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BULLETIN
DER
BUNDESREGIERUNG
Nr. 09-2 vom 17. Februar 2000
27. Januar – Tag des Gedenkens an die Opfer
des Nationalsozialismus
Gedenkstunde des Deutschen Bundestages
Ansprache des Vorsitzenden des „Holocaust-MemorialCouncil“, amerikanischer Schriftsteller und Friedensnobelpreisträger von 1986, Prof. Dres. h.c. Elie Wiesel
(Übersetzung aus dem Englischen):
Bundespräsident Rau,
Herr Präsident des Deutschen Bundestages,
Herr Präsident des Bundesrates,
Lieber Bundeskanzler Schröder,
Mitglieder des Kabinetts,
Meine Damen und Herren Abgeordneten,
Exzellenzen,
Freunde,
lassen Sie mich mit einer Geschichte beginnen, doch zuvor hoffe ich auf Ihr Verständnis, dass ich als Zeuge zu Ihnen spreche. Und ein Zeuge muss beschwören,
dass er die Wahrheit spricht. Der Jude, der ich bin, glaubt dazu ein Gebet sprechen
zu sollen. Vor 55 Jahren kamen die Russen für mich und die mir nahe Stehenden ein
bisschen zu spät. Darum sehen Sie in mir nicht den Mann, der ich heute bin, sondern
versuchen Sie bitte, in mir die Person zu sehen, die ich vor 55 Jahren war. Heute bin
ich mit meiner Frau Marion und zwei sehr nahen Freundinnen, Inga und Ira, hier. Ich
will ein Gebet sprechen. Es stammt aus dem Buch Baruch und heißt: Gepriesen sei
der Herr, dass er mich heute hier sein lässt.
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Und nun zu der Geschichte. Es war einmal ein gütiger König, der in einem fernen
Lande lebte. Eines Tages sagten ihm seine Sterndeuter, die nächste Ernte werde
verflucht sein und wer von ihr esse, verfalle dem Wahnsinn. Also ließ er einen riesigen Kornspeicher bauen und lagerte dort alles ein, was von der letztjährigen Ernte
übrig geblieben war. Sodann vertraute er den Schlüssel zum Kornspeicher seinem
engsten Freund an und sagte zu ihm: Wenn meine Untertanen und ich, ihr König,
vom Wahnsinn befallen sein werden, sollst du ganz allein das Recht haben, den
Kornspeicher zu betreten und unverseuchte Nahrung zu essen. Auf diese Weise
entgehst du dem Fluch. Dafür aber fällt dir eine lebenswichtige und unmögliche Aufgabe zu. Du musst kreuz und quer durch die Welt wandern von einem Land zum anderen, von Stadt zu Stadt, von Marktflecken zu Marktflecken, von Person zu Person,
und du wirst aus Leibeskräften rufen: Gute Leute, vergesst nicht, dass ihr wahnsinnig
seid! Frauen und Männer, vergesst nicht, vergesst doch bitte nicht, dass ihr wahnsinnig seid!
Diese Erzählung des großen Rabbi Nahman von Bratzlav, eines Vorläufers von
Franz Kafka, gilt gewiss für das Jahrhundert, das eben zu Ende ging, ein Jahrhundert, in dem in der Geschichte der Wahnsinn ausbrach und sie oft zum Alptraum
werden ließ. Darum gehen wir Zeugen durch die Welt, um zu verkünden: Vergesst
nicht, dass ihr wahnsinnig wart, vergesst nicht, dass die Geschichte den Wahnsinn
beherbergte.
Der Mann, den Sie liebenswürdigerweise zur Teilnahme an dieser bewegenden Feierstunde in Erinnerung an die Opfer dessen einluden, was wir so unzureichend mit
Shoah oder Holocaust bezeichnen und wofür es keine Worte gibt, ist der Sohn eines
alten Volkes, dessen Auftrag über die Jahrhunderte darin bestand, den einzigen Gott
und die Heiligkeit des menschlichen Lebens zu verkünden.
