die freie Zeit für Freizeitaktivitäten derartig ausgedehnt, daß alle Sparten davon
profitieren, wenn auch der Sport wohl am meisten, und gestiegene Masseneinkommen haben
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elitäre Sportarten auch für die Massen geöffnet.Sportartikel- und Sportbekleidungsindustrie,
Ausbildungs-, Trainings- und Veranstaltungsanbieter, kommerzielle Vermarkter und
Massenmedien, das Fernsehen vorneweg, heizen die Sportbegeisterung der Massen nach Kräften
an. Der Sport ist ein Riesengeschäft, in sein Sponsoring und die um sich greifenden
Übertragungen bedeutender Wettkämpfe im TV fließen Milliardensummen.
Die Veranstalter und Nutznießer von Sportereignissen sind an immer extremeren Leistungen und
- spektakuläreren Präsentationen interessiert, was am Beispiel des Rennsports, vor allem des
Motor- und Skisports, besonders erkennbar wird; der Gefahrenzuwachs in vielen Sportarten ist
die eine, das Dopingproblem die andere Folge dieser Entwicklung. Wenn bei unserer
Fragestellung die gnadenlose Vermarktung des Sports mithin nicht vernachlässigt werden darf,
so ist doch zugleich zu bedenken: diese Spirale liefe ins Leere, wenn sich nicht immer mehr
Aktivist/inn/en fänden, die für Extremisierung des Sports auch zu haben sind, und wenn das die
Massen nicht faszinierte.
Vom Phänomen nochmals zu den Phänomenen; da ist wohl noch manches erklärungsbedürftig.
Aus Raumgründen muß ich auf eine narrativ-ironische Präsentation der extremen Outdoor
Activities leider verzichten und mich auf dürre Fakten beschränken, wobei ich die 'traditionellen'
Varianten beiseite lasse.
Risikosportarten
Kite-/Paragliding: Drachensegeln / Gleitschirmfliegen;
Parachuting: Fallschirmspringen;
Sky Surfing: Sprung aus dem Flugzeug mit einem an die Füße geschnallten Surf-Brett, Salti und
seitliches Figuren-Beschreiben im freien Fall, Landung am Fall- oder Gleitschirm;
Base Jumping: Absprung von (bis zu l000 m) hohen senkrechten Felsmassiven (oder auch
Skyscrapern), wiederum freier Fall und Landung am Schirm;
River Rafting/River Boogie: Wildwasserfahren (bevorzugt durch Canyon-Schluchten) im
Schlauchboot / mit einem Gummikissen unter dem Bauch;
Spelinauting: Höhlentauchen (von griech. spélaion, lat. spelaeum = Höhle, Grotte);
Extreme Skiing: Steilwandabfahrten; 'verrücktestes' Beispiel (von Hans Kammerlander und
Diego Vellig): auf einer 60 Grad steilen Route vom 8125 in hohen Nanga Parbat hinunter;
Speed Skiing: Geradeaus-Abfahrtslauf, bei dem über 200 km/h erreicht und rund 250 für möglich
gehalten werden;
Trick Skiing: (Schrauben-)Salti-Springen
eingesprungenen Figuren;
über
Schanzen,
Buckelpisten-Lauf
Free-/Solo Climbing: 'elegantes' Extremklettern bei Verwendung möglichst
Sicherungshaken / Alleinklettern unter extremen Bedingungen, zumeist ohne Seil.
mit
weniger
Extreme Ausdauersportarten
Triathlon: 3,8 km Schwimmen (= Breite einer Bucht von Hawaii, an der Captain Cook einst
gelandet war und wo drei us-amerikanische Marinesoldaten den "Ironman" erfanden), 180 km
Radfahren (eine durchschnittliche Etappe der 'Tour de France"), 42,2 km Laufen (die
Marathonstrecke) - alles am Stück natürlich und in 8 Stunden gut zu schaffen; 4fächer "Ironman"
in 2 ½ Tagen, ohne zu schlafen, 10facher in rund 50 Tagen - bei gelegentlich 1-2 Stunden Schlaf,
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Bicycle Riding: z.B. 600 km bei 30 Grad Kälte durch die Eiswüste Alaskas radeln, in 52
Stunden, ohne zu schlafen; oder: non-stop 5000 km quer durch die USA (Rekord: 8 1/2Tage),
am besten gleich rund um Australien in 50 Tagen (15500 km);
Swimming: dreimal hintereinander durch den Ärmelkanal schwimmen (120 km), in 10 Tagen
von Korsika nach Sardinien (wie der 42jährige Franzose Guy Delange) oder - wie vom selben
Schwimmer geplant - in 3 Monaten von Westafrika in die Karibik;
Survival Training: 'Überlebenstraining' mit minimalen Ressourcen in 'wilden' Gegenden, etwa
der Hochvogesen;
Trekking: Hochgebirgstouren, bevorzugt im Himalaja; neuerdings Canyon-Trekking.
Im Unterschied zu den Höchstleistungen im Triathlon, Radfahren und Schwimmen steht das
Survival Training für jedermann offen und wird vor allem von jungen Leuten (Doppelpunkt
Reportage: "Allein gegen mich", ZDF 1994) und Managern nachgefragt (Die Reportage: "Aus
der Chefetage in die Wildnis", ZDF 1994), die tage- und wochenlang in der 'Wildnis' völlig
unterversorgt und bei etlichen Kältegraden das Klettern, Abseilen, über Schluchten, Hangeln und
sich Orientieren, Tiere und Fische erlegen, Feuermachen durch Hölzchenquirlen und Schlafen im
Freien trainieren. In diese Sparte gehört auch die "Lust auf Stress" im "Wahnsinn < Erlebnisund Abenteuer-> Urlaub" (Der Spiegel Nr. 29 vom 18.7.94, S. 72-90). Das Trekking erfreut sich
inzwischen solchen Zuspruchs, daß ökologische Schäden die Folge sind. Auch hierzulande
protestieren Naturschützer gegen Extrem- und Fun-Sportarten wie wildes Klettern,
Drachensegeln, Gleitschirmfliegen und Mountain Biking, deren Gefahren für das Ökosystem
von den Sportfreaks, an ihrer Spitze der 'Querdenker' Heiner Geißler, freilich heruntergespielt
werden (Ulrich Meyer: Einspruch - "Extremsport", SAT 1 am 5.7.1994).
In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß sich das Trekking im Himalaja den
spektakulären Expeditionen des Südtirolers Reinhold Messner und anderer Abenteurer verdankt.
Dieses 'Item' fehlt noch in meiner Ausgangsliste und sei deshalb nachgetragen. Messner hat nicht
nur binnen 10 Jahren alle 14 Achttausender bestiegen (einer seiner Brüder verunglückte tödlich;
"Freunde sind erfroren, an Erschöpfung gestorben", Messner 1994, S. 11), er hat auch als erster
den Mount Everest im Alleingang und ohne Sauerstoffgerät bezwungen (heute steht der
Tagesrekord bei 32 Besteigern!), zusammen mit seinem Landsmann Hans Kammerlander die
Gipfel des Gasherbrum I und II in einem Zuge erstiegen, nur mit einem geschulterten Rucksack
(Film von Werner Herzog: "Gasherbrum - der leuchtende ]Berg" 1984), die Wüste Takla Makan,
die Antarktis und Grönland durchquert und ist 1995, gemeinsam mit seinem Bruder Hubert,
beim Versuch der Überquerung des Nordpols erstmals gescheitert - das alles auf demonstrative
Weise, unter harten Strapazen und strenger Beachtung eines perfekten Marketing. Natürlich ist
Reinhold Messner eine seltene Ausnahmeerscheinung, doch aufgrund seiner wortgewaltigen
(Medien-)Omnipräsenz und verführerischen Lebensphilosophie, von der noch zu reden sein
wird, ist er zu einem Inbegriff modernen Heroentums und zur Galionsfigur eines geradezu
existentialistischen Extremsports geworden.
Zumindest Berührungspunkte mit Messners Expeditionen besitzen spektakuläre berufliche
Aktionen, etwa von Kriegsberichterstattern, die sich immer kühner zwischen den Fronten
bewegen, und den "Médecins sans Frontieres" ("Ärzte ohne Grenzen"), die in Kriegs- und
Krisengebieten Verwundete und Kranke versorgen - so sahen es jedenfalls "Mona Lisa" ("Frauen
extrem", ZDF 27.11.1994) und der "Nachtclub" des Bayerischen Fernsehens ("Grenzgänger
Zwischen Gipfelglück und Absturz ins Nichts", BR III 23.9.1994). Auch die politisch
motivierten Aktionen von Greenpeace und Robin Wood, die eine betont sportliche, oft geradezu
abenteuerliche Note aufweisen (z.B. "Brent Spar", Mururoa-Atoll), und die Demonstrationen
zivilen Ungehorsams etwa von Sitzblockierern gehören im weiteren Sinne in diesen
Zusammenhang. Ich möchte die humanitären, ökologischen und politischen Motive der Actricen
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und Akteure gewiß nicht diskreditieren, doch das Erleben - um nicht zu sagen: der Genuß - von
"Thrill" spielt auch bei den genannten Aktionen eine nicht unbedeutende Rolle.
Um scheinbar ganz andere extreme (Freizeit-)Aktivitäten - und nun wirklich als
Massenphänomen - geht es bei den "Fun-Sportarten", über die das ZDF in vier 1 1/2-stündigen
Samstagnachmittag-Ausstrahlungen ein breites Publikum informierte (23.7.-13.8.1994). Der 30Sekunden-Introitus dieser Sendungen war folgendermaßen gestaltet:
Zu stark rhythmisierter Musik blinkten sukzessiv und ganz kurz Begriffe auf: gehorsamkeit sauberkeit - fleissigkeit - sparsamkeit - auf ewigkeit? (Eine Infragestellung von
Sekundärtugenden also). Dahinter eingeblendet wurden die Himmelsrichtungen: west - east north - south. Vor dem Zusammenschnitt von Fun-Sportarten erschien dann die Inschrift
"West FUN CITY" und in schnellen Einblendungen die Sequenz: mut - speed - frei - power thrill - spass (offenbar die neuen Tugenden, die an die Stelle der 'überholten' treten). Der
nächste Takt zeigte im Zentrum einer nach außen wirbelnden Spirale das Logo "x-treme",
darunter die Zeile FUN SPORT TOUR '94 und schließlich ein Emblem mit Hochhäusern und
der Aufschrift West FUN * CITY. Dann erfaßte die Live-Kamera einen jugendlichen
Moderator, der "Herzlich willkommen!" rief, seine Arme ausbreitete und einen
durchdringenden Lustschrei ertönen ließ.
