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BULLETIN
DER
BUNDESREGIERUNG
Nr. 09-1 vom 17. Februar 2000
27. Januar – Tag des Gedenkens an die Opfer
des Nationalsozialismus
Gedenkstunde des Deutschen Bundestages
Ansprache des Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse:
Herr Bundespräsident,
Herr Bundesratspräsident,
Herr Bundeskanzler,
Herr Vizepräsident Papier,
Sehr geehrter Herr Professor Wiesel,
Sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
am 27. Januar 1945 erreichten sowjetische Truppen das Konzentrationslager
Auschwitz. 1689 Tage lang waren dort Menschen gefoltert, gequält, ermordet
worden, Juden vor allem, Polen, Sinti und Roma, sowjetische Kriegsgefangene und
Häftlinge anderer Nationalität. Ihrer gedenken wir heute. Wir gedenken der über
sechs Millionen Juden und der vielen anderen Opfer des nationalsozialistischen
Rassen- und Größenwahns.
Nach der Befreiung der Konzentrationslager gingen grauenvolle Bilder um die Welt.
Sie legten endgültig offen, was damals so viele nicht wissen und nicht wahrhaben
wollten. Zwölf Jahre lang wurden in Deutschland und im besetzten Europa Millionen
Menschen verschleppt. In Konzentrationslagern mussten sie sich zu Tode arbeiten,
fielen zynischen medizinischen Experimenten zum Opfer, starben an Hunger und
Seuchen, wurden massenhaft exekutiert oder mit Gas erstickt.
Bulletin Nr. 09-1 v. 17. Februar 2000 / Btagspräs. – Gedenkstunde im Dt. Bundestag zum 27. Januar
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Wir kennen heute die Abfolge der Ereignisse und die Namen der Täter. Dennoch ist
es schwer zu begreifen, dass sich ein deutsches Regime angemaßt hat, „zu
entscheiden, wer die Erde bewohnen darf und wer nicht“. So hat es Hannah Arendt
ausgedrückt. Ein wenig hilflos sprechen wir von Barbarei und von einem tiefen
Zivilisationsbruch.
Auschwitz – dieser deutsche Name einer kleinen polnischen Stadt westlich von
Krakau ist zum Inbegriff eines Völkermordes ohnegleichen geworden. Wie kein
anderer Name steht Auschwitz für eine Schuld, die nicht vergeben werden kann und
die nie vergessen werden darf. Wenn diese Schuld auch nicht übertragbar ist – die
Verantwortung, die daraus erwächst, ist sehr wohl übertragbar. Es ist unsere
gemeinsame Verantwortung, dass die Vergangenheit stets als Mahnung präsent
bleibt. Die Verbrechen der Nationalsozialisten sind einzigartig. Wir müssen dafür
sorgen, dass sie es für immer bleiben.
1996 hat der damalige Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar zum
nationalen Gedenktag erklärt. Die heutige Gedenkstunde, die fünfte, ist eine
besondere. Heute ist Elie Wiesel bei uns, obwohl und weil er Auschwitz und
Buchenwald überlebt hat.
Verehrter Herr Wiesel, Sie haben einmal offenbart, dass es viele Jahre gedauert hat,
bis Sie über Ihre Erfahrungen überhaupt sprechen und schreiben konnten. Seitdem
haben Sie in Ihrem Werk und Wirken immer wieder eindringlich die Botschaft
übermittelt – ich zitiere –: „Kämpfen Sie niemals gegen die Erinnerung. Der Mensch
ist fähig zu wissen, was in der Vergangenheit geschah und wozu er imstande ist, er
ist fähig zur Verantwortung“.
Es gibt Zeichen dafür, dass wir in Deutschland auf dem Weg sind, diese Botschaft
anzunehmen: Ich denke an den Entschädigungsfonds für NS-Zwangsarbeiter, der
nun, gut 54 Jahre nach Kriegsende, endlich zustande gekommen ist. Ich appelliere
nachdrücklich an die deutsche Wirtschaft, sich mehr als bisher an diesem Fonds zu
beteiligen. Wenn auch Geld allein keine Schuld abtragen kann, ist dieser Fonds doch
ein überfälliges Zeichen von Reue und Respekt gegenüber denen, die damals von
Deutschen ausgebeutet und misshandelt worden sind.
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Ich denke an die Entscheidung des Deutschen Bundestages, mitten in Berlin eine
Stätte des Erinnerns und Gedenkens zu bauen. Nach einer mehr als zehnjährigen
Debatte bekunden wir heute, dass wir mit dem Bau eines Mahnmals für die
ermordeten Juden Europas beginnen. Der Auschwitz-Gedenktag ist dafür der richtige
Tag – um so mehr, als wir diesen Gedenktag erstmals in Berlin begehen.
Uns allen ist bewusst, dass viele Menschen in aller Welt unsere neue alte Hauptstadt
mit Skepsis und Sorge betrachten. Denn Berlin war die Zentrale der Täter. Der
Umzug nach Berlin bedeutet, dass wir uns gerade diesem Kapitel unserer
Geschichte stellen. Er verpflichtet uns, immer wieder daran zu erinnern, wie viel
Unrecht und wie viel Unheil von hier ausgegangen sind.
