Version: Juni 2010 Glauben – wie geht das? Wege zur Mitte des Evangeliums [5] Vorwort Manchmal haben wir den Eindruck, eine ungezählte Fülle von Perlen in der Hand zu haben, Schriftworte, Dogmen, Normen, Institutionen, Formen. Alles das gehört zum Glauben, zum Christsein – aber wir wissen nicht, wie wir diese einzelnen Perlen in der Hand behalten sollen, ohne die oder jene uns entgleiten zu lassen. Und wir wissen schon gar nicht, wie diese vielfältigen Perlen in einen inneren Zusammenhang bringen. Es fehlt uns sozusagen die eine Schnur, an der sie sich alle aufreihen und zur Kette werden, es fehlt uns der eine Weg, der durch die vielen Gestalten des Glaubens hindurchführt und daraus diese eine, überzeugende Lebensgestalt Glaube werden läßt. Zornig oder ärgerlich oder achtlos die und jene Perle fallenlassen, damit man die Sache besser in der Hand behalten kann, nützt wenig. Alles wahren, aber das viele zum Einen, zum Ganzen werden lassen: darauf kommt es an. Vielleicht machen wir auch die entgegengesetzte Erfahrung. Der Glaube kommt uns vor wie ein ungemein perfektes und stimmiges System, alles paßt zusammen, alles läuft in sich ab – aber wir selbst kommen nicht dazwischen. Wir können es zwar in scheuer Bewunderung bestaunen, aber damit leben können wir nicht. Wir fühlen uns wie in einem Museum, in dem viele wertvolle Tische und Vasen und Teller und Einrichtungsgegenstände ausgestellt sind; nur sind wir durch ein Absperrseil davon getrennt und durch ein Schild ferngehalten: Bitte nicht berühren! Und so können wir nicht auf diesen Stühlen sitzen, nicht an diesem Tisch essen, nicht der schönen Dinge [6] uns bedienen. Glaube ist groß und ehrwürdig, aber Glauben geht nicht, so haben wir dann den Eindruck. Tausend Perlen ohne die verbindende Kette; das perfekte System, aber ohne daß wir in diesem Museum leben könnten. Oder vielleicht bedrängt uns eine nochmals andere Not ums selbe: Wir strengen uns redlich an, zu glauben und unser Leben aus dem Glauben zu gestalten. Aber wir treten dabei auf der Stelle. Vielleicht noch schlimmer, wir versinken ohne Grund und Fundament. Glauben wird für uns wie zu einer Gehübung, doch es fehlt der tragende Boden – zu einer bloßen Haltung, doch es fehlt der Halt; zu einem Wie, doch es fehlt das Was. Worauf dürfen wir uns verlassen, wo sind die Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 klaren Wegzeichen? Sicherlich, wir brauchen keine ausgetretene und gepflasterte Straße, aber eben doch jenen Pfad, von dem wir wissen dürfen: er trägt und trägt weiter. Glauben geht schwer, wenn wir nicht den inneren Zusammenhang, den einen roten Faden sehen. Glauben geht schwer, wenn wir ihn nicht in unmittelbare Beziehung setzen können zu unserem Leben und zu unserer Erfahrung, wenn wir mit dem Geglaubten nicht so, wie wir sind, umgehen und leben können. Glauben geht schwer, wenn wir nicht wissen, wo es entlang geht, wo der Weg weiterführt. Einen der ältesten Namen, vielleicht den ältesten, für das Christentum überliefert uns die Apostelgeschichte: der Weg (vgl. Apg 9, 2; 19, 9. 23; 22, 4; 24, 14. 22). Jesus selbst sagt von sich: „Ich bin der Weg“ (Joh 14, 6). Paulus spricht von dem, worauf ihm alles ankommt, von der Liebe als von jenem Weg, der über alle hinausführt (vgl. 1 Kor 12, 31); der Hebräerbrief schließlich nennt das, was uns Jesu Erlösungstat geschenkt hat, den „neuen und lebendigen Weg, den er uns erschlossen hat“ (Hebr 10, 20). Ist uns hier nicht ein Stichwort zugespielt, das uns aus den Engführungen des bloß objektiven und bloß subjektiven Glaubensverständnisses herausführen könnte, ein Stichwort, das uns zum Programm werden könnte, damit Glaube wieder geht? Vor lauter Bäumen doch den Wald wieder sehen, in den vielen Bildern und Stationen des Glaubens den einen Weg finden – Christentum und Kirche nicht als eine in sich fertige und ferne Sache, sondern als den Weg erfahren, den [7] Gott auf uns zugeht und den nun wir mit ihm selbst weitergehen – für unser Bemühen, für unsern je neuen Anlauf die Bahn und den Boden finden. Wo immer wir stehen, wo immer unsere Fragen und Nöte liegen, im persönlichen Glauben oder im Auftrag, den Glauben zu vermitteln, es kommt darauf an, eine Antwort auf diese Frage zu finden: Glauben, wie geht das? Das vorliegende Buch kann nicht die Frage in ihrem ganzen Gewicht einlösen, in dem sie sich uns stellt. Es bietet sozusagen nur einige Wegnotizen aus dem Bemühen, „objektive“ Grunddaten christlichen Glaubens als Wegzeichen zu verstehen, als Zeichen des Weges, den Gott zuerst auf uns zugegangen ist und den nun wir auf ihn und aufeinander zu im Glauben gehen sollen. Es will einüben in den Zusammenhang zwischen Schrift, Dogma und Spiritualität, zwischen unverfügbarer Vorgabe des verbindlichen Glaubenszeugnisses und persönlichem Versuch, den Glauben zu tun. Vielleicht kommt dabei eine Art verschwiegener Weggenossenschaft zustande, in der Lesende und Schreibender dieses Bandes sich gegenseitig beim Gehen dieses Glaubensweges stützen und, jeder an seiner Stelle, auch anderen dann das Zeugnis geben kann: Wirklich, Glaube geht, und indem der Glaube geht, geht das Leben! Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Aus solcher Weggenossenschaft ist dieses Buch auch entstanden. Ich habe mit den Regionaldekanen des Bistums Aachen und mit leitenden Mitarbeitern des Aachener Generalvikariats im Oktober 1976 eine Besinnungswoche unter dem Thema gehalten: „Glauben, wie geht das?“ Das Wichtigste waren dabei zweifellos nicht die Worte, mit denen ich auf den gemeinsamen Weg hingewiesen habe, sondern die Gemeinschaft, die dabei Herrn lic. theol. Hans-Günther Schmalenberg entstanden dankbar, ist. daß Ich bin er die Tonbandnachschrift meiner Denkanstöße geordnet hat, die ich nun, nochmals aus dem zeitlichen Abstand heraus überdacht und überarbeitet, anderen zum Mitdenken und Mitglauben und Mitleben weitergeben möchte. Aachen, Pfingsten 1978 + Klaus Hemmerle Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 [11] 1. Vorfrage: Glauben, wie geht das? Man sollte sich öfters einmal die Freude gönnen, einem Kind ein Spielzeug zu schenken, und zwar möglichst eines, das nicht zu kompliziert ist. Dann kann man miterleben, wie die Welt entsteht. Das fremde Ding wird ausprobiert. Nach allen Seiten hin wird es gezerrt und gezogen, seine Widerstandsfähigkeit wird erprobt, die eigenen Kräfte werden an ihm gemessen, es wird auf jede erdenkliche und kaum erdenkliche Weise mit anderen Gegenständen kombiniert. Dabei kommt zweierlei heraus, und beides läßt sich nicht voneinander trennen. Zum einen kommt heraus, was an Möglichkeiten in diesem Etwas drinnensteckt, und zum andern kommt heraus, was an Möglichkeiten im Kind drinnensteckt. Das Spielzeug bekommt seine Rolle, indem das Kind mit ihm spielt, im Spiel entscheidet sich, „was“ es ist. Und das Kind gewinnt seine Rolle, indem es spielt. Es entfaltet seine Eigenart, seinen Charakter, wenn wir so wollen: sein Wesen im Vollzug des Spiels. Wie geht das? Eine scheinbar harmlose Frage, die auf das Funktionieren einer Sache, auf den Gang eines Spiels abzielt. Aber in diesem „Gehen“ laufen nicht nur Funktionen, nicht nur Regeln ab, in diesem Gehen geht das Leben, geht der Mensch, geht die Welt. Wenn wir uns auf einen neuen Mitarbeiter oder eine neue Stelle oder eine neue Wohnung oder auch nur auf ein neues Auto einzustellen haben, dann sind wir gespannt, ob und wie es gehen wird. Es kommt darauf an, sich auf jene Gangart einzupendeln, die den anderen oder die Sache zur Entfaltung kommen läßt und zugleich [12] mich selbst. Im Mindestfall ist der Kompromiß gesucht, im Grunde aber immer mehr, immer die Steigerung, den Zugewinn an Leben, an Sinn, an Wirklichkeit. Natürlich kann es mitunter auch zum Druck werden, daß es gehen muß. Dies nicht nur, wenn wir auf Widerstände stoßen, auf mangelndes Zusammenspiel, sondern oft genug einfach durch die sich steigernden Anforderungen in einer immer mehr technisierten und verwalteten Welt. Wie oft und in wie unterschiedlichen Richtungen muß jeder von uns sich die Frage stellen: Wie geht das? Wie muß ich diesen Apparat bedienen, wohin muß ich mich in dieser Behörde begeben, was muß ich tun, um die richtige Fahrkarte zu lösen und sie auf die richtige Weise zu entwerten, wie muß ich diesen Wahlzettel ausfüllen, damit er gültig ist? Mitunter hat man den Eindruck, zum bloßen Mitläufer eines auf vollen Touren laufenden Apparates zu werden, den unsere eigene Freiheit programmiert hat. Sie wollte sich entlasten, wollte mehr Zeit fürs Wesentliche haben – und nun läuft sie ihrem eigenen Programm hinterher und wird sein Sklave. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Das unbefangene Abenteuer des Kindes, das spielend seine Welt probiert, und die Last des vorprogrammierten Mitläufertums mit den Programmen des selbstgezimmerten Systems – beides steht unter derselben Frage: Wie geht das? 1.1 Die Not mit dem Glauben Wo sich die Ansprüche an uns vervielfachen, wo jeden Augenblick soundsoviele Signale auf uns einwirken und von uns verlangen, auf sie zu reagieren, damit das Leben weitergeht, da haben es Botschaft und Anspruch christlichen Glaubens besonders schwer. Wir sind dann nicht sonderlich daran interessiert, daß Glaube geht; denn es geht ohnehin schon zu viel, und alles, was nicht gehen muß, das lassen wir am liebsten auf der Seite, bestenfalls in Reserve für später einmal. Nun, so plausibel diese Aussage klingt, sie allein faßt die Wirk- [13] lichkeit nicht. Wie wenig der Mensch ohne Antworten auf die Sinnfrage auskommt, wie sehr er sich über den bloßen Schlagabtausch zwischen Leistung und Konsum, zwischen Funktion und Komfort hinaussehnt, dafür gibt es eindrückliche Zeugnisse. Aber genau an diesem Punkt setzt eine neue Not mit dem Glauben ein, eine Not, die in der Tat ratlos machen kann. Die Verheißung der christlichen Botschaft und der Anspruch des christlichen Lebens scheinen zu hoch zu hängen, um dem Menschen erreichbar zu sein, ihn unmittelbar dort anzusprechen, wo er sich in seiner Alltagswelt vorfindet. Und zum andern werden solche Verheißung und solcher Anspruch repräsentiert durch Größen wie Dogma, Norm, Institution, Amt – und dies wiederum erscheint zu konkret-diesseitig, zu massiv und zu sehr eingebunden in diese Welt voller Anforderungen und Institutionen. Oft genug siedelt sich die neue Religiosität jenseits der institutionellen Gestalt von Christentum und Kirche und diesseits des entzogenen Geheimnisses an, von dem die christliche Botschaft spricht. Neu und drängend stellt sich die Frage: Wie geht das, Glauben? Sicherlich muß die erste Antwort auf diese Frage heißen: Glauben geht nicht. Glaube läßt sich, dies ist die eindeutige Auskunft des christlichen Glaubens über sich selbst, nicht mit menschlicher Geschicklichkeit machen, nicht durch Argumente und Übungen herbeizwingen. Glaube ist, um es theologisch zu sagen, eine „eingegossene Tugend“, will sagen, etwas, das nicht der Mensch aus sich, sondern das nur Gott im Menschen vermag. Der Grund des Glaubens – wiederum eine „klassische“ theologische Aussage – ist nicht das, was an menschlicher Plausibilität, an Gründen für die Glaubwürdigkeit und Unabweislichkeit des Glaubensanspruchs beigebracht werden kann, sondern allein die Autorität des sich offenbarenden, sich mitteilenden, den Inhalt und die Kraft des Glaubens schenkenden Gottes. Nichtsdestoweniger ist der Glaube freie Antwort des Menschen auf den Anruf Gottes, Weg, in den der Mensch sich selbst einbringt, Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 den er mit seinem Leben und seiner Freiheit und seinem Denken geht. Der Glaube bricht nicht von einem fremden Außen in den Menschen ein, ohne sich ihm, und das heißt: sei- [14] ner Freiheit, innerlich zu verbinden. Der Gott, der den Glauben schenkt und sich im Glauben schenkt, ist vielmehr dem glaubenden Menschen inwendiger als sein Innerstes. Deshalb ist vollzogener Glaube ein Weg, auf dem der Mensch entdeckt, wie Menschsein geht, wie seine Welt geht. Das ist die Zeugniskraft des Glaubens auch nach außen: Wo Glaube gelingt, wo er zur Lebensgestalt des Menschen wird, da wird sichtbar, daß glaubendes Menschsein mehr und nicht weniger Menschsein bedeutet. Es ist zu wenig zu sagen, Glaube wolle den Menschen nur menschlicher machen, denn Gott will uns durch den Glauben Anteil geben an sich – aber gerade weil der Glaube den Menschen „vergöttlicht“, vermenschlicht er ihn auch. Der glaubende Mensch wird mehr Mensch, ja menschlicherer Mensch und weltlicherer Mensch. So bleibt die Frage also stehen: Glauben, wie geht das? Es ist eine Frage an den Glauben selbst, genauer: eine Frage an den, der glaubt. Er selbst soll im Licht seines Glaubens Zeugnis und Rechenschaft dafür ablegen, wie Glaube geht und wie im Glauben das Menschsein geht. 1.2 Der Einstieg: Wegerfahrung des Glaubens Wo Menschen ein neuer Anfang im Glauben geschenkt wird, wo sie einen Durchbruch erfahren, wo sie eine Kehrtwendung in ihrem Leben vollziehen, da bezeugen sie genau dies: Glaube geht! Und Glaube geht, das heißt: mein Leben geht, meine Ehe, mein Verhältnis zu diesem schwierigen Nächsten, das Aushalten in meiner scheinbar ausweglosen Situation, das Ertragen meiner Krankheit geht. Leben geht, dies heißt: das Wort des Evangeliums geht, der Weg, den Jesus in seinem Tun und seiner Botschaft vorzeichnet, er geht und wird Weg eigenen Lebens. Nicht daß Gottes Wort dadurch zum Rezept würde, das sich nur in ethische Leistung umsetzte. Ganz im Gegenteil. Denn der Weg, der dem Glaubenden gelingt, gelingt ihm nur, weil er erfährt: mein Schritt auf Gott zu ist Antwort auf Gottes ersten Schritt auf mich zu. Das Wort der Schrift zeichnet [15] meinen Weg, zeichnet das Gehen meines Lebens nur, weil es zuerst den Weg Gottes zu mir, sein Zugehen auf mich bezeugt. Nachfolge geht nicht ohne Ruf, erlöstes Leben nicht ohne die erlösende Tat, unsere Liebe nicht ohne die Liebe dessen, der uns zuerst geliebt hat. Doch dies ist eben die Verwandlung des Wortes. Es ist nicht mehr Information über etwas, was unabhängig von mir geschehen ist, sondern was da geschehen ist und was im Wort anwesend wird, ist selbst Weg, ist selbst Brücke, die Gott zu mir schlägt. Und auf dieser Brücke kann ich nun gehen. Dasselbe Wort, das mir sein Handeln, seine Nähe, sein Kommen bezeugt und darin ihn selber mir Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 offenbart, ist so zugleich Erhellung meines Weges, Anstoß und Aufriß dessen, wie mein Leben mit Gott und auf ihn zu geht. Wenn wir in die Geschichte der Kirche, in die Geschichte gelebten Christentums hineinschauen, dann entdecken wir immer wieder: Die großen Aufbrüche sind Berufungen, in denen das Evangelium selbst, der Kern der Botschaft durchschlägt in ein menschliches Leben und in eine menschliche Gemeinschaft hinein. Dadurch tritt die Botschaft neu ans Licht und wird ein neuer Weg von Nachfolge, eine neue Erfahrung eröffnet, wie Glaube geht. Es handelt sich hier um gelebten Glauben, gewiß. Aber der gelebte Glaube ist auch der gewußte, der reflektierte, der sich theologisch verfassende Glaube. Nicht nur bei Augustin lassen sich Bekehrung und Theologie nicht voneinander trennen, auch bei einem Anselm stehen Gebet und Reflexion ineinander, und nicht umsonst siedeln sich die großen theologischen Aufbrüche des 13. Jahrhunderts, siedeln sich ein Albert und Thomas einerseits und ein Bonaventura andererseits im Umkreis eines Dominikus und eines Franz von Assisi an. Die Theologie, mehr noch: die Verkündigung des Glaubens und auch die Verfassung des Glaubens in seiner dogmatischen Gestalt sind nicht eine Voraussetzung, die außerhalb des Lichtkreises unserer Frage liegt: Wie geht Glaube? Alles das ist Vollzug dieser Frage, Ansatz der Antwort und muß im Licht dieser Frage wieder aufgeschlüsselt werden. Es geht also nicht um ein bißchen Existentialität [16] und Subjektivität, mit denen die „objektiven“ Formeln attraktiver und lebensvoller gemacht werden sollen, sondern es geht darum, den Wegcharakter der Botschaft selbst anzuvisieren. Daß die Mitte der Botschaft bewegende, strahlende, „weghafte“ Mitte ist, daß jener, der sich Wahrheit und Leben nennt, nicht nur einen Weg führt, sondern Weg ist (vgl. Joh 14, 6), das soll uns in den nachfolgenden Besinnungen über die neutestamentliche Grundbotschaft nahe kommen. 1.3 Glaube als vielfältiges Weggeschehen Als ich mit Freunden in den Bergen Urlaub machte und wir nach der Wanderschaft des Tages am Abend miteinander im Neuen Testament lasen, da fiel uns auf, wie viele Worte und Passagen das Weggeschehen von Offenbarung anschaulich machen. Da ist ein Sprech- und Denk- und Kommunikationsmuster, das aus der damaligen Umwelt und Tradition stammt, aber in dieses Muster trifft etwas Neues ein, die Erfahrung und das Zeugnis von Gottes Handeln in Jesus. Sprechen und Denken werden neu, die Landschaft des gewohnten Lebens wird neu, und jene, denen das Wort gilt, werden auf diesen neuen Weg mitgenommen. Anders gewendet: im vorfindlichen und vorgeprägten Gang ihres Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Lebens wird ihnen ein neuer Weg eröffnet. Müßte nicht genau dasselbe mit der Botschaft auch heute geschehen? Heißt Lesen der alten Texte und Übernehmen der überlieferten Formeln nicht auch: den Weg wieder aufspüren, der sich in ihnen verfaßt hat, ihn so in Kommunikation bringen mit unserer Erfahrung und unseren Fragen, daß wir neu denselben Weg finden? Um nicht mißverstanden zu werden, es geht nicht darum, nur soviel vom Überlieferten stehenzulassen, wie wir verkraften und vollziehen können. Nein, umgekehrt, das, was unsere mitgebrachte Erfahrung und Möglichkeit übersteigt, soll eintreffen können bei uns, um neue Möglichkeiten zu entbinden, um uns über uns selbst hinauszuführen. Weggeschehen heißt nicht auf der Stelle treten, sondern weiterkommen, über sich hinauskommen. [17] Was vom Lesen der Schrift gesagt wurde, das gilt genauso von den großen dogmatischen Formeln. Wenn wir etwa von den drei Personen im einen göttlichen Wesen, wenn wir vom ungetrennten und unvermischten Einssein der göttlichen und menschlichen Natur in Jesus Christus sprechen, dann sind das Marken eines Weges, der Gott selber ist, eines Weges, den Gott selber geht, einer Bewegung von Liebe, die Gott ist. Nur wenn wir das Weggeschehen aufschlüsseln, das in solchen Aussagen sich verdichtet, wächst jenes Verstehen, in dem Glauben geht. Anselm von Canterbury spricht vom Glaubensverstehen, vom intellectus fidei. Es ersetzt nicht den Glauben und ist dem Glauben nicht äußerlich, sondern ist die innere Konsequenz des Glaubens: Der Glaube hebt das ans Licht und deswegen ins Verstehen, was er glaubt. Von Anselm wurde die unüberholbare Formel für Theologie geprägt: fides quaerens intellectum, Glaube, der sein Verstehen sucht, der nach seinem Verstehen drängt. Glaube sucht sein Verstehen, das heißt: Glaube sucht seinen Weg, Glaube sucht zu erhellen, wie er geht und wie in ihm unser Dasein geht. Das ist Theologie. Wir können im Gesamt der christlichen Botschaft einige Stufen herausstellen, in denen das Weggeschehen des Glaubens sich entfaltet. Weggeschehen des Glaubens, das meint hier freilich nicht allein und nicht einmal zuerst unseren Vollzug, so sehr wir nur im ersten Schritt, den wir selber wagen, Gottes vorgängigen ersten Schritt „entdecken“. Den Anfang setzt jenes Handeln Gottes, das dem Glauben seinen Inhalt, seine Sache, sein Licht und seine Kraft gibt. Bloßer Glaubensvollzug ohne Glaubensinhalt wäre kein Glaubensvollzug. Man könnte deshalb auch vom Weggeschehen der Offenbarung sprechen, könnte die Frage formulieren: Offenbarung, wie geht das? Hierbei wäre freilich umgekehrt zu sagen, daß Offenbarung von sich selbst her hineinführt in den Glauben, der sie bezeugt. Offenbarung ohne Bezeugung wäre nicht als Offenbarung da; und das Offenbarungszeugnis, das uns die geoffenbarte Wahrheit vermittelt, ist eben Glaubenszeugnis. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 [18] Die Schritte, die nun im Offenbarungs- und Glaubensgeschehen sich ineinander-, sich zum Weg fügen, lassen sich wie folgt formalisieren: Der erste Schritt ist Gottes Schritt auf uns zu, ist Weg, den Gott geht, sich überschreitend, sich verschenkend, sich mitteilend. Er spricht, er handelt. Im Vordergrund von Offenbarung und am Anfang menschlichen Glaubens steht das Handeln Gottes in diese Welt hinein, der Einbruch Gottes in diese Welt. Gottes Weg zu uns, der Weg, den Gott macht, die heilsgeschichtliche Dimension ist das erste. In diesem ersten aber ist ein zweites eingefaltet, was dieses erste trägt und doch erst durch dieses erste hindurch aufgeht: Gott macht nicht nur einen Weg, sondern Gott „ist“ Weg. Er veranstaltet nicht einen Ausflug über sich hinaus in die Welt, um uns etwas von seinem Licht und seinen Gaben mitzuteilen, sondern er begibt sich selbst auf diesen Weg und zeigt so, wer er ist: Gott des Weges, ein sich überschreitender, sich hingebender, liebender Gott, ein Gott, der in sich selber Liebe ist. Gott zeigt uns nicht nur, was er tut, sondern wer er ist, auch wenn sein Wesen stets unser Fassen-können überschreitet. Aber als dieser je Größere, uns je Übersteigende, gibt und gönnt er sich. Es ist sein eigenes Leben, es ist er selbst, an dem er uns Anteil gibt, indem er handelnd und offenbarend zu uns kommt. Wie Gott auf uns zugeht, so ist er. Überscharf gesagt: Gottsein geht so, wie Gott es uns zeigt, indem er sich in Jesus Christus uns schenkt. Dies kommt aller unserer Freiheit zuvor und übertrifft all unser Können. Und doch ist es kein Geschehen, das nur an uns und über uns hinweg passiert. Es ist Geschehen, das sich uns mitteilt, indem es uns selbst auf den Weg ruft. Dies ist der Aufbruch Gottes zu uns, daß er uns selber aufbricht, damit wir aufbrechen. Der Weg, den Gott zu uns geht, der Weg, der Gott selber ist, erreicht uns, indem wir uns auf den Weg machen – dies der dritte Schritt. Offenbarung kommt im Glauben an, Glaubensinhalt (fides quae) vermittelt sich zum Glaubensvollzug (fides qua). In diesem Aufbruch aber sind wir [19] selber ganz drinnen. Glaube ist nicht nur ein Weg, den wir machen. Glaube ruft uns selbst und ganz auf diesen Weg, verwandelt uns in Weg, deckt es als unsere Berufung und unser Wesen von Gott her auf: daß wir selber Weg sind, Weg über uns hinaus, als „Weg“ Bild Gottes. Darin bereitet sich der vierte Schritt vor, der sich vom dritten nicht lösen läßt. Sicher, jeder muß aufbrechen, jeder persönlich glauben, jeder sich entscheiden, jeder den ersten Schritt tun. Aber dieser Schritt ist als Schritt auf Gott zugleich Schritt aufeinander zu, Schritt, der das glaubende Miteinander in Gang bringt und von ihm schon in Gang gebracht ist. Gemeinschaft, Kirche ist keine Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 zusätzliche und äußerliche Dimension zum „Glauben an sich“. Offenbarung ruft Menschen, indem sie Menschen zusammenruft und somit zueinander ruft. Glaube geht nur, indem wir zueinander gehen und miteinander gehen. Hier ist der Ort, in dem mitten in der Geschichte Gott wohnt und durch seinen Geist seine Offenbarung und sein Heil weitergehen bis an die Grenzen der Erde und bis ans Ende der Zeit. Der Weg Gottes auf uns zu; der Weg, der Gott selber ist; der Weg, den wir auf ihn zugehen; der Weg, den wir aufeinander zu und miteinander gehen – dies ist der eine Weg, der uns sagt, wie Glauben geht. Sollten wir nicht immer, bei jeder Verkündigung, bei allem, was wir im Namen des Glaubens und der Kirche tun, bei unserem eigenen Glaubens- und Lebensvollzug diese vier Dimensionen gegenwärtig haben? Er macht den ersten Schritt, wir sind stets nur Antwortende auf ihn und müssen zuerst von uns selbst weghören auf ihn. Dabei macht er uns aber nicht nur Vorschriften und Mitteilungen über dies und jenes, sondern er gibt und erschließt und schenkt sich selbst; wer ihn liebt, dem will er sich offenbaren (vgl. Joh 14, 21). Doch nur wenn wir den ersten Schritt wagen, wir auf ihn zugehen, wir uns loslassen ohne vorherige Garantien und Sicherheiten, werden wir erkennen, daß sein Weg trägt, daß er uns zuvor schon entgegengekommen ist. Und ein Schritt auf ihn zu heißt immer auch ein Schritt aufeinander zu, ein Schritt, bei dem ich mich [20] auf den anderen einlasse und ihn annehme. Dabei werde ich freilich auch entdecken und annehmen: Er hat schon den ersten Schritt auf mich zu gemacht. Mehr noch, ich stehe schon immer in einem Miteinander, das ich nicht mehr aufkündigen kann, weil es sein Weg zu mir und mit mir ist. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 [21] 2. Jesu Grundbotschaft: das Kommen der Gottesherrschaft 2.1 Die Frage nach dem Ansatz Wie geht Glaube? Dies von der Mitte der Botschaft des Neuen Testamentes her entfalten zu wollen, stellt vor eine Entscheidung: Wo soll man ansetzen? Zwei grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten bieten sich an. Entweder man beginnt dort, wo die christliche Predigt begonnen hat, oder man beginnt dort, wo Jesus mit seiner Predigt begonnen hat. Man beginnt mit der Botschaft von Jesus dem Christus oder man beginnt mit der Botschaft Jesu, das heißt mit der Botschaft vom herannahenden Gottesreich, von der anbrechenden Gottesherrschaft. Für die erstgenannte Möglichkeit spricht Gewichtiges. Denn obgleich die Evangelien vordergründig nicht so ansetzen, sind sie die Bezeugung des Lebens und der Predigt Jesu aus der österlichen Perspektive, aus jener Perspektive, in welcher das erste und entscheidende Wort heißt: Jesus ist der Christus, Jesus der Herr, er hat sich als solcher an Ostern erwiesen. Die Evangelien sind, vergröbernd gesprochen, auf Ostern zulaufende vorösterliche Ostergeschichten. Aber sie verankern eben die Botschaft der Ostern in dem, was vor Ostern geschah, sie „identifizieren“ und „ratifizieren“ die Predigt von Jesus dem Christus am Leben, Wirken, Sprechen Jesu. Wenn wir freilich auf unsere Grundfrage blicken, wie Glaube geht, dann fällt uns als erstes eine merkwürdige Nähe zwischen der Predigt von Jesus dem Christus und der Predigt Jesu von der Got- [22] tesherrschaft auf. Ob die ersten christlichen Prediger nun Jesus als den gekreuzigten und von Gott auferweckten Herrn ansagen oder ob Jesus das Nahen der Gottesherrschaft ausruft, in beiden Fällen sind darin die Aussage und der Appell enthalten: Es geht nicht so weiter, wie es bislang ging! Der Weg der Welt nimmt einen entscheidend anderen Lauf als den bisherigen, als den der gängigen Erwartungen und Meinungen! Kehrt um, stellt euch ein auf die anders gewordene, von Gott, dem Herrn der Zeit anders gewordene Zeit! Daß Jesus, der Gekreuzigte, von Gott nicht im Tod gelassen wurde, sondern lebt, erhöht ist als Herr, das ist in der apostolischen Predigt Zeichen der Umkehrung der Geschichte, einer Umkehrung, die vom Hörer dieser Predigt die Umkehr seines Herzens und Lebens fordert (vgl. die Charakterisierung der „neuen“ Situation der Glaubenden z. B. 1 Thess 1, 9; Eph 2, 11-13; aber auch der gesamte Hintergrund etwa des Galaterbriefes). Genau dieselbe Situation begegnet uns in der Ansage der Gottesherrschaft und im damit verbundenen Bekehrungsruf Jesu. Die Welt geht nicht mehr weiter wie bisher, und deshalb muß jeder sich neu orientieren, einen neuen Anfang setzen. In den Zeichen und Wundern verdeutlicht Jesus, daß nun eine andere Zeit Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 angebrochen ist; in seinen ethischen Forderungen stößt er die Menschen in die neue Unmittelbarkeit Gottes zu uns, aus der eine neue Unmittelbarkeit zu Gott folgt; in den Gleichnissen sagt er die Nähe des handelnden Gottes an, auf dessen Tag nun alles zuläuft. „Jetzt ist der Tag des Heils“ (2 Kor 6, 2), diese Kennzeichnung der Situation, in welcher der auferstandene Herr durch Paulus gepredigt wird; das Hier und Jetzt des zur Entscheidung rufenden Jesus entsprechen einander (vgl. z. B. Mt 12, 41f.; Lk 4, 21). Zeit geht anders, Leben geht anders, auch Religion, Verhältnis zu Gott geht anders! Dies ist die gemeinsame Basis, der gemeinsame Inhalt der Predigt Jesu und der Predigt über Jesus. Das, was Jesus in seiner Botschaft von der Gottesherrschaft ansagt, verwirklicht sich, spitzt sich zu in dem, was die christliche Predigt über Jesus den Messias und Herrn sagt. So entspricht es der „Logik“ unserer Frage, bei dem anzusetzen, was Jesus uns als das Neue und Andere von Gott [23] verkündet, um von hier aus sodann ihn selbst und sein Geheimnis zu verstehen. 