Jugendgemäß moderiert von vier bildhübschen schicken Twens beiderlei Geschlechts, die ein
lupenreines Hochdeutsch in atemberaubenden Tempo sprachen, vermischt mit überdehnten
Comic-Interjektionen (wooow!), wetteiferten in diesen Sendungen Kids und Teenies aus
Hannover, München, Dresden und Frankfurt am Main jeweils im Zwei-Städte-Kampf in den
Funsportarten miteinander. Eingeleitet wurde jeder einzelne Wettkampf durch Interviews mit
älteren Cracks dieser Sportart, deren 'Vorbildfunktion' auf diese Weise zum Ausdruck kam.
Neben Showeinlagen von Rockbands und Sumo-Ringern in aufgeblasenen Gummianzügen
sowie Street-Ball-Spielen ging es dabei um die Fun-Sportarten, die in meiner Liste enthalten sind
und die Millionen von Kids und Jugendlichen in der ganzen westlichen Welt betreiben.
Fun-Sportarten
Roller-/Inline Skating bzw. Roller-/Snake Boarding: Schnell-, Slalom- und Hindernislauf auf
unterschiedlich konstruierten Rollschuhen/-brettern (weitere Möglichkeit: Luft-Figuren-Springen
über U-förmigen Schwungrampen);
Mountain Biking/BMXing: in den Sendungen Hindernisfahren und Akrobatik (ursprünglich und
in der Regel Berg- und Querfeldeinfahren) auf Spezialrädern;
Bungee Jumping: Sprung von einem hohen Kran (sonst auch von einer Brücke, aus einer
Seilbahn- oder von einem 130m hohen Fernsehturm) an elastischen Gummiseilen;
House Running: möglichst schnelles 'Hinunterrennen' von hohen Häusern, angeseilt, die Füße
gegen die Fassade gestemmt und das Gesicht zur Straße gekehrt;
Body Flying: bis zu 20 m hoch auf einem 200 km/h starken Luftstrom von 2,5 m Durchmesser
'schweben'; Könner springen von oben in den Luftstrom hinein;
Free Climbing: in der Sendung am Kunstfelsen.
Von den Funsportarten ergeben sich fließende Übergänge zu lebensgefährlichen und deshalb
verbotenen 'Freizeitvergnügen' wie dem Train- und Car Surfing (Erklettern der Flanken und
Dächer von S-Bahnen und Autos während hoher Geschwindigkeit) und privaten Autorennen auf
nächtlichen Straßen und Autobahnen. Eine Restkategorie bilden das Roller Coaster Riding auf
gigantischen Berg-und-Tal-Bahnen mit extremer Fall- und Querbeschleunigung (Extremvariante:
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'touristisches' Absolvieren eines vollen Kampf-Jet-Programms) und eine Reihe subkultureller
Aktivitäten, die wie die meisten anderen aus den Staaten stammen:
Break Dancing: rauschhaft-akrobatischer Solotanz aus den Slums;
Graffiti Spraying: verbotenes Besprühen von Wänden und U- oder S-Bahn-Zügen (bei JugendGangs und in der 'linken Anarcho-Szene' beliebt);
Gotcha Playing: von gotcha = (ich) hab' dich, paramilitärischer Gruppenwettkampf am Rande
der 'rechten Schiene', wechselseitiges 'Abschießen' mit bis zu 400 km/h schnellen
Farbmarkierungskugeln aus 'Maschinenpistolen'.
Überblickt man das Ensemble der extremen Outdoor Activities, so läßt sich wohl ohne
Übertreibung behaupten, daß in westlichen Ländern ein großer und ständig wachsender
Bevölkerungsanteil - von den Kids bis hin zu den 'reiferen' Jahrgängen - die eine und/oder
andere Spielart mit Hingabe betreibt, überwiegend in der Freizeit, teilweise aber auch
(semi)professionell.
Gegen meine ausholende Vereinnahmungstendenz läßt sich allerdings einwenden: Bestehen
zwischen den drei Klassen der von mir beschriebenen Aktivitäten nicht gravierende
Unterschiede? Ist der Fun-Sport nicht bloß ein kommerziell angeheiztes Jugendkulturelles
Massenphänomen, bei dem ein anstrengungsloses Vergnügen dominiert, das in der Regel bald
verfliegt oder zugunsten eines anderen aufgegeben wird? Handelt es sich bei den subkulturellen
(Risiko-)Aktivitäten nicht um abweichende Verhaltensformen jugendlicher Randgruppen, die für
'die Jugend' atypisch sind? Und geht es beim extremen Risiko- und Ausdauersport nicht um
sportliche Höchstleistungen weniger 'Heroen', die sich einem asketischen Leben verschrieben
haben? Ich verkenne solche, alters-, schicht- und wohl auch persönlichkeitsspezifischen
Unterschiede zwar nicht, behalte meine These, daß es sich in allen drei Fällen um Varianten
desselben Grundphänomens handelt, aber dennoch aus folgenden Gründen bei: die Betätigungen
besitzen (1) im "Thrill" oder "Kick" und im Bedürfnis nach "Grenzüberschreitüng" eine
vergleichbare Motivationsbasis, verzeichnen (2) wachsenden Zulauf, (3) beträchtliche
Reizvariation und Innovationsschübe sowie (4) steigende Schwierigkeits- und
Perfektionsstandards, und (5) werden bestimmte Spielarten des Fun - und -Extremsports durch
Angebotsstrategien der Industrie, des Handels und der Tourismusbranche immer stärker
miteinander verzahnt: Man denke etwa an das Schnupper-'Package' von Klettern, Tauchen, River
Rafting, Canyon Trekking, Paragliding und Mountain Biking bei "Online Tours" für junge Leute
mitten durch 'wildes' Gelände (z.B. Abenteuerclub Salzkammergut). Zumindest den Anbietern
scheint ein 'Karrieremodell' - vom Fun- zum Extremsport - vorzuschweben und
erfolgversprechend zu sein. Ich behandle deshalb im Folgenden das Phänomen des 'Thrill"Bedürfnisses und der Risikobereitschaft ganz allgemein und überlasse es den kritischen
Leser/inne/n, das Tertium comparationis zwischen Fun- und Extremsport jeweils selbst zu
bestimmen - oder zu vermissen.
Bevor ich mich mit den Voraussetzungen und Konsequenzen dieser Diagnose befasse, sind die
gemeinsamen und spezifischen Faktoren herauszuarbeiten, welche die beschriebenen Aktivitäten
verbinden und unterteilen. Mindestens elf solcher Faktoren unterschiedlicher Allgemeinheit bzw.
Spezifität lassen sich 'extrahieren', die in wechselnder Kombination und variablem Ausmaß die
einzelnen Tätigkeiten bestimmen.
 Körperbetonung, Exponierung des eigenen Körpers;
 körperliche Fitness, Körperbeherrschung, Geschicklichkeit, 'Technik' als Voraussetzung;
 motorische Bedürfnisse, Bewegungsdrang, Mobilität;
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 Bedürfnis nach Geschwindigkeit und (Quer-)Beschleunigung;
 Aufsuchen von Tiefen- und/oder Drehschwindel;
 Aufsuchen körperlicher und/oder seelischer Belastungen, teilweise über längere Zeit mit
extremen Anforderungen an Dauerleistungsfähigkeit;
 Aufsuchen von Risiken und Gefahren - vom einfachen Verletzungsrisiko bis hin zur akuten
Todesgefahr;
 Aufsuchen von unterschiedlich getönten Erregungszuständen: "Fun", Hochgefühl, Angst,
Nervenkitzel, Thrill, "Angstlust";
 Aufsuchen von 'Trance'- und 'Rausch'-Zuständen;
 Voraussetzung und Herausforderung bestimmter Charaktereigenschaften: Mut, Wagemut,
Tollkühnheit, Nervenstärke, Gelassenheit, Coolness, Diszipliniertheit, Umsicht,
Konzentrationsfähigkeit, Geistesgegenwart, Flexibilität, Durchhaltevermögen ...
 Implikation des Steigerungsmotivs: höher, tiefer, schneller, weiter, länger, strapaziöser,
spektakulärer, tollkühner, eleganter, perfekter ..., Bedürfnis nach Überschreitung
persönlicher und absoluter Grenzen (wovon fast alle Extrem- und Funsportler sprechen),
zwischen Rekordleistungen und Vorstoß in völlig neue Leistungsdimensionen ('das
Unmögliche möglich machen').
Einige dieser Faktoren ließen sich weiter aufspalten. Ich möchte hier freilich das Gegenteil tun:
versuchen, sie zu gruppieren. Im gegebenen Kontext sind die drei ersten Faktoren von sehr
allgemeiner Art: durch Körperbetonung, Körperbeherrschung oder doch eine gewisse Fitness
und durch Bewegungsdrang respektive Mobilität sind alle behandelten Aktivitäten wesentlich
mitbestimmt - kein Wunder angesichts ihrer starken sportlichen Komponente. Für den
präsentierten 'Datensatz' stellen diese Faktoren also eine Art körperbezogener 'Generalfaktoren'
da, die ihr psychisches Gegenstück in den letzten vier Faktoren besitzen: Erregungs- oder gar
Trance- und Rauschzustände sind gleichfalls bei den meisten der genannten Betätigungen
möglich, auch (unterschiedliche) Charakterzüge sind jeweils gefragt, und das Steigerungsmotiv
ist überall impliziert.
Von den somatischen und psychischen 'Generalfaktoren' abzugrenzen sind die spezifischen
Faktoren, welche die einzelnen Aktivitäten als (lebens-)gefährlich oder als Ausdauerleistung
oder als spielerisch-akrobatisch bestimmen.
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Fragen an Geschichte und Gesellschaft
Soweit also die Phänomenologie der Thrilling Fields und mein Versuch, die beschriebenen
extremen Outdoor Activities ein wenig zu strukturieren. Gehen wir über zur Theorie. Es stellen
sich nun vier sozialwissenschaftlich-psychologische Fragen, die ich im folgenden diskutieren
möchte:
1.
Ist das behandelte Grundphänomen etwas Neues - oder gab es dergleichen schon früher?
2.
Wenn und soweit dieses Phänomen 'neu' sein sollte: wie ist sein (Wieder)Auftreten in
unseren (westlichen) Gesellschaften zu erklären?
3.
Weshalb widmen sich bestimmte Menschen solchen extremen Aktivitäten und andere nicht gegebenenfalls damals wie heute?
4.
Wie ist dieses (Massen-)Phänomen gesellschaftlich zu bewerten?