Schließlich denke ich an die Offenheit, die Ehrlichkeit und die Ernsthaftigkeit, mit der
hier im Bundestag über den Umgang mit der Vergangenheit immer wieder debattiert
worden ist. Wenn es denn stimmt, dass das Parlament auch ein Spiegel der
Gesellschaft ist, dann dürfen wir zum Beispiel auch die Debatte über die umstrittene
Wehrmachtsausstellung als ein Zeichen dafür nehmen, dass Ihre Botschaft,
verehrter Herr Wiesel, angekommen ist.
Zugegeben, es hat lange gedauert, bis wir uns offen und einhellig zu unserer
Verantwortung für die Vergangenheit bekannt haben. Fritz Stern hat das Wegsehen
„die Furcht erregende Signatur unseres Jahrhunderts“ genannt. Neben aufrichtiger
Beschäftigung mit der Vergangenheit gab es viel zu lange und viel zu viel Flucht aus
der Verantwortung, Schweigen über Unrecht, Verdrehen und Manipulation der
Wahrheit.
Das galt für die DDR noch mehr als für die Bundesrepublik. Ich habe in der DDR
erlebt, wie der Antifaschismus von einem autoritären Staat instrumentalisiert und
diskreditiert worden ist. Man hat das schwer Begreifliche zu ein paar Lehrformeln
über den Faschismus zurechtgestutzt, andere Teile der Geschichte aber verdrängt
und tabuisiert.
Nun müssen wir Deutsche uns einer doppelt belasteten Vergangenheit stellen. Mit
der Einheit Deutschlands ist die Auseinandersetzung über den Umgang mit unserer
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Geschichte komplexer, vielschichtiger und in vielerlei Hinsicht sicherlich schwieriger
geworden. Ich sehe darin aber auch eine neue Chance. Denn mit dem Fall der
Mauer ist es nun möglich geworden, dass die Deutschen in Ost und West eine
gemeinsame Verantwortung für alle Teile ihrer Geschichte annehmen. Wir haben die
Chance, jenseits aller verordneten Geschichtsbilder aus der Vergangenheit zu lernen
und ein Geschichtsbewusstsein zu entwickeln, das nicht ideologischen oder
politischen Zwängen unterworfen wird.
Um die angemessene Form des Gedenkens und Erinnerns ist in letzter Zeit viel
gerungen, ja gestritten worden. Dabei hat sich gezeigt, dass ein Zuviel ebenso als
problematisch empfunden werden kann wie ein Zuwenig. Immer mehr Menschen
empfinden Trauer als lästig und lehnen Gedenktage als leere Rituale ab, ja Einzelne
gehen sogar so weit, uns „Kreuzzüge gegen das Vergessen“ vorzuwerfen. Darüber
müssen wir reden. Doch wir sollten nicht darüber reden, ob wiederkehrende
Gedenktage sinnvoll sind, sondern darüber, wie sie sinnvoll bleiben können.
Es gehört zu unserem nationalen Selbstverständnis, dass wir den Umgang mit
unserer Geschichte nicht zur Privatsache jedes Einzelnen erklären. Wir können und
wir wollen auf öffentliches Gedenken nicht verzichten. Wir müssen uns – gemeinsam
und jeder für sich – immer wieder der Mühe unterziehen, unserem Gedenken Sinn zu
geben und seinen Sinn aufzuspüren.
Auch das soll dieser Gedenktag ausdrücken, den sich Roman Herzog als
„nachdenkliche Stunde inmitten der Alltagsarbeit“ gewünscht hat und der nicht nur
hier im Bundestag begangen wird, sondern an vielen Orten in unserem Land. Zur
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gehört das kollektive Gedenken ebenso
wie die individuelle Erinnerung. Mit dem Vergessen dagegen werden wir nicht nur
das fragile Vertrauen der Juden in aller Welt enttäuschen, sondern das neue, das
demokratische, das europäische Deutschland in Zweifel ziehen.
Vergessen wir nicht: Es ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit, dass in
Deutschland Juden mit Nichtjuden um die schwierige Vergangenheit ringen. Den
wenigen, die der NS-Vernichtungsmaschinerie entronnen waren, schien vor 55
Jahren ein Bleiben im Lande der Täter unvorstellbar. Wer die Kraft dazu hatte,
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bereitete seine Ausreise vor. Dass dennoch Juden geblieben sind, dass nach und
nach weitere zurückkamen, dass in Deutschland wieder Synagogen gebaut wurden
und sich jüdisches Gemeindeleben entfaltete – das ist ein großes Geschenk.