2.2 Die Zusammenfassung der Botschaft Jesu Wie in einem Brennpunkt zusammengefaßt begegnet uns Jesu Botschaft vom nahenden Gottesreich in dem Satz, den Markus formelhaft der Entfaltung des Wirkens und der Predigt Jesu vorausschickt: „Nachdem man Johannes ins Gefängnis geworfen hatte, ging Jesus nach Galiläa und verkündete das Evangelium Gottes: Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe. Bekehrt euch und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1, 14-15). Blicken wir einen Augenblick auf die Struktur des entscheidenden Satzes. Er besteht aus zwei Doppelgliedern, die in sich je mit einem „und“ verbunden sind. Das erste Doppelglied enthält eine doppelte Ansage, das zweite eine doppelte Aufforderung. Die Ansage handelt von der Zeit und von Gott. Beide haben ihre bisherige Position verändert, wir können sagen: sie haben sich „umgekehrt“. Die Zeit verläuft nicht mehr so, daß jeder einzelne Zeitpunkt im Grunde gleich weit von der Erfüllung dessen entfernt wäre, worum es in der Zeit geht. Die Zeit beschreibt also nicht mehr einen Kreis, dessen Linie zu dem erfüllenden, sinngebenden Mittelpunkt in einer immer gleichen Distanz bliebe, sondern diese Linie läuft in den Mittelpunkt des Sinngebenden, Erfüllenden hinein, ja ist dort eingetroffen. Und Gott bleibt nicht in einer gleichbleibenden Distanz zu uns, die wir in unserer Zeit leben und handeln und unsere Erfahrungen machen, er bleibt nicht über uns und darin uns vom Leibe, sondern die Tatsache, daß er Herr und König ist, seine Königsherrschaft (basileia) rückt heran, er selbst als der Herr, er selbst als der göttliche Gott rückt heran an unser Leben. Die Zeit läuft ein zu ihrer Mitte, die Mitte bricht aus und stürzt auf uns zu. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Daraus wird nun im zweiten Doppelglied die Folgerung gezogen für unser Verhalten: Wir sollen umkehren, sollen den Gang unseres Lebens neu orientieren, sollen uns auf das neue Verhältnis Gottes zu [24] uns und darin unserer eigenen Zeit zu uns umstellen. Umstellen woraufhin? Wir sollen glauben, will sagen: uns nicht in uns selbst, sondern in etwas anderem festmachen, in etwas anderem unseren Schwerpunkt haben. Worin? In dieser frohen Botschaft, in dieser Ansage des nahenden Gottes. Nicht mehr von uns her leben, nicht mehr aus unserer Distanz zu diesem Gott über uns leben, sondern uns auf sein Nahen, auf seine Nähe, auf ihn, der sich uns naht, stützen und verlassen, von ihm her leben. Wie geht Zeit? Umkehren heißt unser Leben umkehren, unsere Zeit umkehren, als Antwort auf Gott, der sich uns zukehrt und uns die Zeit neu, anders schenkt. Um das zu verstehen, müssen wir zunächst einmal unsere Zeit verstehen, die Weise verstehen, wie sie normalerweise läuft. Zeit läuft eben, indem sie vergeht. Sie ist immer nur da in einem einzigen Augenblick, und wir leben je nur jetzt. Doch das, was war, verarbeiten wir im jeweils jetzigen Augenblick auf das hin, was kommt. Wir bereiten andauernd unsere Zukunft vor. Wir tun es, weil wir es wollen, aber wir wollen es nicht beliebig, sondern dieses Wollen ist der unausweichliche Rhythmus unseres Lebens. Schon Stoffwechsel, Atem, Herzschlag gehen so – und erst recht die Regungen und Bewegungen unseres seelischen und geistigen Lebens. Hier können wir uns zwar anscheinend anders verhalten, können ein Nein sagen zur Zukunft, können uns festklammern an dem, was war, können uns darauf beschränken, nur den Augenblick nutzen zu wollen, ohne Rücksicht auf das, was nachher kommt. Aber wir wollen uns eben in dem festklammern und somit das festmachen, was war oder jetzt ist, wir wollen soviel wie möglich im Vergehen davon hinüberziehen in den nächsten Augenblick, also in die Zukunft. Auch noch die Formen der Selbstzerstörung bilden keine Ausnahme. Sie sind ein Verhältnis zur Zukunft, sie sagen: lieber das Nichtsein als Zukunft als diese Zukunft, die ich zu erwarten habe! Und wenn ich einfach das Morgen verdränge und nicht daran denken mag, wie es weitergeht, dann geschieht dies in der Angst davor, [25] der nächste Augenblick könne nicht oder nicht so kommen, wie ich ihn will, und so probiere ich, den jetzigen Augenblick in den nächsten hineinzuziehen und somit vom übernächsten zu entlasten. Oder ich habe jene – vielleicht unreflektierte – Zuversicht: Wenn es bis jetzt gut ging, wird es auch weiter so gehen! Und so lasse ich die Zukunft kommen – also wiederum ein Verhältnis zur Zukunft. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Das Verhältnis zur Zukunft, zu unserer Zukunft und der unserer Nächsten, ist der Ernst des Lebens. Und dieses Verhältnis zur Zukunft namens Zeit ist zugleich ein Spiel. Denn wir setzen etwas, ja alles ein, ohne den Ausgang zu wissen. Selbst wenn wir uns noch so gut absichern und eindecken und vorrichten für morgen, eines wissen wir dabei nie: ob das Morgen, ob die Zukunft stattfindet. Wir können es gar nicht wissen, denn wir leben eben jetzt. Die Zeit muß kommen, wir können sie nicht in den Kühlschrank legen, einfrieren und bei Bedarf auftauen. Sie muß kommen, ganz frisch, ganz neu, jeden Augenblick. Und wenn der Augenblick nicht da ist, noch nicht da, dann ist er eben entzogen, und es steht nicht in unserer Macht, ja es steht in niemandes Macht, ihn herbeizuholen, ihn zu gewährleisten. Die Zukunft findet zwar im Jetzt statt, prägt zwar das Jetzt – aber ob sie nachher stattfinden wird, ob sie Gegenwart sein wird? Unser ganzes Leben geht von der Hypothese aus, daß Zukunft stattfindet. Spiel mit ganzem Einsatz und absolut unsicherem Ausgang. Die unzähligen Versuche des Menschen, sich des Sinnes seines Daseins, sich des Sinnes der Geschichte zu versichern, wurzeln in dieser elementaren Not, die der Mensch nicht zu beseitigen vermag. Auch die Religion hat hier wenigstens eine ihrer Wurzeln. Gott und Zeit Steht die Zukunft wirklich in niemandes Macht? Wir entwerfen sie, und sie wird uns zugeworfen, aber immer nur in der winzigen Rate des je gegenwärtigen Augenblicks. Dieser Augenblick ist verliehene Macht. Und daß wir planen und entwerfen können, ja müssen, ist verliehene Ohnmacht, die durch die Raten des je gegenwärtigen [26] Augenblicks über sich emporwächst zu so etwas wie Erwartung und Hoffnung. Unsere Macht und unsere Ohnmacht sind uns also verliehen, und mit unserem Hoffen und Gestalten stehen wir in einer Partnerschaft, in einer demütigen und ohnmächtigen Partnerschaft zur Zeit und Zukunft verleihenden Macht. Diese Macht erscheint nicht im Horizont des vielen, das wir in den Blick bekommen. Diese Quelle entspringt nicht auf dem Terrain des von uns bebaubaren Landes. Tropfen um Tropfen fließt uns aus dieser Quelle von jenseits unseres Horizontes zu. Nun, es ist immerhin denkwürdig, daß bis zum Rand der Neuzeit es keine Kultur gegeben hat, in der die Menschen nicht versuchten und glaubten, mit dieser Macht und Quelle in Kontakt zu treten. Vom magischen Bemühen, den Gott gnädig zu stimmen, bis zur sich selbst überlassenden, alles annehmenden Hingabe an sein Geheimnis spielen die Gangarten menschlicher Religiosität. Unter dem methodischen Ansatz, nur das gelten lassen zu wollen, was sich innerhalb des Horizontes unserer Nachprüfung ausweist, muß sich das Verhältnis Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 zu Gott zersetzen — dies liegt auf der Hand. Nachprüfung erfordert Wiederholung, Wiederholung aber gibt es nicht, wo es um die Quelle des einmaligen Jetzt, wo es um das Zukommen dieses Jetzt aus der entzogenen Zukunft geht. Es ist keineswegs sinnlos, über unser Leben nachzudenken und zu erkennen, daß es auf eine ihm je entzogene Zukunft zuläuft und daß dies nicht von ihm und nicht von nichts, sondern von einer der Zukunft mächtigen Macht herrührt. Aber diese Erkenntnis ist anderer Art und liegt auf einem anderen Feld als alles, was eben mit Experiment und Nachprüfung und Kontrolle zu tun hat. In einer Kultur, die auf derlei aufbaut, ist die Macht, der die Zukunft und die Zeit entspringen, systemimmanent „ohnmächtig“. Der Gott der Neuzeit wurde zu einem Gott, der nur noch das System garantierte, zum Gott außerhalb des Horizontes und vor der Klammer, in welcher wir mit unseren Hypothesen arbeiten. Es ist begreiflich, wieso im Lauf der neuzeitlichen Wissenschafts- und Philosophiegeschichte ein solcher Gott weggearbeitet, ausgestoßen wurde. Allerdings ist es auch begreiflich, warum eines nicht wegge- [27] arbeitet werden konnte: die Angst. Alle Sicherheiten, sie mögen sich noch so dicht miteinander verklammern, bilden insgesamt nur eine freischwebende Insel, die sich nicht selber hält und die den außer Sichtweite hält, der sie hält. Gottesherrschaft: Umkehrung Gottes und der Zeit Menschliche Religion schwingt zwischen ohnmächtiger Angst und elementarem Urvertrauen dem gegenüber, der sich in der Gabe der Zeit als übermächtig und gnädig, als unheimlich groß und heimlich nahe bezeugt. Diese Religion läuft freilich Gefahr, Gott nur als den Lieferanten und Garanten jenes Zeitvorrates zu betrachten, den wir für die Stabilisierung der eigenen Pläne und Erwartungen brauchen. Und gerade dann kann sich die Religion nicht wehren gegen den Verdacht des Menschen, er habe sie sich nur als schlechten Trost, als verbergende Kulisse vor den Abgrund seiner Ohnmacht hinprojiziert. Der Gott Israels, der Gott ohne Bild, der Gott mit dem Namen Jahwe, „Ich bin der Ich-bin-da“, anders gewendet: der „Ich werde sein, der ich sein werde!“, er ist nicht einfach dieser Gott der Religionen. Es geht hier nicht um die religionsund geistesgeschichtliche Erklärung seines Namens und des israelischen Bilderverbots, sondern es geht um den Stellenwert des im Verlauf der Geschichte Israels zu seiner Höhe und Klarheit heraufwachsenden Jahweglaubens. Israel klammert sich gerade nicht an eine einzelne Erfahrung des Eindrucks göttlicher Übermacht, die es dingfest machen, im Bild verfassen könnte. Das konkrete, geschichtliche Handeln dieses Gottes am Volk ist das Handeln dessen, der Himmel und Erde geschaffen hat. Es ist das Handeln dessen, der je größer ist als Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 unser Wollen und Planen und der seine Sicherheit gibt allein als eine Verheißung, die sich einlöst im Weiterwandern, im unabsehbaren Weg mit diesem Gott. Er ist der Gott des Weges. Der Weg ist Weg auf sein Wort hin, Weg, den wir nicht in der Kraft unserer eigenen Wünsche und Pläne vermögen, sondern allein im Hinhören auf sein Wort, im Achtha- [28] ben darauf, wo und wie und woraufhin er sein Dasein, seine Treue, seine Nähe uns bezeugt. Gott wird größer, der Mensch ohnmächtiger, weil nicht mehr er der Inhaber seiner Planungen, seiner eigenen Zukunftskonzepte ist. Und doch wird der Mensch zugleich größer, weil er eben Partner Gottes ist, Anwalt eines Weges Gottes in der Welt, der nicht mehr nur Weg des Menschen zu Gott, sondern Weg an der Hand und im Wort Gottes ist. Wenn Jesus ansagt: „Die Zeit ist erfüllt!“, dann heißt dies eben, dieser Gott enthüllt seinen Plan. Gott selber erweist offenbar, daß er Gott ist. Er nimmt sich der „Armen“ an, die auf seine Hand und sein Wort geachtet haben, über alles Verlachtwerden und alle Enttäuschung hinweg. Gott macht Geschichte in unserer Geschichte, und die Menschen werden es sehen. Darauf deuten die Heilszeichen hin, die Jesus setzt, die Taten, die es beglaubigen sollen, daß Gott hier selber am Werk ist. Also einfach eine neue Stufe innerhalb der Geschichte Israels? Mehr als nur das. Mehr nicht nur deshalb, weil Israel insgesamt mit der Botschaft Jesu nicht unmittelbar und sofort „mitspielt“, so daß Raum für die Völker entsteht, für die Menschheit, die nun Partner des Heilshandelns Gottes wird. Mehr als eine Epoche in der Geschichte Israels ist die in Jesus erfüllte Zeit der von ihm angesagten Gottesherrschaft, weil hier mit aller Menschenzeit und aller Menschenerwartung und allem Menschenglauben an Gott Neues, Umstürzendes, Endgültiges geschieht. Gott hält seine Hand nicht mehr hinter dem Horizont verborgen, läßt nicht mehr aus seiner entzogenen Quelle die Zeit hineinrinnen in unseren Lebensraum; er reicht auch nicht nur hin und wieder deutend und gewährend mit seiner Hand in diesen Horizont hinein und zieht sie dann wiederum zurück. Er selbst bricht auf, er selbst gibt sich hinein in unser Leben, er selbst läßt die Quelle unserer Zukunft entspringen auf dem Gelände unseres Lebens. Er läßt sich ein mit uns, wird radikal der Gott mit uns und Gott für uns, seine Herrschaft bricht an. Die Sonne strahlt nicht mehr von jenseits des Horizontes einige Sterne an, die von ihr Zeugnis geben, sondern sie kommt über den Horizont herauf, sie steigt auf und will Tag wer- [29] den lassen. Wir sollen im Licht Gottes, im gegenwärtigen Licht Gottes gehen und leben dürfen. „Nahegekommen ist die Herrschaft Gottes!“, damit will Jesus uns sagen, daß Gott seine Position zu unserem Leben grundsätzlich verschiebt, daß er in dieses Leben einbricht, daß die Zukunft von Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 ihm her übergeht in bleibende, durch keine Angst und Unsicherheiten mehr in Frage zu stellende Gegenwart. Die Quelle der Zukunft wird uns gegenwärtig, Gott steigt herauf von der Peripherie ins Zentrum unseres Lebens. Von Gott her leben Von der Herrschaft Gottes, von seiner Gegenwart, vom Anbruch seiner unmittelbaren Nähe zu uns, von der Verwandlung unserer Erwartung ins Ereignis der Erfüllung zu sprechen, nimmt immer wieder den Atem. Ist das wirklich geschehen? Hat sich Jesu Wort eingelöst? Dieses Erschrecken, diese Unsicherheit sind nicht erst von heute. Wir wissen vom Streit der Jünger um die ersten Plätze (vgl. Mk 10, 35-45), wissen von der Erwartung des nachfolgenden Petrus (Mk 10, 28) und von seinem Unverständnis gegenüber Jesu „anderem Weg“ (vgl. Mk 8, 32f.), wissen schließlich von der Frage der Jünger vor Christi Himmelfahrt, wann Jesus das Reich Israel wieder aufrichte (Apg 1, 6f.). Die Evangelien selbst berichten den schmerzlichen Vorgang der Klärung von Vorstellungen und Erwartungen, die sich, nur zu naheliegend, einer Botschaft wie der vom anbrechenden Gottesreich anheften wollen. Die Evangelien stellen dem aber etwas anderes voran. Der Prozeß, in dem falsche Konsequenzen aus der Ansage der Nähe Gottes und seines Reiches ausgeschieden werden, ist ein Weg des Glaubens, ja ein Weg im Glauben. Der Glaube selbst setzt vorher, setzt als unmittelbare Antwort auf die Botschaft von der Gottesherrschaft an. „Kehret um und glaubet an das Evangelium!“, dies duldet keinen Aufschub. Mögen wir unsere verkehrten Meinungen und Bilder und Hoffnungen mitbringen, der Weg, der neue Weg beginnt unverzüglich, wenn die Kunde davon eintrifft, daß Gottes Herrschaft nahegerückt ist. [30] Aufs erste mag es paradox erscheinen, daß ausgerechnet dort eine Entscheidung, ein Einsatz, ein Weg vom Menschen gefordert werden, wo doch alles allein an Gott liegt. In der Tat, der Mensch soll nun seine Sorge verkaufen, seine Angst weggeben; der Glaube an den Einbruch der Zukunft Gottes verlangt und gewährt, wie die Lilie auf dem Feld und der Vogel in der Luft im Heute Gottes zu leben, der alle Zukunft ist und trägt (Mt 6, 25ff.). Doch solche Sorglosigkeit ist keine Untätigkeit, im Gegenteil. Ihr entspricht die absolute Sorge um die Herrschaft Gottes, die es zuerst zu suchen gilt – und dann wird uns alles andere nachgeworfen (vgl. Mt 6, 33; Lk 12, 31). Das allein wird der Göttlichkeit Gottes gerecht. Wo er kommt und handelt, da ruft er den Menschen, da ruft er die Freiheit heraus. Gottes Handeln und Kommen können nur ankommen, wo der Mensch selber aufbricht, wo er selber den ersten Schritt auf Gott zu tut. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Deswegen ist die Ansage im ersten Doppelglied unseres Verses (Mk 1, 15) in einer inneren, „göttlichen“ Konsequenz mit dem Appell des zweiten Doppelgliedes verbunden: Wenn Gott nun ganz und gar damit ernst macht, daß er Gott ist, daß alles allein an ihm liegt, dann, gerade dann liegt alles auch an uns. Aber was liegt da an uns, was ist die Tat unserer Freiheit, die dem Kommen der Gottesherrschaft entspricht? Wie gehen Umkehr und Glauben? Solange Gott Peripherie war, jenseits des Horizontes, war es unser Teil, von uns auszugehen, ihn anzuvisieren, die Perspektive auf ihn offen zu halten. Leben war Ansatz beim Menschen, Gott lag in der Verlängerung der Zielrichtung, war der äußerste Punkt unserer Erwartung. Nun aber ist Gott von der Peripherie in die Mitte aufgebrochen, nun hat er sich ins Zentrum unseres Lebens erhoben. Und deswegen ist es jetzt unser Teil, von ihm auszugehen, von ihm her anzusetzen. Denk nicht mehr von dir her, plane nicht mehr von dir her, baue Gott nicht mehr ein in deine Pläne, sondern fang an bei ihm, lebe von ihm her, laß ihm dein erstes Wort, bemiß an ihm dein Erwarten, Denken und Tun! „Wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt!“ (Mk 10, 28). In der Tat, radikale Umkehr. Leben gegen die „normale“ Rich- [31] tung unseres Lebens, gegen die Richtung eines bloßen Entwerfens und Sorgens, eines Selbertuns, das sich durch Gottes Tun ergänzen läßt. Gott, nicht mehr Horizont unseres Lebens, sondern Zentrum unseres Lebens, das bedeutet Abschied von uns selbst, Abschied von einem bloß anthropologischen Standpunkt unseres Handelns und auch unseres Denkens und Glaubens. Dies steht keineswegs im Widerspruch dazu, daß wir – wie es Jesus selbst getan hat und wie es auch die Predigt der Apostel zeigt, etwa die Rede des Paulus auf dem Areopag (Apg 7, 22-31) – immer wieder dort im Dialog und Zeugnis einsetzen, wo im Menschen Sehnsucht nach Gott, Offenheit für Gott, verborgene Hinordnung auf Gott schon lebt. Es kann nicht anders sein, wenn Gott einbricht in unser Leben, wenn er unsere Sehnsucht nach Zukunft und Erfüllung mit sich selbst erfüllt: Wir sind befreit zu uns selbst, „identifiziert“ mit uns selbst, beschenkt mit uns selbst. Aber wir entdecken dieses Befreitsein, Beschenktsein, Identischsein im Abschied von uns, im Ansatz dort, wo Gott ansetzt, im Leben von ihm her. Negativ heißt das: Unser „Ja, aber!“ muß fallen, unsere Berufung auf die eigenen schlechten Erfahrungen hat kein Recht mehr, unser Verliebtsein in eigene Probleme und Fragestellungen. Sein Wort hat unbedingte „Vorfahrt“, es ist der Grund, auf dem wir stehen, die Warte, von der wir uns selbst und die Welt sehen. Da gibt es keine fließenden Übergänge, sondern nur den Sprung. Dieser Sprung kann behutsam vorbereitet werden, dieser Sprung kann leise und Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 unauffällig geschehen, aber er ist durch nichts zu umgehen. Neuer Anfang muß stattfinden, sonst fängt Christsein nicht an, sonst geht Glaube nicht. Glauben heißt so leben, daß dieses Leben keinen Sinn hätte, wenn es Gott nicht gäbe, wenn Gott uns nicht den neuen Anfang schenkte. Nur von solchem neuen Anfang her kann auch der „anthropologische Standpunkt“ wieder eingeholt, kann entdeckt werden: Ja, so ist der Mensch, so ist die Welt von ihrem Ursprung und Anfang her. Die Botschaft von der Gottesherrschaft ist Botschaft von der „Krisis“, von Gericht und Entscheidung – und nur wer sich dem [32] ausliefert, wird darin die „Charis“, die Gnade, das Heil, die frohe Botschaft entdecken. Glauben geht nur, indem wir tun, was nicht geht, sondern was er in uns anfangen und vollenden muß. Doch gerade so sind wir größer als wir selbst, und dies ist doch die Identität des Menschen: größer zu sein als er selbst. 2.3 Kontexte bei Paulus und Johannes Umkehren und dem Evangelium glauben heißt – dies ist nur eine andere Weise, dasselbe nochmals zu sagen: damit anfangen, daß Gott anfängt, das Anfangen Gottes mittun, seinem Wort, seiner Zusage, seinem Handeln den Vorrang einräumen und auf sein Wort und seinen Anfang hin das Leben neu leben. Wenn uns diese Dynamik deutlich ist, dann werden wir entdecken, daß scheinbar ganz andere theologische Modelle des Neuen Testamentes uns dieselbe Auskunft auf die Frage geben, wie Glauben geht. Bei Paulus Zum einen ist da an die Theologie des Paulus zu denken, wie sie uns vor allem der Römerbrief und der Galaterbrief vor Augen stellen. Nicht Leistung, sondern Glauben, nicht Gesetz, sondern Gnade schenken uns Gottes neue Gerechtigkeit. So läßt sich die Formel des Paulus für Gottes Heilswirken in Jesus Christus zusammenfassen. Gott steht nicht mehr gegenüber mit einem Anspruch, den wir durch unser Tun abgelten könnten, so daß wir von uns aus vor diesem Gott bestehen und letztlich unseren Stand in uns vor Gott, Gott gegenüber hätten. Er ist der Vergebende und Schenkende, alles, unser Heil und unsere Gerechtigkeit und das, was wir selber sind, liegt allein an ihm. Das Unsere geschieht im Glauben, den zwar ebenfalls er uns schenkt, in dem aber zugleich wir uns und unsere Freiheit ihm verschenken, uns einfach verlassend auf ihn, von ihm und seinem Verheißen und Handeln den Ausgang nehmend. Sicherlich entspricht der Absicht dessen, was Paulus sagen will, in [33] der ursprünglichen Frömmigkeit des Alten Bundes mehr, als es in manchen seiner scharf gemeißelten Antithesen aufs erste den Anschein hat. Israels Frömmigkeit Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 geschieht bereits als Glauben, das sich nicht auf sich, sondern allein auf Gottes Verheißung verläßt. ernstgemacht, bricht Und in doch ihm ist die mit diesem neue, Ansatz endgültige radikal Position in Jesus Gottes im Heilsgeschehen durch: er schenkt in Jesus sich selbst, und so wird alles Geschenk (vgl. Röm 8, 32). So werden wir befreit zur ganzen Freiheit, zu jener Freiheit, welche die Fülle des Gesetzes in der Liebe vollbringt (vgl. Röm 12, 10; Gal 5, 13f.). Der rechtfertigende Glaube des Paulus und der Glaube, den die Predigt Jesu vom nahenden Gottesreich fordert, haben dieselbe Struktur, sie gehen in derselben Gangart, mit demselben Schritt. Bei Johannes In der johanneischen Theologie können wir auf zwei Motive verweisen, die denselben Ansatz besonders deutlich werden lassen. Glauben kann nur jener, der nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren ist (vgl. Joh 1, 12f.). Das Geborenwerden in der Dimension menschlichen Lebens allein genügt nicht, um das Neue, das Jesus bringt, zu fassen; wir müssen von neuem, wir müssen von oben geboren werden (vgl. Joh 3 insgesamt, besonders 3, 3 und 3, 31-36). Mitvollzug, geschenkter und zugleich frei sich entscheidender Mitvollzug der Herkunft Jesu aus der anderen Dimension, aus dem Oben Gottes ist der einzige Weg, um nicht in den Verfangenheiten und Ausweglosigkeiten des Unten, der Verzweiflung, der Selbstgerechtigkeit, der Lieblosigkeit steckenzubleiben. Der von Gott geschenkte Anfang, die Geburt von oben, muß dadurch lebendig und wirklich bleiben, daß wir „von oben“ leben, das heißt aber in Jesu Wort und seiner Liebe bleiben, aus ihm herauswachsen, aus dem Leben Gottes, das er uns bringt (vgl. bes. Joh 14 und 15). Solche Liebe ist zwar unsere Tat, uns aufgegeben und von uns zu vollbringen. Aber sie fängt nicht damit an, daß wir lieben, [34] sondern daß er zuerst geliebt hat (1 Joh 4, 10). Glauben heißt von Gott her anfangen und in Gott bleiben, indem wir in Gott „gehen“, will sagen: lieben wie er. Glauben geht in der Liebe, die sich darin gründet, daß wir an den glauben, der uns zuerst geliebt hat. Das johanneische Urcredo heißt: „Wir haben an die Liebe geglaubt, die Gott zu uns hat“ (1 Joh 4, 16). Es ist Reflex und Vollendung dessen, was am Anfang steht: Jesu Botschaft von der Herrschaft Gottes. Herrschaft Gottes bedeutet: Gott geht über sich hinaus, Gott bricht auf in die Mitte unseres Lebens, Gott schenkt sich – und nichts anderes ist jene Liebe, jene agape, von der die johanneischen Schriften sprechen, wenn sie von Gottes Handeln und von Gottes Wesen sprechen. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 [35] 3. Der Nachfolgeruf 3.1 Gottesherrschaft und Nachfolge Jesu Ansage der kommenden Gottesherrschaft ist nicht die Ouvertüre für ein großes kosmisches oder geschichtliches Ereignis, das allen vor Augen stellt: Wahrhaft, Jesus hat recht, die Herrschaft Gottes ist im Kommen! Diese Ansage ist aber auch nicht die dicke Balkenüberschrift, unter der Jesus anschließend ein vielgliedriges System von Anweisungen fürs Privatleben verkündet, die der einzelne bloß hören, mit sich nach Hause nehmen und in seine Gesinnung und in seinen Alltag übersetzen soll. Nein, es geht anders weiter. Mit einem einfachen „und“ schließt Markus an seine Zusammenfassung der Predigt Jesu vom Kommen der Gottesherrschaft die Geschichte von der Berufung der Jünger an (Mk 1, 16-20). Der entsprechende Bericht des Matthäusevangeliums hat grundsätzlich dieselbe Struktur (4, 17-22). Für Lukas – in anderem Zusammenhang wird davon noch die Rede sein – ist das Leitmotiv der Predigt Jesu der Geist, der ihn treibt und sendet; doch nachdem zum erstenmal der Charakter seiner Predigt als Verkünden der frohen Botschaft von der Herrschaft Gottes gekennzeichnet ist (4, 43), folgt auch bei ihm die Geschichte der Jüngerberufung (5, 1-11). [36] Nachfolgeruf – die Verdichtung der Botschaft von der Gottesherrschaft Nicht allein aufgrund solcher Komposition der Evangelien muß uns dieser innere Zusammenhang zu denken geben: Jesus ruft das ungeheuerlichste Ereignis der Weltgeschichte aus, Gottes Einbruch in sie, das Kommen der Gottesherrschaft, und er fordert alle auf, neu anzufangen und umzukehren – was das aber heißt, wird anschaulich, indem er ein paar Menschen ruft, daß sie ihm persönlich nachfolgen, buchstäblich nachlaufen. Sicherlich, nicht alle, die Jesus mit seiner Predigt aufrüttelt, ruft er in seinen unmittelbaren Jüngerkreis hinein. Die Geschichte des Glaubens erschöpft sich nicht in der Geschichte derer, die in äußere Lebensgemeinschaft mit ihm treten. Dennoch steht beileibe nicht nur das Interesse an der individuellen Geschichte der prägenden Gestalten in der frühen Kirche hinter der Tradition evangelischer Berichte von den Jüngerberufungen. Diese Erzählungen sind der Kern, um den sich das ganze, breite Thema Nachfolge, Jüngerschaft, vollzogener Glaube in den Evangelien entfaltet, maßgeblich für alle, auch für uns. Wirklich, so geht Glaube, so geht Antwort auf die Ansage der Gottesherrschaft und den Ruf zur Umkehr: Gott ruft dich – du folge Jesus. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Gottesherrschaft und die Stellung Jesu Ich, Jesus, sage dir, daß Gott am Kommen ist – und deswegen folge du mir! Auf diese Formel läßt sich, in einer ersten, zur Deutung und Begründung drängenden Stufe, der Anspruch Jesu also bringen. In der Entsprechung zwischen Gottesherrschaft und Jesusnachfolge ist also die Entsprechung zwischen Gottes Kommen und Jesu Anspruch mitgesagt. Die elementare Kürze, in der Markus den Vorgang beschreibt (1, 16-20), rückt das Ungeheuerliche überdeutlich in den Blick. Da sind zweimal zwei Brüder, die bei ihrem Geschäft, dem Fischfang, dem Netzeflicken, in der Welt ihrer Familie leben. Jesus geht vorbei, sieht sie, sagt das eine Wort: Folgt mir! – und nach Auskunft des [37] Evangelisten verlassen sie sofort ihren Lebenskreis und schließen sich Jesus an. Das also heißt nicht mehr von sich, sondern von Gott her leben, das also heißt seine Zeit und sein Leben umkehren, neu orientieren, einen anderen Grund und Boden unter den eigenen Füßen gewinnen als den, auf welchem man sich bisher bewegte und einrichtete. Doch noch einmal: das Ungeheuerliche daran ist der Umstand, daß es dieser Eine, dieser Jesus ist, an dem sich das Ernstmachen mit der Umkehr und dem Glauben entscheidet. Hier fällt einem das Wort des Kirchenvaters ein: Ipse est regnum coelorum – er ist die Herrschaft Gottes, er das Reich Gottes! In Jesus passiert es, verdichtet es sich, daß Gott Mitte und nicht mehr Peripherie dieser Welt ist. Bei Markus schließt sich an die Berufungsgeschichte unmittelbar die Erzählung einer Dämonenaustreibung in Kafarnaum an (vgl. 1, 21-28). Das „Interessante“ an dieser Geschichte ist die zweimalige Unterstreichung der Vollmacht, in welcher Jesus lehrt und die sich durch das Wunder bestätigt: Er lehrt wie einer der Vollmacht hat, nicht wie die Schriftgelehrten (1, 22b). Es ist eine neue Lehre, und sie wird mit Vollmacht verkündet (1, 27b). Was Jesus verkündet und wie er es verkündet, das ist nicht nur Auslegung, vielleicht bessere Auslegung eines schon Gewohnten, sondern Einbruch einer neuen Situation. Und es ist wirklich an ihm, diese neue Situation anzusagen und heraufzuführen; denn in ihm ist die Vollmacht, die sich erweisende Legitimation des handelnden Gottes anwesend. Der die Vollmacht hat, so zu sprechen und so den bösen Geistern zu gebieten, er hat auch die Vollmacht, Menschen zu rufen, sie an sich zu binden, um sie an Gott zu binden, er hat die Vollmacht, es uns zu sagen, daß Gottes Stunde gekommen ist, daß sein Reich anbricht. Auch Matthäus und Lukas heben in unserem Zusammenhang Jesu Vollmächtigkeit hervor (Mt 7, 29; Lk 4, 32.36). Die beiden möglichen Anfänge, die sich uns anboten, um den Einstieg für unser Thema zu gewinnen, die Predigt Jesu und die Predigt von Jesus dem Christus, durchdringen sich. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Unser Ansatz drängt uns freilich eine weitere Frage auf: Wie geht das, diese Verbindung zwischen der Gottesherrschaft, die Jesus an- [38] sagt, und der Nachfolge, die Jesus fordert? Wie geschieht seine Vollmacht? Man könnte sagen, das sei die Frage des Johannesevangeliums. Johannes spricht seltener als die Synoptiker, wenn auch deutlich genug die Nachfolge Jesu ausdrücklich an (vgl. 1, 35-51; 8, 12; 10, 4.27; 12, 26 indirekt; 13, 36f.). Doch da Glaube bei Johannes fast durchgängig die Züge des Glaubens an Jesus trägt und Glaube konkrete Lebensgemeinschaft mit Jesus im Kreis der Jünger bedeutet, dürfen wir der Sache nach von ihm eine fundamentale Erhellung der Struktur und Begründung von Nachfolge erwarten. Wir greifen einen Satz heraus, der unmittelbar ein anderes Thema betrifft und doch die Grundverhältnisse von Nachfolge prägnant zusammenfaßt: „Wie mich der lebendige Vater gesandt hat und wie ich durch den Vater lebe, so wird auch der, der mich ißt, durch mich leben“ (Joh 6, 57). Was hier von der eucharistischen Mahlgemeinschaft mit Jesus gesagt wird, das gilt auch von der Lebensgemeinschaft der Nachfolge – die Brotrede des Johannesevangeliums kennt im einen Bild vom Lebensbrot ohnehin beide Schichten, jene der Kommunion des Glaubens und jene der eucharistischen Kommunion. Der entscheidende Akzent: Jesus lebt aus dem Vater, lebt vom Vater, Stunde für Stunde, es ist seine Speise, den Willen des Vaters zu tun (vgl. Joh 4, 34). Was Herrschaft Gottes heißt, ist an ihm, an seinem Verhältnis zum Vater, abzulesen, ja zu erfahren – und in ihm bringt das Leben des Vaters, bringt die Anwesenheit der Gottesherrschaft unsern Glauben in Gang. Unser Glaube aber bedeutet nun: unser Verhältnis zu Jesus, unsere Kommunion mit ihm, unsere Nachfolge Jesu. Unser Leben aus Jesus und mit Jesus In Jesus reicht also das Geheimnis Gottes selbst durch in die Geschichte und hinein in unser Menschsein, das im Kontakt mit Jesus, in seiner Nachfolge neues Menschsein wird. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, daß die drei ersten Evangelien an den Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu, in den Kontext von Ansage [39] der Gottesherrschaft und Nachfolgeruf, die Versuchungsgeschichte rücken. Sie aber ist eine Geschichte vom Gehorsam Jesu, von seinem Leben aus dem Willen des Vaters, eine Geschichte vom neuen Adam, der mehr ist als eben nur ein Adam, ein Mensch (vgl. Mt 4, 1-11; Mk 1, 12f.; Lk 4, 1-13). Der Gehorsame und zugleich Vollmächtige ruft die Gottesherrschaft aus, ruft Menschen zu ihr und dann zu sich. So geht, von ihrem Ursprung her, Nachfolge: Jesus sagt die Gottesherrschaft an und lebt in sich selbst die Herrschaft Gottes, der Vater ist in ihm und gibt sich in ihm. Und die vollmächtige Anwesenheit des Vaters ruft die Menschen, sie zu Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Umkehr und Glauben an das Evangelium rufend, zu seiner Nachfolge, zur Nachfolge Jesu, zur Lebensgemeinschaft mit ihm. Diese Lebensgemeinschaft läßt sie eintreten in die Dynamik, in den Bereich der anbrechenden Gottesherrschaft. 3.2 Exemplarische Verdeutlichungen Blicken wir jetzt auf den Vollzug, darauf, wie Nachfolge menschlich geht, wie es bei denen zugeht, die sich dem Nachfolgeruf öffnen. Daran können wir unser eigenes Glauben lernen, unseren eigenen Weg – und zugleich die Kommunion mit Jesus, das Hineinwachsen in sein Geheimnis, an dem uns die Nachfolge Anteil schenkt. Wir lassen uns in den Geschichten von Petrus beim reichen Fischfang, vom reichen Jüngling, in den Selbstzeugnissen des Paulus unsere eigene Geschichte vorerzählen. Der reiche Fischfang (Lk 5, 1-11) Soll man sagen: Die bei Markus in ihre Spitze hinein konzentrierte Berufungsgeschichte wird hier in ein persönliches, menschliches Geschehen hinein entfaltet? Oder soll man sagen: Aus dem Rahmen, den der lapidare Markustext steckt, wird eine kostbare Einzelheit hervorgehoben? Jedenfalls wird der eine Schritt von Ruf und [40] Nachfolge in der Erzählung vom Fischfang des Petrus bei Lukas in ein Geflecht von fünf Schritten auseinandergelegt, die uns anschaulich machen: so geht Nachfolge. Der erste Schritt ist der Schritt Jesu auf Petrus zu. Er begibt sich in die Welt des Petrus hinein, holt ihn dort ab, wo seine Erfahrungen und Interessen liegen. Er heißt ihn auf den See hinausfahren, um zu fangen. Dieses „Abholen“ ist freilich eine Zumutung, es ist ein Hinausstoßen: Geh! So „menschlich“ es ist, daß Jesus an der konkreten Lebenssituation des Petrus anknüpft, so ungeheuerlich ist es, wie er dies tut. Petrus muß ihm sagen: Was du sagst, hat keinen Sinn, es spricht gegen meine Kenntnisse und meine Erfahrung – wir haben die ganze Nacht gefischt und nichts gefangen. Jetzt hinauszustoßen auf den See, ist ein nutzloses Unterfangen. Das Wort, das Jesus sagt, steht im Mißverhältnis zu sämtlichen Erfahrungs- und Erwartungswerten, es verlangt nicht, was geht, sondern was nicht geht. Aber Petrus tut den Schritt, tut ihn allein auf sein Wort hin, tut ihn, weil er es sagt. In dieser zweiten Phase löst sich ein, was es heißt: nicht von sich her, sondern von Gott, von seinem Wort her leben, umkehren und von ihm her einen neuen Anfang nehmen. Verweilen wir einen Augenblick bei diesem Hinausfahren des Petrus auf den See. Jesu „Komm!“ heißt zuerst: „Geh!“ Jesus schafft nicht zuerst die Erfahrung der Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Geborgenheit, sondern die der Entscheidung, die des Ausgesetztseins, die des Anfangens vom Nullpunkt an, wenn einer sich auf ihn einläßt. Nachfolge ist radikales Sich-Verlassen auf ihn, sie ist zugleich aber das Gegenteil von Unselbständigkeit, sie stellt den Menschen neu und tiefer als zuvor auf sich selbst. Communio und missio, Gemeinschaft und Sendung, Geborgenheit und Weggeschicktwerden lassen sich von allem Anfang an nicht auseinanderreißen, sie sind zwei Seiten desselben. Da draußen aber, in der Distanz zu Jesus, der am Ufer bleibt, erfährt Petrus das Überwältigende. Jesu Wort löst sich ein, wo wir in Gehorsam und Vertrauen ihm die Chance geben, etwas mit uns anzufangen und so seinen neuen, göttlichen Anfang zu wirken. Der dritte Schritt ist die Rückkehr zu Jesus, die neue Begegnung [41] mit ihm. Dieser Schritt ist entscheidend, denn er bezieht das Geschehene auf Jesu Wort. Weil ich dir gefolgt bin, habe ich die Macht Gottes erfahren; weil ich mich auf dich eingelassen habe, hat sich mir die anbrechende Herrschaft Gottes bekundet. Auf der Seite des Glaubens, im Verdanken und Anerkennen, wird der Anspruch Jesu eingeholt: Er hat die Herrschaft Gottes angesagt und daraus die Konsequenz gezogen, daß er Nachfolge vom Hörer seines Rufes fordert. Und nun erfolgt die Gegenbewegung. Der Mensch läßt sich auf Jesus ein und erfährt darin, daß Jesu Anspruch durch Gott gedeckt ist, daß Jesu Anspruch in der Tat die Anwesenheit des handelnden, in die Geschichte eingreifenden Gottes ist: Bekenntnis, Zuerkennung der Titel göttlicher Macht und Hoheit an Jesus als die Kehrseite seiner Botschaft vom nahenden Gottesreich. Der Ort, wo beides sich berührt, ist die Nachfolge. Dieser dritte Schritt entlädt freilich seine ungeheuerliche Spannung in einem vierten, der dann doch nicht stattfindet, der aber in der spontanen Antwort des Petrus sich anzeigt: „Geh weg von mir, ich bin ein sündiger Mensch!“ Man ist erinnert an jene erschreckten Differenzerfahrungen in den Berufungsgeschichten der Propheten (z. B. Jes 6 und Jer 1). Wo der Heilige einbricht in unseren Lebensraum, wird die Unangemessenheit unseres eigenen Lebens, unserer eigenen Existenz, wird der von uns her nicht zu bestehende Abstand zwischen ihm und uns überdeutlich. Nicht wir können diesen Abstand ertragen, sondern er selbst muß ihn erträglich machen. Der Gott ganz nahe gegenüber kann nur „aufgefangen“ werden durch den Gott, der in uns wirkt, der in uns die Nähe Gottes aushält. Das entscheidend Prophetenberufung: Neue Der der nicht zu Petrusgeschichte ertragende Heilige, im der Verhältnis zur schlechterdings Überragende und Überlegene ist nicht der Gott, der aus der Höhe offenbarend seinen Lichtstrahl und sein Wort ins Herz des Berufenen schleudert, sondern es Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 ist einer, der auf demselben Boden gegenübersteht, von Mensch zu Mensch. Um es formal und abstrakt zu sagen, die absolute Differenzerfahrung findet in der Horizontalen statt. Mit dem theologischen und christologischen Rang dieses vierten [42] Schrittes verbinden sich zwei unmittelbar uns und unseren Vollzug betreffende Konsequenzen. Zum einen: es ist damit nicht alles getan, daß Gottes Herrschaft in unser Leben eingreift und die Dinge, die wir nicht können, durch ihre Macht ergänzt und ersetzt. Wer sich wirklich auf Gott einläßt, wer wirklich seine helfende Macht und Nähe erfährt, sagt nicht: Es ist praktisch, daß es dich gibt, weil ich so leichter über die Runden komme! In der Hilfe überfällt ihn zugleich der Anspruch, einer anderen Dimension begegnet zu sein und sie tragen zu müssen. „Wer von euch kann wohnen mit dem fressenden Feuer? Wer von euch kann wohnen mit der ewigen Glut?“ (Jes 33, 14). Hiermit haben wir aber bereits das zweite berührt: unsere Situation, mit dem in Jesus nahen Gott „umgehen“ zu müssen. Geh weg von mir! So war es nicht nur Petrus zumute. In der beständigen Nähe seines übermächtigen Anspruchs zu leben, gar Bote und Mittler dieses Anspruchs zu sein, das „geht“ nicht. Die heute so oft artikulierte Erfahrung der Überforderung durch den Ruf, der Unzumutbarkeit dessen, was Gott verlangt und schenkt, für unser menschliches Vermögen – das ist nicht sentimentale Wehleidigkeit, sondern es ist Offenbarwerden der menschlich „unmöglichen“ Situation von Gottesherrschaft. Wenn nicht er, wenn nicht sein Geist in uns Gott bei uns, Gott mit uns, Gott unter uns aushält, dann bleibt nur der Rückzug. Aber dieser Rückzug bleibt uns nicht. Denn – dies ist der fünfte Schritt – Jesus spricht zu Petrus wie zu uns sein erlösendes „Fürchte dich nicht!“ Wir sind angenommen, wir sind hineingenommen in die ganz göttliche und ganz menschliche Gemeinschaft mit dem nahen Gott. Dieses „Fürchte dich nicht!“ setzt den Petrus wieder ein in sein Leben und seine Erfahrung, doch ist solche Wiedereinsetzung zugleich totale Verwandlung. Petrus bleibt Fischer, aber er wird Menschenfischer. Er tut, was er tat, er tut es aber von Gott aus und für Gott, tut es in der neuen Dimension, die Jesu Kommen aufreißt und in der wir, ihm nachfolgend, mit ihm leben. [43] Der reiche Jüngling (Mk 10, 17-27) Das Nachfolgegeschehen ist immer dasselbe und ist zugleich unabschließbar vielfältig. Wie man, auf verschiedenen Wegen durch dieselbe Landschaft wandernd, sie in je neuen Perspektiven sieht und trotzdem jedesmal nicht nur etwas von ihr, sondern in der einzelnen Perspektive das Ganze sieht, so ist es auch mit der Nachfolge. Die Erzählung vom reichen Jüngling nach Markus Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 (vgl. die z. T. etwas anders gefärbten Parallelen Mt 19, 16-30; Lk 18, 18-30) zeigt uns die weithin selben Momente wie die Geschichte vom reichen Fischfang, und doch sind wir auf überraschend andere Weise hier vom selben Nachfolgeruf Jesu angegangen und herausgefordert. Wir können das Geschehen wiederum in fünf Etappen und ein „Nachspiel“ gliedern. Die erste Etappe, sozusagen die Ausgangsbedingung, rückt die Begebenheit besonders dicht in unseren heutigen Erfahrungshorizont hinein. Der begüterte Mann, der sich Jesus naht, bringt zweierlei mit: das Interesse für ein ganzes, gültiges Leben, fürs „ewige“ Leben. Er möchte nicht nur vegetieren, möchte nicht nur haben, was man so hat und vielleicht noch einiges mehr – er möchte das, was bleibt, das, was Sinn und Erfüllung gibt. Und er spürt, dieses Gültige und Bleibende, dieses Leben, das wahrhaft Leben heißen darf, hat etwas zu tun mit der Gestalt Jesu. Er hat etwas zu sagen, er kann da weiterhelfen. Ganz einfach, er ist begeistert von diesem Jesus, und so redet er ihn an: „Guter Meister!“ Und nun – zweite Etappe – die schockierende Antwort Jesu. Sie scheint im genauen Gegensatz zu dem zu stehen, was wir bislang beobachtet haben. Wir sagten: Jesus zieht die Menschen, die er auf Gott hin orientiert, her zu sich selbst, bindet sie an seine Person. Hier tut er, scheinbar und fürs erste, das Gegenteil. Das Interesse am ewigen Leben läßt Jesus stehen, nicht aber die Anrede „Guter Meister“. Er lenkt die Begeisterung, die sich auf seine Person richtet, entschieden ab. Es geht nicht um ihn, sondern es geht um Gott. Wer in ihm eine faszinierende Persönlichkeit sieht, der hat ihn nicht verstanden. Nur der versteht ihn, der die einzige Leidenschaft und den einzigen Inhalt und die einzige Botschaft seines Lebens kennt: [44] Gott, er allein! Wir könnten, vermittelnd und aufs Ende blickend, zwar sagen, daß nur der Jesus findet, der ihn um Gottes willen, in der Blickrichtung auf Gott findet. Aber lassen wir, wie es auch unser Text tut, zunächst einmal diese Abweisung der „Huldigung“ an Jesus durch ihn einfach so stehen. In unserem Text geht Jesus unmittelbar, in dreifacher Steigerung, auf die Frage des Mannes ein, was er tun müsse auf dem Weg zu seinem Ziel, dem ewigen Leben. Zunächst folgt wiederum – dritte Etappe – etwas Schockierendes. Dieser Mensch ist doch zu Jesus gekommen, um etwas anderes zu hören als das, was alle ihm auch sagen können – und genau, was man gängig sagt und was er auch selbst als frommer Jude wissen kann, ist für Jesus die Basis. „Halte die Gebote!“ Und um keine Zweifel zu lassen, zählt er sie auf, jene Gebote, die das Leben des bundestreuen Juden prägen. Noch einmal scheint hier ein Widerspruch aufzuklaffen zu dem, was wir über Jesu Predigt von der Gottesherrschaft sagten. Bringt nicht er das ganz Neue, das Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Unerhörte? Ist seine Botschaft nicht die Umkehrung des Gewohnten? Gewiß, aber eine Umkehrung, die erfüllt, die das einlöst, was der Alte Bund vorbereitet. Wenn Gott kommt, wenn Gott einbricht, dann ist sein Wille nicht weniger wichtig, sondern wichtiger als zuvor. Und was Gott in seiner Zuwendung zum Menschen – die Antwort Jesu bezieht sich gerade auf die zweite Gebotetafel – als dessen Anwalt bereits beim Bundesschluß mit Mose von seinem Volk verlangte, das erhält nur neue und um so dringlichere Aktualität, wenn Gott nun diese Zuwendung vollendet, wenn er selbst hineintritt in die Geschichte, wenn er Zentrum unseres Lebens und unserer Welt werden will. Das Ja zum allein guten Gott und Gottes Ja zum Menschen, dies ist und bleibt das Grundwort eines Lebens aus dem Glauben, auch in der Ära der Gottesherrschaft und der Nachfolge. Für uns wichtig genug, dieses Normale und Alltägliche nicht zu übersehen. Den großen Willen Gottes tun, der uns zum Ungewohnten ruft, das ist kein Alibi für den kleinen, alltäglichen Willen Gottes jedem und dem Nächsten gegenüber. Gottes Wille ist unteilbar, und der unteilbare, eine Gott, der Gott des Ganzen ist der Gott der Predigt Jesu. [45] Die Spannung, in der Jesu Antwort zur Anrede und Erwartung des Fragestellers bis jetzt stand, schlägt gerade an diesem Punkt um in Verstehen und Zustimmung. Von Jugend an hat sich dieser Mensch um den Weg der Gebote bemüht. Nun darf er erfahren, er ist auf demselben Weg wie Jesus, dem Weg des Vaters. Und so wagt Jesus das Mehr: „Eines fehlt dir noch!“ Dieses Eine legt sich nochmals in zwei Stufen auseinander. Zunächst, in einer vierten Etappe, geht es darum, alles zu verkaufen, sich freizumachen von allem, was ans Hier und Jetzt bindet und nicht an Gott allein. Es geht darum, den Schatz auf Erden zu verwandeln in den „Schatz im Himmel“. Denn wo der Schatz, dort ist das Herz (vgl. Mt 6, 21; Lk 12, 34). Um es in äußerster Schärfe zu sagen: Die Gottesherrschaft ist so ernst wie der Tod. Was wir im Tod nicht mitnehmen können, auf dem können wir auch angesichts der herannahenden Gottesherrschaft nicht bestehen. Wer Jesus begegnet, wer in das neue Leben eintritt, das er ansagt und bringt, der kann wirklich nur noch dieses eine Zentrum haben: Gott. Wenn Gottes Herrschaft kommt, dann stehen wir eben so vor Gott wie in unserer letzten Stunde. Freilich heißt es, aus diesem „Quell“, von ihm her, von ihm allein her weiterleben, das neue Leben Gottes leben. Sicherlich, es gibt verschiedene Gestalten, solche Armut zu realisieren, verschiedene Weisen, nichts zu haben oder so zu haben, als hätten wir nicht (vgl. 1 Kor 7, 2931). Jedenfalls ist es äußerst bedenkenswert, wie dicht die Botschaft von Gottesherrschaft und Nachfolge mit der Forderung der Armut im Evangelium verknüpft ist. Kein Weg führt daran vorbei, daß christliches Haben Haben von Gott her und Haben für die anderen heißt. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Wir selbst müssen immer wieder „Kassensturz“ halten und fragen, was wir zu verkaufen haben. Denken wir dabei nicht nur an bewegliche und unbewegliche Güter, sondern auch an Fertigkeiten, Meinungen, Geschmack, Beziehungen, Probleme, Sünden, Schwächen, die man gerne streichelt, Schwierigkeiten, die man hätschelt, weil sie einen zum „besonderen Fall“ stempeln. Und der „gute Meister“ hat es gewiß auf das am meisten abgesehen, was die heimliche, wenn auch noch so „harmlose“ Achse unserer Selbstliebe ist. [46] An das „Verkaufe alles!“ schließt eine fünfte und letzte Etappe an: ein „Und dann!“ Hieronymus weist in seinem Matthäuskommentar einmal darauf hin, daß es nicht genügt, alles zu verkaufen, weil dies auch die Heiden tun können, die aus irgendeiner asketischen Lehre der Bedürfnislosigkeit sich aufs wesentliche beschränken und fürs Geistige reinigen. Das Neue, Einmalige, Unverwechselbare bei Jesus heißt: „Und folge mir!“ Freisein von … ist zwar die Voraussetzung des Freiseins für …, aber das Hergeben, das Nichthaben sind nicht Ziel, sondern Weg. Sein positiver Sinn ist die Gemeinschaft, die Verbindung mit Jesus, in dem Gott da ist und nah ist, in dem wir an Gottes Leben teilhaben. Orientierung auf Gott allein zu, alltägliche Treue zum Willen Gottes, gerade auch dem Nächsten gegenüber, sich freimachen von allen Anhänglichkeiten, Besitztümern und Bindungen, das sind die Stufen des Weges in die Nachfolge hinein, ins Leben mit Jesus hinein. Dies ist die eine Seite des Stufenganges durch die Geschichte vom reichen Jüngling. Aber es gibt noch eine andere. Wir haben am Anfang die kritische Abweisung der Begeisterung für Jesus durch Jesus selbst festgestellt – und was daraus wächst, führt genau doch zur Nachfolge, zur konkreten Gemeinschaft mit diesem Jesus hin. Es kommt auf Gott allein, auf den Vater allein an – aber der Vater lebt und handelt konkret im Sohn. Wer Gemeinschaft haben will mit dem Vater, muß mit dem Sohn Gemeinschaft haben. Die Geschichte läuft zu auf Nachfolge als Einlösung der Gemeinschaft mit dem einzig Guten, mit Gott. Einmal mehr bewährt sich Nachfolge als christologisches Grunddatum. Werfen wir noch einen knappen Blick auf die Nachgeschichte der Erzählung. Der reiche Jüngling ging traurig weg, weil er eben sehr reich war und das Gewicht seines Habens der sofortigen und ganzen Verfügbarkeit für die Stunde Gottes im Wege stand. Jesus betont im Nachgespräch mit den Jüngern die Lebensgefährlichkeit der Spannung zwischen Gottesherrschaft und Reichtum, und die Jünger werden traurig darüber, weil sie in solcher Spannung zwischen den konkreten Lebensverhältnissen und der Forderung Gottes kaum mehr einen Spielraum für die Rettung der Menschen entdek- [47] ken. Jesus nimmt nichts von der Härte seiner Forderung zurück – aber er reißt einen neuen Horizont auf: Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 „Für Menschen ist das unmöglich, aber nicht für Gott; denn für Gott ist alles möglich“ (Mk 10, 27). Der Anbruch der Gottesherrschaft und der Ruf der Nachfolge bringen in der Tat den Menschen in eine „unmögliche“ Situation – aber die Unmöglichkeit dieser Situation ist Kennzeichen für die Stunde Gottes, bei dem nicht nur die Forderung, sondern auch die Erfüllung, nicht nur der Anfang, sondern auch die Vollendung liegt. Dies ist freilich die Spitze der Armut: mir auch mein Armseinkönnen von ihm, von seiner Gnade schenken lassen. Fassen wir das Ganze unter der Perspektive des „Verkaufens“, der Armut zusammen, so verlangt Nachfolge: Ich muß zunächst verkaufen, etwas Besonderes zu wollen und zu vollbringen und muß mich auf die Basis des ganz Allgemeinen und Normalen stellen: tu die Gebote. Sodann muß ich verkaufen, woran ich hänge, was ich für mich persönlich reserviert habe, worauf ich glaube, einen Anspruch zu haben. Weiter muß ich auch noch meine eigene Freiheit verkaufen, die ich doch dadurch unter Beweis stellte, daß ich mich von allem löste, woran ich hänge – ich muß diese Freiheit verkaufen in die Gemeinschaft mit einem anderen, in die Abhängigkeit von einem anderen, in die Nachfolge, die meine Freiheit an die Freiheit des Herrn bindet. Und schließlich muß ich verkaufen, ihm nachfolgen zu „können“, es selber zu schaffen, und muß mir alles schenken lassen von ihm. So erst bin ich jenes Nichts, in dem Gott als Alles aufgehen kann – und stehe zugleich schon jetzt in der grenzenlosen Freiheit Gottes, im Leben Gottes, im Anfang des ewigen Lebens. Nachfolge bei Paulus Reicher Fischfang und reicher Jüngling, diese beiden Erzählungen sprechen von Nachfolge aus der unmittelbaren vorösterlichen Situation der Predigt Jesu. Derselbe Weg markiert aber auch die Lebensstruktur eines Paulus, der auf den ganz persönlichen Anruf Jesu [48] hin sein Leben neu begonnen, es zum Leben mit Jesus und für Jesus „umgekehrt“ hat. Freilich ist die Nachfolge des Paulus nachösterlich, Kreuz und Auferstehung eröffnen bei ihm eine neue, vertiefende Dimension von Nachfolge. Einen der unmittelbarsten Texte hierzu finden wir im Philipperbrief (3, 7-14). Beschränken wir uns auf jene Momente, die sich auch schon vorösterlich eröffnen. „Was mir ein Gewinn war, das habe ich um Christi willen als Verlust erkannt. Ja ich sehe sogar alles als Verlust an, weil die Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn alles übertrifft. Seinetwegen habe ich das alles aufgegeben und halte es für Unrat, um Christus zu gewinnen und in ihm zu sein. Nicht meine eigene Gerechtigkeit suche ich, die aus dem Gesetz hervorgeht, sondern jene, die durch den Glauben an Christus kommt, die Gerechtigkeit, die Gott kraft des Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Glaubens schenkt … Ich vergesse, was hinter mir liegt und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist.“ Reicher Jüngling auf paulinisch! Alles, was in seiner bisherigen Welt Wert hatte, was als Verdienst und Leistung galt, was ihm Grund und Zuversicht war, vor Gott zu bestehen, das zählt nun nicht mehr. Auch und gerade nicht die eigene Frömmigkeit, das gute Gewissen, das Menschenmögliche getan zu haben, um Gottes Willen zu erfüllen. Die einzige Basis, der einzige Grund des Vertrauens liegt nicht mehr in ihm, sondern allein in Jesus Christus. Er ist die absolute Voraussetzung seines Daseins geworden – und zugleich sein einziges Ziel, das den Rhythmus jedes Augenblickes, jedes Wegschrittes bestimmt. Dies heißt konkret – um die fundamentale österliche Dimension nun doch einzubeziehen: die Liebe Gottes, der sich selbst in der Hingabe Jesu ihm geschenkt hat, der sein Leben und Sterben im Tod am Kreuz ausgelitten hat, ist das einzige Woher seines Lebens und die Auferstehung Jesu ist das einzige Wohin seines Lebens. Auf die schärfste Formel bringt das der Galaterbrief: „Ich bin mit Christus gekreuzigt worden; so lebe nun nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir. Soweit ich aber jetzt noch in dieser Welt lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat“ (Gal 2, 19f.). [49] Die Grunddimensionen der Nachfolge Wer die knapp angeleuchteten Texte und noch so viele andere des Neuen Testaments liest, der tritt ein in eine konkrete Gemeinschaft mit solchen, die Nachfolge gewagt haben oder sich doch zur Nachfolge herausgefordert fanden. Nur in solcher Gemeinschaft mit anderen, die nachfolgen, geht auch die eigene Nachfolge, geht ihr Weg. Vielleicht ist es jedoch nützlich, nochmals die Scheinwerfer bewußt umzustellen auf unser eigenes Dasein und aus den beobachteten Grundzügen des Evangeliums einige Signale zu gewinnen für uns, damit bei uns Nachfolge und in der Nachfolge der Glaube gehe. a) Entscheidung für Gott, für seine Herrschaft heißt Entscheidung dafür, daß ich mein Leben mit Jesus, dem Lebendigen, lebe. Mein konkretes Lebensschicksal muß von Jesus geprägt werden, dann, nur dann ist es ein Leben mit Gott. Es gibt für uns keine andere „Religiosität“ als die der Jesusnachfolge. b) Das Grundwort der Berufungsgeschichte bei Markus (1, 18) heißt „sofort“. Nachfolge geschieht nicht im Großen und Ganzen, wenn sie nicht im Einzelnen und Jeweiligen geschieht. Das Jetzt, dieser eine, gegenwärtige Augenblick ist der Punkt, an dem mir der Ruf Jesu begegnet. Im Jetzt allein lebe ich, im Jetzt allein kann ich Nachfolge leben. Sooft stehlen wir uns vor der konkreten Anforderung Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 des Evangeliums davon, indem wir uns sagen: So einfach ist das mit dem Willen Gottes doch nicht. Woher sollen wir wirklich wissen, was Gott will? Eines aber wissen wir: im Jetzt, in diesem Augenblick gilt es, sich über den Rand der eigenen Angst und Anhänglichkeit hinauszuwagen und seiner größeren Zuversicht, seiner größeren Freiheit, seiner größeren Treue, seiner größeren Liebe anzuvertrauen. Das zögernde Festhalten dessen, was war, das Nichtfertigwerden mit dem, was gewesen ist, und ebenso die Ausflucht ins Planen und Träumen und in die Angst vor morgen sind Ausflucht vor dem Jetzt, in dem Gott mich in Jesus ruft. Das Heute Gottes ist nicht irgendwann, sondern heute. Jetzt will Jesus nicht, daß ich über diesen andern urteile. Jetzt will er, daß ich mich nicht selbst damit ent- [50] schuldige, diese Nachgiebigkeit gegen meine Schwäche sei nicht so tragisch. Jetzt will er nicht, daß ich mich auf mein Recht berufe, abzuschalten und keine Zeit zu haben für den Nächsten, den er mir schickt. Jetzt will Jesus, daß ich mein Ja sage zu ihm, dort wo er mir begegnet, so wie er mir begegnet. Jetzt soll ich leben, wie er an meiner Stelle leben würde, nein, wie er an meiner Stelle lebt. c) Aber wie erkenne ich seinen Augenblick? Wie kann ich so in der Gemeinschaft mit ihm leben, daß sie wahrhaft der Raum, die Kraft und das Licht meines Lebens wird? Erinnern wir uns an Petrus: Auf dein Wort hin! Nachfolge heißt leben auf Jesu Wort hin und deswegen leben mit Jesu Wort. Gottes Wort muß uns wirklich das Leitseil unseres Weges werden, an dem wir uns Tag für Tag entlangtasten. Es muß das Alphabet werden, mit dem wir unser Leben und seine Situationen durchbuchstabieren. Uns ist dieses Wort gesagt, in unserem Leben will es neu Fleisch werden. d) „Wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt!