Reflexive soziale Mechanismen

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Marco Schmitt · Michael Florian · Frank Hillebrandt (Hrsg.)
Reflexive soziale Mechanismen
Marco Schmitt · Michael Florian
Frank Hillebrandt (Hrsg.)
Reflexive soziale
Mechanismen
Von soziologischen Erklärungen
zu sozionischen Modellen
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1. Auflage Dezember 2006
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Lektorat: Monika Mülhausen / Tanja Köhler
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Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in the Netherlands
ISBN 978-3-531-15006-2
Einführung: Die Reflexivität sozialer Mechanismen
5
Inhalt
Einführung: Die Reflexivität sozialer Mechanismen
Marco Schmitt ....................................................................................................... 7
Teil I: Was leistet der Mechanismenbegriff?
Zur Logik mechanismischer Erklärungen in den Sozialwissenschaften
Michael Schmid ................................................................................................... 31
Transintentionale Mechanismen sozialer Selbstorganisation
Roman Langer ..................................................................................................... 65
Zur sozionischen Notwendigkeit mechanistisch-soziologischer Erklärungen
Thomas Kron, Christian W. G. Lasarczyk ........................................................ 105
Teil II: Zur Reflexivität sozialer Mechanismen
Soziale Mechanismen und das struktur-individualistische
Erklärungsprogramm. Zur forschungspraktischen Verortung sozialer
Mechanismen
Andrea Maurer................................................................................................... 141
Die Self-fulfilling prophecy als reflexiver Mechanismus.
Überlegungen zur Reflexivität sozialer Praxis
Michael Florian.................................................................................................. 165
Kommunikative Mechanismen
Reflexive soziale Mechanismen und kommunikationsorientierte
Modellierung
Marco Schmitt ................................................................................................... 203
6
Inhalt
Kommunikation, Kausalität, Struktur – Zur Entstehung sozialer
Mechanismen im Modus kommunikativ vermittelter Reflexivität
Rasco Hartig-Perschke....................................................................................... 229
Reflexion als sozialer Mechanismus zum strategischen Management
autonomer Softwaresysteme
Ingo J. Timm, Frank Hillebrandt ....................................................................... 255
Über die Autoren ............................................................................................... 289
Einführung: Die Reflexivität sozialer Mechanismen
7
Einführung: Die Reflexivität sozialer Mechanismen
Marco Schmitt
Kaum ein soziologischer Diskurs hat sich in den letzten Jahren so sehr um begriffliche Stringenz und kausale Erklärungsfähigkeit bemüht wie der „mechanism-based approach to social theory“ (Hedström & Swedberg 1998a). In diesen
Diskurs wollen wir uns hier mit der Frage einmischen, ob und wie sich das Konzept der sozialen Mechanismen angesichts der inhärenten „Reflexivität“ von
sozialen Zusammenhängen bewähren kann. Angestrebt wird eine Theorieiskussion, die sich an den Stichworten „Erklärung“, „Erzeugung“, „Reflexivität“
festmachen und unterschiedliche Ansätze zu Wort kommen lassen will. Als eine
Besonderheit muss die sozionische Perspektive einiger Beiträge erwähnt werden,
denn der hier vorgelegte Sammelband ist aus dem Schwerpunktprogramm „Sozionik“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft1 hervorgegangen, einem interdisziplinären Forschungsprogramm zwischen Soziologie und Informatik. Das
Konzept sozialer Mechanismen hatte eine starke Anziehungskraft auf die sozioische Diskussion, da eine präzise und möglichst formale Rekonstruktion sozioogischer Theorien zu den Grundanforderungen der sozionischen Arbeit gehört.
Soziale Mechanismen schienen demnach im selben Bestreben um Präzisierung
und Formalisierung der soziologischen Theorie verwurzelt wie auch die Sozionik.2
In dieser Einführung wird es nun darum gehen, zum einen die wesentlichen
Elemente des und die wesentlichen Positionen innerhalb dieses Diskurses noch
einmal kurz zu Wort kommen zu lassen, um dann kurz anzureißen welche Dimensionen von Reflexivität denn in sozialen Mechanismen eine ganz grundlegende Rolle spielen und welche Probleme damit für einen analytisch verstandenen „mechanism-based approach“ verbunden sein könnten. Abschließend soll
ein sich aus dieser Problemlage ergebendes Forschungsprogramm skizziert werden, in das dann auch die in diesem Band versammelten Beiträge einzuordnen
sind.
1
2
Die Herausgeber bedanken sich bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die es ermöglicht
hat, die Themen dieses Sammelbandes auf zwei Tagungen innerhalb des Schwerpunktprogrammes 1077 „Sozionik“ zu diskutieren.
Allerdings steht die sozionische Anbindung nicht im Vordergrund dieses Sammelbandes. Für
eine eingehendere Beschäftigung mit den Zielen und Ergebnissen der Sozionik bieten sich die
folgenden Publikationen an: Malsch 1998 und Florian, Fischer & Malsch 2005.
8
Marco Schmitt
Die Diskussion um soziale Mechanismen
Mittlerweile ist die Diskussion um das Für und Wider des Einsatzes sozialer
Mechanismen in soziologischen Erklärungen, wie auch um die Bestrebungen zu
einer klaren Definition des Begriffs „sozialer Mechanismus“ ein weites Feld.3
Sowohl die mit diesem Begriff verbundenen Ansprüche sind ausgesprochen
heterogen, als auch die Ansichten darüber wie und was mit einem Mechanismus
eigentlich modelliert werden soll. Zudem hat der Begriff auch schon eine etwas
längere Vorgeschichte4, wenn auch häufig nur als ein „proto-concept“.5 Dies
führt zu einer alltagsprachlichen oder einfach nur idiosynkratischen Verwendungsweise, die einen Vergleich zwischen verschiedenen Theorien oder Modellen, die als Mechanismen deklariert werden (so auch Hedström & Swedberg
1998b: 5), schwierig bis unmöglich macht. Versuchen wir also das Feld etwas zu
lichten, indem wir wesentliche Ansätze und Positionen innerhalb dieser Diskussion herausarbeiten.
Den Begriff „sozialer Mechanismus“ für die soziologische Theoriebildung
stark gemacht und ihn als soziologisches Konzept ausformuliert zu haben, wird
gemeinhin Robert K. Merton zugeschrieben.6 Der soziale Mechanismus wird
dabei als Prozess definiert, der nachweisbar bestimmte Effekte oder Konsequenzen für eine bestimmte Sozialstruktur aufweist (Merton 1968: 43). Dabei verbindet er zwei forschungspraktische Zielsetzungen mit seiner Definition eines sozialen Mechanismus: Zum einen dienen soziale Mechanismen zur Prononcierung
seines Ansatzes zu Theorien mittlerer Reichweite, da sie eine mittlere Ebene
zwischen kausalen Gesetzen und Beschreibungen einnehmen; zum anderen stellen sie nach Meinung von Merton das zentrale Forschungsprogramm für die
Soziologie dar.7 Eine Theorie mittlerer Reichweite ist demnach immer auf der
3
4
5
6
7
Eine Übersicht über die Vielzahl neuerer Definitionen eines „sozialen Mechanismus“ gibt Mahoney in seiner Rezension zum Sammelband von Hedström und Swedberg (Mahoney 2001).
Klingen die meisten Definitionen auf den ersten Blick noch recht ähnlich, werden doch bestimmte Details mit unterschiedlicher Gewichtung oder Vehemenz genannt oder auch weggelassen.
So weisen Hedström und Swedberg die Verwendung des Begriffs schon in einem Lehrbuch von
Albion Small aus dem Jahre 1905 (Small 1905: 401-402) nach (Hedström & Swedberg 1998b: 5).
Im Sinne Robert Mertons, der ausführt: „ a proto-concept is an early, rudimentary, particularized,
and largely unexplicated idea ...; a concept [on the other hand] is a general idea which once having been defined, tagged, substantially generalized, and explicated can effectively guide inquiry
into seemingly diverse phenomena.” (Merton 1984: 267)
Als kleine kritische Anmerkung zu dieser Sichtweise sei hier nur angemerkt, dass der Begriff bei
Merton in kritischer Auseinandersetzung mit dem struktur-funktionalistischen MechanismenBegriff bei Parsons entwickelt wird, der mit aller Wahrscheinlichkeit ebenfalls ein ausgearbeitetes soziologisches Konzept darstellt. Sein Konzept unterscheidet sich jedoch von Mertons durch
die funktionalistische Perspektive und dem Streben nach ein universalen Theorie des Sozialem.
