377 G. HESSENBERG ZAEHLEN UND ANSCHAUUNG Die grossen Erfolge, von denen die Untersuchungen über die allgemeinsten Grundlagen des Zahlbegriffs begleitet gewesen sind, haben vielfach zu der Ueberzeugung geführt, dass die Lehre von den Zahlen ein Kapitel der reinen Logik sei; dass ihr nicht nur die Ableitung der formalen Eigenschaften der Zahlen aus einfachsten Posiulaten, sondern auch die unmittelbare Folgerung ihrer Existenz aus der Definition gelungen sei. Der unverkennbare Gegensatz zwischen Geometrie und Arithmetik führt dann leicht dazu, die Geometrie den Erfahrungswissenschaften zuzuweisen und den Raum für einen Gegenstand von Laboratoriumsversuchen zu halten. Wenn auch neuerdings die Beaktion gegen diese Auffassung wieder schärfer hervortritt, wenn vor allem die Bedeutung und das Vorhandensein unbewiesener Forderungen in der Mengenlehre sich allgemeine Anerkennung verschafft, so bleibt doch vielfach die Ansicht bestehen : es müsse bei weiterer Vertiefung und Verallgemeinerung der Grundlagen die Verwandlung der Zahlenlehre in ein Kapitel der reinen Logik erreichbar sein. Wenn ich mich dieser Ansicht nicht anschliessen kann, so liegt es mir doch lern, den grundlegenden Untersuchungen ihre Bedeutung abzusprechen. Vergleichen wir etwa die klassischen DiRiCHLET'schen Beweise der kommutativen und associativen Eigenschaften der Addition und Multiplikation mit den modernen DEDEKIND' sehen Induktionsbeweisen und weiterhin die Begründung des Induktionsverfahrens durch die Kettentheorie und deren Zurückftihrung auf die evidenten mengentheoretischen Grundbegriffe, so werden wir den Fortschritt in den neueren Untersuchungen kaum verkennen können. Dass aber eine Ueberschätzung eines solchen Fortschrittes genau so gut eine Verkennung seiner Bedeutung enthält, wie eine UnterSchätzung, das bedarf keiner besonderen Betonung ; und die Erfahrungen der letzten Zeit lehren uns, dass nur zu leicht mit der Erkenntnis zuvor übersehener Mängel statt des fehlherhaften Teiles das ganze Gebäude unnötigerweise wieder bis auf seine Fundamente abgetragen wird, zum grossen Bedauern derjenigen, die solche Fehler von vornherein erkannt und über ihre Stelle Klarheit gewonnen hatten. Nur eine Verkennung der Kettentheorie kann zum Beispiel dazu führen, sie als Begründung des Induktionsschlusses zu verwerfen ; die Berufung auf die Intuition als Quelle dieses Schlussverfahrens dagegen schreibt der Anschauung eine Bedeutung zu, die ihre Kompetenz 48 — 378 — überschreitet, und verzichtet nicht nur auf eine Begründung, die fälschlich die Anschauung glaubte ausgeschaltet zu haben, sondern zugleich auf die wertvollen Kriterien, die jene Begründung als notwendige und hinreichende Bedingungen für die Zulässigkeit des Induktionsschlusses aufgedeckt hatte. Um die Bolle der Anschauung klarzustellen, bedürfen wir nicht durchweg philosophischer oder psychologischer Argumentationen. Wir können durch Prüfung von Tatsachen, die jedem Mathematiker geläufig sind, ein gutes Teil Klarheit gewinnen. Die Unterscheidung reiner Existenzbeweise von sogenannten Konstruktionsverfahren ist an Beispielen leicht zu verstehen ; sie ist neuerdings in mengentheoretischen Diskussionen von Wichtigkeit geworden und einer der bedeutendsten Fortschritte der Mengenlehre, der Beweis des Wohlordnungssatzes, beruht wesentlich auf dieser Unterscheidung ; er wird da, wo er noch verkannt wird, meist als Konstruktionsverfahren angegriffen, obwohl er ausdrücklich den Anspruch ablehnt, ein solches zu sein, selbst dann, wenn durch das Auswahlpostulat nicht nur die Existenz, sondern auch die Konstruierbarkeit einer Menge gefordert wäre, die mit jedem Element einer Menge teilfremder Mengen genau ein Element gemein hat. Der von Herr HAMEL erbrachte Beweis der Existenz unstetiger Lösungen der Funktionalgleichung f(x-\-y) = f(x)-\-f(y) bewahrt den Charakter eines reinen Existenzbeweises auch dann, wenn es möglich wäre, eine Wohlordnung des Kontinuums herzustellen. Allgemein sind wohl weitaus die meisten Beweise für die Existenz von Funktionen, die gegebenen Bedingungen genügen, keine Konstruktionsverfahren. Die Theorie der Integralgleichungen liefert zahlreiche Beispiele, die Existenz der Integrale von Differentialgleichungen nicht minder. Auch der Fundamentalsatz der Algebra lässt sich so beweisen, dass er ein Konstruktionsverfahren nicht enthält, und im Gegensatz dazu beruht der CANTOR'sche Existenzbeweis transzendenter Zahlen auf einem