“ (Mk 10, 28). Dieses Wort „alles verlassen!“ muß uns immer neu im Ohr klingen. Es ist nicht ein für allemal abzugelten, sondern muß immer neu getan werden. Wir dürfen aber nicht nur das Wort „verlassen“ hören, sondern müssen das andere mitbedenken: „alles“. Es gibt keine bloß partielle und keine bloß regionale und keine bloß kategoriale oder territoriale Nachfolge Christi, sondern nur die totale Nachfolge. Wo wir einen Bezirk aussparen, den wir Gott nicht öffnen, den wir in den Lebensrhythmus der Nachfolge Jesu nicht hineingeben, da ist Gott nicht unser Gott, da sind wir nicht auf dem Weg, da ist das bewegende oder gerade nicht bewegende Zentrum unserer Welt nicht er, sondern unser Wille, unser Mögen und Meinen. e) Jesus nachlaufen heißt über ihn hinauslaufen, seinen Weg weiterlaufen in die Welt, heißt sich senden lassen. Wer Jesus nachfolgt, den nimmt er in die Dynamik seines Lebens mit hinein. Jeder wird auf seine „Menschenfischer“, jeder Zeuge und Bote. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Weise Version: Juni 2010 Entscheidung für Gott ist Entscheidung für Jesus. Leben mit ihm ist Leben im Augenblick; es gibt einen konkreten Willen Gottes für jeden Augenblick. Dieses Leben im Augenblick ist Leben auf sein [51] Wort hin, ein Leben, Millimeter für Millimeter aus seinem Wort gestaltet. Es ist ein Leben, das alles aufs Spiel, auf Jesu Spiel setzt. Es ist ein Leben in der beständigen Gemeinschaft mit Jesus und deswegen im beständigen Weitergehen und Weitertragen seines Weges in die Welt. So geht Nachfolge. Und wenn wir in der Nachfolge gehen, dann gehen wir im Rhythmus des Lebens Jesu selbst, dann wachsen wir hinein in sein Geheimnis. Jesus ist die lebendige Nähe Gottes. Wer ihn sieht, sieht den Vater, wer mit ihm lebt, lebt mit dem Vater (Joh 14, 9). Jesus ist die Zeit Gottes, der Augenblick Gottes, dieses Jetzt, in dem er Gegenwart, neue, ewige Gegenwart, unser Licht und unser Tempel wird (vgl. Offb 21, 22f.). Jesus ist das Wort Gottes, in dem er sich und alles uns sagt (vgl. Joh 1 und 15, 15). Jesus ist das Ganze, er ist Alles – denn alles hat er in sich hineingenommen, alles in seinem Leben und Sterben zum Vater hingetragen, in allem kann er uns begegnen. Und er ist nicht nur das Woher unseres Weges, jener, dem wir folgen und von dem her wir gesendet sind, sondern er ist auch das Wohin unserer Sendung: in allen und allem sollen wir ihn entdecken und freilegen, er ist Anfang und Ende, er ist der Kommende, auf den alle Linien unseres Lebens und der Welt zulaufen. Die Dimensionen der Nachfolge sind Dimensionen des Geheimnisses Jesu selbst. Dieses Geheimnis Jesu deutet sich an in der Verknüpfung des Nachfolgerufes mit der Botschaft vom anbrechenden Gottesreich, im Zeugnis der Vollmacht Jesu, die beides – die Botschaft und den Ruf – trägt. Kreuz und Ostern sind die Einlösung dieses Anspruchs und in ihnen wird der Geist frei, der Jesu Geheimnis dem eröffnet, der sich auf den Weg der Nachfolge begibt. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 [52] 4. Die „Ethik“ Jesu Jesus sagt die Gottesherrschaft an, Jesus ruft zur Nachfolge. Er tut Zeichen, die seine Sendung beglaubigen und hinweisen auf jene Macht Gottes, die das Heil des Menschen und die Erfüllung der Geschichte wirken will. Er verdeutlicht die Weise, wie Gott zum Menschen steht, durch sein Handeln, durch sein erbarmendes, herausforderndes, ungewohntes Zugehen auf den Menschen. Er entfaltet seine Botschaft in die Bild- und Gleichnisreden, die den Menschen aufhorchen lassen, damit er die Zeichen der Zeit verstehe und sich der nahenden Herrschaft Gottes öffne. Jesus tut aber ein weiteres. Er sagt uns, wie wir unser Leben insgesamt anpacken sollen, sagt uns, wie wir uns gegenüber Gott und dem Nächsten verhalten sollen. Er zieht die Konsequenzen aus seiner Botschaft von Gottes Reich und von der Nachfolge nicht nur im Blick auf die Lebenssituation des einzelnen, den er direkt anspricht, sondern umfassend, grundsätzlich, für alle. Daher kann man von der „Ethik“ Jesu sprechen, so problematisch dies sein mag. Sicher, es geht Jesus nicht darum, neutral und „an sich“ zu sagen, wie der Mensch sein soll, sondern es von der konkreten Situation des anbrechenden Gottesreiches her zu sagen. Diese Situation ist freilich kein wiederum überholbarer Sonderfall, sondern die Erfüllung aller Zeit, die Erfüllung dessen, was Gott im Alten Bund angelegt hat, ja die Erfüllung dessen, was in der Schöpfung selbst grundgelegt ist. Wenn im Epheserbrief gesagt wird, daß Gott in Christus die Fülle [53] der Zeiten heraufführen, in ihm alles vereinen und wie in einem Haupt zusammenfassen wollte, was im Himmel und auf der Erde ist (vgl. Eph 1, 10), so wird dies in der „Ethik“ Jesu unmittelbar anschaubar. Es geht Jesus zugleich darum, Gesetz und Propheten nicht herzustellen, aufzuheben, wie es „am sondern zu Anfang“, erfüllen am (vgl. Mt 5, 17), Anfang der wieder Schöpfung war (vgl. Mk 10, 6) – und einen neuen Anfang zu setzen, der über das hinausführt, was den Alten gesagt worden ist (Mt 5, 21.27.31.33.38.43). Dieser neue Anfang ist zugleich Vorwärtsgang über alles bislang Dagewesene hinaus, in die neue Stunde der anbrechenden Gottesherrschaft – und Rückgang in den ursprünglichen Anfang. Es ist ja Gott, der Anfängliche, der seinen „Anfang“ nun aus der Entfernung, aus der Peripherie ins Zentrum unseres Lebens einbringt. Wenn wir im folgenden die Ethik Jesu in einigen ihrer Grundzüge zur Sprache bringen, so heißt unsere leitende Frage wiederum: Wie geht Glauben? Hier genauer: Wie geht Leben aus dem Glauben, wie geht gelebter Glaube? Es interessiert hier also nicht in erster Linie, wieviel von der Ethik Jesu bereits von der Perspektive des Alten Bundes oder der Schöpfungsordnung her möglich ist; Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 ob das Neue, das in Jesus zweifellos durch den Gesichtspunkt der Gottesherrschaft eingebracht wird, mehr motivierender oder mehr inhaltlicher Natur ist; wo die Sicht des unmittelbar „Jesuanischen“ aufhört und wo die gemeindliche, nachösterliche Verdeutlichung und Interpretation anfängt. Auf derlei Fragen fällt im Vorbeigehen dieses oder jenes Licht. Unser Bemühen aber gilt dem Weg, den wir zu gehen haben (und in dessen Gang der Glaube und der „Urheber und Vollender des Glaubens“ [Hebr 12, 2] für uns Kontur und Nähe gewinnen sollen). [54] 4.1 Der Bund – die Zehn Gebote – das Hauptgebot Vergegenwärtigen wir uns noch einmal: Jesus kommt es nicht darauf an, sozusagen am Reißbrett ein System der Ethik zu entwerfen, eine lückenlose Herleitung und Aufstellung dessen, was zur sittlichen Haltung und zum sittlichen Handeln des Menschen gehört. Die heilsgeschichtliche Situation, die Ansage des Gottesreiches, fordert ihn, uns zu sagen, was wir tun sollen, was Gott, der nahekommende Gott, von uns will. Im Alten Testament ist es grundsätzlich nicht anders. Mag der religiöse Umtrieb es mitunter verdunkelt haben, in den Schriften des Alten Testamentes und in der Religiosität und Lebenseinstellung der Frommen Israels tritt zutage: Nicht das „Du sollst!“ ist das erste, sondern das geschichtsmächtige Handeln des Gottes, der sein Volk ruft und führt und immer wieder auf den Weg zurückführt. Weil ich, Jahwe, dein Herr und Gott bin – so dürfen wir Gottes gesetzgebende Offenbarung zusammenfassen –, weil ich an dir gehandelt habe und dich aus Ägypten herausgeführt habe, deshalb sollst du mich ehren als deinen Herrn und Gott, deshalb meinen Namen heilig halten, deshalb nicht mit deinen Interessen und Planungen meine Zeit und meinen Tag zudecken! Gott handelt an seinem Volk und stellt sein Volk in die Situation der Antwort. Nur in der Position der bekennenden, dankenden, bezeugenden Antwort kann dieses Volk überhaupt leben; denn seine ganze Existenz, seinen Anfang und seinen Bestand verdankt Israel dem Handeln Gottes, die gelebte Beziehung zu diesem Gott ist sein Lebensraum und seine Lebensbedingung. Und dieses dankende Bezeugen und Bekennen ist zugleich seine Berufung als priesterliches Volk, als Gottes Eigentum unter den Völkern. Dieser Grundposition seiner Existenz und seines Auftrags entspricht Israel aber nur, wenn es nicht nur als Summe privater einzelner, sondern eben als Volk antwortet. Die Treue des Volkes zu Gott setzt sich fort in der Treue und Verlässlichkeit zwischen Volksgenossen und Volksgenossen, in der Weise, wie der eine zum anderen steht und sich für den anderen mitverantwortlich weiß. Deshalb [55] sind die Eltern zu ehren, deshalb ist das Leben des Nächsten zu Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 achten, deshalb muß die eheliche Treue gewahrt, das Hab und Gut des Nächsten respektiert werden, deshalb muß man sich aufs Zeugnis eines jeden verlassen können, deshalb sind Rechte, Familie, Güter des anderen unantastbar. Im Miteinander des Volkes muß die Bundestreue zwischen Gott und dem Volk sich widerspiegeln, sich fortsetzen, greifbar und offenbar werden für die Völker im Umkreis – das Verhältnis zum Nächsten strahlt über die bloße Gegenseitigkeit, über die Grenzen des eigenen Volkes hinaus, grundsätzlich ist die „Volks“-ethik offen in die menschheitliche Dimension hinein (vgl. zum bisherigen besonders Ex 19 u. 20; Dtn 5 u. 6). Die „Ethik“ des Alten Testamentes, das, was sich in den 10 Geboten ausspricht, ist also Antwort auf Gottes die Existenz Israels gründende und haltende Tat, ist Vollzug der Existenz des Volkes und seines heilsgeschichtlichen Auftrages. Immer wieder steht dies in der Gefahr, in frommer Geschäftigkeit und unfrommer Untreue überwuchert, vergessen, verfälscht zu werden. Es ist die Stoßrichtung der prophetischen Verkündigung, auf diesen zentralen Lebensgrund Israels hinzuweisen. Besonders eindrücklich geschieht das etwa beim Propheten Micha. Gott nimmt die Angebote der Opfer nicht an, die das untreu gewordene Volk zur Versöhnung ihm anbietet. Jahwe faßt unzweideutig seinen Willen und damit die Chance zum neuen Anfang so: „Eines nur ist von dir verlangt: nichts als Recht tun und die Güte lieben und in Demut wandern mit deinem Gott“ (Mich 6, 8). Es ist geradezu ein Hauptzug prophetischen Bemühens, das Ausweichen auf die bloß kultische Anerkennung Gottes zu unterlaufen durch die hartnäckige Forderung, das Verhältnis zu Gott zu bewähren im Verhältnis zum Nächsten. Es liegt in der inneren Logik der Botschaft Jesu von der herannahenden Gottesherrschaft, daß er diesen Akzent wieder aufgreift. Gott, Gott allein, dies ist bestimmt das Erste, ja wir dürfen sagen: im Sinne Jesu das Ganze! Aber Gott allein, das ist das genaue Gegenteil eines bloßen „Sektorengottes“. Denn Gott hat ja nicht mehr irgendwo nur einen Sektor des Horizonts für sich in Beschlag ge- [56] nommen, jenseits dessen er thront und von dem her er seine Wohltaten sendet; nein, er bricht auf, er rückt in die Mitte unseres Daseins, alles ist sein Strahlungsbereich. Und so kann ich Gott nicht lieben, wenn ich nicht auch die liebe, die er liebt, und das liebe, was er liebt. Wo alles auf Gott allein ankommt, da kommt es auf den Menschen und auf die Welt an. Gott über alles lieben und alles in Gott, dies sind die beiden untrennbaren Seiten desselben. Zum Grundbestand der ersten drei Evangelien gehört Jesu Betonung des Hauptgebotes: Gottesliebe aus ganzem Herzen, und als zweites, das denselben und davon untrennbaren Rang einnimmt, Liebe zum Nächsten (Mt 22, 3440; Mk 12, 28-31; Lk 10, 25-28). Beachtenswert dabei der jeweils besondere Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Akzent: Bei Matthäus gibt Jesus selbst die Antwort auf die Frage nach dem größten Gebot; er ist es, der unterstreicht, daß das zweite dem ersten gleich ist. Bei Markus sind es Jesus und der die Frage stellende Gesetzeslehrer, die sich in der einen Antwort treffen. Anlaß für Jesus, dem Gesetzeslehrer zu bescheinigen, er sei nicht fern vom Reich Gottes. Hauptgebot und Gottesherrschaft hängen unmittelbar zusammen. Bei Lukas wird der Dialog mit dem Gesetzeslehrer, der seinerseits von Jesus zur Antwort herausgefordert wird, weitergesponnen. Die Rückfrage „Wer ist mein Nächster?“ gibt Jesus Anlaß, das Gleichnis vom barmherzigen Samariter zu erzählen (Lk 10, 25-37). Dies entspricht dem Blick des Lukas über Israel hinaus, auf die gesamte Menschheit. Diese Hinsicht liegt in der Gesamtrichtung der Verkündigung Jesu und verstärkt einen Akzent alttestamentlicher Botschaft. Grundlage der Ethik Jesu ist also die auf ihre Mitte konzentrierte und in die menschheitliche Dimension geöffnete – sagen wir es einmal so – Bundesethik des Alten Testamentes: ein ganzes Ja zum ganzen Gott und deswegen ein Ja genauso zum anderen wie zu mir selbst, weil zu uns beiden der eine und selbe Gott sein Ja sagt. Die neue Nähe und neue Universalität dieses göttlichen Ja zum Menschen, das ist Kennzeichen der Situation der Gottesherrschaft, die nicht die Situation des Alten Bundes aufhebt, sondern eben verdichtet, erfüllt. [57] 4.2 Die Bergpredigt Das Ethos der anbrechenden Gottesherrschaft wird wohl am schärfsten in der Bergpredigt nach Matthäus (5, 1-7.29) konturiert. Es kann uns hier nicht um ihre Gesamtinterpretation, nicht um die Analyse ihres Aufbaus, nicht um die ethische Aufarbeitung ihrer Einzelheiten gehen. Wir wollen an ihr ablesen, wie das Leben jener zweifältig-unteilbaren Liebe zu Gott und den Nächsten in der Situation des anbrechenden Gottesreiches, in der Situation somit auch unseres christlichen Lebens geht. Ein paar Beobachtungen an der äußeren Struktur der Bergpredigt können dabei hilfreich sein. Bei Matthäus hat die Bergpredigt zwei konzentrische Hörerkreise: einmal, unmittelbar um Jesus herum die Jünger, sodann um die Jünger herum die Menge des Volkes. Zunächst wendet sich Jesus an die Jünger in den acht Seligpreisungen (5, 3-12). Die Situation der Spannung, der Differenz zum erfüllenden und ersehnten Heil wird hier unmittelbar angesprochen, die nahe Erfüllung und Erlösung durch die kommende Gottesherrschaft angesagt. Auf diese zielt der gesamte Zusammenhang, wie vor allem der breite Abschnitt über die falsche und die rechte Sorge dartut (6, 19-34); von nun an gilt nur noch die Sorge um die Herrschaft Gottes, alle andere Sorge wird unnütz, aber auch unnötig. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Unmittelbar an die Jünger richtet sich auch das Wort vom Salz der Erde und vom Licht der Welt (5, 13-16). Das weist auf ein Ziel der Bergpredigt hin: Die Jesus nachfolgen, sollen das leben, was er ihnen ansagt. Darin geschieht bezeugender Reflex der Herrschaft Gottes von unten, vom Menschen aus. Was Gott von sich her tut, das sollen die Jünger von sich her mittun, ans Licht heben. Vollzogene Ethik Jesu erhellt die Mächtigkeit und Wirksamkeit der anbrechenden Gottesherrschaft. Nichtsdestoweniger geht die Bergpredigt im ganzen alle an, bietet sie keineswegs nur eine Spezialanweisung für einen engeren Kreis. Gerade der dreifache Anlauf auf das Ende und das Nachwort weisen daraufhin: a) Jesus weist in seiner Rede den schmalen Weg, der einzig zum Leben führt (7, 13f.). b) Er macht unmissverständlich [58] klar, daß keine allgemeine Sympathie und kein Lippenbekenntnis zu ihm zählen und auch keine Tat, die in seinem Namen vollbracht würde, ohne daß sie erfüllt wäre mit dem lebendigen Glauben. Nur das gelebte Leben, nur die Frucht des in Leben übersetzten Willens des Vaters gilt (7, 15-23). Um in der heranbrechenden Zeit der Krisis zu bestehen, gibt es keine andere Möglichkeit, als das Haus des eigenen Lebens auf das Fundament zu bauen, das Jesu Botschaft und Anruf legt (7, 24-27). Und die Menge bezieht das Gesagte in der Tat auf sich; denn – so die abschließende Rahmenleiste des Evangelisten – sie ist bestürzt über seine Worte, da er lehrt wie einer, der Vollmacht hat und nicht wie die Schriftgelehrten (vgl. 7, 28f.). Vollmächtige Rede, nicht Auslegung des bereits Gesagten durch dafür zuständige Fachleute, sondern ein neues Wort von Gott her: darum geht es in der Bergpredigt. Doch nun: was sagt dieses vollmächtige Wort? Heben wir aus der Fülle des in ihr Zusammengefaßten ein Dreifaches heraus, sozusagen drei Verdichtungen des grundlegenden Imperativs, das Leben nunmehr von Gott her zu leben und neu zu sehen. Keine Reservate mehr Gott gegenüber Damit wir in die Herrschaft Gottes, ins Himmelreich eintreten können, fordert Jesus von uns eine Gerechtigkeit, die größer ist als jene der Schriftgelehrten und Pharisäer (vgl. Mt 5, 20). Dieses „größer“ meint „radikaler“, und dieses „radikaler“ heißt: ohne Reservate und Vorbehalte. In den fünf Exempeln, die verhandelt werden – das Töten, der Ehebruch, die Ehescheidung, das Schwören, die Vergeltung, die Nächstenliebe (Mt 5, 21-47) – findet Jesus im gängigen Verhalten eine falsche Trennung vor: Bis hierhin fordert Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 der Wille Gottes etwas von dir, jenseits dieser Grenzmarke setzt dein Freiraum ein, das „neutrale“ Gebiet, in dem du es halten magst, wie es dir gefällt. Töten darf ich nicht – aber wie ich von dir denke, wie ich über dich rede, das ist meine Sache. Die Ehe brechen darf ich nicht – aber wo- [59] hin meine Blicke und Gedanken schweifen, das fällt nicht ins Gewicht. Meinen Nächsten soll ich lieben – aber wenn einer mir feindselig kommt, dann hat er das Recht des Nächsten verwirkt. Gegen solches Denken nun geht Jesus entschieden an. Gott ist der Gott des ganzen Menschen, des ganzen Lebens. Deswegen haben auch die Regungen meines Herzens, haben auch meine privaten und persönlichen Einstellungen, hat auch mein Verhalten zu dem, der mir nicht liegt oder mir Böses getan hat, etwas mit meinem Verhältnis zu Gott zu tun. Die Sonne Gottes steht nun so am Himmel, daß dadurch der ganze Raum meines Innern und meiner Welt ausgeleuchtet ist. Gottes Licht durchdringt alles. Schon jetzt fängt das an, was die Geheime Offenbarung vom Ende sagt: Es gibt kein anderes Licht, keine andere Sonne mehr in der heiligen Stadt, sondern Gott und das Lamm sind ihr Licht (vgl. Offb 21, 22ff.). Alles wird in diesem Licht durchsichtig, es gibt keine finsteren Winkel und Ecken mehr, die ausgespart wären von Gottes erhellender Nähe. Die Beziehung zu Gott wird universale Beziehung – er allein ist alles in allem, doch gerade so erhält alles einen neuen und unvergleichlichen Wert. Wenn Gott so im Zenit steht, dann kann ich meine Gabe ihm nicht darbringen, solange mein Bruder etwas gegen mich hat, ohne daß ich mich mit ihm versöhnt habe; und ich kann ebensowenig die Liebe, die Gott auch meinem Gegner entgegenbringt, diesem vorenthalten (vgl. Mt 5, 23f.44-48). Wir verstehen von hierher besser, was uns schon die klassische Moraltheologie sagt: es gibt nicht zwei Lieben, eine Gottesliebe und eine Nächstenliebe, sondern nur die eine und unteilbare Liebe, die Gott und dem Nächsten zugleich gilt. Wer Gott nicht liebt, liebt auch den Nächsten nicht und umgekehrt. Eine Sonne, die nicht nach allen Seiten ihre Strahlen sendet, ist eben nicht mehr die Sonne. Die vorbehaltlose Radikalität der Bergpredigt ist atemberaubend, erschreckend. Aber sie ist mehr noch befreiend. Wir werden befreit von unserem andauernden Messen mit zweierlei Maß, von unserer doppelten Moral. Das Leben wird einfach, so einfach, wie Jesus es im anderen Kontext der Sorglosigkeit sagt. Wenn wir uns nur noch um Gottes Reich kümmern, dann können wir alles von ihm [60] erwarten und dürfen sein wie die Lilie und der Vogel (Mt 6, 25-34). Wir haben nur noch eines zu tun: je neu, in jedem Augenblick auf Gott zu schauen und alles in seinem Licht zu sehen. Das Leben wird sehr aktiv, sehr weltzugewandt – und bleibt in allem doch Kontemplation. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an einen Angestellten, der nach harter Arbeit des Tages Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 jeden Abend seine Betrachtung vor dem Tabernakel hielt. Ich fragte ihn, wie er die Umstellung schaffe. Er sagte: Im Grunde geht es einfach; wenn ich den ganzen Tag über in meinen Nächsten dem Herrn begegnet bin, dann kann ich mit ihm auch in der Eucharistie ohne zuviel Mühe weiterreden. Die lautere Innerlichkeit Einen zweiten Aspekt desselben entfaltet Matthäus im 6. Kapitel (bes. 1-18). Alles steht im Licht Gottes, aber gerade darum hat das bloß Äußerliche keinen Wert mehr. Was zählt, ist die Gesinnung, ist das Innere, ist das Herz. Da ist keine Innerlichkeit gemeint, die sich nicht ins Werk, nicht in die Tat umsetzte. Gemeint ist vielmehr jene Lauterkeit, die sich nicht um den äußeren Effekt, nicht um die Fassade kümmert, sondern damit ernst macht: Gott sieht ins Verborgene, Gott sieht ins Herz (vgl. Mt 6, 4.6.18). Wir sprachen von Kontemplation; doch Kontemplation beginnt nicht damit, daß wir auf Gott schauen, sondern daß er auf uns schaut. Er sieht in uns hinein, in jede Falte unseres Inneren. Und wir haben nur darauf zu schauen, daß er uns sieht. Sehen, daß ich von ihm gesehen bin, sehen, daß dies allein zählt – dies ist der befreiende Durchstoß in die Wahrheit, die sich vor nichts Äußerem mehr scheut, dies der Durchstoß auch in jene Sorglosigkeit, die am Ende des 6. Kapitels zum Thema wird (Mt 6, 19-34). Mit Gott leben ohne Vorbehalt, leben im Blick auf Gottes Mich-Anschauen, diese beiden Schritte eines absolut offenen, absolut durchsichtigen liebenden Lebens mit Gott mitten in der Welt und für die Welt, das sind Grundschritte der Ethik Jesu. Gewiß [61] Schritte, die auch vom Ansatz des Alten Testamentes her erreichbar sind, Schritte aber, die jetzt, in der Ära des anbrechenden Gottesreiches, nicht mehr Spitze ethischer Anstrengung, sondern unmittelbarer Vollzug geglaubten Glaubens sind, eines Glaubens, der freilich nur geht, wenn unser Leben ein beständiges Mitgehen mit Jesus in seiner Nachfolge, in seinem Wort ist; anders gewendet: wenn wir also die Umdrehung und Umstellung unseres Lebens von uns her aufs Leben von Gott her je neu vollziehen. Gelassenheit: nur Gott Gott sein lassen und darin sein wie er Scheinbar nichts Neues bringt eine dritte Stufe, und doch tritt in ihr das Neue zutage. Uns umstellen auf das Leben von Gott her, uns anschauen lassen von ihm und sehen, daß er uns sieht; die Schranken einreißen, bis zu denen hin wir seinen Willen anerkennen, und unsere Reservate, unsere „Freiräume“ erfüllen lassen von seinem Anspruch und von seinem Licht: das heißt doch einfach Gott Gott sein lassen. Ein Gott, mit dem ich mein Leben halbiere, ist selbst nur ein Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 halber Gott und so kein Gott. Ein Gott, der mich nicht sähe, wäre ein blinder Gott und wiederum kein Gott; ein Gott, der seine Sache tut und mich mir selbst überläßt, wäre jedenfalls nicht der Gott, der in die ganze, lebendige Gemeinschaft mit mir hineindrängt, nicht jener Gott der Gottesherrschaft, die Jesus ansagt. Das Neue tut er: Er kommt auf mich zu, er tritt in mein Leben ein, er sagt mir in Jesus über all mein Ahnen, Berechnen und mein Recht hinaus zu, daß er mir gut will, daß er mir nahe sein will. Ich habe nur dies anzunehmen und ihn meinen Gott sein zu lassen. Doch wenn ich das tue, so wird diese „Selbstverständlichkeit“ zur Überraschung, zum Abenteuer. Gott Gott sein lassen heißt gewiß, ihm jegliches Recht einräumen. Den Gott der Gottesherrschaft, den Gott Jesu meinen Gott sein lassen, das aber heißt: mich beschenken lassen mit einer grenzenlosen Gelassenheit. Diese Gelassenheit hat drei Strophen. Sie heißen Sorglosigkeit – davon sprachen wir bereits –, Verzicht aufs Richten (vgl. Mt [62] 7, 1-5), unbedingtes Vertrauen, unbefangenes Bitten des guten Vaters (vgl. Mt 7, 7-11). Der Verzicht aufs eigene Urteil macht damit ernst, daß eben nur er Gott ist. Nur ihm steht es zu, ins Innerste meines Nächsten zu schauen, ich muß diesen innersten Punkt der Welt, der das Herz des Menschen ist, dafür freilassen, daß Gott allein hier eindringt. Und ich kann diesen Bereich auch freilassen. An mir ist das Lieben, etwas vom andern zu wissen, ist nur nützlich, sofern ich dadurch ihn gemäßer lieben, ihm besser gerecht werden kann (vgl. auch 1 Kor 4, 3; Röm 2, 1ff.; 1 Kor 6, 1ff.). Verzicht aufs Urteil über den Nächsten ist die innerste Reinheit des Herzens und die vielleicht sensibelste Form der Anbetung des allein göttlichen Gottes. Bitten aber, das darum weiß, daß wir empfangen, kindliches Vertrauen, das von dem, der sich uns selber gibt, auch alles andere erwartet, ist Siegel der Freiheit der Kinder Gottes. Gott Gott sein lassen, dies ist jedoch erst die negative Seite der Gelassenheit und so erst das Vorletzte in der neuen Ethik Jesu. Der solchermaßen gelassene Mensch wird in der Tat, gerade weil er leer ist von sich selbst, weil er Gott allein Gott sein läßt, zum Spiegel des Gottes, der sein Licht, der sich selbst grenzenlos uns mitteilt, der sich selbst auf- und hineingehen läßt in unsere Welt und unser Leben. Als Spiegel werden wir „Licht der Welt“, lösen wir jenen anfänglichen Appell der Bergpredigt an die Jünger ein (Mt 5, 14-16). Dann aber schlägt sich der Bogen zum Positiven, zu jener Spitze der Bergpredigt: „Ihr sollt also vollkommen sein, wie (weil) auch euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (Mt 5, 48). Sein, wie Gott ist! Uns so von ihm erfüllen lassen, daß er selbst aus Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 uns und in uns aufgeht! Das Maß Gottes unser eigenes Maß werden lassen: dies ist die Ethik Jesu. Auch hier fehlt nicht die Anknüpfung im Alten Testament. Doch was dort Spitze ist, wird hier Grund. Das Ganze wird auf diese Spitze gestellt. Nicht im Sinn einer systematischen Ableitung, nicht im Sinn eines dauernden Wiederholens dieser Forderung – aber von der inneren Dynamik der Botschaft Jesu her. Gottes Wille soll geschehen – will sagen: soll sich durchsetzen, soll seine Mächtigkeit erweisen – wie im Himmel so auf Erden. Das Reich der Himmel, das [63] Reich Gottes, die Herrschaft Gottes, das Leben Gottes kommt zu uns und will unser Leben werden. Christliches Leben ist „Praxis des Himmelreiches“, Praxis des in Jesus offenbaren, die Welt durchdringenden göttlichen Lebens. Das „Wie“ ist ein Grundwort des Neuen Testamentes. In Jesus ereignet sich vielfältig die Gleichung zwischen dem verborgenen Leben Gottes und dem Leben dieser Welt. Dies ist Offenbarung, dies Heil, dies Einbruch des Endgültigen, eben Kommen der Gottesherrschaft. Bleiben wir noch einen Augenblick bei der Aussage, daß wir vollkommen sein sollen, wie und weil der Vater im Himmel vollkommen ist. Es ist eine Aussage, die uns zur universalen Liebe aus der Haltung der Gelassenheit ermahnt. Wie Gott seine Sonne aufgehen und seinen Regen niederfallen läßt auf Gerechte und Sünder, wie er in seiner Liebe nicht reagiert, sondern den Anfang setzt, der die Engführungen unseres guten oder bösen Verhaltens sprengt, so sollen wir den je neuen Anfang machen aus der Gleichmütigkeit Gottes, aus dem je neuen ersten Schritt einer je zuvorkommenden, sich nie erschöpfenden Liebe. Das elementare Umfangensein unserer Menschenwelt von Gottes Handeln in der Schöpfung wird zum Bild dafür, wie Gott nun geschichtlich, im Anbruch seiner Herrschaft, handelt: Seine Liebe setzt den vom Menschen unabhängigen, aus seiner eigenen Hoheit aufbrechenden neuen Anfang. Sein Anfang ruft den unsern, in unserem „ersten Schritt“ vollbringen wir Gottes vorgängigen „ersten Schritt“ – hier berührt die Bergpredigt jene johanneische Ethik, die sich im Neuen Gebot verdichtet. 