Wie Hedström und Swedberg in Anlehnung an Merton zusammenfassen: „... that it constitutes
the main task of sociology to ‚identify’ mechanisms and to establish under which conditions they
Einführung: Die Reflexivität sozialer Mechanismen
9
Suche nach bestimmten sozialen Mechanismen, die erklären können, wie eine
bestimmte Sozialstruktur erzeugt, erhalten oder auch verändert werden kann.
Dennoch ist die von Merton angebotene Definition sehr breit und inklusiv. Sie
scheint keine spezielle Festlegung auf irgendeine grundlegende Theorieentscheidung jenseits ihrer mittleren Reichweite zu beanspruchen (also weder für einen
methodologischen Individualismus noch für sein Gegenüber den Holismus oder
für andere klassische Gegensatzpaare der Soziologie). Es geht nur um Prozesse
die bestimmte Konsequenzen für bestimmte Sozialstrukturen haben, wobei der
Schwerpunkt des Satzes auf dem „bestimmt“ liegt. Merton Ansatz kann demnach
nicht ohne weiteres durch Vertreter bestimmter theoretischer Grundsatzentscheidungen herangezogen werden, die nichts mit der Reichweite der verfolgten Theorien zu tun haben. Nichtsdestotrotz haben wir es hier mit einem ausformulierten
und klar bestimmten Konzept von sozialen Mechanismen zu tun, das auf Prozesshaftigkeit, Kausalität und mittlere Reichweite oder ein mittleres Generalisierungsniveau (Schimank 2002) setzt.
Im folgenden sollen drei Ansätze angesprochen werden, die alle mit einem
gewissen Einfluss in der neueren Debatte um soziale Mechanismen zu Wort
gekommen sind: (1) Die Position der analytischen Ansätze, die sich in der direkten Nachfolge Mertons sehen; (2) die Position der historischen Soziologie, die
mit den Konzepten von Pfadabhängigkeit und kausaler Rekonstruktion einen
wesentlichen Beitrag für die Mechanismendebatte liefern können; (3) und
schließlich die Position der funktionalistischen Erklärung, dem „alten Gegenspieler“ strikt kausaler Erklärungsmodelle.
(1) Die stärkste und derzeit vernehmlichste Position innerhalb der Debatte
nehmen wohl die unter anderem bei Hedström und Swedberg (Hedström &
Swedberg 1998a) versammelten analytischen Ansätze ein, die sich durch ihr
Bekenntnis zum methodologischen Individualismus auszeichnen. Diese sind zum
einen durch ihre explizite Kritik an der Korrelationsanalyse hervorgetreten, die
als theoriefreie Empirie oder Statistik angegriffen wird, zum anderen durch ihre
Kritik der Postulierung makrosozialer Gesetze, denen jegliche Bindung an empirische Überprüfbarkeit abhanden gekommen ist.8 Das dort vertretene Konzept
der sozialen Mechanismen beansprucht, den Zusammenhang von Handlungskalkülen, Prozessdynamiken und Sozialstrukturen auf neuartige Weise zu erklären,
indem es von drei Prinzipien (Hedström & Swedberg 1996: 286f.) ausgeht: (a)
direkter Kausalität, (b) begrenztem Geltungsbereich und (c) methodologischem
Individualismus. Vergleicht man diese Position mit der von Merton, stellt man
8
‚come into being’, ‚fail to operate’, and so on (Merton 1968: 43-44).” (Hedtsröm & Swedberg
1998a: 6)
Hier also in der Tat in der direkten Nachfolge Mertons, der genau diese Ebene der Theoriebildung mit seinen „middle-range theories“ ansprechen wollte.
10
Marco Schmitt
fest, dass die Schwerpunktsetzung auf den methodologischen Individualismus
bei Merton praktisch nicht erwähnt wird (Merton 1968). Dennoch ist sie für die
analytischen Ansätze kennzeichnend, die in sozialen Zusammenhängen nur Individuen, Akteure als Träger der Kausalität anerkennen. Exemplarisch dafür ist
diese Ansicht: „In the social sciences, however, the elementary ‚causal agents’
are always individual actors, and intelligible social science explanations should
always include explicit references to the causes and consequences of their actions.“ (Hedström & Swedberg 1998a: 12) Als “kausale Agenten” stellen individuelle Akteure hiernach die Verbindung zwischen sozialen Ausgangszuständen
und beobachtbaren Struktureffekten dar, ohne die eine Erklärung des Zusammenhangs nicht als vollständig angesehen werden kann. Demnach lassen sich
alle makrosozialen Phänomene als Struktureffekte aus der dynamischen Aggregation von individuellem Akteurshandeln von unten nach oben ableiten, sozialer
Strukturwandel lässt sich dementsprechend als „Makro-Mikro-Makro-Transition“
kausal begründen. Damit eröffnen sich neue Möglichkeiten einer kausalen Rekonstruktion, welche die „variablensoziologische“ Verkürzung von Kausalität
auf Korrelation überwindet, indem sie operativ genau nachzuweisen versucht,
wie soziale Struktureffekte aus dem Akteurshandeln emergent erzeugt werden.
Insofern werden, und das ist der springende Punkt, Erklärungsmechanismen als
Erzeugungsmechanismen konzipiert. Es wird auch häufig direkt eine Theorie der
sozialwissenschaftlichen Erklärung mit diesem Ansatz verbunden. Dabei muss
jede Erklärung von Effekten auf der makrostrukturellen Ebene von Sozialität
dadurch erklärt werden, dass Akteure die soziale Ausgangssituation wahrnehmen
und deuten. Auf der Grundlage dieser Deutungen treffen sie eine Entscheidung
für eine bestimmte Handlung und zusammen mit den Handlungen anderer Akteure, welche die Situation ebenso oder ganz anders deuten, bringen sie so einen
Effekt auf der makrostrukturellen Ebene zustande. Die zusätzliche Einschränkung des Konzeptes sozialer Mechanismen auf individualistisch argumentierende Theorien gibt dem Begriff sehr klare Konturen und sorgt für eine durchstrukturierte Anleitung zur Konstruktion solcher „Theorien mittlerer Reichweite“,
„unvollständiger Theorien“ oder „sometimes true theories“. Allerdings kann man
sich fragen, ob diese weitere Beschränkung nicht auch mit spezifischen Nachteilen erkauft wird. Diesem Punkt wird noch nachzugehen sein, wenn die anderen
beiden für die hier anzustoßende Diskussion wesentlichen Positionen innerhalb
der Debatte zur Sprache kommen.9 Dieser analytischen Position lassen sich ge9
Es muss hier jedoch angeführt werden, dass die Vertreter der Korrelationsanalyse oder „sozialer
Gesetze“ in der Debatte nur die Rolle der Kritisierten spielen. Deshalb werden diese Positionen
hier nicht ausführlich nachgezeichnet. Wie schon klar geworden sein dürfte, richtet sich die Kritik schon seit Merton gegen die Theorie- und Erklärungslosigkeit der Korrelationsanalyse, wie
gegen die Unüberprüfbarkeit von aus universalen Theorieentwürfen abgeleiteter „sozialer Gesetze“.
Einführung: Die Reflexivität sozialer Mechanismen
11
nereller gesprochen auch viele Rational-Choice-Ansätze mit begrenzter Reichweite sowie die strukturindividualistische Ansätze10 zurechnen. Immer sind sie in
der Nachfolge Mertons mit einem expliziten Erklärungsprogramm verbunden,
dessen markanteste Kennzeichen die Makro-Mikro-Makro-Struktur des Erklärungsarguments und die Mikrofundierung auf der Grundlage eines methodischen
Individualismus sind. Ein wesentlicher Verdienst der analytischen Position ist es,
die Diskussion über die Erklärungsansprüche der Soziologie neu befeuert und
diese Debatte über das Konzept sozialer Mechanismen zwischen Gesetzen und
Korrelationen neu fokussiert zu haben.