Die erste Frage ist zunächst einmal so zu beantworten: Das "Leben ... [war] immer
lebensgefährlich" (Erich Kästner, Epigramme), und Ausdauer wurde schon dem Frühmenschen
abverlangt. Man denke an die Jagd und den Kampf Mann gegen Mann bei unseren JägerUrahnen, an die Exploration von Umweltgegebenheiten und die Aufbrüche prähistorischer
Stämme ins Ungewisse, zu Zeiten der Völkerwanderungen, bei Entdeckungs- und
Eroberungszügen (z.B. der Griechen, Römer, Portugiesen, Spanier und Briten) bis hin zu den
massenhaften Emigrationen von Europäern nach Nordamerika. In der menschlichen Vor- und
Frühgeschichte waren Jagd, Kampf, Erkundung des Neuen und Migration Not-wendigkeiten,
erzwungen durch die Veränderungen von Natur- und sozialen Verhältnissen. Die
Risikobereitschaft einzelner Stammesmitglieder bot einen evolutionären Vorteil für das
biologische Überleben der Gruppe (vgl. dazu Apter 1994, S. 222ff.). Ob die prä- und
frühhistorischen Menschen dabei 'Thrills" in unserem Sinne empfunden haben, wissen wir nicht;
plausibel erscheint die These, daß "Thrill" die Verfügbarkeit einer (Überlebens-)Technik
voraussetzt, die in. gefährlichen Situationen eine Chance des 'Durchkommens' bietet. Spätestens
bei den neuzeitlichen Entdeckern, Eroberern und Emigranten treten neben das 'Know-how' neue
Motive. Für die europäischen Auswanderer nach Nordamerika seit dem 18. Jahrhundert
unterscheidet Gert Raeithel (1981) zwischen "Push-Faktoren" (Armut, politische Unterdrückung)
und "Pull-Faktoren" (Veränderungsstreben, Abenteuerlust, Freiheitsdrang, "SteigerungsMotive"
= Absicht, die eigene Lage und Befindlichkeit zu verbessern). Die zweite Motivklasse ist es, die
uns hier interessiert. Halten wir fest: die Initiatoren der weltweiten 'Landnahme' sind natürlich
jeweils nur wenige gewesen, besessene Führernaturen oder habgierige Hasardeure wie
Christobal Co1ón und Francisco Pizarro mit ihren winzigen, zu allem entschlossenen Crews aus
Desperados, die 'nichts zu verlieren' hatten, doch der erregende Drang in die Ferne wuchs sich
gleichwohl zu einem Massenphänomen aus. Eine Parallele zum Verhältnis von Extrem- und
Fun-Sport?
Man brauchte in frühen und früheren Zeiten indessen kein Entdecker, Eroberer oder (Aus)Wanderer zu sein, um Spannungsreize kennen zu lernen: auch das Leben zu Hause war
gefährlich genug (und strapaziös dazu). Bis in die Neuzeit hinein - für viele Völker gilt das noch
immer - waren die Menschen dem Unbill der Natur, wilden Tieren und feindlichen Stämmen
ausgesetzt, später dann feudalherrlicher Willkür, umherziehenden Räuberbanden und einer
marodierenden Soldateska. Und als die Alte Welt sich zunehmend 'zivilisierte', blieb doch - bis
an die Schwelle des 20. Jahrhunderts - für die Massen die tägliche Fron: akut drohende äußere
Gefahren wurden durch körperliche Dauerbelastung ersetzt, vom psychischen Existenzstress gar
nicht zu reden. Dann die frühen 'Freizeitvergnügen'; auch da ging es ruppig und spektakulär zu:
'wüste' heilige Orgien, ekstatische Saturnalien, Menschenopfer, Gladiatorenkämpfe,
Wagenrennen, Ritterturniere, öffentliche Gottesurteile und Hinrichtungen, derbe
Jahrmarktsdarbietungen, Hexenverfolgung, die Pilgerzüge der Geißelbrüder auch das eine
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respektable Liste, die sich beliebig verlängern ließe. Die Menschen früherer Zeiten waren
jedenfalls - als Täter und Opfer, als Zuschauer und Akteure - um 'spannende' Erlebnisse nicht
verlegen. Je weiter der 'Zivilisationsprozess' fortschritt, desto stärker neigten Menschen dazu,
Gefahren und Strapazen freiwillig aufzusuchen oder sogar zu 'genießen', und sei es als
Spektateure - im römischen Colosseum oder heute vor dem Fernsehgerät.
Damit bin ich schon bei der Beantwortung meiner zweiten Frage, wie die zeitgenössische
Neuauflage des geschichtlich notorischen Bedürfnisses nach 'Thrills" zu erklären ist. Nach den
'barbarischen Epochen' des ausgehenden Mittelalters, des Dreißigjährigen Krieges und anderer
Religions- und Eroberungskriege war in der Alten Welt im Zuge der Aufklärung, des
Liberalismus und der Industrialisierung, also durch den Modernisierungsprozeß, eine wachsende
'Beruhigung' eingetreten: das Leben wurde - selbst für die Massen - immer 'gefahrloser', aber
auch langweiliger (die "Biedermeier" zwischen Revolution und Restauration 'stellten' sich
geradezu 'tot'). Wer ein Bedürfnis nach Abwechslung, Aufregung und Abenteuer verspürte, dem
blieb nur die Möglichkeit, sich als Entdeckungs- und Forschungsreisender oder als
Kolonialkrieger auszutoben.
Mit der hundertjährigen beschaulichen Ruhe des Bürgertums und dem Tretmühlendasein der
Arbeiterklasse war es plötzlich vorbei, als der aggressive Nationalismus den Ersten Weltkrieg
vom Zaun brach. Bekanntlich hat ein Großteil der europäischen Jugend - halb aufbegehrend
gegen eine erstarrte Väterwelt, halb von ihr scharfgemacht - diesen Krieg als willkommenen
Ausbruch aus der Lebensroutine emphatisch begrüßt. Prototyp dieser Ekstase war der unsägliche
Ernst Jünger, dessen "abenteuerliches Herz" den "Stahlgewittern" jubelnd entgegenschlug.
'Unbegreiflicherweise' wurde die Katastrophe des Kriegs von den Massen nur allzu schnell und
bereitwillig vergessen. Einem (auf-)putschenden Rattenfänger gelang es, die - nunmehr
'großdeutsche' - Jugend ("flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl") ein
zweites Mal zu berauschen und für Kampf und Tod zu begeistern.
Nun blicken wir in der westlichen Welt auf einen 50jährigen 'Frieden' zurück. Der "Kalte Krieg"
(inzwischen ad acta gelegt) und die atomare Bedrohung (fürs erste entschärft) sind 'Papiertiger'
gewesen, die uns im Grunde gar nicht berührten - und der "heiße Frieden", von dem Antje
Vollmer (1995) neuerdings spricht, berührt uns noch nicht. Nur ein paar Uno-Soldaten
bekommen ihn mit. Zwar droht nun die ökologische Katastrophe, doch die entwickelt sich fast
unmerklich und ist 'hautnah' und 'sinnlich' noch kaum zu erleben. Und allen ökonomischen
Baissen zum Trotz: "Der Hunger ist gebannt, die Konjunktur ist unserm Land geblieben", wie
Georg Kreisler in den frühen 60er Jahren sang ("Seltsame Liebeslieder"). Die "Zweidrittel"Gesellschaften der westlichen Welt schwimmen noch immer im Überfluß - satt, verwöhnt, durch
ein halbes Dutzend Policen gegen alle Risiken und Wechselfälle des Lebens weitgehend
abgesichert. "Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt
die Gesundheit. 'Wir haben das Glück erfunden' - sagen die letzten Menschen und blinzeln. -"
(Nietzsche, "Also sprach Zarathustra" 1883, Abschn. 5). Drohen wir zu verketten und
einzuschlafen, wie einst die "Biedermeier" und die Bourgeoisie "zu Kaisers Zeiten"?
"Ja, da liegt's: / Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen, / Wenn wir den Drang des
Ird'schen abgeschüttelt, / Das zwingt uns stillzustehn" (Hamlet 3,1; kursiv von mir). Das ist ein
bißchen 'Shakespeare mit Gewalt', ich benutze das Zitat für meine eigenen Zwecke. Ja, da
liegt's: Die Wohlstandsmenschen haben. den unmittelbaren Drang von Not und Bedrohung
weitgehend abgeschüttelt und sind mehr oder minder in trägen Schlummer verfallen. Ihr Leben
in seiner Saturiertheit und Absicherung ist fade geworden, im Berufsleben folgen sie einer öden
Routine, und in der Freizeit gehen sie ihren "Lüstchen" nach und schlagen die Zeit tot. Doch
"Der Schlaf [und/oder Traum] der Vernunft gebiert Ungeheuer" (Francisco de Goya, "Los
Caprichos" 1796-98, Capricho 43) - zumindest 'Ungeheuerliches', ganz im Sinne von Nietzsches
Zarathustra: "Es ist an der Zeit, daß der Mensch sich sein Ziel stecke". Schwärmen nicht auch
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alle Extremsportler von sich übersteigenden heroischen Zielen und barmen wie Zarathustra, die
"heutige Jugend" entrate Ihnen?
Aber so ist es ja gar nicht - oder nicht ganz. Die vielen jungen Leute, die sich den FunSportarten verschrieben haben oder noch Gewagteres unternehmen - verbotene nächtliche
Autorennen, S-Bahn- und Auto-Surfing -, singen unisono alle dasselbe Lied wie die gestandenen
Cracks aus der Extremsportszene: Sie wollen der arbeitsteiligen, hochautomatisierten,
fremdbestimmten und immobilen Berufsroutine und dem grauen Alltag entkommen, über sich
selbst bestimmen, freiwillig etwas tun, vor allem ihren Körper spüren, Gefahren und
Schwierigkeiten meistern, ihre Angst überwinden, Spaß haben, "Thrills" empfinden. ActionFilme" und "Thriller" anzusehen, Eishockey- und Fußballspielen nur beizuwohnen (und komme
es auch zur Randale), reicht vielen nicht mehr; sie wollen selber aktiv werden, fangen
bescheiden an, benutzen die Funsportarten als Trainingsmethode - jeder ein Akrobat - und
träumen "von der großen Magie" der körperlichen Omnipotenz, vom kühnen Abenteuer, vom
Glück der Einsamkeit und Freiheit des Nur-auf-sich-selbst-Gestellt- und Für-sich-selbstVerantwortlichseins.
Es ist also womöglich gerade die - scheinbare - Gefahrlosigkeit unserer westlichen Welt und die
Langeweile, die sich in ihren Gesellschaften breitgemacht hat, die immer mehr Menschen dazu
bewegen, Gefahren zu provozieren, sich ihnen freiwillig auszusetzen und lustvoll ganz
überflüssige Strapazen auf sich zu nehmen. In der "Dritten Welt", die ums Überleben kämpft,
kommt kaum einer auf den Gedanken, etwas derart 'Sinnloses' zu betreiben. Auch in Kriegs- und
Krisenzeiten hat man für hausgemachte Zusatzgefahren und -strapazen, ja selbst für Neurosen,
weder den Nerv noch die Zeit.
Aus dieser Perspektive betrachtet wären die Outdoor Activities auf den "Thrilling Fields" also
ein Kontrastprogramm und Kompensationsphänomen: Wem es 'zu wohl' ist, begibt sich
freiwillig in Gefahr oder schindet sich ab freilich auch: Wer der Probleme in einer komplexen,
arbeitsteiligen, fremdbestimmten und anonymen Welt nicht mehr Herr wird, der setzt sich ganz
einfache, überschaubare Ziele, die durch Körpereinsatz, Mut, motorische Geschicklichkeit,
Training und Ausdauer im Alleingang erreichbar sind.