4.3 Weiterführung bei Johannes und Paulus Liebe ist eines der Grundworte in der johanneischen Theologie. Liebe, das meint sich verströmende, sich verschenkende, grundlos anfangende Liebe. Sie ist nicht nur eine Tat Gottes, sie ist nicht nur die „Transfusion“ Gottes in unser Leben, Gott selbst ist Liebe (1 Joh 4, 8.16). In Jesus ist diese Liebe Gottes ganz da. Sein Weg ist [64] jener der Liebe bis zum äußersten, der Hingabe bis zum letzten (vgl. Joh 13, 1). Die Liebe bewahren, in der Liebe bleiben, aus der Liebe Frucht bringen – das sind die Lebensvollzüge des Christen (vgl. Joh 14 und 15 insgesamt). Die einzelnen Schritte: wahrnehmen, daß Gott Liebe ist und seine Liebe in Jesu Lebenshingabe verschenkt, die Liebe erkennen und an sie Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 glauben (vgl. 1 Joh 4, 16); ernst machen damit, daß Gott zuerst geliebt hat und deswegen bereit sein zum Selberlieben (vgl. 1 Joh 4, 1ff.); Jesu Liebe bis zum letzten, bis zum Tod zum Grund und Maß der eigenen Liebe machen: lieben, wie er geliebt hat (Joh 13, 34; 15, 12; 1 Joh 3, 16). Sicher ist diese johanneische Perspektive der Ethik Jesu nur von Kreuz und Auferstehung her plausibel zu machen. Dort wird offenbar werden, daß jene heiter gelassene Liebe dessen, der seine Sonne aufgehen läßt über Gute und Böse und regnen über Gerechte und Sünder, sich offenbart und mitteilt zuhöchst in jener Liebe, die das Blut gibt. Dort wird sich erweisen, daß Leben gewinnen heißt: das Leben hingeben, daß Leben, göttliches Leben selbst Hingabe bedeutet (vgl. Joh 12, 25; Mt 10, 39; Mk 8, 35; Lk 9, 24; 17, 33). Die schockierende Radikalität der Bergpredigt, die mit der Seligpreisung der um Jesu Namen willen Verfolgten anhebt und auf die Forderung bedingungslosen Vergebens und bedingungsloser Feindesliebe zuläuft, bahnt diese Dynamik an. Der gemeinsame Nenner ist jenes Wie, das (in der Sprache der drei ersten Evangelien) Himmel und Erde, Lebensraum Gottes und Lebensraum dieser Welt im Ereignis der anbrechenden Gottesherrschaft und das (in der Sprache des Johannes) Jesu Leben aus dem Vater und unser Leben aus Jesus miteinander verbindet und zur Gleichung bringt. Die Ethik Jesu ist die Ethik dieses Wie. In den paulinischen Schriften finden wir Bestätigung und Verdichtung der Ethik Jesu in einer Haltung, die aus dem Glauben an den erhöhten Herrn wächst. Eine knappe Formel, im Zusammenhang der Auseinandersetzung über die Rechtfertigung, finden wir im Galaterbrief: „In Christus Jesus kommt es nicht darauf an, beschnitten oder unbeschnitten zu sein, sondern darauf, den Glauben zu haben, der in der Liebe [65] wirksam ist“ (Gal 5, 6). Immer wieder gipfelt im Gebot der Liebe das Ganze des Ethos, das der Apostel von den Gemeinden als Bezeugung und Bewährung ihres Glaubens erwartet. Das ganze Gesetz ist für Paulus in dem einen Wort zusammengefaßt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst (vgl. Gal 5, 14; Röm 13, 8-10). Liebe weist freilich über das „Du sollst!“ hinaus, sie ist vor allem die Liebe Gottes, die uns in Jesus Christus, in seiner Selbsthingabe bis zum äußersten geschenkt ist (vgl. Röm 5, 8; 8, 35.39; 2 Kor 5, 14; Gal 2, 20; Eph 2, 4). Diese Liebe wohnt in uns als Gabe des Geistes (vgl. Röm 5, 5), und auch wo diese Liebe zu unserem Weg, zu unserer Tat wird, ist sie zuerst Gottes in uns wirksames Geschenk, Gottes in uns wirkende Gnade (vgl. 1 Kor 13). Im Epheserbrief nähert sich Paulus einmal der johanneischen Formulierung des Neuen Gebotes, indem er unsere Pflicht zur Liebe darin verankert, daß und wie uns Christus geliebt hat (vgl. Eph 5, 2). Der – übrigens auch der johanneischen Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Denkweise entsprechende – Überschuß der Liebe über die Ethik ist paulinisch das Entscheidende an der christlichen Ethik. Kennzeichnend ist auch die Umkehrung der Wertordnung zwischen Erkenntnis und Liebe: Erkenntnis bläht auf, Liebe baut auf (vgl. 1 Kor 8, 1; 13, 1f.). In ihr ist das Göttliche Gottes in uns wirksam, in ihr wird Gottes Leben unser Leben. Was wir als das Grundgeschehen des von Jesus angesagten Anbruchs der Gottesherrschaft entdeckten, bestätigt sich in der Ebene des Verhältnisses zwischen Gottes Handeln und unserem Handeln, seiner Gnade und unserer Freiheit in der Lehre des Paulus von der Liebe. Der Sache nach dürfen wir auch hier von der Struktur des Wie sprechen: liebend leben wir, wie Gott lebt, liebend wird sein Leben – wir wiederholen – unser Leben. [66] 4.4 Gesamtstruktur der Ethik Jesu Wir haben einen vielschichtigen Weg durchmessen, der sich in wenigen Stationen überschauen läßt. Jesus setzt an bei dem, was wir die Bundesethik des Alten Testamentes nennen können. Er konzentriert den Appell des handelnden und schenkenden Gottes an die Antwort des Menschen auf das doppelte Grundgebot der Gottes- und Nächstenliebe. Sie ist das Ganze dessen, was Gott will, aber dieses Ganze wird universal und total unter dem Zeichen der von ihm angesagten Gottesherrschaft. Die ganze, alle und alles durchdringende Nähe Gottes fordert die Überwindung aller sektorenhaften Einengung des Anspruchs Gottes und alle Äußerlichkeit einer bloß formalen Erfüllung seines Willens. Gott Gott sein lassen und darin seine Zuwendung zum Menschen und zur Welt mittun, in radikaler Gelassenheit grenzenlosen Vertrauens und Liebens, dies ist der unverwechselbare Akzent, den Jesus der altbundlichen Ethik der zweieinen Liebe gibt. Dieser Anspruch heißt in letzter Tiefe: lieben, wie Gott liebt, leben, wie Gott lebt, Gottes Leben selber mitleben und so weitergeben. Das konkrete Maß Gottes ist Jesus, seine Liebe bis zum äußersten – und so spitzt sich johanneisch die Ethik Jesu zum Neuen Gebot zu, das uns Jesu erlösende Liebe mittun und weitertun heißt. Hier hört Ethik freilich auf, bloße Ethik zu sein, sie wird Anwesenheit der Liebe, die Gott schenkt und Gott ist, darin aber Zusammenklang der göttlichen Freiheit und unserer menschlichen Freiheit. 4.5 Liebe, wie geht das? Kehren wir zurück zu unserer Grundfrage: Glauben – wie geht das? Glaube geht, indem er in der Liebe wirksam wird; so können wir die Formel des Galaterbriefs anwenden. Wie aber geht diese Liebe? Versuchen wir ihren Gang in sieben Stichworten uns plastisch vor Augen zu stellen. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 [67] 1. Alle lieben! Gottes Liebe kennt keine Ausnahme. Solange ich einen von meiner Liebe ausschließe, liebe ich nicht. Liebe ist unteilbar. 2. Immer lieben! Liebe ist keine Sonderaktion, kein Gipfel sittlicher Anstrengung oder geistlicher Ergriffenheit. Liebe muß vielmehr Wesens- und Lebensform werden. Sie kennt keine Ferien, sie kennt so wenig Unterbrechungen, wie das Leben Unterbrechungen duldet. 3. Immer als erster lieben! Liebe ist so sehr Gottes Wesen, daß ich nur dann liebe, wenn ich wie er grundlos, als erster liebe. Liebe findet nur statt, wenn ich anfange und nicht warte, bis die Voraussetzungen erfüllt sind. Liebe fängt nur mit der Liebe an. 4. Lieben bis zum Ende, bis zum äußersten! Liebe kennt kein: bis hierhin und nicht weiter. Es gibt keine Erkenntnis und keine Erfahrung, welche die Liebe falsifizieren könnten. Der Tod hat scheinbar die Liebe Jesu falsifiziert – und gerade deshalb und gerade seither hat die Liebe immer recht. Liebe bewahrt freilich nicht vor dem Tod oder der Erfolglosigkeit; vielmehr gilt: „Wenn ich erhöht bin, werde ich alle an mich ziehen“ (Joh 12, 32). Erst im Sterben kommt die Liebe zu ihrem radikalen neuen Anfang, zur Auferweckung, zur Fruchtbarkeit. Grundgesetz der Liebe ist das Gesetz vom Samenkorn (vgl. Joh 12, 24). 5. Lieben, ohne etwas zu erwarten! Liebe erwartet nicht, Liebe benutzt den anderen nicht, sondern Liebe schenkt einfach, absichtslos. Was bei der Liebe herauskommt, ist allein Gottes Sache. Kein Brosamen Liebe kann verlorengehen, denn Gott ist Liebe. Doch welche Frucht die Liebe bringt, dürfen wir getrost Gott und der Freiheit dessen, dem die Liebe gilt, überlassen. Ich aber soll lieben! 6. Nicht erst erkennen, sondern erst lieben! Nur die Liebe erkennt, nur die Liebe findet zur Wahrheit. Seit Gott geliebt hat bis zum äußersten und weil Gott Liebe ist, gibt es keine Wahrheit, die nicht Liebe wäre. [68] 7. Nicht Liebe „haben“, sondern Liebe „sein“! Es geht nicht an, dazusein und meine Eigenschaften zu haben und unter ihnen auch die Eigenschaft Liebe. Liebe ist nur da, wo sie mich in sich verwandelt, wo sie der Rhythmus, der Gang, die Mitte meines Lebens und Wesens wird. So erst liebe ich, wie Gott liebt, wie Jesus liebt. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 [69] 5. Das Kreuz 5.1 Ereignis – Deutung – Wirkung Die Botschaft Jesu von der hereinbrechenden Gottesherrschaft geht nicht nahtlos in ihre Erfüllung über, sie läuft durch die Krisis des Kreuzes hindurch. Die Botschaft von Jesus dem Christus und Herrn ist Botschaft vom Gekreuzigten, der auferweckt ist, sie kann sich nie ablösen vom Grund des Kreuzes. Glauben ist Glauben an die Herrschaft und das Heil Gottes durch das Kreuz hindurch, gelebter Glaube, Nachfolge ist Kreuzesnachfolge. Ethik Jesu ist zutiefst gekreuzigtes Ja zum Willen Gottes, Liebe, die bis zum Kreuz geht, weil sie nur so Liebe ist, wie Gott liebt, wie Jesus liebt. Das Kreuz also ist der Knotenpunkt. Christliche Verkündigung hat das von allem Anfang an gewußt und damit ernstgemacht. Sie hat sich stets davon abgesetzt, das Kreuz nur als eine Episode statt es als Grund und Mitte zu verstehen, und erst recht hat sie sich davon abgesetzt, das Kreuz nur als Schein zu verstehen. Und doch gibt es – außer dem Geheimnis Jesu selbst – wohl keinen anderen Punkt in der elementaren christlichen Glaubensüberlieferung, der in eine solche Vielfalt von Deutungen, von „Theologien“ hinein ausstrahlt wie gerade der Kreuzestod Jesu. Die kritische Sorge legt sich nahe, die Vielzahl der Deutungen, die Fülle der Theologien beinhalten einen Überschuß der Interpretation über das Ereignis. Hat nicht die gegenteilige Vermutung zumindest ebensoviel recht: das Ereignis habe seinen Überschuß über jede [70] mögliche Deutung und über alle Deutungen zusammen? Nun, wer behutsam und offen über geschichtliche Ereignisse nachdenkt, wird wohl folgendem Verständnis den Vorzug geben: Das Ereignis ist der Überschuß seiner Deutungen über das Ereignis selbst und zugleich der Überschuß des Ereignisses selbst über seine Deutungen. Lösen wir diesen aufs erste kompliziert erscheinenden Satz ein wenig auf. Eine Sache zeigt, was sie ist, indem wir etwas mit ihr anfangen – erinnert sei an den Beginn unserer Reflexionen beim spielenden Kind. Sie wird immer mehr, was sie ist, indem wir immer mehr mit ihr anfangen. Indem wir mit ihr dies und das anfangen, deuten wir sie, geht sie uns auf, erhält sie ihre Kontur und ihr Profil. Wenn man aber alles mit ihr angefangen hätte, was man mit ihr anfangen kann, dann wäre sie sozusagen verbraucht, fertig nicht im Sinn von vollendet, sondern im Sinn von erledigt. Sie ist interessant, weil man immer noch mehr, immer noch Neues oder immer neu, in neuen Situationen und Zusammenhängen dasselbe mit ihr anfangen kann. Was ich mit der Sache anfange, ist mehr als bloß die Sache, die Sache ist aber auch mehr als das, was ich mit ihr anfange. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Und wie es mit den Sachen ist, so ist es erst recht mit den Ereignissen. Sie bringen etwas in Gang, und solange das nicht abgeschlossen ist, was sie in Gang bringen, solange sie die Dynamik haben, immer Neues in Gang zu bringen, sind diese Ereignisse noch nicht „fertig“. Sie sind wie eine Quelle, die mehr ist als bloß das Wasser, das ihr entströmt. Und doch ist das Wasser, das ihr entströmt, nicht nur der Überschuß der Quelle, sondern auch der Überschuß über die Quelle. Ein Ereignis verstehen heißt, banal ausgedrückt, von dem her, was in ihm drinnensteckt, verstehen, was aus ihm herauskommt, und zugleich umgekehrt von dem her, was aus ihm herauskommt, verstehen, was in ihm drinnensteckt. Warum stellen wir diese so allgemeine Erwägung an? Um aus dem einen zentralen Ereignis des Kreuzes ein wenig besser die Fülle jener Deutungen zu verstehen, die für dieses Kreuz uns im Neuen Testament und in der Geschichte des Glaubens begegnen, und um in der anderen Richtung in diesen Deutungen und durch sie hindurch das je größere Geheimnis des Kreuzes besser zu verstehen. [71] 5.2 Das Kreuz im Gang der Evangelien Nicht nur die einzelnen Aussagen des Neuen Testamentes über das Kreuz sagen aus, was das Kreuz ist und bedeutet, sondern auch der Stellenwert, die äußere Position der Kreuzesbotschaft in der neutestamentlichen Darstellung des Glaubens. Nehmen wir die Evangelien in den Blick. Sie alle laufen zu auf die Leidensgeschichte und das Auferstehungszeugnis als den abschließenden Höhepunkt. Das entspricht nicht nur der biographischen Stellung von Tod und Auferstehung im Leben und Wirken Jesu, sondern dieses Ende gibt auch die Erzählperspektive für das Ganze ab und bestimmt seine Ordnung. Überscharf gesagt: Nicht, weil Tod und Auferstehung zum Schluß des Lebens Jesu kommen, bilden sie die Spitze der Evangelien, sondern weil diese Spitze zugespitzt zur Geltung kommen soll, werden die vorlaufenden Linien auf sie hin durchgezogen, wird die Vorgeschichte von Kreuz und Auferstehung berichtet, zumindest: so berichtet. Sehen wir ab von den Vorbereitungen, die Lukas und Johannes bereits in ihren ersten Kapiteln treffen (vgl. Lk 2, 34f. 46-49; Joh 1, 11.29.36; 2, 19-22; 3, 1318), so fällt doch bei allen vier Evangelien auf: Das Hinlaufen des öffentlichen Wirkens Jesu auf die Passion ist ein entscheidendes Gliederungsprinzip. In den drei ersten Evangelien Die drei ersten Evangelien bringen, jeweils im Anschluß an den Gipfelpunkt des Petrusbekenntnisses zu Jesus als dem Messias, drei einander folgende Ankündigungen Jesu von seinem Leiden und seiner Auferstehung. Am schärfsten Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 tritt dieser Rhythmus bei Markus zutage, Matthäus und vor allem Lukas ordnen zwischen der zweiten und dritten Ankündigung eine Fülle anderen Stoffes an; die beiden ersten Ankündigungen werden noch in Galiläa, die dritte jeweils auf dem Weg nach Jerusalem plaziert. Dieser „Weg“ hin zu den letzten Tagen in Jerusalem und innerhalb dieser letzten Tage dann hin zum Paschafest unterstreicht kontrapunktisch dasselbe, was im [72] Dreimal des Hinweises auf Leiden und Auferstehung ausgesagt wird. Zumal Lukas (vgl. den Drehpunkt 9, 51) versteht Jesu Weg als Weg in seinen Tod. Was sagt solche Gliederung innerhalb der drei ersten Evangelien? Einmal ist wichtig die Stellung der ersten Leidensweissagung nach dem offenen Bekenntnis des Petrus, daß Jesus der Messias, daß er jener ist, der von Gott her die entscheidende Rolle im Kommen seiner Herrschaft innehat. Das Leiden wird in Kontrast zu dieser Rolle im Blick auf die Erwartung der Jünger und in Entsprechung zu dieser Rolle in der Perspektive Gottes gesetzt; das hebt besonders der Disput zwischen Jesus und Petrus am Anschluß an die erste Leidensankündigung heraus (vgl. Mk 8, 32f.; Mt 16, 22f.). Zusätzlich wird diese Position der ersten Leidensweissagung noch betont durch das, was jeweils nach einem knappen, aber wichtigen Zwischenglied folgt: die Verklärung Jesu, die wiederum auf Tod und Auferstehung Jesu hinweist und darin die Fassungskraft der Jünger laut Markus und Matthäus übersteigt (Mk 9, 9f.; Mt 17, 9.12b; insgesamt Mk 9, 2-8; Mt 17, 1-8; Lk 9, 28-36). Die Leidensansagen Jesu stehen in einem für die Interpretation wichtigen Zusammenhang mit Anweisungen Jesu an die Jünger. Die erste Ankündigung bietet überall den Evangelisten den Ansatzpunkt, den Kreuzweg als Weg der Nachfolge auch für die Jünger herauszustellen (Mk 8, 34 - 9, 1; Mt 16, 24-28; Lk 9, 23-27). Auf die zweite Ankündigung folgt – nur bei Matthäus unterbrochen durch ein kurzes Zwischenstück – die Episode vom Rangstreit der Jünger, den Jesus damit auffängt, daß er das Kleinsein als das wahre Großsein hinstellt (Mk 9, 33-37; Mt 18, 1-5; Lk 9, 46-48). Markus wie Matthäus lassen unmittelbar auf die dritte Ankündigung die Bitte der Zebedäussöhne um die Plätze zur Rechten und Linken Jesu und sein Wort an die Jünger folgen, das seine Mission als Dienst und sein kommendes Sterben als sühnende Hingabe für die Vielen deutet. Nur Lukas hebt dieses ab und rückt es in den anderen Zusammenhang des letzten Abendmahles (vgl. Mk 10, 35-45; Mt 20, 20-28; Lk 22, 24-26). Jesu Tod hat also in der Theologie der drei ersten Evangelien zu tun mit dem Plan Gottes und der Sendung [73] Jesu für das Heraufkommen der Gottesherrschaft, mit unserem Heil und unserer Erlösung, mit unserem Leben als Jünger, die auf den Weg der Nachfolge als Kreuzesnachfolge gewiesen sind. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Bei Johannes Das vierte Evangelium ist deutlich anders angelegt als die ersten drei, doch in einem wichtigen Punkt entspricht es ihnen: in der Stellung der Passion Jesu. Nicht nur, daß sie auch bei Johannes der alles bestimmende und ausrichtende Schlußpunkt des Ganzen ist, sie markiert auch den Dreh- und Mittelpunkt und somit die Gliederung des Wirkens Jesu in der johanneischen Darstellung. In den großen Reden des 3., 10. Und 12. Kapitels (Joh 3, 13-21; 10, 1-18; 12, 23-33) wird die Passion als Hingabe und Erhöhung ausdrücklich angesprochen. Die Mitte und Spitze des Aufbaus verbirgt sich jedoch in der Dramatik des 6. Kapitels. Die Speisung der Fünftausend (6, 1-15) führt zum Mißverständnis Jesu als des Brotkönigs. Dieses Mißverständnis arbeitet er auf in der Rede vom Lebensbrot (6, 22-31). Doch gerade hier erfolgt der Umschlag von der Begeisterung zum Ärgernis. Und dieser Umschlag hängt wiederum zusammen mit der Passion, der Passion nicht in sich, sondern in ihrer sakramentalen Weitergabe: Jesus gibt nicht etwas anderes als Brot des Lebens, sondern sich selbst. Das heißt aber in äußerster Konsequenz: sich selbst als Speise. Sein Fleisch und Blut werden Speise und Trank. Diese Rede ist hart. Hart ist sein absoluter Anspruch, als Person der Heilsbringer schlechthin, das Brot des Lebens zu sein. Hart ist seine Weise, dieses Heil zu wirken in jener Selbsthingabe, die Hingabe des Lebens, ja Verwandlung des eigenen Lebens in Speise für die anderen bedeutet. Hier sind die Jünger zum äußersten herausgefordert und folgt die Entscheidung (6, 60-71). Aus der österlichen Perspektive, vom sakramentalen Weiterwirken der Passion und Auferstehung her, wird die Dramatik ihrer Vorgeschichte im Leben und Wirken Jesu vor Ostern und auf Ostern hin erkannt. So schließt sich auch ans 6. Kapitel unmittelbar die Auseinandersetzung Jesu mit seinen Brüdern [74] über seine Stunde und alsdann der Wechsel des Schauplatzes seines Wirkens von Galiläa nach Jerusalem an (vgl. Joh 7, 1-13). Es bestätigt sich: Das Zulaufen der Verkündigung und Wirksamkeit Jesu auf das Kreuz ist jener Klärungs- und Scheidungsprozeß, in dem der Sinn seiner Sendung hervortritt und die Glaubensentscheidung herausgefordert wird. Der Anstoß, den die Menschen an Jesus nehmen, ist dabei ausgerechnet der Anstoß an jener Niedrigkeit, die Ausdruck der größten Liebe, jener Liebe ist, die bis zum letzten und äußersten geht. 5.3 Wege zum Kreuz Das Kreuz ist Mittel- und Zielpunkt, der die Botschaft eint. Gerade so ist verständlich, daß es sich in vielen Perspektiven zeigt und daß viele Wege auf es zulaufen. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Weg der kommenden Gottesherrschaft In großer Bereitschaft sind die Jünger gefolgt, als der Herr sie rief. Sie haben nicht nach dem und jenem gefragt, aber sie haben sich natürlich ihre Hoffnungen gemacht. Aus Petrus, der von seinem eigenen Boot weggelaufen ist und nun sozusagen schon mit Jesus „in einem Boot sitzt“, bricht es hervor: „Du weißt, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt. Was werden wir dafür bekommen?“ (Mt 19, 27). Jakobus und Johannes interessieren sich für die Plätze zur Rechten und Linken des Meisters im heraufkommenden Reich (vgl. Mk 10, 35-40). Dies und vieles mehr deutet auf die Einstellung: „Jesus, du hast das Reich angesagt, deine Rede zeigt, daß sie in Vollmacht geschieht, deine Wunder beglaubigen es. Was nun?“ Es widerspricht jedenfalls jeglicher Erwartung und Vermutung, daß auf diesen Anfang und seine Verheißung das Kreuz kommt. Es wird zum Anstoß schlechthin, zur scheinbaren Widerlegung des Anspruchs Jesu. Die neutestamentliche Botschaft stellt aber das Kreuz heraus als [75] den Weg, auf dem sich der Plan Gottes durchsetzt und erfüllt, auf dem seine Herrschaft wahrhaft herankommt. Sich aufs Kreuz einstellen heißt, sich auf die andere Logik Gottes einstellen. Das ist Inhalt der Antworten, die Jesus dem Unverständnis der Seinen für seine Leidensansage entgegenhält: Ihr solltet begreifen, so und nicht anders erfüllt sich, was ich euch von Anfang an sagte, so und nicht anders kommt Gottes Herrschaft. Der Kreuzestod Jesu hat freilich mit seiner Verwerfung durch die Repräsentanten Israels zu tun. Da sie ihn nicht erkannten und nicht anerkannten, ging Jesus ans Kreuz – aber im Kreuz ist Gottes Herrschaft bei uns angekommen, ist Gottes neue Zeit in unsere Zeit hinein durchgebrochen. Alle weiteren Deutungen und Theologien des Kreuzes liegen in dieser „Bandbreite“ eingeschlossen: Kreuz als der Weg, auf dem Gott seine Herrschaft und somit das Heil der Menschen heraufführt. Damit ist das Kreuz auch unerläßlicher Weg des Glaubens. Nur der glaubt an die in Jesus angesagte Herrschaft Gottes, der sie sich durchs Kreuz hindurch schenken läßt. Sie sich schenken lassen, das fordert aber ebenso – nach der Auskunft aller Schichten des Neuen Testamentes –, daß der Glaubende den Weg des Kreuzes mit Jesus als seinen eigenen Weg mitgeht. Weg Jesu in die Erniedrigung und in die Verherrlichung Das Kreuz ist Weg Gottes. Das Kreuz ist aber unmittelbar und zunächst Weg Jesu. Er wird für seine Botschaft und seinen Anspruch ans Kreuz geschlagen, in Treue zu seiner Sendung handelt er es sich ein, den Weg des Kreuzes bis zum Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 bitteren Ende gehen und am Kreuz sterben zu müssen. An ihm bestätigt sich aber auch, daß der Kreuzweg wahrhaft der Weg Gottes ist, der Weg seiner Mächtigkeit: Er, der in den Tod Ausgelieferte, ist der von den Toten Erweckte, Verherrlichte, Erhöhte, er ist der Herr. Jesus ist nicht nur Werk- [76] zeug des Vaters, sondern in ihm ist der Vater da, der Vater ist der Inhalt seines Lebens. Gottesherrschaft kommt nicht blindlings über uns – und Jesus wäre der für ihre Ansage „gebrauchte“ Bote. Sondern Jesus ist das Kommen der Gottesherrschaft. So kann auch das Kreuz nicht nur Geschick sein, das über Jesus hereinbricht, sondern in all seiner Befremdlichkeit gehört es in die Beziehung Jesu zum Vater. In der Sprache des Neuen Testamentes: Jesus unterwirft sich diesem Willen des Vaters, er trinkt den Kelch, den er ihm zumutet (vgl. Mk 10, 38f.; Mt 26, 39; Mk 14, 36; Lk 22, 42; Joh 18, 11). Die Passion hebt in allen vier Evangelien unter diesem Vorzeichen an, und in den drei ersten wird ausdrücklich die leidvoll und demütig gehorsame Auslieferung an den fremden Willen des Vaters uns vor Augen gestellt. Jesus ist der Gehorsame (vgl. Phil 2, 8; Hebr 5, 8). Jenes Dienen, als das in den Evangelien Jesu Leiden gedeutet wird (Lk 22, 24-30; Joh 13, 1-20; Mk 10, 41-45; Mt 20, 24-28), ist zwar Dienst für die Menschen, aber es ist Dienst aus dem Gehorsam gegenüber Gott. Die Verbindung mit den Aussagen über den Gottesknecht bei Deuterojesaia (bes. Jes 53) unterstreicht diesen Gehorsam gegenüber Gott. Das Schicksal des alttestamentlichen Frommen und der Propheten verdichtet und steigert sich im Leiden Jesu: Er muß dieses Leiden auskosten bis zum Ende, er wird nicht vor dem Tod, sondern aus dem Tod errettet, den er in aller Abgründigkeit und Verlassenheit erleidet. Aus dem Tod aber wird Jesus in die Herrlichkeit des Vaters erweckt. So wenig seine Auferweckung nur ein privates Schicksal ist, sondern Anfang unseres Heils, unseres neuen und ewigen Lebens, so sehr ist sie doch auch Bestätigung Jesu und seiner Botschaft und seine Verherrlichung (vgl. etwa die Apostelreden in der Apg, z. B. 2, 22-36; 3, 13-26; 10, 34-43). Das Kreuz als Weg Jesu in die Herrlichkeit erfährt dort im Neuen Testament seine höchste Potenzierung, wo der Eintritt in die Herrlichkeit erfahren wird als Heimkehr in jene Ursprungs-Herrlichkeit, aus der heraus die Erniedrigung bis zum Tiefpunkt des Kreuzes erfolgte (vgl. Joh 17, 4f.; 13, 1; 16, 28; Phil 2, 6-11; Hebr 2, 5-10). [77] Gottes Weg wird hier als Jesu Weg von Herrlichkeit zu Herrlichkeit durch die Erniedrigung verstanden. Wo die inneren Anlässe zu solcher Deutung liegen, wird sich uns vom Ende unseres Mitgehens her erschließen: Kreuz als Weg der größeren Liebe. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Weg der Erlösung Wozu wird Jesus der Weg des Kreuzes zugemutet? Zu unserem Heil. Noch einmal sei erinnert an die Verknüpfung des Leidens Jesu mit dem Motiv des Dienens. Jesus soll sein Blut als Lösegeld für die Vielen hingeben. Dasselbe bezeugen die Deuteworte über den Kelch beim Abendmahl (Lk 22, 19f.; 1 Kor 11, 24f.; Mt 26, 28; Mk 14, 24), dasselbe auch jene Demuts- und Gehorsamshaltung, die Matthäus mit Jesu Bitte um die Taufe durch Johannes verbunden sieht (Mt 3, 1315). Solche Haltung ist auf Gott orientiert, gilt von ihm her aber jenen, zu denen Jesus gesandt ist, um ihnen Herrschaft und Heil Gottes nahezubringen und ihre Last mitzutragen. Das Motiv vom „Lamm Gottes“ (Joh 1, 29 und 36) führt ausdrücklich diese Linie weiter. Die Logik der Gottesherrschaft: Gott will in unserer Welt, in unserem Leben sich uns als Quelle jener Zukunft erschließen, die wir nicht vermögen. In seiner Zukunft soll unsere bloße „Vergangenheit“ – Schuld, Tod, Isolierung – aufgezehrt werden. Genau das geschieht grundlegend in Jesu Weg durch das Kreuz zur Herrlichkeit. Also trägt Jesus die Last des Todes, der Schuld, der Isolierung für uns. Im Gehorsam Jesu tritt das Schicksal der Menschheit, Tod und Schuld der Menschheit in den Anbruch der Gottesherrschaft ein, um in sie und durch sie in neues Leben verwandelt zu werden. Diese Deutung wird gar unumgänglich, wenn die Perspektive auf das Kreuzesgeschehen aus der eigenen Betroffenheit gewonnen wird wie bei Paulus, der sich von der unverdienten Gnade des erhöhten Herrn und darin eben von seiner Liebe, von seiner Hingabe ereilt weiß. Das „für mich“, das er so tief und prägend an der Zuwendung des gestorbenen und erhöhten Herrn abliest, ist aber – und auch dies ist konsequent – keine bloß private Besonderheit, [78] sondern es gilt allgemein, für jeden, so sehr dies Paulus am eigenen Leben und Erfahren aufgeht. Wir alle – durch die Sünde getrennt von unserem Ursprung, ausgeliefert an unseren eigenen Versuch, Ursprung unserer Zukunft, unserer Gerechtigkeit, unseres Bestehens vor Gott und Welt zu sein – „ermangeln der Herrlichkeit Gottes“ (Röm 3, 23). Die Situation des Paulus ist die unsere: „für uns“ ist Christus gestorben, persönlich für mich. Immer wieder, in vielfacher Weise, wird auf die Bedeutung des Todes Jesu als Opfer und Sühne für uns und unsere Sünden in den neutestamentlichen Schriften hingewiesen (es sei nur an wenige Stellen aus unterschiedlichen Schriften des Neuen Testamentes außerhalb der Evangelien hier erinnert: Röm 3, 25; 1 Kor 15, 3; Gal 1, 4; Eph 1, 7; Kol 1, 14; 1 Tim 2, 6; 1 Petr 3, 18; 1 Joh 1, 7; 2, 2; 4, 10). Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Die Reflexion im Neuen Testament führt aber weiter als bis zur Aussage: Jesus erleidet ein Schicksal für uns. Sie durchdringt diese Erkenntnis mit der sie vertiefenden und begründenden: Jesus erleidet für uns unser eigenes Schicksal, er erleidet in seinem das unsere. Um einige Ausformungen dieses Gedankens zu erwähnen: Jesus hat unsere Sünden mit seinem Leib auf das Kreuz hinaufgetragen (1 Petr 2, 24). Er hat uns vom Fluch erkauft, indem er selber den Fluch auf sich nahm, zum Fluch wurde (vgl. Gal 3, 13). Ihn, der keine Sünde kannte, hat Gott für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gerechtigkeit Gottes werden in ihm (vgl. 2 Kor 5, 21). Wie Gott nicht nur „über“ Jesus handelt, sondern in ihm sich in unser Spiel bringt, so steht Jesus nicht nur für uns neben uns, sondern in sich, in seinem Kreuzestod, trägt und leidet er uns, unsere Schuld, unseren Tod, unsere Verlassenheit aus. Wir sind in ihm. So kommt Gottes Herrschaft: Jesus steht zugleich ganz auf der Seite Gottes und ganz auf der unseren. Gott und wir sind im einen, einzigen Sterben Jesu präsent (vgl. bes. 2 Kor 5, 15-21; auch der Begriff des Mittlers 1 Tim 2, 5; Hebr 8, 6; 9, 15). [79] Weg der Liebe Es fehlt noch ein Schritt auf diesem Weg, ein Schritt, der den Anfang einholt und zugleich deutend übersteigt: Jesu Tod ist Weg der Liebe. Daß Gott Jesus unser Schicksal zumutet, ist Liebe, äußerste Liebe zu uns. Besonders eindrücklich wird uns dies im Römerbrief vor Augen gestellt (vgl. Röm 5, 6-8; 8, 31 und 8, 3139 insgesamt). Ebenso hat hier die johanneische Theologie des Todes Jesu ihre Spitze (vgl. Joh 3, 16; 1 Joh 4, 9 und 4, 7-16 insgesamt). Dort, wo die Liebe Gottes zu uns als Grund und Inhalt des Kreuzestodes Jesu ausgesagt ist, wird aber noch eine weitere Deutung mitgesagt: der Tod Jesu ist Weg seiner Liebe, Tat seiner Liebe. Paulus will sein ganzes Leben nur noch in den Dienst und in die Liebe dessen stellen, der ihn geliebt und sich für ihn hingegeben hat, er, Jesus soll in ihm leben (vgl. Gal 2, 19, 20). Johannes eröffnet die Passion mit dem Vorspruch, daß Jesus, da er die Seinen liebte, sie bis zum äußersten liebte (vgl. Joh 13, 1.5.13ff.). Die Liebe Gottes und die Liebe Jesu lassen sich nicht auseinanderreißen, Jesus ist nicht nur ein Werkzeug der Liebe Gottes, sondern er tut mit, was der Vater tut. Das Leiden Jesu ist doppelte Tat: Tat Gottes und Tat Jesu als Tat der einen, umfassenden Liebe, die Gott uns schenkt. Wo der Tod Jesu als Tat der Liebe Gottes vorgestellt wird, da liegt es in der inneren Konsequenz, daß von Jesus als vom Sohn, gar vom eigenen, einziggeborenen Sohn die Rede ist. Gott bleibt nicht draußen und darüber, sondern er ist „drinnen“ im Tod Jesu: in ihm geschieht Gottes Selbsthingabe. Es ist eine Aussage über unser Heil, ja über uns selbst, über unseren Wert, wer Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Jesus ist. Daß Gott einen anderen für andere sterben läßt – warum sollte dies die höchste Liebe sein? Daß er den eigenen Sohn dahingibt, daß im Tod Jesu etwas mit Gott selbst „geschieht“, daß er sich einläßt in unser Geschick: dies, erst dies ist die höchste Liebe, dies, erst dies ist aber auch die ganze Konsequenz von Gottesherrschaft, wenn anders sie eben bedeutet, daß Gott selber aufbricht aus der Peripherie ins Zentrum, daß er sich in die Mitte unseres Lebens begibt. Die Aussage darüber, wer Jesus ist, das Dogma von ihm, dem [80] Gott und Menschen zugleich, ist also nicht abseitige oder zweitrangige Spekulation und Rechthaberei, sondern verdankendes Ernstnehmen dessen, wie weit Gott geht, wie ganz uns Gott entgegengeht. 5.4 Die „Logik“ des Kreuzes Daß das Kreuz in all seiner Rätselhaftigkeit, in seinem elementaren Widerspruch zur Erwartung auch der Jünger angesichts der Botschaft Jesu vom kommenden Gottesreich einer tieferen Logik Gottes entspricht, davon kündet die Schrift allenthalben. Es „mußte“ so kommen. Dieser Ausdruck, der auch bei Markus und Matthäus seinen Anhalt hat (vgl. Mk 8, 31; Mt 16, 21), steht für Lukas in der Mitte. Glaubensgehorsam heißt, sich hineingeben in das, was von Gott her so kommen muß, Glaubensverständnis heißt, in dem noch so ungewohnten Gang der Dinge die planvolle und zielstrebige Hand Gottes anerkennen (vgl. zum „Muß“ im Kontext des Kreuzes bei Lukas vor allem 2, 49; 9, 22; 17, 25; 22, 37; 24, 7.26.44; Apg 17, 3). Dieses Müssen bindet das Kreuzesgeschehen zurück an den heilwirkenden Willen des Vaters und weist zugleich nach vorne, hin zur Herrlichkeit als der Folge der Erniedrigung. Eng verwandt und verwoben mit diesem „Muß“ ist ein anderes Motiv, dem nachzugehen unseren Rahmen sprengte: Die „Schrift“, die Verheißung Gottes im Alten Testament, muß eingelöst werden – und gerade das Kreuz steht in der Linie ihrer Erfüllung (vgl. bes. die Matthäuspassion). Achten wir einmal auf einige Verstehensmodelle neutestamentlicher Schriften, die uns – über die beiden genannten Motive hinaus – in die Logik des Kreuzes, genauer der Gottesherrschaft im Kreuz einführen. [81] Von der Bedrängnis zur Hoffnung Grundlegend erscheint die „umgekehrte Logik“ des christlichen Vollzugs, in die uns Paulus im Römerbrief einweist (Röm 5, 1-5). Hier wird die Konsequenz aus der Tat jener unbegreiflichen Liebe Gottes gezogen, daß er seinen Sohn für uns Sünder hingibt (Röm 5, 6-11). Wenn er an uns so handelt und wenn dieses Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Handeln in uns selber wirksam wird durch den Geist, der in uns wohnt und in dem diese Liebe Gottes uns erfüllt und durchdringt (5, 5b), so kann unser eigenes Reagieren auf die Umstände nur in einer totalen Umkehrung der „normalen“ Verhaltensmuster bestehen. Bedrängnis kann dann nicht Enttäuschung, Enttäuschung nicht Resignation, Resignation nicht Verzweiflung bewirken. Die neue Logik führt genau in die andere Richtung: Aus Bedrängnis wächst Geduld, aus Geduld Bewährung, aus Bewährung Hoffnung, eine Hoffnung, die sich nicht enttäuschen, nicht falsifizieren läßt, weil eben ihr Grund die je größere Liebe Gottes ist. Querschläge, Bedrängnisse, Enttäuschungen bauen zwar vorschnelle Erwartungen ab, aber unter diesen Erwartungen tritt zutage, was durchträgt: die Geduld, wörtlich übersetzt aus dem Griechischen das „Darunterbleiben“, Bleiben unter dem Handeln Gottes, in seiner größeren und mächtigeren, weiterführenden Nähe, die sich nicht in dieser oder jener Aktion, sondern in einem haltenden und tragenden Dasein für uns und mit uns bewährt. Und so wächst gerade auch unsererseits jene Bewährung in der Gelassenheit, die nicht mehr auf Stöße und Anstöße reagiert, sondern sich in der Hoffnung verankert, die keine Gründe mehr kennt, um so besser aber den Grund. Diese selbe Logik ließe sich auch aus dem 8. Kapitel des Römerbriefs erheben, sie steht auch im Hintergrund des 1. Kapitels des 2. Korintherbriefs, des großen „Trostkapitels“ bei Paulus. Ist diese Logik des christlichen, Christus nachfolgenden Leidens und Hoffens nicht auch und zuerst die Logik des Kreuzes Christi selbst? Was Paulus im ersten Kapitel des 1. Korintherbriefes über die Torheit und Schwäche des Kreuzes sagt, in welchen sich Gottes Weisheit und Kraft durchsetzen und vollenden, spricht jedenfalls [82] dafür. Das Kreuz ist der Skandal für jenen, der Erklärung und Erfolg sucht. Darin daß Offenbarwerden, daß menschliches Nachdenken und auch ein frommes Paktieren mit dem in meinem Erfolg seine Macht erweisenden Gott das Dilemma menschlichen Lebens und menschlicher Geschichte nicht lösen können. Wo Gott alles in allem werden, wo seine Herrschaft aufgehen, wo er selber die aktive Mitte meines Lebens und der Geschichte werden soll, da bieten sich geradezu das Unbegreifliche und Ohnmächtige an, damit in ihm Gott sichtbar macht: er ist der allein Wissende und Mächtige. Und dies nicht in einer kleinlichen Größe, die dem Menschen das Seine nehmen will, sondern in jener liebenden Größe, die den Menschen dazu herausruft, sich und das will sagen sein Wissen und Können und Erwarten zu lassen und so in die Größe des schenkenden, liebenden Gottes hineinzuwachsen. Der im Kreuz Christi schwache und törichte Gott ist der größere, göttlichere Gott. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Integration Brechen wir hier ab und schauen auf einen scheinbar ganz anderen Gedanken. Indem alles anders kommt, als man es zunächst erwarten kann, indem Jesus von den Anführern seines Volkes verworfen wird, gekreuzigt wird und nach seiner Auferstehung zum Vater heimkehrt, erfüllt sich der göttliche Heilsplan: Heil für alle, Mission der Heiden, Eintritt der Völker in die Fülle des in Christus geschenkten Lebens. Dieses „Muß“, dieser Sinn des sich im Kreuz vollendenden Schicksals der Botschaft und des Wirkens Jesu ist auf vielfältige Weise im Neuen Testament bezeugt (vgl. Mk 13, 10; für andere Zeugnisse der synoptischen Überlieferung Mt 8, 11f.; Lk 13, 28. 29; sodann Röm 9-11; Joh 10, 16; 11, 52; 12, 20-25; vor allem freilich die Stoßrichtung der Apg). Johannes sieht gerade im Leiden Jesu die alle, auch die fremden und zerstreuten Söhne Gottes sammelnde Tat des Gotteshirten und erklärt dies mit dem Gesetz des Weizenkorns, das in die Erde fallen und sterben muß, um vielfache Frucht zu bringen. Sammeln, vereinen, integrieren ist aber nicht nur eine Folge des [83] Schicksals Jesu, die von Gott für sein Ziel genutzt und positiv in seinen Heilsplan einbezogen wird. Es ist auch nicht nur eine Intention der Liebe Gottes und Jesu, der sich dem grenzenlosen Heilsplan Gottes ausliefert und eben für alle sein Leben hingibt. Es ist der Inhalt des Sterbens und aus dem Sterben neu erwachsenden Lebens Jesu. In diese Richtung weist die Theologie des Epheserbriefes. Die Gemeinde aus Juden und Griechen, die neue Einheit, die über alle Grenzen hinaus erwächst, ist für den Epheserbrief das Zeichen des von Anfang an verborgenen und in Jesus sichtbar gewordenen Heilsplans. Er wird Wirklichkeit am Kreuz, dort, wo Jesus die Scheidewand einreißt und allen den neuen Zugang zum Vater eröffnet und somit den Zugang zueinander (vgl. Eph 2, 11-22; auch Kapitel 3 im ganzen). Vom Kreuz aus zieht der Epheserbrief die Linie durch zur Himmelfahrt, zur Erhebung Christi als Haupt seines ganzen Leibes, ja des ganzen Kosmos. In seiner Heimkehr zum Vater, von wo aus er der Herr seines Leibes, der Kirche ist, wird sichtbar, daß in ihm das Ganze, das All seine neue Einheit, seinen neuen Zusammenhang erhält (Eph 1, 3-10; 1, 15-23; 4, 1-16; vgl. auch Kol 1, 15-21). Alles ist durch Christi Leiden und Sterben von Gott angenommen, ausgehalten, ausgelitten, in Gott hineingenommen und hat so seinen Ort, seine Einheit, seine Integration in ihm gefunden. Hier bricht Herrschaft Gottes an. So knüpft sich allerdings doch der Zusammenhang zwischen einer Logik des Kreuzes, die Gott allein groß sein läßt und im Leiden die Größe Gottes einholt, wiederholt, spiegelt, und einer Logik der Integration, die im Ausleiden und Aushalten der gesamten Menschheitsgeschichte und Schöpfungswirklichkeit die universale Einheit stiftet. Das erste ist, wenn es so ungewöhnlich formuliert Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 werden darf, Logik zum Vater hin: Er allein soll groß sein, in ihm allein ruht der Sinn und die Erfüllung. Das zweite ist entsprechend die Logik vom Vater her: Sein alles vereinender, sammelnder, verbindender Wille wird wirksam, indem das Ganze erlitten und so erlöst wird. [84] Zusammenschau Legen wir denselben Weg nochmals in eiligen Schritten zurück, nunmehr aus dem Ansatz der Botschaft von der Gottesherrschaft, wie Jesus sie vor Ostern verkündet hat, um aus ihrem inneren Gang das Kreuz und somit den Wechsel zur österlichen Perspektive zu verstehen. Gott rückt von der Peripherie ins Zentrum der Geschichte. Er, von dem allein alles kommt, will sich uns nicht vorenthalten, sondern wir sollen ganz und offen von ihm leben können. Zuendegehen der Zeit, Abschied, gar Tod sind vom Ansatz her überwunden. Die Machttaten Jesu bekunden und bestätigen das im Sinn der zeichenhaften Vorwegnahme. Und nun muß Jesus in den Tod, wird er von Mißverständnis und Ablehnung in die Katastrophe, in die Auslieferung getrieben. Warum dieser Weg? Wenn Gott Gott ist, wenn er die einzige Quelle unseres Lebens ist, dann muß er auch die einzige Quelle unseres eigenen Wollens und Erwartens werden. Von ihm her leben heißt, nicht mehr von den eigenen Plänen her leben, von den eigenen Maßstäben und Wünschen, wie ganzes, erfülltes Leben geht. Er allein hat recht. Solange ich seinen Weg mit den Vorgaben meines Erwartens und Urteils blockiere, ist er im innersten Punkt der Welt, in meinem Herzen, noch nicht ganz Gott. Und solange die totale Übergabe an den Willen Gottes, an seine eigene Herrschaft, nicht aus der Situation der äußersten Ferne dieser Welt und dieser Geschichte zu Gott geschieht, ist das Äußerste der Geschichte noch nicht integriert in die Herrschaft Gottes. Herrschaft Gottes geht dort auf, wo sie im Innersten und im Äußersten aufgeht, in der totalen Hingabe des menschlichen Herzens aus der Situation der Gottferne, des Abgrundes, des Todes. Jesu Ja zum Willen des Vaters in der nicht abgewendeten Situation des Sterbens in Verlassenheit und Elend ist so der Punkt des Einbruchs der Herrschaft Gottes. In Jesus kommt Gott selbst dorthin, wo wir sind, kommt Gott an den von Gott entferntesten Punkt der Schöpfung. Er trägt alle Last und alle Verlassenheit dieser Welt. Er nimmt die ganze Geschichte [85] der Menschheit auf sich, er ruft von den Enden der Erde und der Geschichte durch den Abgrund der Schuld und des Todes hindurch sein „Abba, Vater!“. Das Gebet des 22. Psalms, der in den Leidensgeschichten der Evangelien den Weg der Passion immer wieder begleitet und den nach Markus und Matthäus Jesus als Schrei der Verlassenheit, der sich Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 in Vertrauen wendet, dem Vater entgegenruft, ist sozusagen die Wegkarte der anbrechenden Gottesherrschaft. Im absoluten Gehorsam Jesu geht Gott in der Geschichte ganz als Gott auf, in der Übernahme der gesamten Menschheitsgeschichte und Menschheitsschuld im Sterben des menschgewordenen Sohnes Gottes geht Gott in der Geschichte auf als der Gott des Ganzen. Und so ist die Tat des demütigsten Gehorsams gegenüber dem Vater zugleich die Tat der größten Liebe sowohl des Sohnes zum Vater wie des Vaters zum Sohn wie beider zur Menschheit. Der Sohn sagt zum Vater in unserem Fleisch: „Nur du“. Der Vater schenkt dem Sohn, dem er alles auflädt, alles. Er schenkt ihm, in seiner Menschheit den Anfang der neuen Schöpfung zu vollbringen, und beide schenken uns jene Liebe, über die hinaus es keine größere geben kann: die Liebe, die unsere ganze Last trägt, die Liebe, die uns so aus der Ferne in die Nähe und Gemeinschaft mit Gott hineinläßt, die Liebe, die sich Vater und Sohn gegenseitig schenken als Geist, damit wir in dieser Liebe, die ausgegossen ist in unseren Herzen, im Vertrauen auf die Erlösungstat Jesu Stück um Stück unser Leben und die Geschichte verwandeln können. Die Lesung des Kreuzesweges vom Anfang her ist zur Lesung des Kreuzesweges vom Ende her geworden: im Herzen Jesu, der in seiner radikalen Auslieferung an den Willen des Vaters und Annahme der Last aller Welt sich als der unendlich, göttlich liebende, somit aber göttliche Sohn Gottes erweist. [86] 5.5 Das Kreuz leben: wie geht das? Von allem Anfang an wird das Kreuz als die radikalste Herausforderung an unsere glaubende Annahme, aber auch als radikalste Herausforderung unserer freien Übernahme des Weges Jesu verkündet. Im Kreuz wird offenbar, daß wir unser Heil nicht selber vermögen, sondern es uns schenken lassen müssen. Nirgendwo sind wir „kleiner“ als dort, wo unsere ganze Last uns abgenommen wird und wir durch den zu Tode gequälten und in die Verlassenheit gespannten Herrn unseres Glaubens dem konfrontiert werden, was wir von uns aus und ohne Gott sind. Der Ruf zur Umkehr, aber auch zur dankbaren und gläubigen Übergabe unseres Daseins an den, der uns bis zum äußersten geliebt hat, ist die Predigt, die uns das Kreuz Christi hält. Dies ist der nächstliegende und elementare Kreuzweg des Glaubens: der Weg vom Leistenmüssen zum Beschenktwerden. Nicht wir haben zuerst geliebt, sondern er hat zuerst geliebt (vgl. 1 Joh 4, 10.19). Annehmen und Glauben lassen sich aber nicht trennen vom Mitvollzug, von der Übernahme desselben Weges. Das ist uns schon beim ersten Blick auf die Leidensweissagungen begegnet, und die Jüngerunterweisung greift dieses Motiv Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 nochmals auf (vgl. Mt 10, 38; Lk 14, 27). Wie sehr das Kreuz den Rhythmus unseres ganzen Lebens bestimmen will, zeigt der lukanische Zusatz, daß wir unser Kreuz täglich ihm nachtragen sollen (vgl. Lk 9, 23). Auch Johannes schließt an Jesu Wort vom Gesetz des Weizenkorns die Aufforderung an die Jünger an, Jesu Weg zu teilen (vgl. Joh 12, 25f.). Das lukanische „Muß“ greift vom Leiden Jesu herüber auf uns und unser Jüngerschicksal: Paulus soll erfahren, wieviel er für den Namen Jesu leiden muß (Apg 9, 16), und es gehört zur Unterweisung an alle Jünger: „Durch viele Drangsale müssen wir in das Reich Gottes eingehen“ (Apg 14, 22). Es wäre jedoch zugleich zu wenig und zugleich zu schwer, wollten wir nur unser Kreuz tragen, wie Jesus es getragen hat. Es ist mehr und zugleich leichter, es mit ihm zu tragen, ihm selbst in unserem Kreuz zu begegnen, mit ihm in unserem Kreuz zusammenzu- [87] wachsen. Die von uns im Kontext der Nachfolge bereits erwähnte Paulusstelle aus dem Philipperbrief sagt uns hier das Entscheidende: „Christus will ich erkennen und die Macht seiner Auferstehung und die Gemeinschaft mit seinem Leiden; sein Tod soll mich prägen“ (Phil 3, 10). Wörtlich übersetzt, sagt der letzte Ausdruck: „Gemeinschaft mit seinem Leiden, indem ich seinem Tod gleichgestaltet werde.“ Wir dürfen, für unseren Vollzug, für das Gehen auf dem Weg des Glaubens, es uns vor Augen halten: Überall, wo uns Dunkel, Frage, Abgrund, Schuld, eigene oder fremde, Trennung, Abschied, Ferne von Gott begegnet, um uns oder in uns, begegnet uns etwas, das Jesus in seinem Kreuz angenommen, mitgetragen, integriert und verwandelt hat. Er hat diese Gestalt unseres Lebens und unserer Geschichte sich angezogen, sie ist sein Kleid, mehr noch sein Antlitz. Dann aber heißt konkret mit ihm leben, Nachfolge leben: ihn dort erkennen, wo er mir begegnet, dort mit ihm leben, wo er mir begegnet. Die Kommunion mit dem Gekreuzigten in unserem Alltag ist nicht eine sublime Mystik für besondere Leute, sondern Ernstfall der Nachfolge hier und jetzt. Darin gerade der Ernstfall des Erlöstseins. Wir begegnen dem, was er schon angenommen und verwandelt hat, wir sehen ihn mit seinen verklärten Wunden. Vorurteilsloser Realismus, der nichts zu verdrängen braucht, an nichts vorbeizusehen braucht, nichts zu beschönigen braucht, letzte Sensibilität für alles, was schmerzt und was nicht aufgeht, und dabei zugleich ganzes Vertrauen, ganze Freiheit, ganze Gelassenheit – dies ist das Geschenk erlösten Lebens. Und wir können es nicht anders uns schenken lassen als durch die ständige Bereitschaft, ihn in seinen Leiden zu erkennen. Genieren wir uns nicht, es in einigen kleinen Schritten anschaulich zu machen, wie das geht, leben mit dem gekreuzigten, am Kreuz für uns verlassenen und hingegebenen Herrn. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 a) Ihn in allem erkennen! Es kann nichts geben, was nicht er ist. Nichts, was nicht er an sich genommen hat. Und so begegnet er uns im kleinsten Kopfweh und in der größten Katastrophe, im scheinbar harmlosen Mißverständnis und im folgenschweren Versagen, [88] im Verkehrsunfall und in den Folterungen und Ungerechtigkeiten irgendwo in der Welt, und gewiß nicht zuletzt in dem, was in seiner Kirche nicht nach ihm aussieht und nicht ihn anziehend macht. Nennen wir ihn doch ruhig beim Namen, fragen wir ihn: Wie heißest du für mich heute? Weichen wir nicht davor aus, sondern gehen wir auf das zu, was uns schmerzt – wir gehen auf ihn zu. b) Nicht ihn in Kauf nehmen, sondern auf ihn zugehen! Wenn es er ist, dann ist er mein bester Freund, dann kann ich nirgendwo sicherer und ruhiger und geborgener sein als bei ihm. Machen wir uns das Leben nicht unerträglich, indem wir beständig vor dem Kreuz fliehen, dieses oder jenes Problem so überkleistern und in die Rotation der Angst vor dem geraten, was kommt. Wer ihn liebt, der wird seine Liebe erfahren. Aber Liebe berechnet nicht, sondern schenkt sich, geht voll Vertrauen auf den zu, den sie liebt. c) Keine halbherzige Ergebung, sondern das sofortige und ganze Ja! Oft erweckt „Kreuzesliebe“ den Eindruck des Schiefen, Matten, Unvitalen. Dieser Eindruck hat recht, wenn Kreuzesliebe die Selbstverschleierung der Resignation bedeutet, wenn sie nur fromm verbrämt, daß wir nicht den Mut haben, klärend und ändernd auf die Verhältnisse zuzugehen. Das sofortige und ganze Ja zum gekreuzigten Herrn macht hingegen frei und setzt jene Kräfte frei, die wir brauchen, um das zu verändern, was zu verändern ist, und das zu verwandeln, was nicht zu verändern ist. Das Sofort und das Alles der Nachfolge wird aktuell, wo mir das Kreuz, wo mir er am Kreuz des Augenblicks begegnet. Nachfolge wird dadurch ganz groß und ganz frei und bewährt sich doch am Kleinsten und Unscheinbarsten. d) Nicht erst sehen, sondern erst lieben! Gerade wenn ich nicht sehe, nicht verstehe, nicht die Lösung weiß, ist es er. Darauf zugehen, immer mit dem ernst machen, was ich weiß – damit, daß stets das Wie des Vertrauens und der Liebe gefordert ist –, dies ist der Weg ins Licht. „Meine Nacht kennt kein Dunkel!“ dieses Wort aus der Laurentiuslegende gilt für den, der die Augen nicht vor der Nacht verschließt, sondern in ihr den erkennt, der für uns Nacht geworden ist und so gerade das alles erleuchtende Licht. [89] e) Im Ja zum Gekreuzigten, zu seiner Einsamkeit und Verlassenheit den Durchbruch in die Gemeinschaft, ins Miteinander wagen! Wer sich nicht davor fürchtet, auf den Gekreuzigten zuzugehen, ihn auch unter dem Namen des Verlassenen, des Isolierten, des Unverstandenen zu erkennen, der ist es, der die Mauer zu durchbrechen vermag, die uns voneinander trennt. Dein und mein Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 unmitteilbar einsamstes Geheimnis, deine und meine Last, von der wir einander nichts zu sagen und zu erklären vermögen, ist das, was uns immer schon verbindet. Er hat deine und meine Last getragen. Er hat uns dort schon miteinander eins gemacht, wo er einsam zwischen Himmel und Erde hing. Das Ja zu ihm ist Ja zu dem, was uns eins macht, ist Weg zueinander. Diese Schritte sind nicht fromme Übungen, sondern einfach die Anwendung der Logik des Kreuzes, die Auslieferung an den Weg, der Jesu Botschaft von einer Vision zur Wirklichkeit, zur Geschichte, zum Leben hat werden lassen. Kreuz ist das, was nicht geht. Aber er ist den Weg des Kreuzes gegangen, ist durch das Kreuz hindurchgegangen. Und zu ihm können wir gehen, jeden Augenblick. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 [90] 6. Auferstanden zum Vater – Auferstanden zu uns 6.1 Der doppelte Schock In den Evangelien wird vor allem bei zwei Anlässen das Unverständnis der Jünger hervorgehoben, oder umgekehrt: der Schock, den Jesu Weg und Verhalten ihnen versetzt. Zum einen sprengt es ihre Fassungskraft, daß die Gottesherrschaft nicht direkt kommt, sondern auf dem schrecklichen Umweg des Kreuzes. Von der ersten Leidensankündigung bis zur Ratlosigkeit der Jünger am Ölberg, ja noch weiter bis ins österliche Gespräch mit den Emmausjüngern reichen die Zeugnisse. „Das sei ferne von dir!