(2) Neben der einflussreichen analytischen Position verdienen auch die Positionen der historischen Soziologie zu sozialen Mechanismen eine nähere Berücksichtigung. Hier findet eine ausgedehnte methodologische Diskussion statt,
die sich allerdings eher implizit mit sozialen Mechanismen beschäftigt11. Dieses
methodologische Interesse hängt damit zusammen, dass die Reichweite von Generalisierun-gen über historische Ereignisse als singuläre Ereignisse schon immer zur Debatte stand und damit auch die Theoriefähigkeit der Geschichtswissenschaft (Welskopp 2002) im Sinne eines sozialwissenschaftlichen Erklärungsprogramms, wie es in der analytischen Position zu sozialen Mechanismen vorgestellt wird. Zwei Kennzeichen der historischen Soziologie lassen die hier verstärkt zu findende Beschäftigung mit sozialen Mechanismen plausibel erscheinen: Zum einen geht es in der historischen Soziologie praktisch immer um
Partialerklärungen, also um „Theorien mittlerer Reichweite“; und zum anderen
spielt die zeitliche Abfolge von kausalen Schritten eine dominante Rolle bei der
Erklärung eines historischen Ereignisses. Dieser sequentiellen Ordnung der Erklärungen kommt die grundlegende Prozessualität (Mayntz 2002: 24f und 2005:
207) des mechanismischen Ansatzes entgegen. Vielleicht ist gerade deshalb die
historische Soziologie eine Fundgrube für soziale Mechanismen. Hier sollen vor
allem zwei Aspekte hervorgehoben werden, die in den analytischen Positionen
eine geringere Aufmerksamkeit erfahren haben: Probleme der Pfadabhängigkeit
in soziologischen Erklärungen und die Bedeutung der Ordnung sequentieller
Schritte in kausalen Mechanismen. Durch den Zusammenhang von Prozessualität und Historizität soziologischer Erklärungen gelten Pfadabhängigkeiten als ein
wesentlicher Bestandteil des Ursache-Wirkungs-Ablaufmusters (Schimank 2002:
155), das einen sozialen Mechanismus auszeichnen soll. Mahoney weist darauf
10 Wie der von Scharpf und Mayntz vertretene akteurszentrierte Institutionalismus (Scharpf 2000
und Mayntz & Scharpf 1995) oder auch die soziologischen Erklärungsprogramme von Schimank
(2000), Schmid (2004 und 2005) und Esser (zum Erklärungsprogramm 1993 und speziell zu seinem Mechanismenbegriff 2002).
11 Beispielhaft aus der Fülle von kausal-rekonstruktiven Analysen wären zu nennen McAdam,
Tarrow & Tilly (2001) oder Pierson (1994).
12
Marco Schmitt
hin, dass dies schon seit einiger Zeit sowohl von historischen Soziologen, als
auch von ökonomisch orientierten Historikern so gesehen wird (Mahoney 2000:
507). Er gibt auch eine schöne Definition des Begriffs der Pfadabhängigkeit, die
diesen sehr nah an die Mechanismen-Debatte heranführt: „..., I argue that path
dependence characterizes specifically those historical sequences in which contingent events set into motion institutional patterns or event chains that have
deterministic properties.” (Mahoney 2000: 507) Nach dieser Maßgabe können
zwei mechanismische Varianten der Pfadabhängigkeit unterschieden werden:
selbstverstärkende Sequenzen und reaktive Sequenzen (Mahoney 2000: 508f),
wobei das Gewicht auf der inhärenten Sequenzialität des Prozesses und einem
kontingenten Auslöseereignis liegt.12 Die auslösenden Ereignisse bestimmter
Pfadabhängigkeiten werden deshalb auch als „turning points“ (Abbott 1997)
oder „critical junctures“ (Thelen 2002: 99) bezeichnet, denen das besondere
Interesse mechanismischer Erklärungen gelten müsse. In der Diskussion über
Pfadabhängigkeit wird schon deutlich, dass der Fokus kausaler Erklärungen auf
der geordneten Sequenzialität des Prozesses liegen sollte: „causal analysis is
inherently sequence analysis“ (Rueschemeyer, Stephens & Stephens 1992: 4).
Der temporale Kern eines sozialen Mechanismus muss offen gelegt werden,
Schritt für Schritt muss das kausale Zusammenwirken bestimmter Ereignisse
nachgezeichnet werden, um haltbare soziologische Erklärungen zu erzeugen.
Insofern sind soziale Mechanismen immer als temporale Ordnungen zu verstehen, da erst die zeitliche Schrittfolge markiert, über welchen Weg die Beziehung
zwischen den strukturellen Ausgangsbedingungen und den beobachteten Effekten hergestellt wird. Die Bedeutung der Diskussionen in der historischen Soziologie für die Mechanismen-Debatte liegt demnach vordringlich in ihrer verstärkten Fokussierung auf Fragen der Zeitlichkeit, der sie mehr Aufmerksamkeit
schenken als viele klassisch analytische Ansätze. Dennoch wird in den Untersuchungen zur „event history“ zumeist keine radikale Kritik an der analytischen
Position geübt, wenn auch der Hinweis gestattet sein mag, dass die in der historischen Soziologie diskutierten Mechanismen häufig ohne expliziten Bezug auf
den methodologischen Individualismus auskommen. Allerdings kommen in der
historischen Soziologie auch kausalitätskritische Stimmen zu Wort, die für einen
konsequenten Perspektivwechsel „from causes to events“ (Abbott 1992) werben
und „events“ als narrative Verknüpfungen auffassen, die es typologisch zu ordnen gilt. Von hier aus lassen sich überdies auch Anschlüsse an ein systemtheoretisches Ereigniskonzept gewinnen, wonach Kommunikationsereignisse als
12 Genauer gibt Mahoney drei Definitionskriterien für Pfadabhängigkeit an: (1) kausale Prozessen
mit einer starken Abhängigkeiten von frühen Ereignissen, (2) kontingentes Auftauchen der auslösenden Ereignisse und (3) relativ deterministische kausale Ablaufmuster, wenn der Prozess erst
einmal gestartet wurde (Mahoney 2000: 510f).
Einführung: Die Reflexivität sozialer Mechanismen
13
„Temporalatome“ des Sozialen (Luhmann 1984: 389) aufgefasst werden. Es
handelt sich um Elementarereignisse, worin sich Mitteilung, Information und
Verstehen zu einer Einheit verbinden. So gesehen kann es von Kommunikationsereignis zu Kommunikationsereignis nur um „Anschlussfähigkeit“ gehen, aber
nicht um „Kausalität“, weil die generative Kraft der Mitteilungsselektion stets
durch die generative Kraft der Verstehensselektion vermittelt und durchkreuzt
wird. Dass sich in der operativen Vernetzung von Kommunikationsereignissen
dennoch strukturbildende Effekte von unten nach oben einstellen können, soll
damit weder ausgeschlossen noch bestritten werden. Vielmehr geht es um eine
genaue Rekonstruktion dessen was operativ passiert, wenn Kommunikationen
aneinander anschließen und dynamische Netzwerke bilden. Wenn man die Erzeugung von Kommunikationsnetzen als „upward causation“ interpretiert
(Malsch 2005: 20), dann könnte es durchaus Berührungspunkte zu den sozialen
Mechanismen geben. Auch in der neueren Mechanismen-Diskussion geht es ja
um die Genauigkeit einer soziologischen Analyse, die sich nur im Rekurs auf die
operativen Kleinsteinheiten des Sozialen erreichen lässt. Und wenn man soziale
Prozesse operativ genau rekonstruiert, könnte sich vielleicht herausstellen, dass
der Unterschied zwischen Warum- und Wie-Fragen doch nicht so erheblich ist,
wie allgemein angenommen wird.
(3) Eine echte Opposition zum analytischen Konzept sozialer Mechanismen
bieten Ansätze, die an funktionalistischen Erklärungen orientiert sind. Schon in
Mertons Kritik an Parsons (Merton 1968), die wir oben schon erwähnt hatten,
wird diese Frontstellung deutlich. Mit Stinchcombe können wir funktionale Erklärungen folgendermaßen charakterisieren: „By a functional explanation we
mean one in which the consequences of some behavior or social arrangement are
essential elements of the causes of that behavior.“ (Stinchcombe 1987: 80) Die
Folgen dienen als Ursachen innerhalb der Erklärung eines bestimmten Verhaltens. Geht man von einem strikt kausalem Erklärungsverständnis aus, ist diese
Umkehr von Folgen zu Ursachen zunächst einmal problematisch.13 Dennoch
haben sich funktionalistische Theorien als ausgesprochen nützlich für die Erklärung bestimmter sozialer Phänomene erwiesen, da es viele soziale Prozesse gibt,
die ein Verhalten nach seinen Konsequenzen auswählen und stabilisieren.