ausgesprochenen Konstruktionsverfahren. Betrachten wir nun im einzelnen die Theorie der Reihe der natürlichen Zahlen. Welche Definition der Zahl dabei auch zu Grunde gelegt wird, — vielfach wird eine solche überhaupt nicht oder aber so verschwommen gegeben, dass sie von vornherein als unwesentlich ausscheidet, — stets läuft die Theorie auf eine reine Theorie des CANTOR'schen Ordnungstypus Omega hinaus. Und in der Tat bestehen ja für jede Menge dieses Typus Beziehungen, welche sämtliche formalen Eigenschaften der Addition, Multiplikation u. s. w. besitzen. Die Definition der Potenz lautet : a1 = a, am+l — am.a, und es wird bewiesen, dass sie eindeutig für jeden Wert beider Argumente den Funktionswert festlegt. Ist diese Definition ein Konstruktionsverfahren? Wir können sie so auffassen. Es ist z. B. die Million als sechste Potenze von 10, d. h. als zehnfaches der fünften Potenz definiert. Das zehnfache von a ist nach Definition das Neunfache, vermehrt um a, dieses das Achtfache, vermehrt um a u. s. f. Die Vermehrung um 10 ist eine Vermehrung um neun, deren Resultat um 1 vermehrt wird. Die Vermehrung um 1 bleibt mehr oder weniger Grundoperation. Sie bedeutet in der Zahlenreihe den Uebergang zum nächsten Element, und sind die Zahlen als Cardinalzahlen von Mengen definiert, so ist die unmittelbar folgende Zahl durch die Vermehrung um ein Element definiert. — 379 — Wollen wir hiernach 10 konstruieren, so haben wir 10 5 . 10 = 10 4 .10.10 u. s. f. zu bilden; diese Produkte sind wieder in Summen von Zehnen und diese in Summen von Einen zu verwandeln. Die « Konstruktion » besteht also darin, dass bis zu einer Million gezählt wird. Es fragt sich aber, ob diese Art der Konstruktion ohne * Anschauung « möglich ist, und ich glaube, diese Frage ist unbedingt zu verneinen. Und wer sich an der Grösse der gewählten Zahl stösst und etwa findet, dass sie überhaupt nicht mehr anschaulich ist, der mag den Begriff der Zahl 2 X 3 rein logisch definieren. Es ist 2 X 3 = ( 2 X 2 ) + 2 = (2X1 + 2) + 2 = (2 + 2) + 2 = ( (2 + 2) + 1) + 1 u. s. f. = 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1. Um diese Definition hinzuschreiben, muss ich bis sechs zählen können, und dasselbe muss von dem verlangt werden, der sie auf ihre Richtigkeit nachprüft. Rein logisch muss ich von einer Menge von sechs Elementen verlangen, dass ich sie unterscheiden kann; wie ich das mache, ist dem Logiker gleich; sind die sechs Elemente auch bloss gedacht, ununterscheidbar darf ich sie nicht denken. Die Zweideutigkeit der Behauptung, es werde von den Unterschieden « abstrahiert », ist wiederholt betont worden, sehr scharf von FREGE. Ich abstrahiere wohl von der Art, auf die ich die Unterscheidung gründe, nicht aber von der Tatsache ihrer Möglichkeit. Vergleichen wir damit das Verfahren des Geometers, der von den Punkten seiner Geraden verlangt, dass sie alle von einander verschieden und unterscheidbar zu denken sind, und dass die Menge aller dieser Punkte nach einem logisch scharf bestimmten Ordnungstypus geordnet sei. Die Methode der Unterscheidung ist in Arithmetik und Geometrie wohl grundverschieden, aber worauf es hier in beiden Fällen ankommt: sie ist logisch nicht zu fassen und ist auch für die rein logische Theorie der Ordnungstypen irrelevant. Gegenstand der rein logischen Theorie ist nur der Ordnungstypus und das aus ihm folgende System der Relationen der Elemente zueinander. Die Konstruktion eines Elementes aus definierenden Relationen, seine Individualisierung, ist nicht Gegenstand dieser Theorie und kann es gar nicht werden. Die Theorie schaltet also die Intuition so wenig aus, wie sie durch sie ersetzt werden kann. Man wird nicht behaupten dürfen, dass das, was wir hier Konstruktion nannten, bis ins einzelne mit dem übereinstimme, was KANT als Konstruktion in reiner Anschauung bezeichnet hat. Im Gegenteil, da zu KANT'S Zeiten die Zergliederung der Elementarbegriffe noch gar nicht so weit fortgeschritten war, wie es der heutige Stand der Wissenschaft zeigt, werden Unterschiede sich mühelos aufzeigen lassen. Wesentlich ist aber dabei die Frage, ob der von KANT behauptete anschauliche Gehalt der mathematischen Erkenntnis sich verflüchtigt hat oder ob er nicht vielmehr, dem schärferen Stand der Zergliederung entsprechend, heute mit grösserer Schärfe nachweisbar ist. Dass ich die Frage in diesem zweiten Sinne glaube beantworten zu müssen, und aus welchen Gründen, war meine Absicht, hier klarzulegen. 6