Vor 60 Jahren wurden er und seine Gemeinschaft in dieser Metropole und Weltstadt
der Isolation, dem Elend, der Verzweiflung und dem Tod überantwortet. Dennoch
spricht er heute zu Ihnen als Zeuge und ich hoffe, Sie glauben mir, dass ich zu Ihnen
ohne Hass und Bitterkeit spreche. Mein ganzes Erwachsenenleben lang habe ich
versucht, Worte zu finden, die den Hass bekämpfen, aufspüren, entwaffnen, nicht ihn
verbreiten.
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Werden meine Worte Sie verletzen? Das ist nicht meine Absicht. Doch bitte ich Sie
zu verstehen, dass ich, als ich dieses Hohe Haus betrat, meine Erinnerungen nicht
hinter mir ließ. Ihretwegen sind sie sogar lebhafter denn je. In diesem kurzen Augenblick will ich nichts anderes tun, als mit wenigen Worten an ein beispielloses Geschehen erinnern, das auf Generationen hin auf dem Schicksal Ihres und meines
Volkes lasten wird.
Ich kann dieses Geschehen nicht fassen. Ich versuche es immer noch. Seit meiner
Befreiung am 11. April 1945 habe ich alles gelesen, was ich dazu in die Hand bekommen konnte: historische Abhandlungen, psychologische Analysen, Zeugenaussagen und Vermächtnisse, Gedichte und Gebete, Tagebücher von Mördern und Betrachtungen von Opfern, sogar an Gott adressierte Kinderbriefe.
Zwar bringe ich es fertig, mir die Fakten, Zahlen und technischen Aspekte der „Aktionen“ anzueignen, aber mir entzieht sich noch immer die unerbittliche Bedeutung, die
allem innewohnt und es übersteigt: die Nürnberger Gesetze, die judenfeindlichen
Verordnungen, die Kristallnacht, die öffentliche Demütigung stolzer jüdischer Bürger,
darunter auch tapferer Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges, die ersten Konzentrationslager, die Euthanasie deutscher Bürger, die Wannsee-Konferenz, auf der die
höchsten Beamten des Landes einfach den Wahnsinn hatten, die Gültigkeit, Legalität
und Methoden der Vernichtung eines ganzen Volkes zu diskutieren.
Und dann natürlich Dachau, Auschwitz, Majdanek, Sobibor, diese Hauptstädte dieses Jahrhunderts. Oh diese Namen – Wahrzeichen, Flaggen, schwarze Flaggen, der
Welt zur Erinnerung an eine Welt, die damals war. Was hat sie ermöglicht? Wie soll
man den Kult von Hass und Tod begreifen, der in Ihrem Lande herrschte? Wie konnten intelligente, oft hervorragend gebildete junge Männer aus gutem Hause und mit
Diplomen der namhaftesten deutschen Universitäten in der Tasche, die damals zu
den angesehensten der Welt zählten, sich so sehr vom Bösen verführen lassen,
dass sie ihren Genius, diesen Genius des Bösen, dafür einsetzten, jüdische Männer,
Frauen und Kinder zu quälen und zu töten, die sie noch nie gesehen hatten? Sie taten es ja nicht etwa, weil diese Juden reich oder arm, gläubig oder ungläubig, politische Gegner, Patrioten oder Kosmopoliten waren, sondern einzig darum, weil sie als
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Juden geboren waren. Ihre Geburtsurkunde war de facto ihr Todesurteil. Haben sich
ihre Henker wirklich stark und heldenhaft gefühlt, indem sie wehrlose Kinder mordeten? Konnten sie denn wirklich Angst haben vor alten und kranken Personen und
kleinen Kindern, sodass sie diese zur erwählten Zielscheibe stempeln mussten? Was
hatten sie denn an sich, das ihnen solche Angst einjagte? Ihre Schwäche, ihre Unschuld vielleicht? Waren die Mörder überhaupt noch Menschen? Diese Frage ist
meine Zwangsvorstellung. Wo endet Menschlichkeit? Gibt es eine Grenze, jenseits
derer Menschlichkeit ihren Namen nicht mehr verdient?