Stinchcombe spricht von Vorgängen der „reverse causation“ (Stinchcombe 1987:
13 So auch die Einschätzung von Peter McLaughlin in seiner Diskussion der möglichen Rollen von
funktionalen Erklärungen: „The status of functional explanations seems inextricable bound up
with the problem of teleology; and according to countless accounts of the rise of modern science,
it is the rejection of final causes that characterises science in the modern age. Thus, if functional
explanations involve final causality, their scientific status would seem to be open to serious
doubt.” (McLaughlin 2002: 196)
14
Marco Schmitt
99) die im Bereich des Sozialen ubiquitär sind.14 Funktionale Erklärungen werden häufig mit Bezug auf selbsterhaltende Systeme formuliert. Bestimmte Teile
des Systems erfüllen Funktionen zur Erhaltung des Gesamtsystems, die Notwendigkeit der Erfüllung dieser Funktionen wird dann zur Ursache für die Existenz
dieser Systembestandteile oder eines bestimmten Systemverhaltens.15 Funktionale Erklärungen sind deshalb heute vor allem in systemtheoretischen Ansätzen
verbreitet16 und häufig wird auch hier der Mechanismus-Begriff genutzt, um
Problemlösungen zu charakterisieren.17 In der Systemtheorie Niklas Luhmanns
ist dieser Ansatz als funktionale Analyse bekannt und ihr Erklärungswert hängt
von der Möglichkeit ab, die Beziehung zwischen Problemen und Problemlösungen daraufhin zu spezifizieren, welche Lösungen denn möglich sind (Luhmann
1984: 84). Die möglichen Problemlösungen sind dabei zumeist schon durch das
zu lösende Problem eng begrenzt. Dennoch kommt auch bei der funktionalen
Analyse notwendig das Kausalschema zum Einsatz. „Die funktionale Analyse
nutzt so die Möglichkeiten des Kausalschemas als Relationierung zweier Variablen, bei denen jeweils die eine als Bezugspunkt für die Erprobung von Variationsmöglichkeiten der anderen Variablen genutzt wird.“ (Schneider 2005: 256)
Die funktionale Analyse erreicht Erkenntnisgewinne somit durch den Vergleich
verschiedener möglicher Kausalitäten.18 Zur Diskussion um soziale Mechanismen trägt das funktionalistische Programm deshalb in zweifacher Weise bei:
Zum einen als Projektionsfläche für die Abgrenzungsversuche der analytischen
Ansätze mittlerer Reichweite gegen „grand theory“ und teleologischen Kausalitätsvorstellungen und zum anderen durch den Hinweis darauf, das die einfachen Kausalitätsunterstellungen bei sozialen Mechanismen häufig nur zum Teil
tragen und zumindest Ergänzungen bedürfen, die unter den Stichworten „reverse
causation“ und Problemorientierung zusammengefasst werden können. Die Er14 Auf dieses Moment der Sozialität werden wir im nächsten Abschnitt noch näher eingehen, denn
das Phänomen der „reverse causation“, wenn man es so nennen will, leitet schon über zu den
Fragen nach der Rekursivität und Reflexivität sozialer Mechanismen.
15 Diesen Punkt macht auch McLaughlin besonders stark, wenn er schreibt: „But I think that something like the notion of a self-reproducing system is what biologists and sociologists are in fact
committed to, when they use function ascriptions with intent to explain.” (McLaughlin 2002: 211)
16 So schon beim frühen Luhmann, wenn er die Beziehung zwischen Systemtheorie und funktionaler Methode als aufeinander bezogene Elemente eines Forschungsprogramms ausarbeitet (Luhmann 1970a).
17 Als Beispiel sei nur Luhmann angeführt, der schon in einer frühen Schrift Vertrauen als Mechanismus zur Reduktion von Komplexität beschreibt. (Luhmann 1973) Und an anderer Stelle definiert er: „Unter Mechanismus soll demnach eine funktional spezifizierte Leistung verstanden
werden, deren bei Bedarf wiederholte Erbringung in einem System erwartet werden kann, so
dass andere Einrichtungen sich darauf einstellen können. Mechanismen lösen Systemprobleme.“
(Luhmann 1970b: 116)
18 So auch die Relationierung bei Bunge: „Because the functions-mechanisms relation is one-tomany, we should keep the two concepts distinct while relating them.“ (Bunge 2004: 194)
Einführung: Die Reflexivität sozialer Mechanismen
15
klärung ist gerichtet auf Bedingungen der Möglichkeit von sozialen Phänomenen, auf die Erklärung des „Wie“ ihres Zustandekommens (Luhmann 1984: 44
und Schneider 2005: 260), hat also nicht kausalgesetzlichen Charakter, aber den
reklamieren auch die sozialen Mechanismen, die mittels analytischer Ansätze
gewonnen werden nicht für sich. Als Diskussionspartner über soziale Mechanismen bietet die funktionalistische Perspektive Möglichkeiten der kritischen Reflexion des Primats der Kausalorientierung und macht den notwendigen Problemfokus deutlich der zumindest implizit beim Reden von Mechanismen immer
eine Rolle spielt.
Wissenschaftstheoretische Erwägungen spielen in der Debatte um soziale
Mechanismen regelmäßig eine zentrale Rolle. Dies haben wir schon in der Darstellung der einzelnen einflussreichen Positionen mehrfach angemerkt: Es geht
um die Wissenschaftlichkeit bestimmter Erklärungsprogramme, die Rolle die
Kausalität in Erklärungen spielt und um unterschiedliche Kausalitätsverständnisse. Deshalb sollen hier noch mal die zentralen wissenschaftstheoretischen Probleme herausgestellt werden auf die soziale Mechanismen antworten sollen. Wie
schon deutlich geworden sein dürfte, geht es beim Konzept sozialer Mechanismen um ein wissenschaftliches Erklärungsprogramm für die Sozialwissenschaften. Ein grundlegendes Problem, das mit dem Mechanismen-Begriff bearbeitet
werden soll, ist die Stellung kausaler Inferenzen in den Sozialwissenschaften.
Daniel Steel stellt das Problem folgendermaßen dar: „A central problem confronting social research is that an association between two variables can often be
explained by the hypothesis that one is the cause of the other or that both are
effects of a common cause.“ (Steel 2004: 55) Diese doppelte Möglichkeit stellt
für die Sozialwissenschaften ein Problem dar, weil es keine Möglichkeit für kontrollierte Experimente gibt19 und es sehr schwierig ist alle möglichen gemeinsamen Ursachen zu berücksichtigen. Auch wenn man bestreiten kann, dass soziale
Mechanismen deshalb notwendiger Bestandteil sozialwissenschaftlicher Erklärungen sein müssten (Kincaid 1996), so zeigen doch die vielen älteren und neueren Ansätze, dass Mechanismen zumindest helfen dieses Problem zu begrenzen.20 Ein weiteres Problem, dem sich die Debatte noch zu wenig zugewandt hat,
ist unter dem Stichwort „reverse causation“ schon angedeutet worden: Die Stellung von Rückwirkungen und darüber hinaus Beobachtereffekten in sozialwis-
19 Diese Beschränkung könnte durch Erfolge in den Forschungsfeldern der Sozionik (Malsch 1998)
und der Sozialsimulation (Gilbert & Troitzsch 1999) zumindest teilweise aufgehoben werden.
20 So auch die abschließende Einschätzung von Steel: „What we have, then, is not an argument that
mechanisms are absolutely essential to causal inference in social science. Rather, we have a variety of reasons for thinking that without process tracing, causal inference in social science would
be significantly more difficult than it actually is.” (Steel 2004: 75)
16
Marco Schmitt
senschaftlichen Erklärungen. Damit sind wir beim Thema Reflexivität und was
man unter reflexiven sozialen Mechanismen verstehen könnte.
Dimensionen der Reflexivität
Reflexivität ist ein Grundphänomen der sozialen Welt. So weit herrscht mehr
oder weniger Einigkeit unter den verschiedensten theoretischen Lagern. Andererseits ist es keineswegs so klar und einheitlich was man unter Reflexivität in
diesem Zusammenhang zu verstehen hat. Als möglichen Ausgangspunkt hatten
wir oben schon das von Stinchcombe ins Spiel gebrachte Konzept einer „reverse
causation“ genannt. Die Folgen einer bestimmten Ursache wirken „zurück“ auf
die Be-ingungen dieser Ursache. Anders formuliert: Der Output bestimmt den
Input mit. Klassischerweise ist hier an Beobachter- und Rückkopplungseffekte
zu denken, wie schon in Mertons ausgearbeitetsten Beispiel eines sozialen Mechanismus, der „self-fulfilling prophesy“ (Merton 1968b). Eine Initial falsche
Einschätzung der Lage begünstigt ein Verhalten, das die falsche Einschätzung
immer wahr-cheinlicher macht und sie irgendwann eintreten lässt. Die Selbstverstärkung liegt dabei in der Beobachtung des Verhaltens auf der Grundlage einer
bestimmten Lageeinschätzung, die zu einer ähnlichen Einschätzung der Lage
beim Beobachter führt, der sein Verhalten nun ebenfalls anpasst. Doch kann
dieses Beispiel mit etwas gutem Willen noch als linearer Mechanismus dargestellt werden, wenn man jeden einzelnen Beobachter, seine Lageeinschätzung
und sein ausgewähltes Verhalten in einer Kette darstellt. Es ist jedoch klar, das
sich die Beobachter der Vorgänge häufig parallel entscheiden müssen und nicht
an ihren ersten Lagebeurteilungen festhalten müssen. Damit geht eine gewisse
Linearität verloren und man muss zumindest Multikausalität zwischen den Beobachtern unterstellen, die sich demnach wechselseitig über den ganzen Prozess
hinweg beeinflussen. Zumindest die Reflexivität dieser wechselseitigen Beobachtung dürfte mit Mead als soziale Tatsache festzuhalten sein (Mead 1968).21
Die Berücksichtigung von Reflexivität in sozialen Mechanismen sollte deshalb
von grundlegender Bedeutung für ihre sozialwissenschaftliche Nutzbarkeit sein.
