Predigt im ökumenischen Gottesdienst 70 Jahre ‚Kristallnacht’ am Sonntag, 09.11.2008, in der Martinskirche Langenau über Römer 9, 4; 11, 29 Liebe Gemeinde! Gegenüber dem Hauptgebäude des Freihof-Gymnasiums in Göppingen, das ich als Schüler besuchte, führen ein paar Treppenstufen hinauf auf einen unbebauten Platz mitten in der Stadt. Einige Birken sind hier hoch aufgewachsen; Büsche und Rasenflächen bedecken diesen Platz. Eine unauffällige Bronzetafel am Treppenaufgang gibt die Auskunft: „Hier stand die im Jahre 1881 erbaute Synagoge der Göppinger jüdischen Gemeinde. Sie wurde gegen Recht und Menschlichkeit am 9. November 1938 zerstört.“ Ich bin als Schüler oft an diesem leeren Platz und an der Bronzetafel vorbeigegangen. Am Anfang war „Synagoge“ noch ein Fremdwort für mich. Aber nach und nach erschlossen sich mir durch den Religionsund Geschichtsunterricht die Zusammenhänge. Das himmelschreiende Unrecht, das an dieser Stelle meiner Heimatstadt geschehen war, bekam für mich immer klarere Konturen. Erstaunt war ich, als ich das erste Mal ein Foto der Göppinger Synagoge sah. Zwischen der evangelischen und katholischen Stadtkirche gelegen, bildete die Synagoge mit ihrer himmelwärts strebenden Kuppel einen markanten städtebaulichen Akzent. Entworfen hatte sie der königliche Oberbaurat Christian Friedrich von Leins, ein damals weithin bekannter Kirchenbau-Architekt. Die Göppinger Zeitung berichtete, dass die christliche Bevölkerung starken Anteil genommen hat an der Einweihung der Synagoge 1881: „Stolz können wir darauf sein, dass die antisemitischen Hetzereien der norddeutschen Brüder bei uns in Süddeutschland keinen Boden finden. Die hiesige Einwohnerschaft hat durch die dem Einweihungsfeste entgegengebrachte Sympathie gezeigt, dass sie Vorurteile nicht kennt. Wir wünschen von Herzen, dass bald die Zeit kommen möge, in der es überhaupt Vorurteile religiöser Art nicht mehr gibt.“ (Tänzer, 496) Noch in den 1920er Jahren kam die christliche Bürgerschaft Göppingens gern zu kulturellen Veranstaltungen in die Synagoge. „Beispielsweise besuchten die ‚Musikalische Morgenfeier’ in der Synagoge am 22. September 1929 Musikfreunde aller Konfessionen, die dankbar diese Gelegenheit benützten, um einmal jüdische Musik zu hören. Die Veranstaltung wurde vom Süddeutschen Rundfunk übertragen.“ (Tänzer, 576). Dann kam mit dem Jahr 1933 ein Cut, ein Schnitt. Die Zeit des Miteinanders und des guten Auskommens von Christen und Juden war mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten schlagartig vorbei. Zug um Zug wurden jüdische Mitbürger eingeschüchtert und entrechtet. Am späten Abend des 9. November 1938 zündeten SA-Männer auch die Göppinger Synagoge an. Sie brannte vollkommen aus. Die Kuppel stürzte ein. Allein die rußgeschwärzten Umfassungsmauern blieben stehen. Kurz darauf wurden auch diese eingerissen und der Synagogenplatz eingeebnet. Zurück blieb eine leere Stelle mitten in der Stadt. Als ich diese Geschichte erfahren hatte, begriff ich, welch ein kultureller Verlust es ist, wo das Judentum ausgeblendet oder gar vernichtet wird. Welch ein Verlust auch für den christlichen Glauben, wo er das Judentum abqualifiziert, wie es Jahrhunderte lang geschah! Wie dieser leere Platz inmitten der Stadt, so bekommt der christliche Glaube zu seinem eigenen Schaden Leerstellen, wo er sich aus der Verbindung zum Judentum herauslöst. Jesus selber ist ohne seine Verwurzelung im Judentum gar nicht zu verstehen. Schon in der frühen Kirche kam die Vorstellung auf - die sich dann über Jahrhunderte hartnäckig gehalten