“ (Mt 16, 22). „Wir aber hatten gehofft …“ (Lk 24, 21). Der andere Schock ist die Auferstehung. Daß der Tote, der zum Leben Erweckte, daß er auferstanden ist, das läuft gegen alle Erwartung und Erfahrung; und die Evangelien stellen uns dies plastisch vor Augen (Mk 16, 8; Mt 28, 17; Lk 24, 11.31ff.36-43; Joh 20, 9.13-15.24-29). Die auffällige Unterstreichung des Mißverstehens, des Zögerns, des Erschreckens in beiden Fällen ist sozusagen „inszenierender“ Hinweis darauf, wie groß und wie bedeutsam der Kontrast zwischen dem Handeln Gottes in der Heraufkunft seines Reiches und unseren menschlichen Maßstäben ist. Es passiert eine doppelte Umkehrung: Das Reich Gottes kommt ganz anders, als man es erwartet – es kommt durch die Ohnmacht und Torheit des Kreuzes hindurch. Und die Fortsetzung des Karfreitags läuft ganz anders als [91] erwartet: Den der Vater weder vor dem Kreuz bewahrt noch vom Kreuz heruntergeholt hat, er wird zum neuen Leben erweckt. Dieser doppelte Schock gehört bis heute zum Weg des Glaubens. Seine eine Grundentscheidung hat auch für uns diesen zweifachen Charakter: Glauben heißt die Sicherheiten weggeben, die Erwartungen verkaufen, sich ausliefern ins Unabsehbare, sich darauf einstellen, daß Gott uns dahin führt, wohin wir nicht wollen und ahnen, sich einstellen aufs Kreuz – und glauben heißt zugleich Mut haben zur neuen Sicherheit, zum neuen Grund und Boden, auf den Gott uns an Ostern stellt, damit rechnen, daß jener, der uns über alles liebt, uns nahe ist, heißt leben mit einem, der lebt. Die Gelassenheit, in der wir leben mit Gott und in Gott, die Bereitschaft, Liebe zu sein und nicht nur zu haben, das Bewußtsein, daß Jesus nachfolgen nicht nur alles verlassen, sondern Gemeinschaft mit ihm haben heißt: dies alles ist uns bereits begegnet in der vorösterlichen Botschaft. Es gehört zu ihr, aber es erhält im Durchgang durch Kreuz und Auferstehung erst seinen letzten Grund, seine Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 letzte Tiefe, jenen neuen, österlichen Ton, der unverwechselbar zum Christsein gehört. Die vorösterliche Botschaft Jesu von der herannahenden Gottesherrschaft und die österliche Botschaft von Jesus dem Herrn lassen sich nicht auseinanderreißen, sie gehören zusammen und erklären sich gegenseitig. Wer wissen will, was Herrschaft Gottes sagt, der muß sie aufs Kreuz hin und von Ostern her lesen. Wer wissen will, was sagt: Jesus ist der Herr!, der muß im Licht von Kreuz und Auferstehung das Evangelium lesen; denn der jetzt lebt, ist jener, der einmal gelebt hat, damals in Jerusalem und Galiläa, der uns vom Vater sprach, der Jünger sammelte, der Zeichen der Macht Gottes wirkte, der Kinder segnete und sich über Zöllner und Sünder in Gottes Erbarmen beugte. Jesus Christus nicht mehr „dem Fleische nach kennen“ (vgl. 2 Kor 5, 16) heißt nicht, sich um Leben, Worte und Wirken Jesu von Nazareth nicht kümmern, sondern heißt, diese vorösterliche Wirklichkeit verstehen aus dem lebendigen Zusammenhang mit dem österlichen Glauben. Dialektische Zerreißung, um nur noch dem österlichen Herrn zu begegnen, wäre unö- [92] sterlich; die Reduktion auf den bloß Vorösterlichen wäre nicht wahrhaft „jesuanisch“. Was nun heißt, aus Ostern her mit dem leben, der gelebt hat und der jetzt, heute lebt? 6.2 Die Einheit des Osterzeugnisses Leben mit dem, der lebt – das bedeutet Unmittelbarkeit zu ihm, lebendige Nähe. Es bedeutet aber ebenso Annahme eines Zeugnisses. Der jetzt lebt, mit dem wir leben sollen, er ist ein für allemal in sein Leben hineingegangen durch den Tod. Er hat, vom Vater auferweckt, sich Zeugen kundgetan, diese Zeugen haben sich mit ihrem Wort, mit ihrem Leben und mit ihrem Blut für seine Auferweckung eingesetzt, und auf dem Fundament ihres Zeugnisses steht christlicher Glaube. Ehe wir also uns der Frage zuwenden, wie österlicher Glaube, wie Leben mit dem lebendigen Herrn geht, wollen wir uns dem Zeugnis zuwenden, auf dem unser Glaube beruht. Und hier machen wir eine erstaunliche Entdeckung. So reich das Neue Testament an unterschiedlichen Theologien ist, in denen sich die eine Botschaft verfaßt und hineinsagt in die vielfältigen Verstehens- und Erfahrensweisen der Menschen, so deutlich gibt es doch durch alle Schichten und Theologien hindurch eine Grundbotschaft, die über die Vielfalt ihrer Interpretation hinausragt. Diese Grundbotschaft heißt: Gott hat Jesus von den Toten erweckt. Sprachlich wird diese Grundform der Botschaft durch einige wenige andere Motive ergänzt: Auferstehen (vgl. Mk 8, 31; 9, 9f.31; 10, 34; Lk 18, 33; Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 24, 7.46; Joh 20, 9; Apg 10, 41; 17, 3; 1 Thess 4, 14; aktiv Apg 2, 24; 13, 33f.; 17, 31; dann das Hauptwort z. B. in Apg 1, 22; 2, 31; Röm 1, 4; 6, 5; Phil 3, 10; 1 Petr 1, 3; 3, 21); Erhöhung (vgl. Phil 2, 9; Joh 12, 32); Rechtfertigung und Aufnahme (1 Tim 3, 16); schließlich Verherrlichung (breit bei Johannes). Doch auch diese Modelle haben jene konkrete Nach- oder besser Neugeschichte im Blick, in welche Jesus durch seinen Tod hinein [93] eingetreten ist und in der er sich lebendig, begegnend, identisch, ganz er selbst, bezeugt hat. Die Einheit des Osterglaubens, die Einheit des Glaubens daran, daß Jesus und nicht nur etwas von ihm in die neue, endgültige, göttliche Ordnung des Lebens eingetreten ist, muß als das gemeinsame und unerschütterliche Fundament allen christlichen Glaubens von seiner ursprünglichen Bezeugung her anerkannt werden. Man könnte formulieren, daß die Einheit des Neuen Testaments elementar die Einheit des Glaubens an die Auferweckung Jesu ist. Diese Einheit bekundet sich indessen nicht nur durch die Fülle jener Formeln, die ausdrücklich oder mittelbar das Urzeugnis und die Urüberzeugung neutestamentlichen Glaubens wiedergeben. Nicht weniger eindrucksvoll ist es, den Osterglauben als die durchgängige Perspektive zu sehen, unter der das Gesamt neutestamentlichen Zeugnisses und seiner theologischen Ausformung steht. Die Erzählperspektive der Evangelien – wir sprachen im Zusammenhang auf die Passion bereits davon – ist bestimmt durch Kreuz und Auferstehung. Rückt in der Gliederung der Evangelien das Zulaufen auf die Passion in den Vordergrund, so in der kompositorischen Form der einzelnen Geschichte eher das „Österliche“. Sicherlich wird erzählt, was Jesus damals sagte und damals tat, aber es wird uns erzählt von einem, der jetzt lebt, der jetzt seine Botschaft der Gemeinde und den einzelnen Glaubenden weitersagt und der jetzt erbarmend, richtend, rettend in unser Leben eintritt, wie er damals ins Leben des berufenen Jüngers, des angenommenen Sünders, des zur Umkehr und Besinnung gerufenen Kritikers oder Selbstgerechten eintrat. Wie sehr Apostelgeschichte und Geheime Offenbarung aus dem Blickwinkel von Ostern, aus der Gemeinschaft mit dem erhöhten Herrn sprechen, liegt auf der Hand. Ebenso richten sich die Briefe des Neuen Testamentes an Gemeinden, deren Achse und Mitte der in ihnen lebendige Herr ist. Es gilt, mit ihm zu leben, auf ihn zu schauen, sich für sein Kommen zu bereiten, das Zeugnis seiner Macht und Nähe zu geben. Dies ist das Interesse der Briefe insgesamt. An die Auferstehung wird unmittelbar erinnert in schon gepräg- [94] ten Formeln, die als elementare Glaubensbekenntnisse erster Gemeinden den Briefen bereits vorausgehen (um hierfür einige Beispiele zu nennen: 1 Kor 12, 3; 15, 3f.; Röm 1, 3f.; Phil 2, 6-11; 1 Tim 3, 16; 1 Petr 2, 22-24). Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Der angedeutete Befund, der Osterglaube als die gemeinsame Basis und das gemeinsame Grundinteresse des neutestamentlichen Zeugnisses in seiner ganzen Breite, macht unsere Frage um so dringlicher: wie geht dieser österliche Glaube, wie geht das Leben mit dem lebendigen Herrn? 6.3 Die Fülle des Osterzeugnisses So einhellig die Auskunft des Osterzeugnisses ist: daß Jesus auferweckt ist, daß er lebt, daß er der Herr ist, so vielfältig sind die Aspekte, die in dieser Einheit umschlossen sind. Wir greifen jene heraus, die uns die neue „Zeitlichkeit“ österlichen Lebens und seine neue „Räumlichkeit“ erschließen. Sie messen dem Gang unseres Glaubens seinen Raum und seine Zeit zu. Die „Zeitlichkeit“ von Ostern Wenden wir uns zunächst drei paulinischen Ostertexten zu, die unter einem je verschiedenen Blickpunkt das spezifisch österliche Ineinander von Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit zur Sprache bringen. Im ersten Text (1 Kor 15) wird der österliche Glaube als der Horizont christlichen Lebens überhaupt aufgerissen. Im zweiten Text (Röm 6, 1-14) wird die Zeitlichkeit von Ostern als das in der Taufe sakramental dem einzelnen eingestiftete Maß seiner Zeitlichkeit sichtbar. Im dritten Text, der uns bereits vertraut ist (Phil 3, 10-14), wird diese Zeitlichkeit unmittelbar im glaubenden Lebensvollzug anschaulich. [95] 1 Korinther 15 Die Perspektive, unter der Paulus sein großes Osterkapitel 1 Kor 15 schreibt, geht auf die Zukunft. Er wendet sich gegen Unklarheiten in der Gemeinde von Korinth, ob die Toten wirklich auferstehen werden. Auf knappe Striche konzentriert, geht seine Argumentation wie folgt: Die Mitte bildet die paradoxe Formulierung, daß Christus nicht von den Toten auferweckt worden ist, wenn nicht Tote auferweckt werden, wenn also nicht wir auferstehen (Vers 15a und 16). Daß Christus von den Toten nicht auferweckt wurde, dies aber kann nicht sein – denn für die Auferweckung Jesu kann Paulus sich persönlich, zusammen mit einer Reihe von Zeugen, verbürgen. Ihm und ihnen ist der Auferstandene erschienen (Vers 5-8). Durch dieses Gesehenhaben, durch die Selbstbezeugung des Auferweckten vor Paulus und den anderen Urzeugen, erhält das bereits fest geprägte überlieferte Osterbekenntnis, das die Glaubensformel auch für die Gemeinde ist (Vers 3-5), seine Tragfähigkeit. Nur auf diesem Fundament erklärt sich die Wirksamkeit des Apostels und hat sein Einsatz, hat aber auch das Leben der Gemeinde aus dem Glauben seinen Sinn (vgl. die Verse 9-11; 17-19; 30-32; 58). Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 So ergibt sich folgende zeitliche Struktur: Ostern ist der Horizont unserer Zukunft. Wir werden von den Toten erweckt werden, wir sind berufen zum grenzenlosen, verherrlichten Leben mit Christus in der Herrschaft Gottes, dort wo Gott „alles in allem“ sein wird (Vers 28). Grund dieser Zukunft ist etwas, das bereits geschehen ist, ein Perfectum, das durch die bevollmächtigte Zeugenschaft und den Glauben, der sich auf sie gründet, als Fundament für das Leben der Gemeinde und des einzelnen Christen weiterwirkt: eben die Auferweckung Jesu Christi von den Toten. Unsere Geschichte ist umspannt vom Bogen, der anhebt bei diesem unwiderruflich geschehenen Anfang und der sich schließt in der Vollendung der Herrschaft Gottes am Ende. Sie ereignet sich schon jetzt als Herrschaft Christi. Der Vater hat auferweckend den Sohn zum Herrn eingesetzt, und im Lauf unserer Zeit wird ein Feind nach dem andern ihm zu Füßen gelegt, bis dann am Ende der Tod ent- [96] machtet wird. Die fortwirkende Verherrlichung Christi durch den Vater, die Einholung der Weltgeschichte in Tod und Auferstehung Christi schlägt schließlich um in die endgültige Verherrlichung des Vaters durch den Sohn, der sich und alles ihm in die Hände gibt (Verse 23-28). Im Bogen dieser die gesamte Geschichte nach Christi Auferstehung umfassenden Gegenwärtigkeit liegt der Zeitraum unseres Jetzt. In diesem Jetzt leben wir auf Hoffnung hin, aber diese Hoffnung ist bereits mächtige, den Leib des Herrn aufbauende, den Glauben vorantragende Hoffnung, wie das Wirken des Apostels und der anderen Zeugen es erweist (vgl. Verse 8-11). Es ist das Jetzt der angstfreien Gemeinschaft mit dem Kreuz Christi in der beständigen Bedrängnis und ihrer beständigen Überwindung, im Verzicht auf ein bloß jetziges Haben- und Genießenwollen (Verse 30-32). Es ist das Jetzt der besonnenen, nüchternen Bereitschaft, die Zeit mit ihrer Vorläufigkeit, mit ihren Problemen, mit ihrer Bedrängnis liebend und zuversichtlich zu bestehen (Verse 33f. und 56-58). Dieses „Zeitschema“ fügt sich in das andere und füllt es aus, das uns in der Botschaft Jesu von der nahegekommenen Gottesherrschaft begegnet. Sie ist in Jesu Tod und Auferstehung angebrochen, ihre Vollendung steht noch aus. Die Sicherheit, daß sie durch den Auferstandenen schon da ist, und die gleichzeitig bleibende Spannung auf ihre Vollendung verwandeln unsere Gegenwart in Zuversicht, Gelassenheit und jene Bereitschaft zum Kreuz, die schon in Ostern verankert ist. Römer 6, 1-14 Die österliche Zeit wird zu unserer Lebenszeit durch die Taufe. Dies dürfen wir an der Tauftheologie des Paulus im Römerbrief (6, 1-14) ablesen. Jesus Christus ist ein für allemal gestorben und auferstanden. Im Tod Jesu ist die Sünde Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 ausgelitten, durch Jesu Ja zum Vater ist das Nein des Menschen zu Gott ausgeheilt. Menschliches Leben ist sozusagen gegen die Macht der Sünde in Jesu Tod [97] „immunisiert“. Und menschliches Leben ist zugleich in der Auferweckung Jesu in eine neue Ebene von Leben, in das Leben ein für allemal mit Gott hineingehoben (vgl. die Verse 9-10). Diese neue Gegenwart steht nun für uns bereit, sofern wir uns in sie hineingeben. Dies geschieht fundamental in der Taufe. In ihr werden wir in den Tod Jesu hineingetaucht, um mit ihm ins neue Leben hervorzugehen (vgl. Verse 3-8 und 11). Freilich bleibt eine zweifache Spannung. Wir sind jetzt bereits, als Getaufte, im neuen Leben, wir sind schon mit Christus auferstanden in sein neues Leben hinein (Verse 4 und 13); doch die Vollgestalt auferstandenen Lebens steht noch aus, wir sind noch zu ihr unterwegs: Auferstehung ist unsere Zukunft (vgl. Verse 5 und 7). Die zweite Spannung: Wir haben den Weg ins neue Leben bereits angetreten, wir sind bereits von Gott her in es hineingenommen durch die Gemeinschaft mit Tod und Auferstehung Jesu in der Taufe (Verse 2-4; 6-8; 11). Und doch ist dieser unwiderruflich gesetzte Anfang uns je neu aufgegeben, wir müssen ihn je neu von uns her vollziehen, um seine Wirksamkeit zu entfalten (Verse 12-14). Entsprechendes zeigt uns die Botschaft vom einbrechenden Gottesreich: Die Herrschaft Gottes kommt uns zuvor und wir können sie nicht aufhalten – aber sie fordert uns heraus, daß wir ihr Kommen tun, und in dieses Kommen hinein umkehren, auf sie und darin auf Gott uns glaubend verlassen. Das Perfectum der Auferstehung Christi wird in uns zur Gegenwart durch die Taufe. Sie ist das Perfectum unserer Übereignung an Christus, diese Übereignung muß aber in je neuer Gegenwart geschehen und hat die Vollendung, die endgültige Aufnahme unserer Lebensgestalt in die Lebensgestalt des Auferstandenen noch als Zukunft vor sich. Philipper 3, 10-14 Dieselbe Zeitfigur beschreibt der Vollzug unserer Nachfolge, wie ihn Paulus im Philipperbrief (3, 10-14) zeichnet. Jesu Tod und seine Auferstehung sind der Grund, auf den sich mein Leben im [98] Glauben stellt. Dieser eine, schon gegebene Grund prägt meine Gegenwart, indem ich sie als Gemeinschaft mit den Leiden Christi lebe und in die Gestalt des Gekreuzigten, mich je neu verlassend und ihm mich übergebend, hineinwachse. Seine Auferstehung ist das Ziel, ihre Offenbarung an mir steht noch aus. Aber gerade so entfaltet sie ihre Dynamik, ihre Kraft. Ich weiß mich nämlich als ein Ergriffener: zwar habe ich das, wovon ich ergriffen bin, noch nicht ergriffen, ich werde aber je neu aus mir herausgeholt, lebe ich im „je weiter“ von Augenblick zu Augenblick, das lassend, was hinter mir liegt, mich ausstreckend nach dem, was vor mir liegt. Das eine Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Perfectum von Kreuz und Auferstehung bestimmt nicht nur meine Zukunft, mein auferstandenes Leben mit Christus, sondern auch meine Gegenwart, die zugleich Bereitschaft zum Kreuz, ja Tragen des Kreuzes und dynamische Freiheit über alle Vorläufigkeiten hinaus bedeutet. Um auch hier nochmals an der Zeitlichkeit der Gottesherrschaft anzuknüpfen: Der ist schon da, der unsere Zukunft ist, und so haben wir in der Gegenwart und ihrer Endlichkeit neue Zukunft. Das nimmt aber nicht die Endlichkeit unserer Gegenwart hinweg, sondern verwandelt sie von innen her. In unseren drei Paulustexten, und über sie hinaus, im Gesamt des Neuen Testamentes, begegnet uns also eine neue, die „österliche“ Zeitlichkeit. Das grundlegende Ereignis der Auferweckung hat Jesus ein für allemal als den „treuen Zeugen“ bestätigt (Offb 1, 5). Er ist als der Herr und als der Sohn Gottes in Macht beglaubigt und inthronisiert (vgl. Phil 2, 11; Röm 1, 4). Dieses Ereignis geht weiter in Überlieferung und Zeugnis, die den Glauben und das Leben der Gemeinden zurückbinden (vgl. 1 Kor 15, 3; Lk 24, 48; an den unwiderruflich Apg 1, 8; 2, 32; 1, 22). gesetzten Die Anfang „perfektische“ Bedeutung von Auferstehung ist zugleich die des neuen Anfangs: im Glauben gründen wir uns auf diesen Anfang, in der Taufe wachsen wir in ihn hinein, die ganze Menschheit wird neue Menschheit von Jesus, der in der Auferstehung als der neue Adam sich bewährt (vgl. 1 Kor 15, 22. 45). Darin aber ist Auferstehung Quelle der Zukunft und Horizont unserer Zukunft. Auferstehung ist nicht nur für Jesus [99] und an ihm geschehen, sondern wie er unseren Tod getragen hat, so ist sein Leben jetzt unser zukünftiges Leben. Unser Leben ist mit ihm nun bereits verborgen in Gott (vgl. Kol 3, 3f.). Unsere Gegenwart wird zulaufen auf die Auferstehung, deren wir teilhaft zu werden hoffen. Im Zulaufen auf die Auferstehung aber ist es zugleich Herkommen von ihr, beständige Verwandlung unserer Gegenwart, die wir als Teilhabe am Kreuz Christi verstehen, in Gelassenheit und Zuversicht, in Kraft des Zeugnisses, aus der Gemeinschaft mit dem Auferstandenen her. Auferstehung bewährt sich so als die Eröffnung der neuen Zeit, der Zeit der anbrechenden Gottesherrschaft. Die „Räumlichkeit“ von Ostern Haben wir nicht eine wichtige Zeitbestimmung der Auferstehung ausgelassen? Die österliche Gegenwart des Herrn in uns ist nicht nur weiterwirkende Vergangenheit und vorwegwirkende Zukunft. Das Neue Testament spricht deutlich von der lebendigen Gegenwart des lebendigen Herrn unmittelbar jetzt, und dies in einer doppelten Weise: Einmal ist er jetzt beim Vater, und wir haben durch ihn den Zugang und die Verbindung zum Vater, wir steigen sozusagen „nach oben“ über unsere begrenzte Gegenwart hinaus in die Gegenwart Gottes – Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 und zum andern ist Jesus, der lebendige Herr, bei uns, er ist gegenwärtig mitten unter denen, die an ihn glauben. Ja, diese Ergänzung ist fällig, sie ist sogar die Spitze österlicher Botschaft und österlichen Glaubens. Wir wollen uns nun dieser Spitze der lebendigen Gegenwart dessen, der lebt, nähern. Wir wollen es, indem wir die eigentümliche „Räumlichkeit“ der Gegenwart des Auferstandenen entfalten. Stellen wir der Besinnung darauf einen zusammenfassenden Text voran. Jesus sagt: „Nur noch kurze Zeit vergeht, und die Welt sieht mich nicht mehr; aber ihr seht mich, weil ich lebe und weil auch ihr leben werdet. An jenem Tag werdet ihr erkennen: Ich bin in meinem Vater, ihr seid in mir, und ich bin in euch“ (Joh 14, 19f.). Es ist ein österlicher Text. „Jener Tag“ ist der Ostertag. Wir kön- [100] nen – kraft des Geistes, den der Auferstandene uns mitteilt und von dem in den Versen zuvor die Rede war – ihn sehen, weil wir mit ihm verbunden sind im selben, neuen, österlichen Leben. Dieses Sehen ist nicht ohne die Dunkelheit des Glaubens, es ist für uns vermittelt durch jenes „Selig“, das der Auferstandene denen zuerkennt, die nicht sehen und doch glauben (vgl. Joh 20, 29). Doch im Zeugnis des Geistes eröffnet es sich: Er ist in uns, will sagen in unserem Innern, aber genauso, ja zumal zwischen uns, in unserer Mitte. Doch er geht nicht darin auf, erschöpft sich nicht darin, sein Leben in uns und zwischen uns zu haben. Nein, der in uns und zwischen uns lebt, lebt bei seinem Vater. Nur weil Jesus zum Vater hin auferstanden ist, ist es mehr als individuale oder auch kollektive Subjektivität, daß er in uns, in seiner Kirche lebt. Und weil der, der in unserer Mitte lebt, eben auch und zuerst beim Vater lebt, ist unsere Gegenwart zuinnerst verwandelt: Er trägt auch uns in sich, er nimmt auch uns in jenes neue Leben hinein, das sich nicht in dem erschöpft, was wir tun und erfahren. Jesu Gegenwart bei uns ist zugleich Anfang und Unterpfand der Zukunft, ohne die unsere Gegenwart keine erfüllte, keine wahrhaft erlöste wäre. Der Kolosserbrief sagt es so: Christus unter euch, die Hoffnung auf Herrlichkeit (vgl. Kol 1, 27). Dieser Brief zeigt uns zugleich die Verschränkung der doppelten Räumlichkeit des Auferstandenen, seines Lebens beim Vater und unter uns. Weil er unter uns lebt, weil er gegenwärtig ist hier, ist unser eigenes Leben geöffnet über das Hier und Jetzt hinaus, in die Zukunft, in die Herrlichkeit, die uns bevorsteht durch die Gemeinschaft mit dem Auferstandenen. Und umgekehrt, indem er beim Vater ist, auf den sich die ganze Hoffnung unseres Lebens und die ganze Wirklichkeit unseres Lebens konzentriert, ist unser Leben schon jetzt mit ihm beim Vater, unsere Gegenwart ist verborgen im Raum unserer Zukunft – und wenn der Herr in Herrlichkeit erscheinen wird, wenn diese unsere Zukunft in das Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Hier und Jetzt, in die Gegenwart durchbrechen wird, dann wird unsere verborgene Gegenwart offenbar werden: „Ihr seid mit Christus auferweckt; darum strebt nach dem, was im Himmel ist, wo Christus zur Rechten Gottes sitzt. Richtet euren Sinn auf das [101] Himmlische und nicht auf das Irdische. Denn ihr seid gestorben, und euer neues Leben ist mit Christus verborgen in Gott. Wenn Christus, unser Leben, offenbar wird, dann werdet auch ihr mit ihm offenbar werden in Herrlichkeit“ (Kol 3, 1-4). Sind solche Zeugnisse aus dem Johannesevangelium und dem Kolosserbrief nicht weitgetriebene Ausformungen des Osterglaubens, der elementar viel einfacher und „nüchterner“ geht? Wir haben an die Grundformeln österlichen Bekenntnisses erinnert, die uns in den Apostelbriefen als ein ihnen vorgängiges, bereits in den Gemeinden bekanntes Überlieferungsgut bezeugt sind und in denen wir sozusagen das „Urgestein“ des verfaßten Glaubens überhaupt berühren. Wenn wir diese Formeln auf ihren Inhalt und vor allem auf ihren Sitz im Leben der Gemeinden hin prüfen, dann finden wir bestätigt: In ihnen spricht sich dasselbe aus, was bei Johannes und im Kolosserbrief zur Sprache kommt. Wir können diese Formeln auf zwei verschiedene Typen hin als „Grenzwerte“ einteilen. Im einen Typ sind die elementaren Heilstatsachen von Kreuz und Auferweckung genannt, im anderen Typ ist eine Anrede, ein Titel Jesu, mit Vorzug der Titel des Herrn, Inhalt oder doch Achse. Eine elementare Form des ersten Typs ist uns bereits im Osterkapitel des 1. Korintherbriefs begegnet: „Christus starb für unsere Sünden, wie es die Schriften gesagt haben, und wurde begraben. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, wie es die Schriften gesagt haben, und erschien dem Kephas, dann den Zwölf“ (1 Kor 15, 3-5). Die knappste Form des anderen Typs: „Jesus ist der Herr!“ (1 Kor 12, 3). Beide Typen berühren und durchdringen sich, erweitern sich z. T. zum Lied und Hymnus, wie etwa im Philipperbrief (2, 6-11); hier ist die zweite Form von einer ausgefalteten ersten umspannt. Beide Typen sind einander dicht zugeordnet; wo Jesus als der Herr ausgesagt wird, da geht es um eine Verkündigung des Ostergeheimnisses. Und wo die Heilstatsachen von Kreuz und Auferweckung ausgesagt werden, da geht es um eine Begründung dessen, daß er der lebendige Herr ist. Diese Formeln stammen aus der Versammlung der Gemeinde. Anderswo könnten sie ja nicht zustande kommen als eben dort, wo [102] die Gemeinde beisammen ist, um ihren Glauben zu feiern und auszusprechen. Der erste, der „aussagende“ Typ kann als Taufbekenntnis verwandt worden sein. Der zweite Typ, der „anrufende“, ist als Zuruf der Gemeinde zu verstehen, in dem Jesus der Erhöhte gefeiert, gepriesen, proklamiert wird. Und er wird gefeiert, gepriesen, proklamiert, weil er da ist, weil er als der Gemeinde sich schenkend, als ihr nahe erfahren wird. Solche Nähe, solche Gegenwart in der Gemeinde hat zumal in der Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Eucharistiefeier ihren lebendigen Ort, reicht aber über die sakramentale Gegenwart hinaus. Die eucharistische Gegenwart ist dichteste Form der Gegenwart bei seiner Gemeinde, aber seine Gegenwart erschöpft sich nicht in der Eucharistie. Die Formeln, die das Heilsgeschehen von Tod und Auferweckung nennen, beschreiben die Linie des Aufstiegs. Die Formeln, die Jesus als den Herrn preisen, artikulieren seinen Eintritt aus der Höhe, seinen Durchbruch aus dem Sein beim Vater, sie beschreiben in diesem Sinne die absteigende Linie. Herr als Titel Christi bezeichnet seine Erhöhung zu Gott und, aus dieser Erhöhung heraus, seine Nähe zu uns, seine wirkmächtige Gegenwart. Diese wirkmächtige Gegenwart aber ist nirgendwo vorgestellt als eine „Wirkungsgeschichte“ im modernen Sinn, als ein Weiterwirken der Faktoren, die in der Predigt, im Handeln, Leben und Sterben Jesu zum Vorschein kamen und die nun weitergehen und sich zu einer neuen Weise seiner Gegenwart verdichten. Nicht nur vom Weltbild bedingt, sondern von der inneren Richtung seines Lebens und Sterbens her ist Jesu Weg der Weg zum Vater, der Weg der Hingabe, der durch die Schranke des Todes durchbricht, bei ihm ankommt, in ihm sich für ganz und immer festmacht, dort geborgen, dort erhoben ist. Und aus dieser Geborgenheit und Erhobenheit beim Vater gewährt sich der Herr seiner Gemeinde, kommt er ihr nah, tritt er in ihren Kreis. Jesus ist auferstanden zum Vater und auferstanden zu uns. Aber die Auferstehung zu uns läuft über den Vater, ist nicht nur bei der endgültigen Wiederkunft, sondern auch im Jetzt der Gemeinde, der in seinem Namen Versammelten, Geschenk aus der Höhe. [103] Um die Herrschaft Gottes herbeizuführen, muß sich Jesus in den Tod geben, rückt also scheinbar die Herrschaft Gottes ferne. Der „Umweg“ über den Tod in die Herrlichkeit, dieser Umweg Jesu ist der Weg der Gottesherrschaft. Er enthüllt sich an Ostern als doppeltes Ankommen: Ankommen beim Vater und Ankommen bei uns. Dieses Ankommen aber läuft wiederum in derselben Kurve. Der Weg des Opfers und Gehorsams ist Weg der Verherrlichung. Der Abschied von uns hin zum Vater aber ist als solcher neuer Weg zu uns. Mit Johannes gesehen: Es gibt kein Festhalten des Auferstandenen, wir müssen ihn aufsteigen lassen zum Vater (vgl. Joh 20, 17). Indem wir aber den Herrn zum Vater gehen „lassen“, ereignet sich von ihm her neues Eintreffen, neue Ankunft (vgl. Joh 14, 4-9 und 18-20; 14, 28; 16, 4b-28). Mit einem anderen Akzent: Jesus geht hin, um uns eine Wohnung beim Vater zu bereiten (vgl. Joh 14, 2f.), und er kommt zugleich, um in uns Wohnung zu nehmen (Joh 14, 23 und 15, 18). Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Das Motiv der Himmelfahrt, des Aufstiegs zum Vater und der Auferstehung sind mannigfach miteinander verknüpft, werden zum Teil ineinander gesehen, zum Teil voneinander abgehoben. Doch gehört das Motiv als solches selbstverständlich und wesentlich zur elementaren Osterbotschaft hinzu. Eines der Grundmotive hierbei: Jesus zur Rechten des Vaters (vgl. Apg 2, 33; 5, 31; 7, 55f.; Röm 8, 34; Eph 1, 20; Kol 3, 1; Hebr 1, 3; 8, 1; 10, 12; 12, 2; 1 Petr 3, 21f.). Andere Ausdrücke für denselben Sachverhalt sind etwa die Aufnahme Jesu in den Himmel (1 Tim 3, 16; Apg 1, 2.11.22; Mk 16, 19), des Aufsteigens (vgl. Joh 20, 17; Röm 10, 6; Eph 4, 8ff.), der Erhöhung (Phil 2, 9; Joh 3, 14; 8, 28; 12, 32 – bei Johannes sind in Erhöhung freilich Kreuz und Verherrlichung zusammengeschaut). Das Gehen zum Vater und Sein beim Vater ist verbunden mit der räumlichen Vorstellung der „Höhe“, des „Himmels“. Dies ist weltbildlich bedingt, sagt aber in solcher Weltbildlichkeit zugleich etwas für den Glauben Bedeutsames. Höhe, Himmel bedeutet das, was überlegen ist, was zusammenfaßt, was dem Zugriff entzieht, was aber von sich her die Möglichkeit der Nähe, des Eingriffs, der [104] Übersicht, des Kommens offenhält, was die Tiefe umschließt und birgt. In der Vorstellung vom Himmel fällt also nicht die Sprache der Botschaft hinter jenes Maß zurück, das sie in der Botschaft vom anbrechenden Gottesreich, vom Einbruch des Himmels in diese Erde, vom Aufsteigen Gottes ins Zentrum unseres Lebens erreicht. Eine solche Deutung des Aufstiegs Christi in die Verborgenheit Gottes wird durch zweierlei ausgeschlossen. Einmal dadurch daß Jesus beim Vater lebt, um für uns einzutreten – dies ist die Sprengkraft der Theologie des Hebräerbriefs vom Christus dem Hohenpriester – (vgl. bes. 4, 16; 5, 7-10; 7, 25): Hier ist einer wie wir, hier ist einer, der unser Herz und Leben in sich trägt, beim Vater (vgl. auch Röm 8, 34). Die Barriere zwischen oben und unten ist eingerissen, es gibt den freien Zugang zum entzogenen Gott durch Jesus Christus (vgl. Röm 5, 2; Eph 2, 18; 3, 12). Zum andern steht Jesu Aufstieg zum Vater deswegen nicht im Widerspruch zur Botschaft vom Kommen Gottes, vom Kommen seiner Herrschaft in unsere Welt und in unser Leben, weil der Herr, der in den Himmel geht, ja in sein Kommen hineingeht. Seit er sich zur Rechten des Vaters setzt, ist er im Kommen. Dieses Kommen ist gewiß das Endgültige, die Welt Vollendende, die Zukunft, die noch aussteht. Es ist aber zugleich jenes beständige Kommen, das schon jetzt als Unterpfand dieser Zukunft, als lebendige Hoffnung uns durchdringt. Wir sind nicht alleingelassen, sondern der Herr bleibt. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Das Matthäusevangelium mündet in die Verheißung Jesu, daß er bei uns bleiben will alle Tage bis ans Ende (vgl. Mt 28, 20), und es hat in seiner Mitte die Verheißung, daß der Herr dort bleibt, dort je neu da ist, wo wir in seinem Namen uns versammeln. Und Paulus schreibt der Gemeinde von Korinth: „Fragt euch selbst, ob ihr im Glauben seid, prüft euch selbst! Erfahrt ihr nicht an euch selbst, daß Jesus Christus in euch ist?