Aber hier stoßen wir schon auf erste Probleme mit der konstitutiven Reflexivität sozialer Situationen. Denn hinsichtlich dessen, was Reflexivität (oder
21 André Kieserling nennt dieses für soziale Situationen konstitutive wechselseitige bzw. reflexive
wahrnehmen auch den Minimalfall von Sozialität und schreibt dazu: „Nun gibt es aber durchaus
eine Reflexivität auch des Wahrnehmens. Man muss sich nur soziale Situationen, nämlich Situationen mit mehr als einem Prozessor für Wahrnehmungen vorstellen, und schon sieht man, daß
auch die Wahrnehmung wahrgenommen werden kann, nämlich am anderen. Man kann sehen,
dass man gesehen wird, und speziell der erwiderte Blick ist durch genau diese Reflexivität der
Wahrnehmung charakterisiert.“ (Kieserling 1999: 117)
Einführung: Die Reflexivität sozialer Mechanismen
17
Reflexion) heißen soll, gibt es höchst unterschiedliche Vorstellungen in der Soziologie. Da wäre zum einen die aus dem Geist der Frankfurter Schule gespeiste
These von der soziologischen Reflexion als Gesellschaftskritik bei Habermas
(Habermas 1994). Dieser recht hoch positionierte und voraussetzungsvolle Reflexionsbegriff kann aber wohl nicht zur soziologischen Ko-Fundierung des Begriffs sozialer Mechanismus dienen. Macht aber schon auf die Selbstbezüglichkeit
der Soziologie als Teil ihres Gegenstandes aufmerksam. Dann taucht der Reflexivitätsbegriff bei Beck und Giddens als Eigenart einer ihre Nebenfolgen thematisierenden Modernisierung auf (Beck, Giddens & Lash 1996). Die Moderne
wird danach selbst reflexiv, weil sie sich ständig mit den oft unerwünschten Nebenfolgen ihrer Entwicklung beschäftigen muss. Dazu richtet sie teils eigenständige Institutionen ein. Man könnte auch sagen: Sie suche ständig nach Mechanismen, um mit ihren selbstgeschaffenen Problemen fertig zu werden. Auch
Pierre Bourdieu nutzt den Reflexivitätsbegriff im Rahmen eines soziologischen
Erkenntnisprogramms: der „Reflexiven Anthropologie“ (Bourdieu & Wacquant
1996). Auch hier mit der Maßgabe die Praxis der Erkenntnis reflexiv zu handhaben, um sich vor Theorie-Effekten zu hüten. Und schließlich ist auch der Ansatz
von Niklas Luhmann zu nennen, der Reflexivität und Reflexion als besondere
Formen der Selbstreferenz sozialer Systeme versteht (Luhmann 1984).
Was auch immer darunter verstanden wird, so herrscht doch eine diffuse
Einigkeit wenigstens in zwei Punkten: (1) Reflexivität von und Reflexion über
gesellschaftliche Phänomene ist als „Beobachtung“ eingewoben in eben diese
Phänomene (z.B. Rückwirkung von Wahlprognosen auf Wahlverhalten). (2) Und
damit steht die Soziologie vor den Erklärungsproblemen eines „selbstimplikativen“, selbst das soziologische Theoretisieren noch in sich einschließenden Forschungsgegenstands, der mit einfacher Kausaltechnik nicht umstandslos traktiert
werden kann. Oder vielleicht doch? Genau das ist die Frage, die an eine Theorie
zu richten ist, die soziale Mechanismen als Erklärungsmechanismen auffasst.
Wir wollen an dieser Stelle deshalb noch einmal zwei Spielarten der Reflexivitätsthematik in der soziologischen Theorie aufgreifen, an denen exemplarisch
die Verbindung zur Problematik sozialer Mechanismen als Erklärungsprogramm
der Sozialwissenschaften aufgezeigt werden kann. Zum einen geht es um den
„reflexiven Akteur“ in den verschiedenen Spielarten individualistischer Ansätze,
zum anderen um das Reflexivitätskonzept bei Niklas Luhmann, der es schon in
einem frühen Aufsatz mit der Diskussion um Mechanismen verknüpfte (Luhmann
1970b).
Kommen wir zunächst zum „reflexiven Akteur“, wie er in individualistischen Ansätzen vorkommen kann. Soziologische Theorien die einen methodologischen Individualismus verfolgen konzipieren ihre handlungstheoretischen Ker-
18
Marco Schmitt
ne22 häufig als Entscheidungstheorien. Wenn man dem Handeln von Akteuren
eine solche Entscheidungstheorie zu Grunde legt, impliziert man damit schon ein
minimales reflexives Moment, das in jeder Handlung vorkommt, da die Handlung strikt mit einer bewussten Handlungswahl gekoppelt ist.23 Die Akteure sind
dabei ständig mit der Deutung ihrer Situation als Raum von Handlungsalternativen beschäftigt, deren Eintrittswahrscheinlichkeiten und Nutzen evaluiert werden
müssen, um eine Handlungswahl zu treffen. So z. B. auch beschrieben im Akteursmodell von Hartmut Esser, der den Akteur explizit als rational, reflexiv,
erwartend, evaluierend und maximierend definiert (Esser 1993: 231ff).24 Die
Reflexivität sozialer Zusammenhänge wird damit also immer schon berücksichtigt, denn die Akteure selbst beurteilen ihre Situation ständig neu und reagieren
auf beobachtete Situationsänderungen. Hier liegt auch einer der Gründe, warum
Reflexivität in den analytischen sozialen Mechanismen häufig keine Rolle zu
spielen scheint, obwohl sie sich als Weiterführung der Merton’schen Konzeption
betrachten, dessen Beispiel der „self-fulfilling prophecy“ ein Paradebeispiel für
einen reflexiv wirksamen sozialen Mechanismus darstellt (Merton 1968b).25 In
das kausale Agens der so beschriebenen Mechanismen, den entscheidenden und
handelnden Akteur, ist die Sozialität kennzeichnende Reflexivität immer schon
„eingebaut“. Seine Zuwendung zur sozialen Situation und die Wahl seiner Handlung erfolgen selbst immer schon reflexiv.
Kontrovers könnte nun sein, was aus dieser Grundansicht folgt. Ist die Reflexivität der Mechanismen nun nicht mehr zu thematisieren, da man voraussetzen kann, dass sowohl Situationsdeutung, als auch Handlungswahl allgemein
reflexiven Charakter haben oder sollten gerade die reflexiven Anteile an der
Vermittlung zwischen den situativen Kontexten und den transformatorischen
sozialen Handlungsaggregationen betont werden. Letzteres liegt nahe, wenn man
den Akteur als grundsätzlich reflexiv betrachtet und gleichzeitig betont, dass der
Akteur es ist, der die sozialen Mechanismen antreibt. Verwunderlich bleibt dann
nur, wohin die Reflexivitätsthematik in der Diskussion um soziale Mechanismen
verschwindet.
22 So auch Schmid in seiner Darstellung des struktur-individualistischen Forschungsprogramms für
die Sozialwissenschaften, dass einen „nomologischen Kern“ in der verwendeten Handlungstheorie hat, die also eine gesetzmäßigen Charakter aufweist, z. B. als Theorie rationaler Handlungswahlen (Schmid 2005: 133).
23 Sicherlich gilt dies hauptsächlich für Theorien der rationalen Handlungswahl, die auch am ehesten einen nomologischen Kern aufweisen und weit weniger für andere soziologische Akteursmodelle, wie den „homo sociologicus“, der sich primär an gesellschaftlichen Normen orientiert,
dem „emotinal man“, dem seine Gefühle anleiten oder dem „Identitätsbehaupter“, bei dem die
Darstellung eines bestimmten Selbstbildes im Vordergrund steht. (Für diese Typisierung von
Akteursmodellen vgl. Schimank 2000)
24 Zusammengefasst im sogenannten RREEMM-Modell.
25 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Michael Florian in diesem Band (S. 157ff.).