Das Gesetz des Kontrasts und der Kompensation ist indessen nur eine Seite des Phänomens. Aus
einem anderen Blickwinkel gesehen folgen unsere extremen Freizeitaktivitäten ja zugleich dem
'Gesetz der Angleichung'. Entsprechen sie nicht auf geradezu lachhafte Weise einer
gesellschaftlichen Entwicklung, die seit der frühen Neuzeit im Zuge des
Modernisierungsprozesses eine schwindelerregende Dynamik entfaltet, auf Bewegung, Tempo,
Beschleunigung gesetzt und sich anheischig gemacht hat, alle Gefahren zu meistern und alle
Probleme zu lösen? In seiner Altersphilosophie hat Goethe diese Entwicklung sehr präzise diaund prognostiziert. In Briefen an Nicolovius und den Grafen Reinhard aus dem Jahr 1825
(Goethes Briefe IV, S. 159, 165) verwandte er den Begriff "veloziferisch" (von franz. vélocifère
= Eilwagen), wortspielerisch auch: "Die Eile ist Teufelszeug" (velocitas + Luzifer!).
Goethe verteufelte jede Art von "Übereilung", sowohl die "des ängstlichen Verstandes, der die
Phänomene gerne loswerden möchte" (z.B. in der spekulativen Transzendentalphilosophie), wie
die der Lokomotion; nach seiner Auffagsung war für die "mittlere Reisegeschwindigkeit der
Seele" schon die Postkutsche fast zu schnell. Der Olympier wetterte gegen alles, was die
physischen Fähigkeiten des Menschen vervielfachte: gegen Fernrohre, Dampfschiffe,
Eisenbahnen und Schnellpost, und er lehnte auch das
Zeitungs(un)wesen ab, die heraufkommende 'Informationsgesellschaft' (vgl. ebd., S. 146, 379).In
der geistigen Übereilung und in der Geschwindigkeit und Beschleunigung von Lokomation und
Nachrichtenumlauf sah Goethe den Keim des Irrtums und der Zerstörung der (menschlichen)
Natur. Wie er dachten die meisten europäischen Geistesgrößen der vormodernen Epochen;
Pascal etwa war davon überzeugt, "daß alles Unglück der Menschen einem entstammt, daß sie
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unfähig sind, in Ruhe in ihren Zimmern zu bleiben" (zit.n. Raeithel 1981, S. 28; dort weitere
Beispiele).
Goethe und seine Geistesverwandten hatten 'recht', doch ihre Warnungen haben nichts
gefruchtet. Im Gegenteil: die weitere Entwicklung Europas und der westlichen Welt wurde in
damals unvorstellbarem Maße durch das bestimmt, was Goethe "veloziferisch" nannte, und
mündete in die beschleunigte Lokomotions- und Informationsgesellschaft. Um diese
Entwicklung zu analysieren und ihr Ergebnis auf den Begriff zu bringen, hat der französische
Philosoph Paul Virilio (1980) eine neue Spezialdisziplin, die "Dromologie", und sogar eine neue
Herrschaftsform 'erfunden', die "Dromokratie" (von griech. drómos = schneller Lauf, Wettlauf,
Wettfahren). Geschwindigkeit wurde zuerst im militärischen Sektor (Truppenbewegung und
Logistik), dann im zivilen Transportbereich und schließlich bei der Übertragung und
Verarbeitung von Nachrichten und Daten zum wichtigsten Herrschaftsinstrument der Moderne.
In diese sozialevolutionäre Dynamik fügen sich der moderne Sport und seine Mutation zum
Extremsport aufs Schönste ein: alles, was mit Geschwindigkeit, Beschleunigung und Rekorden,
mit Beweglichkeit, Flexibilität und Geschicklichkeit beim Überwinden von Hindernissen zu tun
hat. Die extremen Ausdauersportler wirken zwar - dromologisch betrachtet - reichlich bizarr,
geradezu atavistisch, doch sie halten immerhin ein dromokratisches Grundgesetz hoch: stets in
Bewegung sein. Wie formulierte es der Filmregisseur Werner Herzog? "Bis ans Ende - und dann
noch weiter" (Film-Essay von Peter Buchka, BR 1988).
Als komplexeres Zwischen-Resümee bietet sich nunmehr an: Der Extremsport und seine
jugendliche 'Trainingsvariante', der Fun-Sport, reagieren zwar einerseits auf unbestreitbare
Defizite des (Post-)modernen Berufs- und Alltagslebens an Abwechslung, 'Aufregung' und
Körpereinsatz, zugleich sind sie aber auch Initiationsriten (für die Jugend) und
Vergewisserungsrituale (für verunsicherte Erwachsene), (Ein-)Übungen in Mentalität und
Sozialcharakter, wie sie in unserer Gesellschaft von denen erwartet werden, die reüssieren
wollen. Wie hat man diese Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet? Zunächst als
Leistungs-, Markt- und Ellenbogengesellschaft - die pejorative Sequenz war überaus konsequent!
-, dann als "Risikogesellschaft" (Beck 1986), die nun ihre im Fortschrittsoptimismus
selbstproduzierten Risiken (!) teils zu bewältigen sucht, teils verdrängt. Schließt der neueste
'Gesellschaftstypus', die postmoderne "Erlebnisgesellschaft" (Schulze 1992), nicht nahtlos an
diese Entwicklung an? Reagiert der marktgesteuerte und leistungsorientierte postmoderne
"Erlebniswahn" nicht auf die herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen?
Tatsächlich rühmt ein hochrangiger Extremsportler wie Heiner Geißler in einschlägigen
Fernsehauftritten (z.B. in Boulevard Bio: "Die Lust an der Angst?", ARD 29.11.1994) zunächst
einmal den Transfereffekt etwa des Bergsteigens auf Charaktereigenschaften, die man in der
beruflichen Auseinandersetzung wirkungsvoll ausspielen kann, und nicht umsonst sind
prominente Extremsportler als Vortragsredner und Management-Trainer gefragt.
Dies ist die eine Funktion des Extremsports: daß er die Leistungsgesellschaft in 'vorbildlicher'
Weise repräsentiert. Doch er kopiert auch ganz offensichtlich die 'Risikogesellschaft'. Nicht
genug damit, daß wir unabsehbare und unkontrollierbare gesellschaftliche und ökologische
Risiken produzieren: nun drängt es immer mehr Menschen auch persönlich zu riskanten
Aktivitäten. Wie ist diese Funktion des Extremsports zu deuten, "die Lust an der Angst"
(Boulevard Bio, ARD 24.11.1994) "im Rausch der Sinne" (ZDF 22.6.94), "der letzte Kick", die
"Freizeit an der Schmerzgrenze" (SDR 1993), "allein gegen mich" (ZDF 30.11.1994) "hart am
Abgrund" (ZDF 11.4.1993), als "Grenzgänger - zwischen Gipfelglück und Absturz ins Nichts"
(BR III, 23.9.1994)? Ist das bereits der "Tanz auf dem Vulkan" einer Epoche, die insgeheim vor
den globalen Risiken und drohenden Katastrophen schon kapituliert hat - und zugleich das
magische Ritual einer je persönlichen Selbstvergewisserung, daß man provozierte Risiken durch
Mut, Coolness, Geschicklichkeit, die 'richtige Ausrüstung' und den 'langen Atem' auch meistern
kann?
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Langeweile - sei sie nun saturiert oder durch Arbeitslosigkeit bedingt -, persönliche
Chancenlosigkeit, verbreitete Zukunftsängste: die junge Generation reagiert ganz unterschiedlich
darauf. Die Passiven durch Apathie und durch Drogensucht (der einzige "Thrill" für den, der sich
aufgegeben hat), die Aktiven unter den sozial und psychisch 'Stabilen' zum Beispiel durch Funund Extremsport und die Aktivsten unter den sozial Benachteiligten und/oder psychisch Labilen
etwa durch Abgleiten in Vandalismus und Kriminalität oder durch Hinwendung zur
rechtsextremen politischen Szene, die in Gotcha- und Wehrsportvereinen, bei paramilitärischen
Übungen und beim "Abfackeln" von Ausländerunterkünften ihr 'sportliches' Mütchen kühlt.
Überdies ist in meinem Beitrag ja nur von den sportlichen Varianten der "Erlebnisgesellschaft"
die Rede; die "thrilling" Outdoor- besitzen ein ebenso vielfältiges und verbreitetes Gegenstück in
"thrilling" Indoor Activities: angefangen beim Gambling, auch dies eine - freilich
unkontrollierbare - Herausforderung des eigenen Glücks, die sich zur stoff-ungebundenen Sucht
auswachsen kann, über den Konsum von Action- und Horrorfilmen, Hardcore Pornos und
"Splatter Pictures" (in denen Schädel und Körper zerplatzen), die zugleich dem "Thrill" und - bei
Jugendlichen zumal - der Einübung von Angstbewältigung und "Gefühlsmanagement" dienen
(vgl. Haubl 1993, S. 24ff.; Grimm 1992), weiter über die unendlichen Video-Varianten des
Gotcha Playing in ohrenbetäubenden Spielsalons bis hin zum Computer Hacking und zu den
virtuellen, den Realitätssinn verwirrenden Aktivitäten im "Cyberspace" (vgl. dazu den Beitrag
von Damaris Stengel in diesem Band). Selbst das - (ver-)öffentlich(t)e - Sexualverhalten, an sich
schon "thrilling" genug, nimmt immer extremere Formen an; die Thesen von "Lustverlust" und
Beziehungslosigkeit verhalten sich dazu komplementär. Der größte 'Thrill' ist natürlich der, im
Zeitalter von Aids - wieder zunehmend - promiskuitiv und ungeschützt zu verkehren.
Bemerkenswert auch, daß sich - gerade junge - Angehörige der Sado-Maso-Szene, die noch vor
Kurzem nur im Verborgenen blühte, inzwischen ganz offen und unbefangen im Fernsehen
präsentieren. Maria von Welser hatte ganz recht, als sie im Aufmacher der Mona-Lisa-Sendung
"Selbsterfahrung - grenzenlos? Was ist pervers?" (ZDF 12.3.1995) Szenen vom Drachenfliegen,
Roller Skating, Bungee Jumping und Sky Surfing mit SM-Szenen abwechseln ließ und die
Sendung wie folgt anmoderierte: "Müssen wir, um noch zu spüren, daß wir leben, unbedingt an
elastischen Seilen von Brücken springen, uns mit Ringen und Nadeln verstümmeln und quälen,
immer auf der Suche nach diesem ultimativen 'Kick'? Sicher sind wir uns alle einig, daß die
Gesellschaft sich immer atemloser dreht."