Während meiner Vorbereitung auf meine heutige Begegnung mit Ihnen, die ich, Sie,
Herr Bundestagspräsident, haben es gesagt, auf mehr als nur einer Ebene als symbolisch empfinde, habe ich gewisse Berichte von Überlebenden und Zeugen wieder
gelesen, die zum Teil noch leben, zum Teil schon tot sind. Und wieder traf mich mit
voller Wucht die ewige Gleichartigkeit der grausamen Szenen. Es ist, als habe ein
einziger Deutscher, immer derselbe, je und je immer nur ein und denselben Juden
gequält und getötet, sechs Millionen Mal. Und doch ist jede Episode so unverwechselbar einmalig, wie jeder nach Gottes Bildnis geschaffene Mensch einmalig ist.
Das ist der Grund, warum ich, ich bin kein Historiker, nicht von d e r Geschichte
spreche, sondern einfach Geschichten erzähle. Hier ist eine von ihnen: Sie geschieht
im September 1941 in BabiYar, in Kiew, und wird von einem Augenzeugen, einem
gewissen B. A. Liebman, berichtet.
Eine jüdische Familie hält sich seit Tagen in einer Höhle versteckt. Die Mutter beschließt, mit ihren beiden Kindern im nahen Dorf Hilfe zu suchen. Sie fallen einer
Gruppe betrunkener Deutscher in die Hände, die nun vor den Augen der Mutter erst
das eine Kind köpfen, dann das andere. Während die fassungslose Mutter die Körper
ihrer beiden toten Kinder umklammert, bringen die Deutschen, denen das Schauspiel
offenkundig Vergnügen bereitet, auch die Mutter um. Als der Vater auf der Bildfläche
erscheint, wird er ebenfalls ermordet. Ich fasse das nicht.
Man könnte mehr solcher Geschichten erzählen, sechs Millionen mehr. Von allen
Verbrechen gegen das jüdische Volk, das meinige, ist das Schlimmste der Mord an
seinen Kindern. Immer waren sie die Ersten, die ergriffen und in den Tod geschickt
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wurden. Eineinhalb Millionen jüdischer Kinder sind umgekommen. Wollte ich heute
allein ihre Namen aufsagen – Moishele, Jankele, Sodele –, wollte ich allein ihre Namen rezitieren, ich stünde Monate und Jahre hier.
Aber haben denn nicht auch die anderen Völker in dieser Welt mit ihnen so unendlich
viel verloren, nicht nur mein eigenes? Wie viele Wohltäter der Menschheit kamen da
um, als sie gerade einen Monat, ein Jahr alt waren? Wissenschaftler hätten unter
ihnen sein können, Forscher, die ein Heilmittel für Aids oder eine Heilung von Krebs
erfunden hätten. Große Gedichte hätten sie schreiben können, die jedem Inspiration
geboten, ihn zum Verzicht auf Gewalt und Krieg bewegt hätten, oder auch nur ein
paar Worte oder ein Lied, in denen Menschen endlich zusammengefunden hätten.
Es gibt ein Bild, wie lachende Soldaten einen jüdischen Jungen in einem Getto umringen, wahrscheinlich in Warschau. Ich sehe es mir oft an. Was an dem traurigen
und verängstigten jüdischen Kind mit den hoch erhobenen Armen amüsierte die
deutschen Soldaten denn so? Was war denn so komisch daran, ihn zu foltern? War
diesen Soldaten, vermutlich guten Ehemännern und Vätern, denn nicht bewusst, was
sie ihm antaten? Dachten sie nicht an ihre eigenen Kinder und Enkel, die später die
Bürde ihrer Verbrechen zu tragen hatten und die doch, wie ich noch sagen werde,
unschuldig sind? Iwan Karamasow war der Meinung, „grausame Menschen sind
manchmal sehr kinderlieb“. Mag sein, aber für jüdische Kinder gilt das nicht.