Einführung: Die Reflexivität sozialer Mechanismen
19
Bei Niklas Luhmann findet man eine etwas andere Sichtweise auf die Problematik der Kombination von Mechanismus- und Reflexivitätsbegriff. In seinem
Aufsatz „Reflexive Mechanismen“ (Luhmann 1970b) nennt er solche Mechanismen reflexiv, die „auf sich selbst angewandt werden.“ (ebenda: 117) „Wir lernen
das Lernen, regulieren die Normsetzung (...), planen das Planen und erforschen die
Forschung“ (ebenda). Reflexiv wird hier im Sinne einer Anwendung von Prozessen auf Prozesse gleicher Art benutzt. Wobei der Mechanismenbegriff, wie oben
dargestellt, hier wesentlich breiter anzuwenden ist als in den analytischen Ansätzen. Reflexivität konnotiert bei Luhmann stets Prozesshaftigkeit. Selbstreferenz
wird dann reflexiv, wenn sie die Vorher/Nachher-Unterscheidung nutzt, um die
Zugehörigkeit zu einem Prozess zu verdeutlichen (Luhmann 1984: 601).26 Er führt
weiter aus: „Reflexivität nimmt also eine Einheitsbildung in Anspruch, die eine
Mehrzahl von Elementen (oft unzählige) zusammenfasst und der die Selbstreferenz
selbst sich zurechnet. Das heißt vor allem, daß die selbstreferentielle Operation
ihrerseits die Merkmale der Zugehörigkeit zum Prozeß erfüllen muß, also im Falle
eines Kommunikationsprozesses selbst Kommunikation (Kommunikation über
Kommunikation), im Falle eines Beobachtungsprozesses selbst Beobachtung (Beobachtung von Beobachtung), im Falle Eines Machtanwendungsprozesses selbst
Machtanwendung (Anwendung von Macht auf Machthaber) sein muß.“ (Luhmann
1984: 601) Er spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Selektivitätsverstärkung durch die Reflexivität. Ganz im Einklang mit der These das es sich bei
„den reflexiven Mechanismen gerade um den Prozeß zu handeln (scheint; Einf.
von M. S.), mit dem aus kleinen Systemen große gebildet werden.“ (Luhmann
1970b: 128) Reflexivität ist also eine Bedingung der Zurechnung zu größerformatigen Sinneinheiten. Luhmann gibt also eine klare Bedingung für Reflexivität vor,
die Selbstanwendung eines Prozesses auf sich selbst.
Von diesem Ansatz aus gesehen gibt es ein klares Unterscheidungsmerkmal
für die Reflexivität sozialer Mechanismen und an diesem Merkmal kann man
untersuchen, ob es sich um einen reflexiven Mechanismus handelt oder nicht. Es
bleiben jedoch auch einige Fragen offen, denn einfache Rekursionsmechanismen, wie die oben zitierte „reverse causation“ fallen aus Luhmanns Beschreibung heraus. Auch die oben beschriebene reflexive Bezugnahme von Akteuren
auf soziale Situationen würde Luhmann nicht als Reflexivität fassen, da hier die
keine Selbstanwendung von Prozessen zu erkennen ist.
Wie man sieht bleibt hier einiges offen und auch die Kompatibilität der unterschiedlichen Behandlungen der Reflexivitätsthematik ist keineswegs gewährleistet. Dennoch sollte klar geworden sein, dass soziale Mechanismen in den
26 Reflexion ist demgegenüber noch voraussetzungsreicher, weil hier die System/Umwelt-Unterscheidung benutzt werden muss, um die Systemzugehörigkeit, also Identitätsfragen, zu behandeln
(Luhmann 1984: 601f.).
20
Marco Schmitt
seltensten Fällen oder gar nicht auf die Thematisierung und Einbeziehung von
Reflexivität verzichten können. Weiterhin muss festgestellt werden, dass sich
hier immer noch eine Lücke in der Debatte um den Mechanismenbegriff auftut,
die innerhalb dieses Sammelbandes deutlich gemacht werden soll.
Dennoch lässt sich von hier aus das Reflexivitätsthema in zwei Richtungen
ausarbeiten: (i) als inhärente Reflexivität von Erzeugungsmechanismen und (ii)
als aparte, spezialisierte Erzeugungsmechanismen von Reflexivität. (ad i) Als
Eigenschaft allen sozialen Handelns verstanden, lässt sich Reflexivität als Beobachtung in einfache Mechanismen einbauen: Akteure (soziale Systeme) beobachten die Struktureffekte ihrer (Inter)Aktionen (Kommunikationen) und berücksichtigen dies in ihrem weiteren Handeln – oder auch nicht. Aber was
passiert mit jenen Struktureffekten, die aus der Perspektive des Alltagsgeschehens unbeobachtbar und damit der direkten individuellen Reflexion entzogen
sind? (ad ii) Dafür richtet die Gesellschaft bestimmte Institutionen ein, die auf
Reflexivität spezialisiert sind und nichts anderes tun, als Struktureffekte auf Dysfunktionen hin zu beobachten (Beobachtungseinrichtungen, Frühwarnsysteme).
Nimmt man die Theorie sozialer Mechanismen beim Wort, so sollte es möglich
sein, die Erzeugung institutionalisierter Reflexivität aus denselben Erklärungsprinzipien abzuleiten wie alle anderen makrosozialen Struktureffekte auch. Doch
wie lässt sich ein dermaßen starker Anspruch überhaupt einlösen? Lässt sich im
operativen Detail zeigen, was passiert, wenn „latente“ Erzeugungsmuster sozialer Phänomene „explizit“ kommuniziert werden?
Um den umfassenden Erklärungsanspruch von Erzeugungsmechanismen –
der sich bislang nur an einfachen Partialerklärungen bewähren konnte – durch
baukastenmäßige Verkopplung von „clean mechanisms“ zu immer komplexeren
„dirty models“ (Schimank 2005) kumulativ einzulösen, bietet es sich im Anschluss an Luhmann an, zunächst zwischen primären (einfachen) und sekundären
(reflexiven) Mechanismen zu unterscheiden, auch wenn Reflexivität als eine
durchgängige soziale Tatsache anzusehen wäre, die jegliche Ausformung von
Sozialität durchzieht. Davon ausgehend wäre operativ zu zeigen, (1) wie reflexive Mechanismen durch Primärmechanismen erzeugt werden, (2) wie reflexive
Mechanismen auf ihre Primärmechanismen zurückwirken (3) und wie sich die
rekursive Kopplung von Reflexions- und Primärmechanismen (auch sozionisch)
modellieren lässt.
Einführung: Die Reflexivität sozialer Mechanismen
21
Die Untersuchung reflexiver sozialer Mechanismen als
Forschungsprogramm
Soweit zur provisorischen Einführung in ein Thema, zu dem wir Beiträge aus
unterschiedlichen Theorierichtungen vergleichend miteinander ins Gespräch
bringen möchten. Es geht also um einen thematisch spezifizierten Theorienergleich. Ob dabei Kausaltechniken, Funktionalismen, Handlungskalküle, Selbsteferenzen oder andere Konzepte besser oder schlechter abschneiden werden,
muss den Rezipienten dieses Sammelbands überlassen bleiben.
Der Sammelband gliedert sich grob in zwei Blöcke: Während die Beiträge
des ersten Blocks „Was leistet der Mechanismenbegriff?“ noch einmal integrative Perspektiven auf die Debatte um soziale Mechanismen werfen und das mechanismische Erklärungsprogramm für die Sozialwissenschaften prononciert,
wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven vorstellen, wendet sich der zweite
Block „ Zur Reflexivität sozialer Mechanismen“ deutlich expliziter dem Reflexivitätsthema zu und die einzelne Beiträge versuchen Antworten auf die Fragen zu
finden, die diese Thematik an Konzepte sozialer Mechanismen stellt. Aus dieser
Verbindung sollen sich dann die Konturen eines möglichen Forschungsprogramms abzeichnen, das vor allem zwei Vorzüge miteinander verbinden soll:
Zum einen geht es darum, die dezidierten Stärken mechanismischer Erklärungen,
wie den klaren Problemzuschnitt, die formale Modellierbarkeit und die Identifizierung von Eingriffsmöglichkeiten und Stellschrauben zur Steuerung sozialer
Prozesse, für die Sozialwissenschaften stark zu machen und zum anderen geht es
auch darum das Konzept in einer spezifischen Hinsicht auszuweiten, so dass
mechanismische Erklärungen eine höhere Adäquanz und Plausibilität für die
unterschiedlichsten Anwendungsfälle sozialwissenschaftlicher Theorien gewinnen, in denen Kommunikation und Reflexivität eine weit stärkere Rolle spielen,
als es in der Debatte um soziale Mechanismen bisher berücksichtigt wurde.