1950 wurde der Zentralrat der Juden in Deutschland gegründet, der Unschätzbares
geleistet hat für eine behutsame Annäherung und eine allmähliche Versöhnung
zwischen Juden und Nichtjuden in unserem Lande. Ich möchte diese Gedenkstunde
nicht verstreichen lassen, ohne dafür zu danken, ganz besonders Ignatz Bubis. Vor
diesem Hintergrund erscheint die Instrumentalisierung des jüdischen Schicksals zum
Zwecke der Vertuschung finanzieller Machenschaften als eine besonders schamlose
Entgleisung. Ignatz Bubis hat kurz vor seinem Tod leider eine sehr pessimistische
Bilanz gezogen, doch er hatte Gründe zur Skepsis und zur Sorge: Im vereinten
Deutschland sind Ausländer ermordet, Behinderte und Obdachlose angegriffen,
jüdische Friedhöfe geschändet worden. Das sind Verbrechen, die niemand
leichtfertig als „Ausreißer“ abtun darf.
Wenn wir eines aus der Geschichte gelernt haben, dann doch dies: Es wäre fatal,
wenn sich eine schweigende Mehrheit nicht „zuständig“ fühlte für das, was in
unserem
Land
passiert.
Wir
alle
sind
aufgefordert,
ausländerfeindliche,
rechtsradikale und antisemitische Gewalt offen und couragiert abzuwehren. Wie fest
das demokratische Bewusstsein in unserer Gesellschaft verankert ist, das erweist
sich darin, wie wir mit den Menschen zusammenleben, die hier „fremd“ sind, die in
der Minderheit sind oder an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden.
Zum Glück gibt es in Deutschland auch viele, sehr viele, die die Ursachen von
Gewalt – gerade bei Jugendlichen – aufspüren und bekämpfen helfen. Überwinden
wir die falsche Faszination durch Gewalt und Gewalttäter und richten wir unsere
Aufmerksamkeit auf diejenigen, die sich wehren, die nicht wegsehen oder
gleichgültig
sind,
sondern
die
alltäglich
demokratisches
Engagement
und
Zivilcourage zeigen! Das ist die richtige, die sinnvolle Konsequenz aus Erinnern und
Gedenken. Zum Glück gibt es viele engagierte Bürgerinnen und Bürger, die sich in
ihrem Alltag aktiv für unser Gemeinwesen engagieren. Unterstützen wir sie, stärken
wir die Mehrheit derer, die sich verantwortlich fühlen für das, was in unserem Land
passiert!
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Wir Deutschen haben uns mit dem Grundgesetz verpflichtet, zuallererst die
Menschenwürde zu respektieren und die Menschenrechte zu verteidigen. Beweise
des Vertrauens in unsere Demokratie sind vor allem auch unsere Beziehungen zu
Israel, die nach und nach entspannter und enger geworden sind. Alltäglich werden
die Zeichen von Vergebung und Freundschaft aber nie sein. Es bleibt unsere
Aufgabe, die Beziehungen zu Israel zu pflegen und ihre Besonderheiten und
Probleme nicht zu verdrängen.
Vergessen wir nicht: Wir verdanken es der bindenden Kraft des Grundgesetzes, dass
aus der geächteten Nation inzwischen ein geachtetes Mitglied der internationalen
Völkergemeinschaft geworden ist. Daraus erwächst die Verpflichtung, dass wir uns
als verlässliche Partner im vereinten Europa für eine enge Zusammenarbeit und für
ein friedliches Zusammenleben der Völker einsetzen.
Wir alle hoffen, dass das begonnene Jahrhundert friedlicher, gerechter und
menschlicher wird als das vergangene, das Hannah Arendt das „grausamste
Jahrhundert der überlieferten Geschichte“ genannt hat. Deshalb müssen wir das
Wissen über die menschenverachtende Brutalität des NS-Systems, über die
Ignoranz und Verführbarkeit von Massen und über das unermessliche Leid der Opfer
mitnehmen in das neue Jahrhundert.
Heute halten viele junge Menschen ihre Freiheiten und Rechte für selbstverständlich
und meinen, dass der Nationalsozialismus nichts mit ihrem Leben zu tun habe. Ihnen
müssen wir klarmachen, dass sich Vergangenheit und Gegenwart immer wieder
begegnen. Was könnte die Anteilnahme und das Verantwortungsgefühl für die
gemeinsame Zukunft besser wach halten als die persönliche Begegnung zwischen
Juden und Nichtjuden? Sie, sehr verehrter Herr Wiesel, haben einmal gesagt: „Allein
die Tatsache, dass wir uns begegnen können, ist ein Zeichen von größter, von
unermesslicher Hoffnung.“
Ein Zeichen der Vergebung, der Freundschaft und der Hoffnung ist es auch, dass
Elie Wiesel und Giora Feidman heute hierher gekommen sind. Elie Wiesel wird
gleich zu uns sprechen. Doch vorher spielt für uns Giora Feidman, der der
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verbindenden und versöhnenden Kraft der Musik vertraut. Jetzt und hier wird zum
ersten Mal ein Musikstück für Klarinette und Streicher erklingen, das Giora Feidman
und Ora Bat Chaim eigens für diesen Tag komponiert haben. Ich empfinde das als
eine Ehre und als ein großes Geschenk für uns alle, für das ich von Herzen dankbar
bin. Dem Vertrauen, das Sie uns damit entgegenbringen, wollen wir gerecht werden.
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