Natürlich wurde uns Juden im besetzten Europa bald klar, dass die freie Welt wusste, was mit uns geschah, und sie deshalb, wenngleich in ganz anderem Maße, mitverantwortlich war. Die Alliierten schien es nicht besonders zu kümmern; sie machten ihre Grenzen für uns nicht auf, als noch Zeit war. Und so gelangte Berlin zu der
Überzeugung, unser Schicksal berühre niemanden wirklich. Nicht einmal Gott, den
Gott Israels, schien es zu rühren. Mehr noch als das Schweigen der anderen war
sein Schweigen ein Geheimnis, das vielen von uns rätselhaft bleibt und uns bedrückt
bis auf den heutigen Tag. Doch dies ist ein anderes Thema, das wir am heftigsten
diskutieren, wenn wir unter uns sind.
Wovon wir heute reden sollen, das sind nur die Juden und die Deutschen, damals
und jetzt. Mein Volk hatte zahllose Feinde, seitdem es auf der Weltbühne auftrat. Wir
erinnern uns ihrer aller. Aber keiner hat uns so tief verwundet wie Hitlerdeutschland.
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Im Verlauf der Jahrtausende haben wir Diskriminierung, Verfolgung, vielfältige Isolierung erlitten, die Kreuzzüge, die Inquisition, die Pogrome, die verschiedenen Folgen
eingefleischten Judenhasses überlebt. Aber der Holocaust ging viel weiter. Ich sage
es unter Schmerzen: Kein Volk, keine Ideologie, kein System hat je in so kurzer Zeit
ein solches Ausmaß an Brutalität, Leid und Demütigung über ein Volk gebracht wie
das Ihrige über das meine.
Das Urteil, welches das Dritte Reich über uns sprach, war tödlich und unwiderruflich.
Die bis ins Kleinste geplante „Endlösung“ war geradezu eschatologisch; ihr Ziel war
die Vertilgung auch noch des allerletzten Juden vom Antlitz der Erde. Dieses Ziel
stand über allen anderen; so genoss beispielsweise die Deportierung der ungarischen Juden, zu denen ich gehöre, Vorrang vor dem Transport der dringend benötigten Soldaten zur Front.
Ich weiß, dass nicht alle Deutschen mitmachten, und auch an sie müssen wir denken. An jene, die den Mut hatten, sich gegen die amtliche Rassenideologie zu stellen. An jene, die dem totalitären Nazi-Regime widerstanden. An jene, die es zu stürzen versuchten und mit ihrem Leben dafür bezahlten. Zu Recht ehren Sie ihre Tapferkeit. Nur, leider, waren es wenige. Und die jüdischen Freunden und Nachbarn beistanden, waren noch weniger.
Viele in Deutschland und anderswo lasten heute alle Schuld den Nazis auf. „Die Nazis haben dies oder jenes getan“, heißt die akzeptierte Formel. Die Nazis, nicht die
Deutschen. Soll das heißen, dass es zwei parallele Geschichten Deutschlands gibt,
eine Nazi-Geschichte und die deutsche Geschichte? Natürlich waren nicht alle Deutschen Nazis. Aber wiederum kann ich Ihnen als Zeuge sagen, dass damals das Wort
„deutsch“ Ängste einjagte, dass wir uns fürchteten, wenn wir hörten, die Deutschen
kämen.
An diesem Ort versuchen die neuen Führer des deutschen Volkes tapfer und ehrenvoll, ein neues Schicksal aufzubauen, eine menschlichere Philosophie für die Lebenden, und wir sind gekommen zu sagen, wie sehr wir dies begrüßen. In jener Zeit kam
der Beschluss, uns aus der Geschichte zu beseitigen, zwar von höchster Stelle, aber
ausgeführt wurde er unten. Und wenn man die Opfer fragt, war alles deutsch, das
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Zyklongas war deutsch, diejenigen, die die Krematorien bauten, waren deutsch, die
die Gaskammern bauten, waren deutsch. Die Befehle wurden auf Deutsch gegeben.