Michael Schmid leistet zur Einführung in den ersten Block mit seinem Beitrag „Zur Logik mechanismischer Erklärungen in den Sozialwissenschaften“
gleich eine umfassende wissenschaftstheoretische Verortung eines mechanismischen Erklärungsprogramms. Dabei steht für ihn die Frage im Vordergrund ob es
sich bei der Soziologie um eine erklärende Wissenschaft handelt, was seit ihrer
Institutionalisierung auch immer wieder bestritten worden ist. Das von ihm vorgestellte mechanismische Forschungsprogramm unter der Prämisse, „dass sozialwissenschaftliche Erklärungen unter Rekurs auf eine gehaltvolle Handlungstheorie als mikrofundierende Mehrstufenerklärungen makroskopischer Sachverhalte
anzulegen sind“ (S. 30), beabsichtigt die klare Positionierung der Sozialwissenschaften als erklärende Wissenschaften. Dazu sollte jede Erklärung vier Schritte
beinhalten: (i) eine mikrofundierende nomologische Handlungstheorie, (ii) An-
22
Marco Schmitt
gaben über die Handlungssituation, (iii) Mechanismen die nicht-reduktive Kollektiveffekte nach sich ziehen und (iv) mögliche Rekursionswirkungen dieser
Effekte auf die Handlungssituation. Es wird deutlich, dass ein klar benennbares
Forschungsprogramm die charakteristischste Stärke des mechanismischen Erklärungsansatzes ist.
Auch der Beitrag „Transintentionale Mechanismen sozialer Selbstorganisation“ von Roman Langer interessiert sich für die integrative und grenzüberschreitende Kapazität des Mechanismen-Ansatzes. Mit einem eigenen Vorschlag auf
der Basis der Konzepte Transintentionalität und Selbstorganisation versucht er
diese grenzüberschreitenden Möglichkeiten zu maximieren. Dabei betont sein
Ansatz die nicht-deterministische Seite sozialer Mechanismen, denn ein Mechanismen-Modell gebe nur einen „Möglichkeitsspielraum“ an (S. 83). Exemplarisch wird dies am Beispiel der Bildung und Auflösung von Institutionen dargestellt. Darüber hinaus betont der Ansatz auch die vielseitigen Kopplungsmöglichkeiten unterschiedlichster Mechanismen in Modellen, die zugleich „an
allgemeinen, grundlegenden Verhältnissen ansetzen (...) und problemspezifisch
und gegenstandssensibel sind.“ (S. 93).
Eine sehr viel stärker sozionisch ausgerichtete Perspektive bieten zum Abschluss des ersten Blocks Thomas Kron und Christian Lasarczyk mit ihrem Beitrag „Zur sozionischen Notwendigkeit mechanistisch-soziologischer Erklärungen“. Der Schwerpunkt der Argumentation liegt auf der These, „dass soziologischen Erklärungen eine Notwendigkeit innewohnt, auf Computersimulationen
zurückzugreifen.“ (S. 101) Das mechanistische Erklärungsprogramm wird dabei
als optimaler Ausgangspunkt für die Übertragung soziologischer Theorien auf
Computersimulationen identifiziert. Vor allem die Nicht-Vorhersehbarkeit des
Zusammenwirkens verschiedener Kausalfaktoren in komplexen sozialen Mechanismen macht es den Autoren nach notwendig, auf sozionische Simulationsexperimente zurückzugreifen. Ein solches Experiment wird dann zum Abschluss des
Beitrages vorgestellt und mit seinen Ergebnissen präsentiert.
Der zweite Block startet mit einem Beitrag von Andrea Maurer über „Soziale Mechanismen im struktur-individualistischen Erklärungsprogramm“, der noch
stark an den ersten Block angelehnt ist, indem er einen deutlichen Schwerpunkt
auf die Erklärungskraft sozialer Mechanismen legt. Dabei dient das strukturindividualistische Erklärungsprogramm als Integrationsperspektive für den Vergleich und die Zusammenführung der vielfältigen Mechanismen, die bislang von
der Soziologie „entdeckt“ worden sind. Das Grundmodell der Makro-MikroMakro-Erklärung oder 'Badewanne' wird jedoch hier explizit um die Möglichkeit
einer „Rück-Schleife zur Anfangssituation“ (S. 146) erweitert, es findet also eine
Integration von grundlegender sozialer Reflexivität in der Form einer „reverse
causation“, wie sie oben dargestellt wurde, statt. Diese Erweiterung wir dann am
Einführung: Die Reflexivität sozialer Mechanismen
23
Beispiel der sozialen Reperaturmechanismen 'Abwanderung' und 'Widerspruch'
diskutiert und dargerstellt.
Michael Florian’s Beitrag „Die Self-fulfilling prophecy als reflexiver Mechanismus. Überlegungen zur Reflexivität sozialer Praxis“ hat einen klaren Fokus auf die inhärente Reflexivität sozialer Prozesse. Diskutiert wird dies an Mertons prominentesten Beispiel eines sozialen Mechanismus, eben der 'selffulfilling prophecy'. Die bei Hedström und Swedberg eingeführte Typologie
sozialer Mechanismen wird deshalb um einen reflexiven Mechanismus zirkulärer
Verstärkung erweitert, der erst erklären kann, warum eine 'self-fulfilling prophecy' funktioniert. Die Selbsterfüllung ist demnach begründet „in der wechselseitigen Stimulation und 'interaktiven Rückkopplung' zwischen den AktionsReaktion-Sequenzen der Akteure“ (S. 178). Damit lässt sich die Unterscheidung
von linearen und reflexiven Mechanismen stark machen, die dann am Beispiel
des Vertrauens erläutert wird. Schließlich wird mit dem praxistheoretischen Instrumentarium von Pierre Bourdieu nachgewiesen, dass der „Schlüssel zum Verständnis und zur Erklärung der Self-fulfilling prophesy ... die soziale Genese und
Wirksamkeit eines kollektiven Glaubens- und Wissenssystems (ist, Einf. M. S.),
das in der Lage ist, die Akteure dazu zu bringen, fragwürdige oder falsche Realitätsdefinitionen für wahr zu nehmen.“ (S. 183)
Die beiden folgenden Beiträge von Marco Schmitt und Rasco HartigPerschke beschäftigen sich aus einem etwas anderen Blickwinkel mit dem Konzept reflexiver sozialer Mechanismen. Beide gehen von einer dezidiert kommunikationstheoretischen Perspektive aus. Schmitt's Beitrag „Kommunikative Mechanismen. Reflexive soziale Mechanismen und kommunikationsorientierte
Modellierung“ versucht darzulegen, warum es Sinn macht, das Konzept sozialer
Mechanismen um eine kommunikationstheoretische Fundierung neben der akteurstheoretischen Fundierung zu erweitern. Auf der Ebene der Aggregationsbzw. Transformationsmechanismen, die zur Erklärung des Übergangs von der
Mikro- zur Makroebene notwendig sind, weisen die akteursbasierten Mechanismen eine deutliche Schwachstelle auf. Hier können kommunikative Mechanismen ins Spiel kommen, die direkt aus dem kommunikativen Prozessgeschehen
(re-) konstruiert werden können. Als Beispiele zur Plausibilisierung dienen der
kommunikative Reparaturmechanismus der Interaktion, wie von Wolfgang Ludwig Schneider beschrieben (Schneider 2004: 293ff), der Mechanismus sozialer
Sichtbarkeit zur Ordnung von Massenkommunikation und der Reflexionsmodus
der Kommunikation. Ein Plädoyer für ein konstruktives Nebeneinander von akteursbasierten und kommunikationsbasierten Mechanismen beschließt den Beitrag.