Nun kann man - selbst massenhaft auftretende - Verhaltensweisen nicht so abstrakt und nur der
'Gesellschaft' anlasten, auch wenn sie ihr noch so sehr entsprechen, wir sind die Gesellschaft, das
wußte die Moderatorin auch. Deshalb fragte sie die eingeladene Psychologin: "Woher kommen
denn die Wünsche ... nach diesem besonderen Kick?" (Antwort: "... letztendlich aus der frühen
Kindheit"). Die Frage gewinnt an Gewicht, wenn man bedenkt, daß ein derartiger Lustgewinn
untrennbar mit Ängsten verbunden ist (thrill!) - angesichts (lebens-)bedrohender Gefahren und
Strapazen, die man seinetwegen auf sich zu nehmen bereit ist. Weshalb also tun Menschen das überhaupt und im einzelnen Fall?
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Evolutionstheoretische Thesen
Eine erste, ganz 'natürliche' Antwort, die tief in die Entwicklungsgeschichte der menschlichen
Spezies greift, ist biologischer Provenienz. Unter allen Arten sei der Mensch als das
höchstentwickelte, unspezifischste, dann freilich auch anpassungsfähigste Lebewesen
somatopsychisch vorab besonders gefährdet und in der vitalen Sphäre auf vererbte
physiologische Notfallfunktionen angewiesen, die sich im Zuge der Evolution gebildet haben.
Beim Auftreten von Gefahr etwa werden Hormone und Neurotransmitter freigesetzt, die
Prozesse des Stoffwechsels sowie des autonomen und zentralen Nervensystems regulieren, um
kurzfristige Höchstleistungen möglich zu machen, sei es beim Kampf oder auf der Flucht. Im
Fall extremer Dauerbelastung produziert der Organismus Endorphine, morphinartige Substanzen
bzw. körpereigene Opiate, die eine schmerzhemmende und zugleich psychotrope Wirkung
entfalten oder gar rauschartige Zustände auslösen können ("Glückshormone"!). Hier setzt nun
eine ganz elementare und kühne 'Erklärung' des "Thrill"-Bedürfnisses an. Von der Evolution sei
der Mensch nicht als Stubenhocker und Supermarktkunde 'geplant' gewesen, sondern als
konkurrierendes und gefährdetes (Wald-)'Tier unter Tieren', mit aussichtsreichen
Karrierechancen als Steppenläufer, 'Raubtier' und 'Beute'.
Der rezente Mensch, der vergleichsweise bequem und gefahrlos dahinlebt, sei dagegen
physiologisch permanent unterfordert und müsse deshalb seine ererbten vitalen
Notfallfunktionen, die er noch immer mit sich herumschleppt, gelegentlich aktivieren, schon gar
bei hoher Konzentration gewisser Erreger-Stoffe, um sein Aktivationspotential probehalber zu
realisieren - vergleichbar einem hochgezüchteten Automobil, dessen Motor von Zeit zu Zeit auf
Touren gebracht werden muß, wenn er nicht korrodieren soll. Ein erfreulicher Nebeneffekt stelle
sich dadurch ein, daß ein geregelter somatopsychischer "Kick-down" die durch Unterforderung
entstandene Langeweile vertreibe oder sogar zu einem rauschhaften 'Glückszustand' führe. Das
nährt dann auch den Verdacht, daß die Ausschüttung der Endorphine eine stoffgebundene Sucht
erzeuge. Diese Argumentenkette liefert ein biologisches Unterfutter für die historischsozialwissenschaftliche Beobachtung, daß der Mensch bei wachsender äußerer 'Befriedung' dazu
neigt, sich bedrohliche oder erregende Situationen komplementär zu schaffen.
Das biologische Modell beruht freilich nur auf einer kaum beweisbaren Hypothese, für die es
immerhin Anhaltspunkte gibt (s.u.). Mich erinnert sie - fast möchte ich sagen: fatal - an die
präfaschistoide Auffassung Gottfried Benns, die er Gertrud Hindemith 1930 brieflich mitgeteilt
hat: "Vergessen Sie nie, der menschliche Geist ist als Totschläger entstanden u als ein
ungeheures Instrument der Rache, nicht als Phlegma der Demokraten, er galt dem Kampf gegen
die Krokodile der Frühmeere u die Schuppentiere in den Höhlen - nicht als Puderquaste! " (Benn
1978, S. 15). Weshalb sollte die - soziokulturell veredelte - Evolution des Menschen nicht
'umdisponieren' können? Doch das nur nebenbei. Recht unwahrscheinlich ist dagegen, die These,
daß die in winzigen Dosen freigesetzten Endorphine eine stoffgebundene Sucht auslösen können;
wenn und soweit extreme Aktivitäten tatsächlich 'süchtig' machen, ist allenfalls eine
stoffungebundene psychische Abhängigkeit anzunehmen.
Aber weiter: Durch äußere Gefahren oder Strapazen ausgelöste somatische Notfallfunktionen
haben ein psychisches Korrelat in der Angst, und der Mensch ist ja nicht nur Gefahren aus der
Umwelt, Körperstress und Realängsten konfrontiert, sondern auch psychischen Belastungen und
Konflikten sowie Trieb-, Bestrafungs-, existentiellen und metaphysischen Ängsten, die er zudem
antizipiert und für die es keine autonomen Notfallfunktionen gibt. Seine unausweichlichen
Ängste sucht der Mensch auf unterschiedliche Weise in den Griff zu bekommen:
verhaltensbiologisch gesprochen durch "Bewegungssturm" oder "Totstellreflex", psychologisch
formuliert: indem er sich ihnen widerwillig, trotzig oder heroisch 'stellt', sie neurotisch 'agiert',
verleugnet oder verdrängt oder aber theologisch und philosophisch legitimiert. "In der Welt habt
ihr Angst", stellte Jesus fest und versprach, "aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden"
(Joh 16, 33), und der Lebensphilosoph Georg Simmel (1918) tröstet uns mit dem Argument,
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ohne Todesangst würden wir unser Leben 'bewußtlos verdämmern'; erst sie bringt uns richtig in
Trab.
Damit erhält die Angst ein paradoxes Doppelgesicht: Als Universalie des (höheren) Lebens, als
psychisches Antriebserlebnis und nicht zuletzt als die authentischste Gefühlsregung des
Menschen - selten sind wir so sehr mit uns selbst identisch wie im Zustand der Angst - ist sie
anthropologisch hoch 'besetzt'. Andererseits wurde sie schon immer und überall sozial
abgewertet: Angsthasen und Hasenfüße - vorab des 'starken' Geschlechts - fallen Spott und
Verachtung anheim. Kombiniert man die ambivalenten Bewertungen, dann resultiert die externe
und im Sozialisationsprozeß internalisierte Erwartungshaltung, mit der Angst aktiv und produktiv
umzugehen.
Das ist sozialwissenschaftlich-psychologisch gedacht, doch auch dieses Argument wurde
verschiedentlich biologisch 'fundiert': durch die Annahme eines Angsttriebs oder gar -instinkts
(vgl. dazu Semler 1994, S. 82-88), der nach (relativ) angstfreien Perioden Ängste generiert oder
angstauslösende Situationen 'aufsucht', damit sein Träger nicht aus der Übung kommt und
Angstbewältigung für den Ernstfall trainieren kann - und sei es im 'Leerlauf', aus "Angst vor der
Angst", nach dem Motto: Denn eben, wo die Ängste fehlen, da stellt ein Angstanlaß zur rechten
Zeit sich ein. Daß ein Angstinstinkt existiert, halte ich für ganz unwahrscheinlich: wie die
Ethologie gezeigt hat, ist die Instinktausstattung des Menschen recht rudimentär und auf wenige,
eher reflektorische Mechanismen beschränkt. Auch die Annahme eines Angsttriebs gehört - wie
Freuds "Todestrieb" - der Spekulation an. Natürlich gibt es das angstgeschüttelte
Leerlaufverhalten, wie es Angstneurotiker zeigen, doch das ist wohl in psychischen Prozessen
begründet, etwa der pathogenen Antizipation, wie bei der "klugen Else" im Grimmschen
Märchen, die jammernd den frühen Tod ihres ungezeugten Kindes vorwegnimmt. Vergessen wir
auch nicht, daß im Normalfall dessen, der wie Grimms Märchenheld "auszieht, das Fürchten zu
lernen", sich ganz einfach ein angebotenes Neugierverhalten durchsetzen könnte, wie es schon
an höheren Tierarten und auch noch ganz unverstellt an kleinen Kindern zu beobachten ist, die
bei der Erkundung des Neuen und Unvertrauten Scheu und Ängste spielerisch überwinden.
Das alles erklärt nun freilich noch nicht die markanten interindividuellen Unterschiede im
Risikoverhalten; nach dem "ultimativen Kick" sehn(t)en sich ja längst nicht alle, im Gegenteil: es
gab und gibt wohl noch immer mehr ängstliche Menschen - auch wenn ihre Zahl heute
womöglich sinkt -, für die alle beschriebenen "Kicks" und "Thrills" Horrorvorstellungen sind.
Ich spezifiziere deshalb meine dritte Frage: weshalb sind die einen auf etwas lustvoll versessen,
was bei anderen nur Unlust und Angst erzeugt, warum tun manche so 'verrückte' Dinge, während
andere sie sorgsam vermeiden oder weit von sich weisen?
Antworten der Psychologie
Zu dieser Frage gibt es drei Haupt-Antwort-Modelle - ein biopsychologisches, ein
lerntheoretisches und ein psychoanalytisches Modell -, die sich wechselseitig nicht ausschließen.
Für das erste, der Evolutionstheorie verwandt, steht der amerikanische Psychologe Marvin
Zuckerman (leicht zugänglich: Zuckerman 1978), der seit den 1960er Jahren das Phänomen der
Risikobereitschaft ("sensation seeking") empirisch -untersucht und deren Ausprägung bei
Probanden anhand einer Skala von alternativ formulierten Statement-Paaren erfaßt, die folgende
Hauptfaktoren abdeckt: (1) Suche nach Aufregung und Abenteuern, (2) Suche nach tiefen
Erfahrungen, (3) Enthemmung, (4) Anfälligkeit für Langeweile, und deren Gesamtscore mit der
Ausübung bzw. Vermeidung riskanter Aktivitäten hoch korreliert. Aus vergleichenden
Untersuchungen von High- und Low-Scorern schließt Zuckerman auf eine biologische
Grundlage von 'Reizhunger' respektive -vermeidung. Als ersten Beleg dafür präsentiert er seinen
Befund, daß sich eineiige Zwillinge in ihrer (mangelnden) Risikobereitschaft ähnlicher sind als
zweieiige (und 'normale' Geschwister). Der Autor hält "sensation seeking" deshalb für ein (bis zu
50-65%) genetisch (mit-)bestimmtes Persönlichkeitsmerkmal. Diese Auffassung sieht er dadurch
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gestützt, daß sich - verglichen mit Reizvermeidern - bei Reizsuchern eine höhere Konzentration
der Neurotransmitter (etwa des Noradrenalins), welche die Erregbarkeit bestimmter Hirnzentren
steuern, und ein erhöhter Spiegel beider Sexualhormone nachweisen ließ. Zuckerman fand aber
auch psychologische Korrelate des 'Reizhungers':

positive Beziehungen zur Intelligenz - wobei Reizsucher aufgrund ihrer Anfälligkeit für
Langeweile nicht unbedingt gute Schüler- und Student/inn/en sind;

ein kreatives Potential, das indessen häufig nicht umgesetzt wird, weil sich Reizsucher durch
ihre hedonistischen Aktivitäten ablenken lassen;

keine Beziehungen zwischen 'Reizhunger' und Neurotizismus, wobei dieses
Persönlichkeitsmerkmal allerdings verhaltenspsychologisch (Selbstbeschreibung anhand
eines Inventars), nicht psychoanalytisch definiert ist;

Neigung zu professionell helfenden Berufen (viele Ärzte und Psychologen sind starke
Reizsucher).