Paul Celan sagte: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.“ Celan hat Selbstmord
verübt, weil er gespürt haben dürfte, dass sein Ausspruch diese wesentliche Wahrheit seiner oder unserer Erfahrung immer noch nicht mitzuteilen vermochte. Bis zum
Ende der Zeiten wird Auschwitz Teil Ihrer Geschichte sein, so wie es Teil der meinigen sein wird.
Ich weiß, es fällt Ihnen schwer und schmerzt Sie, in solchen Kategorien zu denken.
Sie sind eine neue Generation, keiner von Ihnen musste einen Eid auf Hitler leisten.
Natürlich hat keiner von Ihnen ein Verbrechen oder eine Sünde begangen. Aber ich
bin sicher, dass Sie sich in bangen Momenten fragen: Wo waren damals unsere Eltern, wo standen sie?
Ich sehe mich veranlasst, hier zu wiederholen, was ich überall sage: Ich glaube nicht
an Kollektivschuld; nur die Schuldigen sind schuldig, nur sie und ihre Komplizen.
Nicht jene, die damals noch nicht waren, und schon gar nicht die Kinder. Die Kinder
von Mördern sind nicht Mörder, sondern Kinder. Und Ihre Kinder, von denen viele so
gut sind, ich kenne sie doch. Ein paar waren meine Schüler. Sie sind wunderbar,
hoch motiviert und zugleich sich quälend, verständlicherweise. Irgendwie fühlen sie
sich schuldig, obwohl sie keinen Anlass dazu haben. Und was sie tun, um Ihr Land
und Volk zu erlösen, ist gewaltig. Alles Geistige berührt sie. Sie gehen nach Israel
und helfen beim Aufbau mit, verhelfen den Menschenrechten zum Durchbruch, weil
sie, Ihre Kinder, spüren, dass diese dunkle Zeit nicht in Vergessenheit geraten darf.
Was also ist es, was wir den Holocaust nennen? War er eine Konsequenz der Geschichte, eine Verirrung der Geschichte? Dies ist nicht die Zeit und der Ort, darüber
zu sprechen. Dafür gibt es andere Zeiten, in der Schule zum Beispiel, denn Erziehung ist wichtig. Gestern nahmen der Bundeskanzler und ich an einer Sitzung in
Stockholm über die Holocaust-Erziehung teil. Und Ihre Worte sind dort auf großes
Echo gestoßen. Ich weiß nicht, ob ich die Antwort parat habe, aber die Erziehung in
Bezug auf den Holocaust ist bestimmt ein wichtiger Teil der Antwort. Also tut es,
nehmt euch die Zeit, bewilligt die Gelder, tut, was immer ihr könnt, damit die Kinder,
Ihre Kinder, die wissen wollen, auch wissen können.
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Hier stehe ich und erinnere mich an die Zeit vor 55 Jahren. Ich erinnere mich, und
wenn ich sagen soll, woran ich mich erinnere, dann zittere ich. Reden wir also lieber
von dem, was zu tun ist. Ich als Jude spreche natürlich von den jüdischen Opfern,
von meinem Volk. Ihre Tragödie war einmalig, aber ich vergesse darüber die anderen Opfer nicht. Wenn ich als Jude von jüdischen Opfern spreche, dann ehre ich
auch alle anderen. Ich pflege zu sagen: Waren auch nicht alle Opfer Juden, so waren
doch alle Juden Opfer.
Ihrer zu gedenken, Herr Präsident, Herr Bundeskanzler, Herr Bundestagspräsident,
hat dieses Parlament beschlossen, den 27. Januar zum nationalen HolocaustGedenktag zu erheben, und diese Entscheidung macht Ihnen Ehre. Meine Anwesenheit heute soll Ihren Willen bezeugen, die Pforten der Erinnerung zu öffnen und
gemeinsam unsere Überzeugung und Entschlossenheit zu bekunden, dass es
höchste Zeit ist, dass Kain aufhört, seinen Bruder Abel zu ermorden.