Hartig-Perschke geht es in seinem Beitrag „Kommunikation, Kausalität,
Struktur – Zur Entstehung sozialer Mechanismen im Modus kommunikativ vermittelter Reflexivität“ um die allgemeine Analyse von Strukturemergenz auf der
24
Marco Schmitt
Basis kommunikativer Reflexivität. Er macht darauf aufmerksam, dass es sich
bei sozialen Mechanismen, die auf Gesetzmäßigkeiten des Handelns beruhen nur
um 'fungierende Ontologien' handeln könne, die immer erst auf der Basis von
kommunikativen Zurechnungsprozessen möglich sind. Geht man aber von der
Kommunikation aus, wird deutlich, dass es sich bei Reflexivität um ein allgemeines Strukturierungsprinzip der Sozialität handelt. Am Beispiel der Episodenbildung durch initialisierende Kommunikation wird ein reflexiver kommunikativer
Mechanismus vorgestellt, der zeigt wie kommunikative Zuschreibungen reflexiv,
also im Nachtrag eine bestimmte Situation als Kommunikationsepisode einordnen. In Perschke's eigenen Worten: „Selektive Sinnverkettung auf der Basis von
Initialisierung ist eine distinkte Form der nachträglichen kausalen Kopplung von
Mitteilungen infolge von Beobachtung und Beschreibung, und sie spielt in vielen
gesellschaftlichen Bereichen mittlerweile eine wichtige Rolle.“ (S. 237)
Zum Abschluss bieten Ingo J. Timm und Frank Hillebrandt in ihrem Beitrag
„Reflexion als sozialer Mechanismus zum strategischen Management autonomer
Softwaresysteme“ noch mal eine ausgewiesen sozionische Perspektive an, die
versucht Reflexion und soziale Mechanismen direkt an die Entwicklung von
Softwaresystemen zu binden. Am Beispiel der Lösung von Konflikten zwischen
autonomen Programmen wird Reflexion als eigenständiger Mechanismus zur
Lösung ins Spiel gebracht. Der Mechanismus bringt die Institutionalisierung
einer Reflexionsinstanz ins Spiel, die in Organisationen als strategisches Management bezeichnet werden kann und schlägt eine solche Instanz auch zur Konfliktlösung in Multiagentensystemen vor. Insbesondere soll „die systemtheoretische Steigerungsformel basale Selbstreferenz, Reflexivität, Reflexion und
Systemrationalität auf den technischen Prozess der Institutionalisierung des strategischen Managements im MAS angewendet werden.“ (S. 268)
Dieser Sammelband und die hier versammelten Beiträge sollen die Diskussion um soziale Mechanismen in zwei Dimensionen erweitern und das dahinter
stehende Forschungsprogramm damit zusätzlich befruchten. Da wäre erstens die
Erweiterung um die rekursive und reflexive Dimension des Sozialen, die bislang
eine eher vernachlässigte Rolle gespielt hat. Auf der anderen Seite ist auch eine
theoretische Ausweitung des Konzeptes angestrebt, z. B. durch praxistheoretische, kommunikationstheoretische und systemtheoretische Anschlüsse, die über
die Akteursfundierung hinausgehen oder diese doch in spezifischer Weise komplementieren können. Die hier gemachten Vorschläge weisen dafür verschiedene
Richtungen, die alle vielversprechend genug erscheinen, um weiter an der Modellierung von reflexiven sozialen Mechanismen zu arbeiten.
Einführung: Die Reflexivität sozialer Mechanismen
25
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Einführung: Die Reflexivität sozialer Mechanismen
29
Teil I:
Was leistet der Mechanismenbegriff?
Zur Logik mechanismischer Erklärungen in den Sozialwissenschaften
31
Zur Logik mechanismischer Erklärungen in den
Sozialwissenschaften
Michael Schmid
Problemstellung
Seit Beginn ihrer universitären Institutionalisierung leiden die Sozialwissenschaften, allen voran die Soziologie und die Geschichtswissenschaft, unter der
immer noch offenen Frage, ob und, wenn ja, in welchem Sinn sie als „erklärende
Wissenschaften“ gelten dürfen. Die Gründe für diese Unklarheit sind vielfältig
und reichen von der Abneigung, „naturwissenschaftliche“ Methoden zur Entschlüsselung der eigenen (sachlichen wie metatheoretischen) Probleme zu nutzen, über die besonders unter Philosophen verbreiteten Vorstellung vom Sondercharakter des menschlichen Handelns, der jeden nomologischen Zugang
verbiete, bis hin zur daraus gefolgerten These, dass die Sozialwissenschaften
(gesetzesbasierte) Erklärungen zugunsten von „begrifflichen“1 oder semantischrhetorischen Analysen2, Typenbildung3 und Beschreibungen4, Erzählungen5 und
„Rekonstruktionen“ individueller (aber kulturrelevanter) Ereignisse6 oder „Konstitutionsanalysen“ über die notwendigen Bedingungen des „Sozialen“7 oder gar
zugunsten einer „eigenständigen kulturwissenschaftlichen Vorgehensweise“8
zurückzustellen hätten.
Es ist hier nicht der Ort, um zur Beantwortung der Eingangsfrage die Geschichte dieser Problemstellung nach Lösungsvorschlägen abzusuchen. Statt
dessen möchte ich die Problemlage umreißen, wie sie sich aufgrund der jüngeren
Entwicklung der „philosophy of science“ (vor allem deren „Theorie der Erklärung“) ergeben hat, um vor dem Hintergrund der dabei identifizierten Schwierigkeiten einen Ausweg zu skizzieren, der, rückgreifend auf einige philosophische
Vorarbeiten, in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend als gangbar eingestuft
1
2
3
4
5
6
7
8
Vgl. Winch 1966
Vgl. McCloskey 1998, Brown 1987
Vgl. Kluge 1999
Vgl. Luhmann 1992, S. 147ff
Vgl. Danto 1965, S. 233ff
Vgl. Weber 19683, kommentierend Schmid 2004a
Vgl. Luckmann 1992
Vgl Abel 1983, S. 3
32
Michael Schmid
wird9. Dabei sollte sich im Interesse der im Nachfolgenden verteidigten Auffassung, dass die Sozialwissenschaften durchaus eine Erkläst die folgende Ausgangsthese verteidigen lassen: Wenn es zutrifft, dass die Sozialwissenschaften
sich mit (dem Bestand und der Veränderung von) Vergemeinschaftungs- und
Vergesellschaftungsformen menschlicher Akteure beschäftigen (sollen), dann
stehen sie vor einem doppelten Erklärungsproblem: Zum einen müssen sie die
Frage beantwortet können, auf welche Weise und warum die einzelnen Akteure
in sozial relevanter Weise handeln, wozu eine (erklärungsdienliche) Theorie des
individuellen Handelns zur Verfügung stehen muss; zugleich aber ist die Beantwortung dieser Frage nur insoweit von Interesse, als sie den Sozialwissenschaftler in die Lage versetzt, infolgedessen Aussagen über die Entstehungs- und Wirkungszusammenhänge makrostruktureller Explananda (oder sogenannter „sozialer
Sachverhalte“10 bzw. „kollektiver Phänomene“11) zu identifizieren. Aus beidem
(und einigen zusätzlichen Prämissen) ergibt sich die (noch eingehender zu demonstrierende) Folgerung, dass sozialwissenschaftliche Erklärungen unter Rekurs auf eine gehaltvolle Handlungstheorie als mikrofundierende Mehrstufenerklärungen makroskopischer Sachverhalte anzulegen sind, wobei – wie sich zeigen
wird – der Verweis auf (regulierte) Abstimmungsmechanismen, mit deren Hilfe
Akteure ihre Handlungen erwartungssichernd aufeinander beziehen können, für
das Gelingen entsprecender Erklärungen von prominenter Bedeutung ist.
Die Logik von Erklärungen
Den immer noch diskutierten Hintergrund meiner Themenstellung hat – lässt
man den prägenden, wenn auch unglücklichen Einfluss von John Stuart Mill auf
die Entwicklung einer kausalgenetischen Gesellschafts- und besonders der Geschichtswissenschaft beiseite12 – (vor allem) Carl Hempel ausgemalt, als er
(auch) den Sozialwissenschaften vorschlug, Erklärungen nur dann als gelungen
zu bezeichnen, wenn sie einer Reihe sogenannter „Adäquatheitsbedingungen“
genügen können13. Zu diesen zählen, dass das Explanandum aus dem Explanans
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Für die „philosophy of science“ ist das Werk von Wesley Salmon einschlägig (vgl. Salmon
1984, Salmon 1989), für die Philosophie der Sozialwissenschaften sind vor allem die Arbeiten
von Friedrich von Hayek, Mario Für einen erweiterten Überblick vgl. Schmid 2006, S. 29ff.
So die Wortwahl bei Balog/Cyba 2004.
Vgl. zu dieser Sprachregelung Popper 1958.
Vgl. für einen Problemabriss Mandelbaum 1977, S. 203ff und Little 1991, S. 35ff.
Vgl. Hempel 1965, S. 247ff und passim. Hempel diskutiert (neben der „Begriffslogik“ der Sozialwissenschaften (vgl. Hempel 1965, S. 155ff)) drei sozialwissenschaftlich relevante Erklärungsformen: funktionalistische (oder System-)Erklärungen, genetische (und d.h. historisgen und Rationalerklärungen individueller Handlungen, gelangt aber nicht zu einer diese „Komponenten“
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