Alles in allem also eine sehr positive Bilanz von 'Reizhunger' und Risikobereitschaft, die uns
Zuckermans biopsychologisches Modell da serviert. Zudem wäre beides, Reizsuche und
Reizvermeidung in ihren Abstufungen, etwas ganz Natürliches, 'Normales' und somatopsychisch
Gesundes: Jeder sucht das Stimulations-, Erregungs- und Aktivierungs-Niveau, auf dem er sich,
seiner genetisch mitbestimmten physiologischen Ausstattung gemäß, am wohlsten und
leistungskräftigsten fühlt. Ob diese Neigung allerdings einer persönlich und gesellschaftlich
produktiven Tätigkeit oder eher dem eigenen Hedonismus zugute kommt, ist eine andere Frage.
Kritisch sei zu den Thesen Zuckermans und anderer Autoren vermerkt: (1) die
Zwillingsforschung hat sich aufgrund der ideologischen Präokkupation ihrer Protagonisten schon
so oft diskreditiert, daß angesichts ihrer Befunde Skepsis angebracht ist - und was (2) die
physiologischen Unterschiede zwischen den untersuchten Kontrastgruppen angeht: bei
hinreichender Verfeinerung der Meßinstrumente und ab einem bestimmten Stichprobenumfang
lassen sich statistische Signifikanzen nahezu beliebig 'erzielen', ohne daß dies etwas über die
substantielle Bedeutsamkeit der Ergebnisse aussagen muß (vgl. Hartmann 1970, S. 65).
Zuckerman immerhin hält seine These für "ziemlich plausibel", räumt aber ein, daß auch
familiäre Verhaltensvorbilder, Lernprozesse, frühe Umwelteinflüsse und kulturelle Faktoren
'Reizhunger' und -vermeidung mitprägen können. Und damit sind wir beim zweiten
Erklärungsmodell.
Nicht reflex- oder instinktgebundene Verhaltensweisen werden gelernt, im gegebenen Fall nicht
nur das körper- wie situationsbezogene und technische Know-how, sondern - so die
lerntheoretische These - auch die vorgängige Verhaltensbereitschaft, das Aufsuchen (oder
Vermeiden) von Risiken und Strapazen. Beide Lemprozesse erfolgen nach dem Modus der
"operanten Konditionierung", des "Lernens am Erfolg", bei dem Verhaltenskonsequenzen
'belohnt' werden. Bei ausschließlicher oder - im Falle eines Appetenz-Aversions-Konflikts ("ich
möchte ja gern, doch ich trau' mich nicht") - dominierender Aversion ist "passives
Vermeidungslernen" die wahrscheinlichste Folge; gelernt wird dabei, erfolgreich und unauffällig
solche Situationen zu meiden, in denen man sich exportieren müßte. Zur 'Belohnung' wird die
spezifische Angst Schritt für Schritt abgebaut, weil der Anlaß entfällt. Damit verspielt der
Reizvermeider freilich die Chance sich mit seiner Angst auseinanderzusetzen, und handelt sich sofern neben und hinter ihr andere (spezifische oder diffuse) Ängste bestehen - womöglich sogar
ein höheres allgemeines Angstniveau ein. Beim "aktiven Vermeidungslernen" wird der
Appetenz-Aversions-Konflikt nicht durch die Vermeidung von Reizsituationen gelöst, sondern indem man sich der Situation aussetzt - durch schrittweise Angstreduktion infolge wachsender
Kompetenz. Der 'Erfolg' dieses Lemtyps - so wird unterstellt - besteht in der effektiven
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Bearbeitung nicht nur der jeweils spezifischen, sondern - vermöge des gewonnenen
Selbstvertrauens - auch anderer Ängste und einer generellen Senkung der Angstbereitschaft.
Der Übergang zum dritten Lerntyp ist fließend. Dominiert, auch im Konfliktfall, die Appetenz,
dann folgt in der Regel eine aktive Annäherung an die Situation, die vielfach verstärkt und
'belohnt' wird: wiederum durch Kompetenzsteigerung und Angstreduktion, durch öffentliches
Bewundertwerden, zunehmendes Selbstvertrauen und durch rauschhaft-beglückende Erlebnisse
und Erfahrungen. Der Psychologe und Fallschirmspringer Gert Semler (1994, S. 110ff.)
vergleicht das Erleben während einer riskanten Aktion mit dem, was sein philosophierender
Fachkollege Mihaly Csikszentmihalyi (1985; 1993) "Flow" nennt, "das Geheimnis der Glücks";
gemeint ist damit das völlige Einswerden mit einer Tätigkeit, die bruchlose Identität mit sich
selbst. Reinhold Messner hat das so formuliert: "Ich bin, was ich tue" (1994, Umschlag). Das gilt
wohl für alle Risiko- und für viele Ausdauersportler, im Augenblick der stärksten Konzentration
oder solange die Dauerbelastung anhält. Offenbar ist die immer wieder durchlaufene Sequenz:
situative Herausforderung - Appetenz - Angst/Aversion - "Angstlust" - völlige Konzentration
und Angstfreiheit während der höchsten Gefahr (Semler 1994, S. 156) - Meisterung der Situation
- Spannungsabfall - Erleichterung - Stolz - das 'Geheimnis' des "Lernens am Erfolg" durch aktive
Annäherung an extreme Situationen.
Das Annäherungs- und Vermeidungslernen vollzieht sich nun nicht isoliert, sondern in einem
sozialen Raum: dem Lernen am eigenen Erfolg geht in der Regel das soziale oder Modell-Lernen
an (erfolgreichen) Vorbildern aus Familie, Peer Group und Profilager voraus. Die Anzahl solcher
Modelle und Modellsituationen scheint in unserer Gesellschaft zu wachsen - und zugleich der
soziale Druck, ihnen nachzueifern und zu genügen. Für die Individuen brächte das doppelten
Gewinn: Lerntheoretisch betrachtet diente es der Angstbewältigung, dem Selbstbewußtsein und
Lusterleben, aus gesellschaftlich-funktionalistischer Perspektive der sozialen Angepaßtheit oder
gar Evolution. Wer dagegen in einem 'ängstlichen Milieu' aufgewachsen ist, traumatische
Erfahrungen gemacht oder sich an den 'falschen' Vorbildern orientiert hat, müßte auf den
genannten, individuellen Nutzen verzichten und wäre gesellschaftlich unangepaßt.
Das dritte, psychoanalytische Erklärungsmodell extremen (Vermeidungs-) Verhaltens teilt zwar
die lerntheoretische Bewertung gravierender Risikoscheu, schätzt aber den Gegentypus ganz
anders ein, indem es beide Extremvarianten als psychopathogen qualifiziert. Die erste,
prägnanteste und konkreteste Version dieses Modells ist eine Idealtypologie, die Michael Balint
(1959) in seinem Buch "Thrills and Regressions" entwickelt hat. In der deutschen Ausgabe
dieses Buchs ist der unübersetzbare "Thrill"-Begriff durch das Kompositum "Angstlust"
wiedergegeben (vgl. dazu Balint 1960, S. 5f.9 21 Fn. 2), das damit in unseren Sprachgebrauch
eingeführt wurde. Balints Typologie hat mich seit ihrer Publikation anhaltend fasziniert, und ich
habe sie später auf ganz unterschiedliche außerklinische Fragestellungen angewandt (Hartmann
1978ff.). Gert Raeithel (1981) nutzte sie für seine Analyse der us-amerikanischen "basic
personality structure", und andere Autoren entdeckten Parallelen zu Persönlichkeit und
Verhaltensweisen 'besessener' Computerbauer und "süchtiger Programmierer" (vgl. den
Sammelband von Krafft & Ortmann 1988) - beides in unserem Kontext durchaus relevant. Für
meinen Beitrag ist diese Typologie wie geschaffen.
In seinem Buch geht Balint von der Beobachtung unterschiedlicher Reaktionsweisen auf
schwindelerregende Jahrmarktsvergnügen aus (Schaukeln, Karussell-, Berg-und-TalbahnFahren), später erweitert er dann die Perspektive auch auf andere 'spannungsreiche' Aktivitäten
und Situationen: Betreiben unfallträchtigen Sports, Entdeckungs- und Forschungsreisen, kühne
wissenschaftliche Experimente, Glücksspiel, Wetten und Börsenspekulation, persönliche
Exponierung (Zivilcourage), Verführung unerfahrener Partner/innen. Das alles ist risikoreich:
man kann dabei 'draufgehen' oder 'mit heiler Haut davonkommen', 'alles gewinnen oder alles
verlieren', Ruhm und Befriedigung ernten oder blamiert und frustriert den Rückzug antreten
müssen. Balint nennt Menschen, die sich solchen Situationen freiwillig und lustvoll aussetzen,
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"Philobaten" (in Analogie zu "Akrobaten" nach griech. batéo=springen, besteigen) - und
Menschen, die sie vermeiden und im Ernstfall mit Unbehagen, purer Angst und Suche nach
einem festen Halt reagieren, "Oknophile" (von griech. oknéo=sich scheuen, zögern, sich
anklammern). Ganz allgemein unterscheiden sich die beiden (Ideal-)Typen in ihrer - so der
psychoanalytische Terminus - "Objektbeziehung" zu Menschen und Dingen: Philobaten
'benutzen' beide virtuos, halten sie aber auf Distanz und vermögen sich leicht von ihnen zu
trennen, während Oknophile sich an sie 'klammern' und in Abhängigkeit von ihnen geraten.