hat-, die Juden stünden unter einem Fluch, 1 weil sie Jesus gekreuzigt hätten. Diese antijudaistische Ansicht ging völlig an den Tatsachen vorbei. Wohl wurde Jesus von einigen Mitgliedern der damals führenden Jerusalemer jüdischen Oberschicht dem römischen Statthalter in die Hände gespielt. Aber keinesfalls kann das Leiden und Sterben Jesu allen damals lebenden Juden noch den heutigen Juden zur Last gelegt werden. Ebenfalls in der Frühzeit der Kirche kam die Vorstellung auf, dass der alte Bund Gottes mit Israel aufgehoben sei und an seine Stelle der neue Bund Gottes mit der Christenheit getreten sei. Neuer Bund gegen alten Bund. Lange hat man in der Geschichte der Kirche so gedacht und hat es sogar in Stein gehauen. So steht über dem Seitenportal des Straßburger Münsters eine triumphierende Frauengestalt mit dem Kreuz, die die Kirche symbolisiert, neben einer gebeugten Frauengestalt in heimlicher Schönheit, mit gebrochener Lanze und verbundenen Augen, die die Synagoge symbolisiert. Neu gegen alt. Dabei sagt der Apostel Paulus ganz klar und eindeutig im Römerbrief: „Dem Volk Israel gehören die Kindschaft und die Bundesschlüsse und die Verheißungen. Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen – oder, wie die Einheitsübersetzung sagt: Unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt.“ D.h. Gott hält leidenschaftlich an seinem Volk fest. Bis heute hat Gott seinen Bund mit Israel nicht aufgekündigt. Und Israel weiß sich leidenschaftlich seinem Gott verpflichtet, wie Rabbiner Leo Trepp sagt: „Der Jude begreift sein Verhältnis zu Gott als einen Bund. Als Streiter für Ihn oder als Sein Leid erduldender Knecht auf der Welt zu sein, ist die Sendung des Juden.“ Durch das Kommen Jesu werden auch die nichtisraelitischen Völker in den Bereich des Handelns Gottes mit dem Volk Israel einbezogen. Sie werden hinein genommen in den neuen Bund, den Gott mit Jesu Tod und Auferstehung aufrichtet. Dabei ist der neue Bund nicht die Ablösung, sondern die Erweiterung des Bundes Gottes mit Israel. Kein Wort von Kündigung, Ablösung oder gar Verwerfung. Der Bund Gottes mit Israel besteht fort. Als hätte sie eine Binde vor den Augen gehabt, hat ein Großteil der Christenheit lange Zeit grundlegende Aussagen des Neuen Testaments über das Volk Israel überlesen. Selbstkritisch muss die Christenheit erkennen, dass sie das geistige Klima mit begünstigt hat, das zu den Verbrechen an jüdischen Mitbürgern geführt hat. Wenn ich an jenen leeren Platz in der Stadt Göppingen denke, auf dem einst die Synagoge stand, dann steht mir bedrängend vor Augen, was Juden in unserem Land angetan wurde. Nicht nur in Göppingen, sondern im ganzen Land wurden in der Nacht des 9. November 1938 Synagogen verwüstet, jüdische Friedhöfe geschändet, jüdische Geschäftshäuser demoliert und jüdische Mitbürger terrorisiert. Es war keineswegs ein spontaner Volkszorn, der sich in diesen Verbrechen entlud, sondern es war eine zentral von Berlin aus organisierte Aktion der Nationalsozialisten. Novemberpogrome hat man sie genannt Gegen den Begriff „Pogrom“ steht freilich der historische Fakt, dass es sich um eine vom NS-Regime organisierte und gelenkte Zerstörung von Einrichtungen, Eigentum und Leben der Juden im Deutschen Reich handelte, und keineswegs um einen spontanen Ausbruch der Bevölkerung, wie es die Nazipropaganda einhämmerte. Deshalb verwenden neueste historische Veröffentlichungen wieder den Begriff „Kristallnacht“. Im heutigen ökumenischen Gottesdienst gedenken wir des 70. Jahrestages der „Kristallnacht“. Die Kristallnacht war der Auftakt zum Holocaust, zu einer Epoche ungeahnter Zerstörung und Vernichtung, an deren Folgen Europa, die Welt und vor allem die jüdische Gemeinschaft noch heute zu tragen haben. 