Gewiss wird es Stimmen geben, die sagen, man mache es sich zu leicht, wenn man
einen Tag im Jahr dazu ausersehe, einen Gedenkspruch zu sagen und sich dann
wieder dem Alltag zuzuwenden; das sei doch bloßer Schein. Doch ich bin nicht dieser Meinung. Ich nehme Ihren Schritt ernst. Ich glaube nicht, dass Sie sich der Befreiung von Auschwitz erinnern wollen, um Auschwitz zu vergessen. Im Gegenteil,
Sie wollen diese Befreiung ins Gedächtnis rufen, um alles davor zu verurteilen und
mehr darüber zu erfahren.
Ebenso wenig glaube ich, dass Sie den unanständigen Stimmen in diesem Land Gehör schenken wollen, die Ihnen einflüstern, doch endlich „das Blatt zu wenden“, weil
Sie angeblich „diese Geschichten satt haben“. Wer einen Schlussstrich ziehen will,
hat es schon längst getan. Er hat nicht nur das Blatt gewendet, sondern es aus seinem Bewusstsein gerissen. Wer sich dazu herbeilässt, die Erinnerung an die Opfer
zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal. Das aber ist dann seine Last.
Nach dem Krieg erwarteten einige von uns von einem besiegten und gedemütigten
Deutschland eine kraftvollere Botschaft der Reue und Zerknirschung, die dem moralischen Anspruch gemäß wäre; es war aber eher nur eine politische. Doch dann, seit
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Konrad Adenauers Zeiten, sind Sie eine Demokratie geworden, die würdig war, ihren
Platz in der Völkerfamilie einzunehmen. Sie haben Israel politisch, wirtschaftlich und
strategisch konsequent unterstützt. Ihre finanziellen Wiedergutmachungsleistungen
an die Opfer, vor allem die jüdischen, und das, was Sie für die Zwangsarbeiter nun
als Gesetzentwurf vorsehen, sind positiv. Aber vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt gekommen für eine Geste, die weltweites Echo fände.
Bundespräsident Rau, vor ein paar Wochen haben Sie sich mit einer Gruppe von
Auschwitz-Überlebenden getroffen. Einer davon erzählte mir, Sie hätten etwas sehr
Bewegendes gesagt. Sie baten um Verzeihung für das, was das deutsche Volk ihnen
angetan hat. Warum dies nicht auch hier tun, im Geiste dieses feierlichen Tages?
Warum soll nicht der Bundestag dies Deutschland und seinen Verbündeten und
Freunden und insbesondere den jungen Menschen sagen? Haben Sie das jüdische
Volk gebeten, Deutschland zu verzeihen, was das Dritte Reich in Deutschlands Namen so Vielen von uns angetan hat? Tun Sie es und es wird in der Welt widerhallen.
Tun Sie es und dieser Gedenktag erhält eine noch größere Dimension. Tun Sie es
und die Welt wird wissen, dass ihr Vertrauen auf Deutschland nun wahrhaft gerechtfertigt ist. Denn jenseits aller nationalen, ethnischen oder religiösen Erwägungen war
in jenen dunklen Tagen die Menschheit als solche gefährdet. Sie ist es in gewisser
Weise immer noch. Was immer das neue Jahrhundert bringen mag – wir brauchen
verzweifelt Hoffnung für das neue Jahrhundert und seine neue Generation –,
Auschwitz wird den Menschen weiterhin zwingen, die dunkelsten Abgründe seines
Seins zu durchforschen und sich der schwankenden Wahrheit zu stellen.
Eingangs sagte ich, dass ich Geschichten bevorzuge. Lassen Sie mich schließen mit
der Geschichte eines kleinen Judenmädchens, das gemeinsam mit seiner Mutter in
der Nacht ihrer Ankunft im Mai 1944 in Birkenau starb. Acht Jahre war sie alt und
hatte nichts getan, was Ihrem Volk hätte schaden können – warum musste sie diesen grässlichen Tod erleiden? Und würde ihr Bruder so alt wie die Welt, er würde es
niemals begreifen. Darum zitiert er einfach einen anderen großen chassidischen
Meister, Asasow von Galizien. Er war für sein Mitgefühl bekannt und sagte: „Meine
Freunde, wollt ihr den Funken finden? Sucht ihn in der Asche.“
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