Balint führt diese unterschiedlichen Reaktionsweisen und Beziehungsmuster auf das
traumatische Urerlebnis des Verlustes der frühen Mutter-Kind-Symbiose zurück, in der noch
eine völlige Einheit von 'Ich', 'Wir' und 'Welt' bestand. Der Erfahrungsschock, daß die Mutter ein
von ihm getrenntes "Objekt" ist, das sich von ihm gar entfernen kann, löst - so der Autor - beim
Kind den Versuch aus, die verlorene Einheit zurückzugewinnen. Da das unmöglich ist, muß das
Kind entweder allmählich ein soziales Realitätsempfinden entwickeln - oder es bleibt ihm nichts
anderes übrig, als die Realität zu verleugnen und in pathogenen Verhaltensweisen sein Heil zu
suchen. Im - illusionären - Vertrauen auf das unverbrüchliche Wohlwollen und die
Verläßlichkeit von "Objekten" verstärkt die oknophile Strategie das Anklammerungsbemühen
und verzichtet auf 'Autonomie', während der 'grenzenlose', aus der Harmonie der frühen
Symbiose stammende und nicht minder illusionäre philobatische Optimismus auf
Unabhängigkeit setzt, nach der Devise: "Ich hab mein Sach auf nichts gestellt" und "Selbst ist
der Mann". Der Philobat verläßt mut-willig die Sicherheitszonen und schweift in die
"freundlichen Weiten" ("friendly expanses"), setzt sich Risiken aus, deren "thrills" er genießt, in
der Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang und im Vertrauen auf seine eigenen Kompetenzen
("skills") und seine Ausrüstung ("equipment"), die er souverän zu gebrauchen versteht. Für den
Oknophilen sind die Weiten abschreckende Gefahrenzonen, "furchterregende Leerräume"
("horrid empty spaces"), in denen es nichts gibt, woran man sich festhalten kann. Spannungsreize
erregen in ihm nur Unlust und Angst, er mißtraut dem ungebundenen Glück und den eigenen
Fähigkeiten und vermag mit seinem 'Klammerreflex' Hilfsmittel nicht effektiv zu gebrauchen.
Nur eins ist den reizvermeidenden oknophilen Bübchen und den reizsuchenden philobatischen
Bürschchen (samt ihren jeweiligen Schwestern) gemeinsam: sie ahnen nicht, daß sie - jeder auf
seine Weise - verschmähter Liebe Pein verleugnen, ihrer Mutter die Treue halten und durch ihr
regressives Risiko- oder Absicherungsbedürfnis den frühen Trennungsschmerz 'agierend'
fixieren und - letztlich vergebens - zu bewältigen trachten. Balint zufolge sind solche
Extremvarianten der Objektbeziehung "natürlich beide krank, sehr krank sogar" (Balint 1960, S.
15): sie leiden an einem frühen psychischen Trauma, das sich ausdifferenziert, verfestigt und
zum Formenkreis der narzißtischen Persönlichkeitsstörung gehört (vgl. zum Philobatismus die
Fallstudie von Argelander 1972), während eine gesunde Entwicklung die Integration der beiden
Verhaltensstile voraussetzt.
Die Psychopathologie solcher 'isolierter Karrieren' kommt im - ohne Bezug auf Balint
formulierten - explizit narzißmustheoretischen Ansatz Heinz Kohuts und in seiner Terminologie
noch stärker zum Ausdruck. In vergleichbarer Weise unterscheidet Kohut (1974) zwei frühkindlich 'normale' - Reaktionsweisen auf das Trauma der Trennung von Subjekt und
primärer sozialer Umgebung, welche - sofern später nicht 'aufgelöst', sondern fixiert - zu
Persönlichkeitsstörungen führen: (1) die einer "Selbstfragmentierung" vorbeugende Entfaltung
eines kontraphobischen "Größen-Selbst" mit seinen "Allmachtsphantasien" (was annähernd dem
Philobatismus korrespondiert) und (2) die Errichtung einer "idealisierten Elternimago" zur
Abwehr eigener Macht- und Hilflosigkeit (was der Oknophilie entspricht). Während die
Persistenz der Idealisierung primärer Bezugspersonen in die Depression münden kann, schlägt
sich ein fixiertes "Größen-Selbst" in manischen Störungen nieder, zu deren Symptomen Kohut
beispielsweise auch Flugphantasien (ebd., etwa S. 170f.) sportliche Aktivitäten (etwa S. 166) und
riskante Betätigungen (etwa S. 172) zählt.
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Ein Vergleich der drei skizzierten 'Erklärungsmodelle' - des biologischen, lerntheoretischen und
psychoanalytischen Ansatzes - bestätigt zunächst, daß sie sich theoretisch nicht ausschließen,
sondern eher ergänzen. Wenn es zutreffen sollte, daß "sensation seeker" - sei es im Risiko- oder
extremen Ausdauersport - erhöhte Hormonspiegel und Konzentrationen von Neurotransmittern
aufweisen, über ein höheres Aktivationspotential verfügen und deshalb mehr Stimulierung
brauchen, dann liegt die Annahme nahe, daß sie - verglichen mit ihrem Kontrasttyp - riskante
Verhaltensbereitschaften auch leichter 'erlernen'. Womöglich ist sogar das - genetisch angelegte optimale Erregungsniveau schon so früh ausgeprägt, daß es die Präferenz oknophiler oder
philobatischer Strategien als traumatischer Reaktionen mitzubestimmen vermag. Andererseits
dürften verschiedene 'Lernprogramme' objektbeziehungs-typologisch gebahnt sein. Und das
'Motiv' für die Reizsuche oder -vermeidung ist in allen drei Modellen im weitesten Sinne die
Angst und ihre Bewältigung: im biopsychologischen Ansatz die physiologisch bedingte
ängstliche Spannung bei Unter- oder Überforderung, im lerntheoretischen Modell
situationsspezifische und diffuse Ängste, im psychoanalytischen Ansatz die durch das frühe
Trennungstrauma ausgelöste Angst vor Isolation, "Fragmentierung" und Hilflosigkeit. Bei der
Bewertung von Reizsuche und -vermeidung unterscheiden sich die drei Ansätze freilich markant:
biopsychologisch betrachtet sind beide Verhaltensbereitschaften quasi physiologisch notwendige
Reaktionen, die Lernpsychologie neigt im gegebenen Fall zur Abwertung - zumindest passiver Vermeidungs- und zur Aufwertung von Annäherungsstrategien, während die Psychoanalytiker
Balint und Kohut in ihren narzißmustheoretischen Modellen beide Extremvarianten als
neurotisch betrachten. Freilich sind selbst extreme Formen von Mut und Durchhaltevermögen
sozial derart hochgeschätzt, daß die zugrundeliegende psychische Störung für Laien nicht
erkennbar und therapeutisch kaum zugänglich ist.
Auf dem Weg in die narzißtische Gesellschaft?
Damit ergibt sich der Übergang zur Beantwortung meiner vierten Frage: wie ist das (Massen)Phänomen der Fun- und Extremsportarten gesellschaftlich zu bewerten? Zunächst scheint nichts
dagegen zu sprechen, daß jeder versucht, nach seiner physiologischen Façon selig zu werden auch der Risikosucher. Dagegen stocke ich schon, wenn von fun- und extremsportlicher
Angstbewältigung oder gar Glückserfahrung die Rede ist. Beide sind den Betreffenden ja
herzlich zu gönnen, doch ich frage mich: werden auf diese Weise Ängste wirklich bearbeitet und
bewältigt - oder nur in sinnlosem Leerlauf 'agiert' und 'genossen'? Und was die philobatischen
Glücks- und Rauschzustände betrifft: werden sie nicht erkauft um den Preis des eigenen
Realitätsbewußtseins und der Verleugnung gesellschaftlicher Realität? Wobei mir das wuchtige
Wort einfällt, mit dem Sigmund Freud (1960c, S. 434) unser "Unbehagen in der Kultur"
begründet: "... die Absicht, daß der Mensch 'glücklich' sei, ist im Plan der 'Schöpfung' nicht
enthalten". Illusionslos fügt Freud hinzu:
"Was man im strengsten Sinne Glück heißt, entspringt der eher plötzlichen Befriedigung hoch
aufgestauter Bedürfnisse und ist seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich.
Jede Fortdauer einer vom Lustprinzip ersehnten Situation ergibt nur ein Gefühl von lauem
Behagen; wir sind so, eingerichtet, daß wir nur den Kontrast intensiv genießen können..."
Haben da aber die Risikosucher nicht ganz recht, wenn sie ihr privates Glück dort suchen, wo
der Kontrast zum lauen (Un-)Behagen im Alltag am schärfsten ist: im "Thrill" und im Rausch?
Trotzdem wird man - wie angesichts aller Selbst- und Fremdansprüche - auch fragen dürfen:
Wird diese Form von Glückserfahrung nach gelungener Angstbewältigung wenigstens
persönlich produktiv? Die Betroffenen behaupten das. Ihre Protagonisten schwärmen öffentlich
vom Transfereffekt des intimen Umgangs mit Extremsituationen auf ihr privates und berufliches
Leben, was ihnen vom staunenden Publikum und schon gar von verunsicherten Führungskräften
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der Wirtschaft, die nach dem Strohhalm jeder 'Erfolgsmethode' greifen, auch widerspruchslos
abgekauft wird. Gewiß ist dem Astronauten Ulf Merbold zuzustimmen, der Alfred Biolek
anvertraut hat:
"... man muß in seinem Leben versuchen, das Verhältnis zwischen Zugewinn an Erkenntnis oder was auch immer - zum Risiko, das man dafür eingehen muß, zu optimieren ... Wer versucht,
im Leben nur immer ein minimales Risiko auf sich zu nehmen, der macht einen kardinalen
Fehler. Der müßte ja genaugenommen das ganze Leben lang im Bett liegen bleiben..."
(Boulevard Bio: "Die Lust an der Angst?' ARD, 29.1 1. l994).
- doch Ulf Merbold riskiert seine Haut immerhin für ein öffentliches Ziel (von dem man im
übrigen halten mag, was man will). Damit liegt nun auch die Antwort auf die Frage nach dem
gesellschaftlichen Nutzen und evolutionären Vorteil der Risikobereitschaft, an denen der
Amerikaner Michael Apter (1994, Kap. 12) immer noch festhält, wortwörtlich 'in der Luft'.
Evolutionstheoretisch betrachtet besitzt das Bedürfnis nach "Thrills" heutzutage doch allenfalls
in der Raumfahrt, dem letzten grenzüberschreitenden "Up, up, and away", eine Bedeutung - denn
die Erde, das Meer und die Atmosphäre sind durch die "Risikogesellschaft" doch schon
weitgehend ruiniert. Wenn also die Zukunft des Menschen in den Sternen zu suchen ist: bitte
sehr, weiter so! Auf Erden bieten dagegen allenfalls die zivilcouragierten riskanten
Einsatzkommandos von Greenpeace und Robin Wood gesellschaftlich eine Chance auf Gewinn und selbst das schreibe ich nur unter Vorbehalt. Neigt Greenpeace nicht immer stärker zu einer
"Politik der Symbole" (vgl. Voigt 1989)? Was nützen uns spektakuläre (Einzel-)Erfolge auf
symbolisch hochstilisierten Feldern in der Manier von James Bond?