2 Gestern Morgen waren an allen Zugängen zu unserer Martinskirche mit blauer und gelber Kreide Sätze geschrieben: „Wo bleibt das Gedenken für die deutschen Opfer?“ Liebe Schreiberin, lieber Schreiber dieser Sätze, zum einen waren es deutsche Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdischen Glaubens, denen man zuvor das Bürgerrecht genommen und sie dann am 9. November so schändlich drangsaliert hat. Zum anderen werden wir auch in diesem Jahr am Volkstrauertag und am Totensonntag im Angesicht der Gefallenentafeln auf unseren Friedhöfen der Opfer von Kriegen und Gewalttaten in unserem Land und weltweit gedenken. Der 70. Jahrestag der Kristallnacht aber konzentriert unser Gedenken auf das in unserem Land geschehene Unrecht am jüdischen Volk. Das dürfen wir nicht verschweigen und nicht vergessen. Die Bischöfe Wolfgang Huber und Robert Zollitsch erklären gemeinsam zum 70. Jahrestag der Novemberpogrome: „Unzählige Menschen sind Opfer des Nationalsozialismus geworden. Anlässlich der Pogrome des Jahres 1938 richtet sich unser Gedenken besonders auf die Juden, deren systematische Verfolgung und Ermordung ein beispielloses Menschheitsverbrechen darstellen. Ihr Leiden, ihre Einsamkeit und ihre Verzweiflung angesichts einer Gewaltmaschinerie, die mit Demütigung und Entrechtung begann und mehr und mehr von absolutem Vernichtungswillen angetrieben wurde, erfüllen uns mit Bestürzung und Trauer.“ Mit Bestürzung und Trauer gedenken wir der Vorgänge vor 70 Jahren. Gedenken heißt: Erschrecken vor den Möglichkeiten, schuldig zu werden, durch Wegschauen und angstvolles Schweigen, und solche Schuld vor Gott zu bekennen. Nur ganz wenige Christen fanden klare offene Worte, so der Oberlenninger Pfarrer Julius von Jan: „Gotteshäuser, die anderen heilig waren, sind ungestraft niedergebrannt worden. Wir als Christen sehen, wie dieses Unrecht unser Volk vor Gott belastet und seine Strafe über Deutschland herbeiziehen muss.“ Eine Woche später wurde Pfarrer von Jan von SA-Schergen zusammengeschlagen, monatelang ins Gefängnis geworfen und dann in ein Strafbataillon gesteckt. Das Zeugnis dieses und anderer Christen und Kirchenvertreter kann das Verzagen und Versagen anderer nicht zudecken. Es erinnert uns immerhin daran, dass die Stimmen der Humanität und Nächstenliebe auch im Angesicht des schlimmsten Abgrundes der Unmenschlichkeit nie ganz verstummt sind. Die brennenden Synagogen haben sich tief in unser Gedächtnis gebrannt. Sie lehren auch heute: Wo es keinen Respekt vor dem Heiligen gibt, dort gibt es auch keinen Respekt vor den Menschen. Wo die Synagogen brennen, ist es nicht weit zu den Gaskammern und Verbrennungsöfen der Vernichtungslager. Sechs Millionen Juden sind bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ermordet worden. Eine Zahl, die uns einen Schauer über den Rücken laufen lässt, und zugleich doch irgendwie ungreifbar bleibt. Die Ausstellungstafeln in unserer Martinskirche, die über diesen 9. November hinweg hier zu sehen sind, stellen uns exemplarisch das Schicksal eines jüdischen Menschen vor Augen: das des Jungen Petr Ginz. In seinem Tagebuch und seinen künstlerisch-literarischen Arbeiten lernen wir ihn als begabten, lebensfrohen jungen Menschen kennen. Sein Prager Tagebuch setzt mit dem 19. September 1941 ein, als die Juden den Stern tragen müssen. Es endet mit dem Tag der Deportation nach Theresienstadt, wo er noch zwei Jahre lebte, ehe er wie so viele andere in Auschwitz ermordet wurde. Wir empfinden Bestürzung und Trauer über ein Leben, in dem so vieles angelegt war, was sich nicht voll entfalten konnte, ein allzu früh gewaltsam abgebrochenes Leben, das exemplarisch steht für Millionen anderer. 