Zum Grundgedanken zurück: Allmählich dämmert es mir, daß ich in meinem Beitrag jene
antihedonistische und bürgerlich-normative Freizeitauffassung vertrete, die Martin Stengel
ironisch gegeißelt hat (s.o. S. 25, 27, 42). Dabei wollte ich gar nicht moralisieren; mein
schärfster Selbsteinwand mündet in die rhetorische Frage: Was hat denn die eher oknophile
bürgerliche Gesellschaft mit ihrer vertieften Bildung zustande gebracht und - schlimmer noch angerichtet?! Sind wir berechtigt, an unseren Philobaten und Fun Kids herumzunörgeln, die ihr
persönliches Glück in Abenteuern und körperlichen Aktionen suchen und dabei - einstweilen
noch - niemanden stören? Was mich so bedenklich stimmt, ist weniger die private Glückssuche
der vereinzelten Vielen, als der unbestreitbare Umstand, daß sich die Gesellschaft als Ganze
dabei immer tiefer in jene "Culture of Narcissism" verstrickt, die Christopher Lasch (1982) in
nahezu allen Sektoren für die USA diagnostiziert hat - kein Wunder, denn die westliche
'Führungsmacht' wurde seit den Tagen der "Pilgerväter" durch die Selektion philobatischer
Immigranten geprägt (Raeithel 1981) und hat inzwischen ihren in Jahrhunderten entwickelten
Sozialcharakter samt den dazugehörenden Lustbarkeiten längst ins ehedem überwiegend
oknophile Europa exportiert. Die Philobaten, die wir einst ins "Land der unbegrenzten
Möglichkeiten" entließen, bleiben nun im Lande, nähren - und vermehren - sich redlich. Was wir
uns damit eingehandelt haben, ist im doppelten Wortsinn 'unübersehbar': eine wachsende
narzißtische Beziehungslosigkeit, (soziale) Kälte und "innere Leere" (Lasch 1982, S. 40ff.) in
den Köpfen vieler Gesellschaftsmitglieder, den lärmenden Leerlauf der Freizeitindustrie - nicht
nur im Bereich des Extrem- und Fun-Sports -, den sinnlos rotierenden Amüsierbetrieb der
"Erlebnisgesellschaft". Diesen "süßen Brei", durch den man sich ins Schlaraffenland durchessen
muß, würzen exponierte einsame Wölfe wie Reinhold Messner dann mit ihren scheinbar
kontrastierenden, heroischen oder gar quasireligiösen Omnipotenzphantasien (die sich bei vielen
Extremsportler/inne/n finden):
"Ich definiere für mich den Grenzgänger so, daß er unterwegs ist zwischen Durchkommen und
Umkommen. [...] Das Ziel ist das Nichtumkommen. Aber das Spiel, das ich spiele, wäre nicht
möglich, wenn die Todesgefahr nicht da wäre ... Eine Expedition, die nicht todesintensiv ist, ist
kein Grenzgang: dann ist sie nur ein kleines Spielchen, Kinderspielchen oder was auch immer..."
(Nachtclub: "Grenzgänger - zwischen Gipfelglück und Absturz ins Nichts", BR III, 23.9.1994)
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"Ich selbst hab' ab und zu das Gefühl, daß ich ... an diesen drei-viertausend Meter großen
Wänden zeichnen kann ... und zwar nicht nur Linien, gedachte Linien, sondern ich lebe diese
Linien. Ich hab' auch das Gefühl, daß nachher diese Linien da sind ... Sie sind da und bleiben für
alle Zeiten. [...] Heute stelle ich mir manchmal vor oder wünsch' ich mir, daß ich über
Jahrzehnte, ja vielleicht für immer einfach nur weitergehe, ... von einem Himalajatal ins nächste,
über Wüsten, über Wälder, ohne irgendwo anzukommen, ohne wieder zurückzuschaun, ... bis die
Welt aufhört ... [...] Entweder hört mein Leben auf oder die Welt auf, und vermutlich isses wohl
so, dass mit meinem Leben auch die Welt aufhört" ("Gasherbrum - der leuchtende Berg", SDR
1984).
Exakt die philobatische Phantasie: Ich und die Welt sind Eins. Und Werner Herzog, der
wahlverwandte Regisseur dieses Films, sekundierte: "Das ist seltsam, weil ganz genau dieselbe
Vorstellung hab' ich auch. Ich möcht' gerne einen Hund haben, einen Huskie, mit zwei
Satteltaschen drauf, aus Leder, und gehn, bis kein Weg mehr übrig ist". Größen-Selbste unter
sich, River of no return. Sind auf der Straße ins Nichts nur Messner und Herzog unterwegs - oder
insgeheim schon ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft? In einer Hommage von Peter Buchka
(BR 1988) an die "ekstatische Welt des Filmemachers Werner Herzog" mit dem Titel "Bis ans
Ende - und dann noch weiter", begeisterte sich Herzog daran,
"...daß wir eben in eine außergewöhnliche Zeit reingeboren sind, ... die's nur drei-viermal in der
Menschheitsgeschichte gibt, nämlich eine heroische Zeit. Mit allen Ingredienzen einer
heroischen Zeit, also wo alle Werte, die bisher da waren, nicht mehr gelten, wo alles außer Kraft
gesetzt wird, wo riesige Entdeckungen gemacht werden, wo's Katastrophen von
unbeschreiblicher Größe gibt..."
"Umwertung aller Werte", der Traum "Zarathustras": "Ich sage euch: man muß noch Chaos in
sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in
euch" (Nietzsche, "Also sprach Zarathustra" 1883, Abschn. 5) - faszinierend und fatal. Natürlich
fasziniert das auch mich würde ich mich sonst immer wieder damit befassen? Doch ich versuche,
gegen meine Faszination anzuschreiben.
Nun wird man einwenden: Herzog, Messner und ihresgleichen sind "rare Vögel", die jeder zwar
kennt und viele bewundern, doch keiner ernstnimmt, schon gar nicht die junge Generation. Der
sei solcherart heroische Ideologie völlig fremd oder "ganz egal"; auch durften der Fun- und
Extremsport nicht in denselben Topf geworfen werden. Der Fun-Sport sei eine Mischung aus
Marketing und (post-)moderner Jugendkultur, die Jugend nutze in aller Unschuld und
Spontaneität ein - zugegebenermaßen verführerisch-überschäumendes - Angebot, wollle nur
ihren Spaß, wisse im übrigen zwischen "Fun" und Ernst durchaus zu unterscheiden, leiste ganz
nebenbei soziale Anpassungsarbeit, und irgendwann sei der ganze Spuk ohnehin vorbei. Die
grämlichen Bedenken der älteren Generation gegenüber der "heutigen Jugend" kenne man doch
seit Olims Zeiten.
Ich wollte, die Kritiker hätten recht, aber ich bleibe skeptisch. Meine Kritik richtet sich ja nicht
gegen die Jugend, sondern gegen eine Erwachsenenwelt, die ihr als Modell dient - wie die
Cracks den Kids und der Extrem- dem Fun-Sport. Die 'Extremisten' reklamieren sogar eine
Vorbildfunktion:
Auf die Frage: "Ich habe von Ihnen gelesen ... : für Sie war es deprimierend, wie schnell
Jugendliche heutzutage aufgeben", antwortete der Extremradfahrer und einstige Jugendpfleger
Hubert Schwarz:
"Das ist richtig. [...] Und ich möcht' Vorbild sein für viele Menschen, daß die auch sagen, o.k.,
man muß bei sich anfangen. Ich kann nicht die Welt verändern wollen und von anderen
erwarten, was zu machen, ich muß, ich kann bei mir anfangen, das kann ich beeinflussen und da
würd' ich gern auch für Jugendliche ein Stück weit ein Vorbild sein." Entsprechend äußerte sich
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der Speedskifahrer Peter Schaupp: "Das fehlt ... den Jugendlichen heutzutage, daß sie sich ein
Ziel vorgeben und das dann erreichen wollen" (DSF offensiv: "Extremsportarten", DSF
6.21993).
Weltveränderung durch Extremradfahren? Ein erstrebenswertes Ziel, mit 250 'Sachen' einen
Berg runterzubrettern? Oder glauben Schwarz und Schaupp an eine gesellschaftlich nützliche
Konvertibilität ihrer zielbezogenen Willenskraft?
Einstweilen arbeitet eine hochspezialisierte Sportartikel- und Dienstleistungsindustrie gezielt
darauf hin, aus uns ein Volk extremer Freizeit-Aktivist/inn/en zu machen, und im Fun-Sport wird
Risikobereitschaft trainiert, deren gesellschaftlich-evolutionärer Nutzen mich immer weniger
überzeugt. Ob freilich die genannten Tendenzen zu einer neuen "basic personality structure", zur
narzißtischen Philobaten-Gesellschaft führen werden, bleibt abzuwarten; zwischen Möglichkeit
und Notwendigkeit liegt ein weites, offenes Feld. Ich frage mich immerhin, wie sich ein
wachsender Teil dieser Jugend der nervösen Unruhe und diffusen Angst in unserer Gesellschaft
eigentlich noch entziehen soll, der steigenden, sinnentleerten Bereitschaft zum Risiko, die - wie
bei anderen zeitgenössischen Verhaltenstentenzen auch - alle Merkmale einer psychischen
Abhängigkeit zeigt (Entzugserscheinungen, Erhöhung der 'Dosis', Reizvariation, Transfereffekte
auf die Ausbildung anderer 'Süchte').
Die "Kultur des Narzißmus" wuchert doch allenthalben: in der verbreiteten 'Körperverfallenheit'
(vgl. den Beitrag von Handschuh-Heiß, S. 167ff. und den Fernsehfilm der Reihe Zeichen der
Zeit: "Aufgegeilt und unbefriedigt. Deutschlands Absturz in die Körperfalle", WDR 1995), bei
der Zunahme narzißtischer Persönlichkeitsstörungen, im beruflichen, Freizeit-, sozialen und
politischen Sektor. Wenn dieser gesellschaftliche Trend sich fortschreibt oder gar potenziert und
sich mit der vom Bremer Informatiker Klaus Haefner zustimmend prognostizierten
sozialevolutionären Entwicklung zur "Homuter-Society" trifft (vgl. Der Spiegel Nr. 10, 1987, S.
92), marschieren wir stracks in den narzißtischen Super-GAU unserer Gesellschaft, deren
"Größen-Selbste" dann zwischen den verwüsteten "freundlichen Weiten" und virtuellen
Hyperräumen hin- und herpendeln werden. Spätestens dann wird es heißen: "Jeder für sich und
Gott gegen alle", (Titel des Kaspar-Hauser-Films von Werner Herzog, 1974).
Text entnommen aus: Hartmann, Hans A., & Rolf Haubl (Hg.): Freizeit in der Erlebnisgesellschaft. Amüsement
zwischen Selbstverwirklichung und Kommerz, Opladen 1996: Westdt. Verlag
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