3 Mit Bestürzung und Trauer gedenken wir der Vorgänge vor 70 Jahren. Gedenken heißt auch: Neue Wege der Begegnung von Juden und Christen suchen. Ich bin dankbar für das Wunder, dass in unserem Land gerade auch von jüdischer Seite aus der Dialog gesucht und Brücken gebaut wurden. Dabei wurde deutlich, dass Juden und Christen Partner sind mit je eigener Identität in der Geschichte Gottes mit seinem Volk. Partner, Geschwister des einen Vaters im Himmel, so habe ich es vor etlichen Jahren in Reutlingen erlebt, wo ich dem inzwischen 95jährigen Rabbiner Leo Trepp begegnet bin. Er war einst Landesrabbiner von Oldenburg, kurz nach der ‚Kristallnacht’ im November 1938 ins KZ Sachsenhausen verschleppt, mit knapper Not dem Tod entronnen. Er feierte mit uns, einer kleinen Schar Christinnen und Christen, den Sabbatbeginn. Und wir spürten bei allem Anderssein eine ganz große Nähe vor dem Angesicht des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs, des Vaters Jesu Christi. Es war in diesem gemeinsamen Feiern die gemeinsame Hoffnung in unseren Herzen lebendig, dass wir unterwegs sind zum großen Versöhnungstag Gottes, der uns schon hier den Dienst der Versöhnung und den Einsatz für eine friedlichere Welt zumutet und zutraut. Gestalt des Mose am Hochaltar, der den Betrachtenden die Tafeln mit den 10 Geboten im original hebräischen Wortlaut entgegenhält: „Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keinen anderen Göttern, auch keinen Menschen verachtenden Ideologien, neben mir Raum geben. … Du sollst nicht töten…“ Diese Gebote geben uns allen die Rückenstärkung für ganz praktische Schritte für ein friedliches, achtsames Miteinander ganz unterschiedlicher Menschen auf dieser Welt und in dieser Stadt. Hören wir zum Abschluss noch einmal auf den jüdischen Lehrer Leo Trepp: „Diesen Geboten … entspringt die Juden und Christen gemeinsame Forderung, Gott in dieser Welt eine feste Wohnung einzurichten, allem Unrecht zu wehren und für die Gleichberechtigung aller Menschen zu kämpfen, weil Gott alle Menschen sich zum Ebenbild schuf und sie darum Geschwister sind. Man sollte nicht vergessen, dass Juden wie Christen in gleicher Weise ihre geistige Nahrung aus den Büchern der Bibel einschließlich der Hebräischen Schrift ziehen.“ (Trepp, S. 210) Amen. Das gewaltsam abgebrochene Leben des Petr Ginz, von dem die Ausstellung in der Martinskirche erzählt, der leere Synagogenplatz in Göppingen – es sind dringliche Appelle an uns heute, mit all unseren Kräften für eine friedlichere Welt und eine offene und tolerante Stadt einzutreten. Es sind dringliche Appelle, extremistischen politischen Ansichten nicht nachzugeben, die Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit schüren. Literatur: Leo Trepp, Die Juden. Volk, Geschichte, Religion, Wiesbaden 2006; Aron Tänzer, Die Geschichte der Juden in Jebenhausen und Göppingen. Mit erweiternden Beiträgen über Schicksal und Ende der Göppinger Judengemeinde 1927-1945; neu herausgegeben von Karl-Heinz Rueß, Weißenhorn 1988 Pfarrer Dr. Martin Hauff, Langenau Dass die Ausstellung zum Prager Tagebuch von Petr Ginz im Chorraum der Martinskirche steht, setzt eine bemerkenswerte Wechselwirkung zwischen Kirchenraum und Bildtafeln in Gang: Über der Ausstellung steht die 4