“ (2 Kor 13, 5). In dieselbe Richtung weist es, wenn im 1. Korintherbrief der Sinn aller Geistesgaben darin gipfelt, daß jener Fremde oder Ungläubige, der in die Gemeinde eintritt, erfahren können soll, daß Gott in ihrer Mitte ist (vgl. 1 Kor 14, 25). Und wenn die Ostergeschichten, die in den Evangelien von der Begegnung mit Jesus sprechen, mit Ausnahme der Er[105] zählung des Gesprächs Jesu mit Maria Magdalena, ausnahmslos von der Begegnung Jesu mit mehreren, mit einem Kreis von Jüngern handeln, dann klingt hier die Erfahrung der versammelten Gemeinde und der Gegenwart des Herrn in ihrer Mitte an. Wir können umfassend sagen: Die Schriften des Neuen Testamentes verfolgen als eines ihrer Hauptinteressen die Bereitung und Bestärkung der Gemeinden, damit sie mit dem lebendigen Herrn in ihrer Mitte leben können. Wenn sie mit ihm leben, dann geben sie der Welt das Zeugnis, das ihrer Mission entspricht. Wenn sie mit ihm leben, dann lebt unter ihnen jene Hoffnung, die sie nicht untergehen läßt in den Bedrängnissen und Enttäuschungen einer Geschichte, die nach ihrem äußeren Augenschein dem widerspricht, was der Glaube sagt: Der Herr ist im Kommen, er ist dabei, seine Herrschaft aufzurichten und zu vollenden. Die „Räumlichkeit“ von Ostern ist so bestimmt durch die Achse: Der Herr beim Vater – der Herr in unserer Mitte. Um diese Achse schwingt christlicher Glaube und christliche Hoffnung. So hat christliches Leben seinen Halt und seine Dynamik. 6.4 Gelebter Osterglaube Die Auferstehung leben, das Ostergeheimnis leben, das heißt zum einen in der neuen Ordnung der Auferstehung leben, das heißt zum anderen mit dem Auferstandenen leben. In der neuen Ordnung der Auferstehung leben ist nichts anderes als die Einholung jenes neuen Anfangs von Gott her, den die Herrschaft Gottes uns abfordert: Lebe nicht mehr von dir her, sondern von Gott her. Etwas freilich ist neu daran durch Ostern. Wir haben nicht nur eine Anweisung, wie das geht, und haben auch nicht nur ein Vorbild, das wir nachahmen können, Jesus. Wir haben einen, der diesen neuen Anfang in uns und mit uns trägt, weil er uns selber nahe ist, weil er in uns wirkt, weil wir auf ihn in uns und zwischen uns schauen dürfen. Das scheinbar so fremde Bild vom neuen Men- [106] schen, den wir anziehen Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 sollen, erscheint auf einmal naheliegend und hilfreich (vgl. Eph 4, 22- 24; Kol 3, 9-11 und 3, 1-17 insgesamt). Es gilt, einfach die Verhaltensmuster liegenzulassen, in die wir von unseren Ängsten und Interessen her hineinzuschlüpfen geneigt sind, und „umzusteigen“ in die Mentalität dessen, der sich bis zum äußersten hingegeben hat und der nun als unser Bruder neben uns, mit uns, in uns lebt. Ihn anziehen als Lebensform: So geschieht jene neue Schöpfung, jenes Neuwerden, von dem das Neue Testament immer wieder spricht (vgl. 1 Kor 5, 7f.; Röm 6, 4; 2 Kor 5, 17; Gal 6, 15; Eph 2, 15). Leben in der neuen Ordnung der Auferstehung, das führt von selbst zum anderen, zum Leben mit dem Auferstandenen. Wir werden in einem weiteren Gang unseres Nachdenkens die vielerlei Dimensionen dieses Lebens mit dem Auferstandenen anvisieren. Hier, im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Ostergeheimnis selbst, wollen wir uns auf einen Aspekt konzentrieren. An ihm hängt für die Lebendigkeit und Lebbarkeit des Osterglaubens heute wohl das Entscheidende. Dieser Aspekt heißt: Leben mit dem lebendigen Herrn in unserer Mitte. „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18, 20) – das ist von der Komposition des Evangeliums her kein österliches Wort. Und doch bereitet es jenes Leben der brüderlichen Gemeinde aus der Gemeinschaft mit dem auferstandenen Herrn vor, der es Matthäus im Gesamt seines Evangeliums geht. Es gibt zu denken, daß das erwähnte Jesuswort bei Matthäus bei den Kirchenvätern, vor allem zur Zeit der Verfolgung und auch im Entstehen geistlicher Gemeinschaften immer wieder herangezogen wurde, daß es aber in den offiziellen Dokumenten der Kirche zwischen dem 5. und 20. Jahrhundert kaum mehr eine Rolle spielte. Einige Heilige und Ordensgründer haben es nochmals bemüht, ansonsten ist es im Gesamtgut der Überlieferung bewahrt und geschätzt, aber nicht eigens ans Licht gehoben worden. Das Zweite Vatikanische Konzil und auch die persönliche Verkündigung von Papst Paul VI. haben hier eine deutliche Wende gebracht, die z. T. [107] begleitet, z. T. vorbereitet wurde durch geistliche Gemeinschaften, die dieses Wort neu in seiner vitalen Bedeutung entdeckten. Darin zeichnet sich eine kirchengeschichtlich bedenkenswerte Entwicklung ab. Die Bedeutung der objektiven, institutionellen Wege und Gestalten des Wirkens und der Gegenwart des Herrn bei seiner Kirche auf der einen Seite und die Pflege der individuellen Haltung und Gesinnung auf der anderen haben in der Geschichte das Besondere des genannten Jesuswortes bei Matthäus etwas in den Schatten gerückt. Heute stehen wir in einer Situation, in welcher nicht nur dieser oder jener Ausdruck des Institutionellen, sondern Institution überhaupt, Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Objektivität überhaupt in Frage gezogen wird. Zugleich wächst der Druck auf den einzelnen, die Anforderung an ihn in einem solchen Maß, daß er sich durch den Anspruch gelebten Christentums weithin überfordert fühlt. Er braucht Nähe, die sich nicht im Idyll erschöpft, überschaubare Gemeinschaft, die sich nicht in sich selbst verschließt. Er „braucht“ das lebendige Umgehen mit seinem Nächsten als Umgehen mit dem lebendigen Herrn – er braucht den Herrn in der Mitte der in seinem Namen Versammelten. Von hier aus wird er denselben Herrn auch in der Objektivität und Universalität der Kirche und des Institutionellen, das zu ihr gehört, entdecken. Eine Spiritualität, die beim Herrn in der Mitte der in seinem Namen Versammelten anknüpft, die aber gerade aus diesem Impuls heraus eine „kirchliche“ Spiritualität ist: das ist eine Forderung der gegenwärtigen Stunde. Zuerst aber und vor allem ist dies eine Forderung des Osterglaubens, der nach Leben drängt. Die Antwort auf die Frage, wie Leben aus dem Osterglauben geht, weist von sich aus in dieselbe Richtung. Skizzieren wir wiederum eine Folge kleiner, praktischer Schritte, die zum Leben mit dem lebendigen Herrn in unserer Mitte hinführen. a) Mich darauf einlassen, daß dieser Jesus lebt. Also nicht nur über ihn reflektieren, nicht bloß von ihm für mein Leben Motive, Ratschläge, Energien erwarten, sondern mit ihm leben wollen, mich darauf einstellen, daß er nicht ein Vergangener und nicht eine Idee [108] und nicht ein in einer unzugänglichen Ferne Eingeschlossener ist, sondern der Gegenwärtige. b) Sein Wort als gegenwärtiges, an mich gerichtetes Wort ernstnehmen. Ich nehme nur den ernst, mit dem ich rede, von dem ich mir etwas sagen lasse. Wenn er lebt, dann sind seine Worte nicht Erinnerungen und nicht Anregungen, sondern Herausforderungen, die Antwort verlangen. Wenn Jesus der Lebendige ist, dann bekommt die Heilige Schrift einen anderen Stellenwert in meinem Leben. Sie ist lebendiges Wort dessen, der lebt, Wort des Lebens als Wort für mein Leben. Es geht nicht anders: ich muß mit seinem Wort Erfahrungen machen. c) Den und das ernstnehmen, was Jesus selber, der Lebende ernstnimmt. Und er nimmt ernst, wofür er gelebt und gestorben ist – für das lebt er jetzt, in alle Ewigkeit. Das heißt aber: er lebt für den Vater und er lebt für meinen Nächsten. Mit ihm, aus seiner Perspektive, in seinem Ernst, in seinem Gehorsam den Willen des Vaters im gegenwärtigen Augenblick tun wollen, und zugleich bereit sein, den, der neben mir steht, den, der mir begegnet, genauso ernstzunehmen, wie er ihn ernst nahm. Also: das Neue Gebot erhält seine neue Dringlichkeit in der österlichen Situation. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 d) Scheinbar nur eine Zwischenbemerkung: Wir wollen zugehen auf Jesus in unserer Mitte, und bis jetzt ist nur von mir die Rede. Ja, deswegen nämlich, weil ich bei mir anfangen muß, weil ich den Nächsten, der mit mir so leben will, daß Jesus in der Mitte sein kann, nicht von mir aus herbeizwingen kann, sondern weil ich nur auf ihn zuleben kann, bis er mir begegnet, bis der Herr ihn mir schickt. Und aus noch einem Grund muß ich allein anfangen, und dies ist das Ende der Zwischenbemerkung: Jesus ist durch den Tod, durch den ganz einsamen und verlassenen Tod hineingegangen ins neue Leben, und das heißt auch: in die österliche Gemeinschaft. Wie Paulus Gemeinschaft mit dem Auferstandenen darin erstrebt, daß er sich prägen läßt durch Jesu Tod, so ist es auch mit uns. Zwischen mir als dem „alten Menschen“ und dem Leben mit dem Auferstandenen in der Mitte liegt Jesu Tod, und dieser sein Tod ist zu sterben je im gegenwärtigen Augenblick, in der Auslieferung an das, [109] worin jetzt mir der Gekreuzigte begegnet. Zugehen kann ich nur auf ihn, Ostern, Auferstehung muß ich mir schenken lassen, je neu schenken lassen, auch wenn es mir schon geschenkt ist. e) Dann aber: Mut haben, aufeinander zuzugehen und es ausdrücklich zu machen, daß wir mit dem Herrn in unserer Mitte leben wollen. Es wollen, das heißt: er muß uns wichtiger werden als alles andere, sein Leben in unserer Mitte muß uns mehr wert sein als eigene Interessen und Meinungen. Das erfordert genau dieselben Stufen, die wir bislang durchschritten haben, aber nun als Stufen aufeinander zu. Allerdings bin und bleibe ich der erste, der damit anfangen muß, nur jener Weg führt zu ihm, bei dem ich bereit bin, jeweils den ersten Schritt zu tun. f) Nicht etwas voneinander und miteinander wollen, sondern ihn – und deshalb den Herrn in der Mitte lieber haben als nur „meinen“ Jesus. Es geht nicht um die Bestätigung oder bessere Durchsetzung meiner Ideen, sondern um jenes Verlieren der bloß meinen, indem die seinen besser herauskommen können. g) Das heißt aber auch: Ihn selber mehr lieben als unseren „Gruppenjesus“. Wir müssen ihn uns schenken lassen von sich her, von seinem Wort her und auch, so schmerzlich dies klingt: von seiner Kirche her. Jesus verlassen um Jesu willen, das ist ein altes Wort in der Spiritualität caritativer Ordensgemeinschaften; wenn Jesus im geringsten Bruder die Hilfe der Krankenschwester braucht, dann darf sie sich nicht auf ihre Gebetspflicht zurückziehen. Dieses Wort wird noch härter, wenn es heißt: „Meinen“, „unseren“ Jesus verlassen um Jesu in der Kirche willen. Genau das war aber der Weg, wie bei allen großen geistlichen Aufbrüchen, bei allen Gemeinschaft stiftenden Charismen in der Kirche der Herr zum Zuge kam. Wo ein solches Leben mit dem Auferstandenen ansetzt, wo sich ein Netz von vielen lebendigen Zellen bildet, die mitten in der Kirche leben und die sich Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 füreinander und fürs Ganze der Kirche öffnen, da wird der lebendige und allmächtige Herr in unserer Mitte ein anziehender Magnet. Und die Engel können wieder den Ratlosen und Hilflosen, den Zweifelnden und Traurigen zurufen: „Warum sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?“ (Lk 24, 5). Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 [110] 7. Zwischen Jesu Gehen und Jesu Kommen 7.1 Zwielicht und Licht von Kirchengeschichte Solange die Geschichte dauert, hört die österliche Zeit nie mehr auf. Solange die Geschichte dauert, hört aber auch die Vorläufigkeit, das noch Vorösterliche nicht auf – die ganze, endgültige Vollendung ist noch nicht vollendet. Wir müssen mit dieser Spannung leben, müssen mit dem Kreuz leben, es neu je von Ostern her verwandeln lassen und in Ostern verwandeln. Kirche ist nicht einfach Reich Gottes. Und alles, was nicht Reich Gottes ist, muß noch verbrennen, muß noch sterben. Wir können die Vorläufigkeit nicht in „prophetischer“ Ungeduld ins Feuer werfen, wir dürfen uns aber auch nicht in ihr einrichten. Jesus ist in dieser Zeit der Kirche, Jesus ist in dieser Kirche da, aber seine Gegenwart ist Gegenwart zwischen einem Gegangensein und einem noch ausstehenden, letzten, endgültigen Kommen. Zwischen diesem Gegangensein und diesem Kommen steht Herrschaft Gottes in einer merkwürdigen Verhüllung. Dennoch ist die Verhüllung Gestalt, in der sich der Herr wirkmächtig darreicht, sie ist das erst Zeichenhafte an seinem Sakrament, das die Kirche ist. Wie sollen wir in diesem Sakrament mit ihm kommunizieren, wie sollen wir in der Kirche leben mit seiner ebenso österlichen wie noch vorläufigen und verborgenen Gegenwart? Wie geht Glaube in der Zeit der Kirche, die zwischen Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten einerseits und der Wiederkunft Christi andererseits dauert? [111] 7.2 Zeit der Kirche: vier Entwürfe im Neuen Testament Das gesamte Neue Testament artikuliert die Botschaft Jesu und die Botschaft von Jesus im Licht und im Kontext der Kirche und ihrer Geschichte. Ebenso gilt freilich die Umkehrung: Das ganze Neue Testament artikuliert Faktum, Leben und Geschichte der Kirche im Licht und im Kontext Jesu, seiner Botschaft, der Botschaft von ihm dem Christus. An Einzelheiten ist uns dies bereits aufgefallen. Es geht den Evangelien nicht nur darum, was Jesus damals gesagt und getan hat, sondern darum, wie heute Gemeinde aus seinem Wort leben kann und an seinem Maß sich orientiert. Wenn Jesus dafür gelebt hat und dafür gestorben und auferstanden ist, daß Menschen aus ihm und mit ihm leben, dann ist es nicht eine historische Ungenauigkeit, sondern eine innere Konsequenz, wenn sein Wort und sein Handeln so überliefert und „redigiert“ werden, daß daraus die Maßgabe, freilich nur seine Maßgabe für die Christen, für die Kirche Profil erhält. Es gibt über diesen allgemeinen Gesichtspunkt der Überlieferung und Redaktion hinaus im Neuen Testament große Kompositionen und Entwürfe, die den Sinn Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 von Kirche und Kirchengeschichte, die Gegenwart Jesu bei seiner Kirche und in der Geschichte seiner Kirche zum Thema machen. Wir können hier nicht alle diese Entwürfe vorstellen und können jene, auf die wir hinweisen, nur in einem perspektivisch verkürzten Hinblick umreißen. Vorab sei nochmals an unsere leitende Frage erinnert; sie lautet, für diese Thematik neu formuliert: Wie geht Leben in der Kirche als Leben mit dem lebendigen Herrn? Der Entwurf des Lukas Zwei leitende Gesichtspunkte für Lukas sind in seinem Doppelwerk, dem Evangelium und der Apostelgeschichte, der Heilige Geist und Jesus als der Heiland der Welt, der Menschheit. Die Logik, die das Leben Jesu und die Anfangsgeschichte der Kirche umspannt, heißt: Es „muß“ zur Verwerfung Jesu durch die Re- [112] präsentanten Israels, es muß zu seinem in liebendem Erbarmen getragenen Kreuzestod kommen, damit sich so seine Arme über die ganze Menschheit ausbreiten und sein Heil zu allen Völkern, bis an die Enden der Erde, gelangt. Die Kraft, in welcher dieser Weg Jesu als Weg Gottes erfolgt und in welcher er sich über das Lebenswerk Jesu hinaus in die Kirche fortsetzt, ist der Heilige Geist. Aus ihm wird Jesus empfangen (Lk 1, 35), er wirkt auf mannigfache Weise im Umfeld der Kindheitsgeschichte Jesu (vgl. Lk 1, 15.17.41.67; 2, 25ff.). Er ist es, der nicht nur bei der Taufe am Jordan auf Jesus herabkommt (3, 22), sondern ihn auch von dort wiederum weiterführt und dann in die Situation der Versuchung hineingeleitet und schließlich von ihr hinweg zu seinem Wirken nach Galiläa (4, 1a.b.14). Das erste Wort, im Lukasevangelium das Jesus in seinem öffentlichen Wirken spricht, ist das Zitat aus Jesaja: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn er hat mich gesalbt“ (Lk 4, 18). In der lobpreisenden und dankenden Hinwendung zum Vater, die Jesus als den Sohn und Offenbarer des Vaters ausweist, stellt Lukas Jesus vor als vom Heiligen Geist erfüllt (vgl. Lk 10, 21). Derselbe Geist, in dem Jesus getauft wurde zu seinem Werk, wird auch die Jünger taufen, damit sie für ihr Werk ausgerüstet sind (vgl. Apg 1, 5; Lk 24, 49). Dieser Geist wird die Jünger zur Zeugenschaft befähigen, damit allen Völkern die Bekehrung gepredigt und ihre Sünden vergeben werden (vgl. Lk 24, 47). Der Geist wird die Enge der Frage sprengen, die noch beim Abschied vor der Himmelfahrt die Jünger an den Herrn richten: „Herr, stellst du in dieser Zeit das Reich für Israel wieder her?“ (Apg 1, 6). Er gibt scheinbar keine Antwort, sondern verweist auf den Geist und verheißt ihnen, daß sie seine Zeugen sein werden in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde (vgl. Apg 1, 8). Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Wie sehr vom Pfingstereignis an (Apg 2, 1-13), in dem sich für Lukas die endzeitliche Vision des Propheten Joel einlöst (vgl. Apg 2, 16ff.), alle Schritte im Bericht der Apostelgeschichte Schritte im Geist und auf Antrieb des Geistes sind, braucht hier nicht weiter dargelegt zu werden. Statt daß Gottes Reich unmittelbar anbricht, [113] kommt der Geist und läßt von innen her die Sendung und die Geschichte Jesu zur Sendung und Geschichte der Kirche, in ihr aber zum Heilsweg Gottes für die Völker, für die Menschheit werden. Durch seinen Geist ist es der erhöhte Herr, der seiner Kirche nahe bleibt und in sie eingreift (vgl. Apg 7, 55f.; 9, 1-19; 23, 11). Wie nun geht die Geschichte Jesu, über ihn selbst hinaus, durch seinen Geist im Zeugnis weiter? In der Apostelgeschichte zeichnet sich eine „Gangart“ ab, die zwei aufeinander bezogene, je aufeinander folgende Schritte umfaßt: Sendung und Gemeinschaft. Die Jünger sind versammelt, um den Geist zu erbitten und zu empfangen (1, 12-14), und aus dem Geistereignis wächst sofort die erste Missionspredigt des Petrus heraus (2, 14-36). Missionarisches Zeugnis wiederum hat zur Folge das Wachstum der Gemeinde, deren Gemeinsamkeit selbst aufs neue zum Zeugnis wird (z. B. 2, 41-47). Weisen wir noch hin auf einige Züge im Leben der Kirche, wie es die Apostelgeschichte exemplarisch herausstellt. Predigt ist Zeugnis, das die Grundtatsachen des Heils jeweils hineinspricht in die Situation der Hörer (vgl. die Missionspredigten des Petrus in 2, 14-36; 3, 11-26; 10, 34-43; 13, 16- 41; 17, 22-31). Von hohem Belang ist die Gemeinschaft zwischen den vom Herrn gesetzten Verantwortlichen, wo es gilt, Entscheidungen über die Kirche zu treffen (Matthiaswahl 1, 15-26; die Wahl der Sieben 6, 1-7; Apostelkonzil 15, 1-35). Einheit ist aber nicht nur Einheit der Verantwortlichen bei Entscheidungen, in welchen der Geist wirken soll, sondern ist Lebensform der Gemeinde überhaupt, geistliche und auch materielle, bis hin zur Gütergemeinschaft (vgl. bes. 2, 43-47; 4, 23-37; 5, 12-16). Einheit und Gütergemeinschaft, das heißt auch Austausch der Erfahrung, Teilhabe dessen, was in der ganzen Gemeinde geschieht, und Teilhabe der einen Gemeinde am Leben der anderen (vgl. 4, 23; 11, 18.22; 11, 27-30; 12, 5; 14, 27; 15, 30-35; 20, 17-38; 21, 18-20). Kennzeichnend für die „Missionstheologie“ der Apostelgeschichte ist nicht zuletzt die innige Verbindung von missionarischem Erfolg und Leiden (vgl. z. B. 5, 31; 7, 54 und 8, 2; 9, 16; [114] 13, 51; 20, 23f.). Wo Verfolgung die Mission behindert, da erweitert Gott ihren Radius, da öffnet er eine neue Tür (vgl. 8, 4; 11, 19.22ff. 27-30). Schließlich: Sendung und Gemeinschaft erhalten unter dem Antrieb des Geistes ihre gefügte Ordnung, Leben wird geregelt, Ämter werden eingerichtet, und in beidem wird das Wirken des Herrn und seines Geistes, wird seine Nähe zur Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Kirche, wird sein Bleiben bei ihr angenommen und ernstgenommen (vgl. die Matthiaswahl 1, 15-26, die Wahl der Sieben 6, 1-7, das Apostelkonzil 15, 1-35; vgl. auch in der Abschiedsrede des Paulus in Milet die Erwählung von Vorstehern bzw. Bischöfen, die der Heilige Geist eingesetzt hat, um die Kirche Gottes zu weiden 20, 17-38). Im Blick auf unsere leitende Frage läßt sich der Entwurf des Lukas so zusammenfassen: Der Geist, der in Jesus wirkte, geht von ihm, dem erhöhten Herrn, weiter auf die Zeugen, die er sendet. Gemeinschaft und Sendung werden zum Grundrhythmus des Lebens und Wachsens von Kirche, der sie innerlich zur Einheit zusammenbindet und äußerlich in immer neue Horizonte hinauswachsen läßt. Der Geist sorgt für das Gerüst jener Strukturen, durch die der Ursprung weiterwirkt in der Geschichte. Derselbe Geist wird wirksam in der Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe innerhalb der einzelnen Gemeinde und über sie hinaus. Er erweist sich schließlich in der leidenden Schicksalsgemeinschaft mit dem Herrn und Hirten der Kirche. Der Entwurf des Matthäus Neues Israel, gelebt in brüderlicher Gemeinde – so könnte man einen Grundzug des Kirchenbildes umschreiben, das uns Matthäus einläßlich in seinem Evangelium vorstellt. Es fällt auf, wie sehr er das Sprechen und Wirken Jesu auf die Kirche hin liest, und so ist es theologisch zu rechtfertigen, aus einigen Grundzügen seiner Aussage über brüderliche Gemeinde eine Antwort auf unsere „österliche“ Frage zu erheben: Wie können wir in der Kirche mit dem lebendigen Herrn leben? [115] Wir wiesen schon darauf hin: Die letzten Worte seines Evangeliums sind Auftrag und Verheißung: „Mir ist alle Macht im Himmel und auf der Erde gegeben. Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern, tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Und ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung der Welt“ (Mt 28, 18-20). Was Jesus in der Vollmacht des Vaters gesagt und gewirkt hat, das vertraut er als der Auferstandene den elf Jüngern an. Jesu Vollmacht ist ganze und grenzenlose Vollmacht. Und diese Vollmacht, in der er die Herrschaft des Vaters angesagt und durch Zeichen beglaubigt hat, in der er Menschen in seine Nachfolge gerufen und zu Jüngern gemacht hat, in der er den endgültigen Willen Gottes, die neue und vollkommene Gerechtigkeit verkündet und ermöglicht hat, soll gerade jetzt weiterwirken, da er als der Auferstandene in dieser seiner Vollmacht vom Vater bestätigt ist. Die Jünger sind es, die nach außen hin handeln. Aber er handelt und wirkt in ihnen, er ist bei ihnen alle Tage bis ans Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Ende der Welt. Das Matthäusevangelium schließt nicht mit einem Wort des Abschieds, sondern mit der Zusicherung des Bleibens. Vom Abschied, von der Distanz ist hier nicht die Rede. Dieses Bleiben, diese Nähe, diese Gegenwart prägen auch das gesamte Evangelium. Der Bericht über das, was Jesus vorösterlich sagte, fließt immer wieder über in die erläuternde Anmerkung, die daraus die Anwendung für das Leben der Gemeinde zieht Es ist derselbe Herr, der damals sprach und der heute bleibt. Besonders deutlich wird dies durch die Entsprechung von Ende und Mitte des Matthäusevangeliums. Wir haben über letztere schon gehandelt, haben die österliche Bedeutung des Wortes schon ans Licht gehoben: „Wo zwei oder drei…“ (Mt 18, 20). Sieben Hinweise sollen die Sicht der brüderlichen Gemeinde und des Bleibens Jesu bei ihr nach Matthäus entfalten. a) Die Bergpredigt spricht vordergründig nicht von der Kirche. Und doch enthält sie das Grundgesetz der brüderlichen Gemeinde. Die zu ihr gehören, sollen die neue Lebensart, wie die acht Seligkeiten sie vorstellen, sollen die neue Gerechtigkeit, die vollkommener [116] ist als jene der Pharisäer und Schriftgelehrten, exemplarisch darlegen und so – wir erinnern uns – Salz der Erde und Licht der Welt sein (vgl. Mt 5, 13-16). Die Weise, wie man miteinander umgeht, verzichtend auf Vorteil, vergebend, nicht vor Gott hinzutreten wagend, solange man mit dem Bruder nicht ausgesöhnt ist, die Weise auch, wie man betet und auf die Äußerlichkeit bloßer Formen verzichtet: das hat höchste Bedeutung für den „anderen Stil“ der brüderlichen Gemeinde. b) Die zweite große Jesus-Rede Aussendungsrede (9, 35-11, 1), nimmt des in der Matthäusevangeliums, Situation des Anfangs die die nachösterliche vorweg: jetzt, nach Ostern, ist erst recht Ernte, jetzt ist es erst recht notwendig, daß der Herr Arbeiter aussendet (vgl. 9, 37). Die Zwölf, die das Evangelium hier vorstellt, werden sowohl in ihre Vollmacht eingewiesen wie auch in die Lebensform der Nachfolge, die diese Vollmacht beglaubigt. Es geht um die Treue zur Sendung in Schlichtheit und Armut. Es geht um den Mut zum furchtlosen Bekenntnis, auch wenn Verfolgungen kommen. Es geht um die Bereitschaft, um der Nachfolge willen Trennung und Kreuz auf sich zu nehmen. Und schließlich wird, der Sache nach, jenes „Wie“ der Sendung eingeführt, an dem die Vollmacht in der Kirche hängt. Der Vater hat den Sohn gesandt, und wer den Sohn aufnimmt, nimmt den Vater auf. Genauso gilt: Jesus sendet die Apostel, und wer sie aufnimmt, der nimmt ihn auf (vgl. 10, 40; zum Wie vgl. Joh 20, 21). Mit einem Wort: Sendung wird als Weitergeben der Vollmacht des Sendenden erklärt, der Gesandte aber wird zurückgebunden an das Maß der Hingabe, der Opferbereitschaft des Herrn der Sendung. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 c) Bei Matthäus wird das von Markus und Lukas nur knapp überlieferte PetrusBekenntnis, das der ersten Leidensweissagung voraufgeht, auf bedeutungsvolle Weise erweitert (vgl. Mt 16, 13-20 gegenüber Mk 8, 27-30 und Lk 9, 18-21). Nicht nur das Bekenntnis ist breiter und tiefer gefaßt, sondern ihm folgt auch die Antwort Jesu, die den Namen und das Amt des Petrus erklärt und darin wichtige Aussagen über die Kirche macht. Nur hier (außer in der Bemerkung von Mt 18, 17) ist in den Evangelien das Wort Kirche [117] ausdrücklich genannt. Nicht bloß die Verankerung der Kirche in Petrus, sondern auch zwei andere Züge sind für die Auffassung des Matthäusevangeliums von Kirche äußerst bedeutsam. Einmal die Verheißung, daß Kirche nicht untergehen wird. Wie der Herr bei ihr bleibt, so wird sie ihrerseits bleiben, solange die Geschichte dauert. Ihr Bestand ist dem Gesetz des Vergebens in das neue Niveau der Gottesherrschaft hinein enthoben. Und zum anderen überträgt ihr Jesus Vollmacht, an die sich Gott selber bindet: was Petrus auf Erden bindet und löst, das soll im Himmel gebunden und gelöst sein – eine Zusage, die hernach (vgl. 18, 18) auf die Zwölf insgesamt ausgedehnt wird. Kirche wird hier auf schockierende Weise ins Menschliche hineinverwoben: der schwache Mensch Petrus als der Fels, der sie trägt – Menschen anvertraute Vollmacht, die im Himmel gilt, so daß man versucht ist zu sagen, „wie auf Erden so im Himmel“. Und zugleich wird Kirche ebenso schockierend emporgehoben in die neue, bleibende unüberwindlich bleiben, Ordnung sie wird der Gottesherrschaft. durch die Zusage Sie des wird selber Herrn in die Matthäus ist die geheimnisvolle Gleichung zwischen Himmel und Erde einbezogen. d) Der zentrale Text über brüderliche Gemeinde bei „Gemeinderede“ (18, 1-35). In der brüderlichen Gemeinde ist der Kleinste der Größte. In die Gottesherrschaft kann nur der hineinkommen, der nicht sich selber und seine Größe mitbringt, sondern so vom Nullpunkt aus anfängt wie das Kind (vgl. Verse 1-5). Dann aber hat der Kleinste und Schwächste in der Gemeinde das größte Recht. Jeder in der Gemeinde trägt Verantwortung für ihn, keiner darf ihm Anstoß geben (Verse 6-11). Das erfordert eine Umkehrung unserer herkömmlichen „Prioritäten“. Wer hundert Schafe hat und eines hat sich verlaufen, der geht dem hundertsten nach und läßt die neunundneunzig in den Bergen zurück. So denkt der Vater in seiner Sorge um den Kleinsten, so soll die Gemeinde denken (Vers 12-14). Dem entspricht die Bemühung um Versöhnung, wo es Spannung und Verfehlung gibt. Was in der Stille abzumachen ist, soll nicht ins Gerede gezogen werden. Allerdings braucht es auch die ordnende [118] Funktion und Vollmacht der Gemeinde – sie muß anerkannt bleiben. In ihr findet, gerade um der Versöhnung willen, auch die Vollmacht des Bindens und Lösens ihren Platz (Vers 15-18). Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Wie auf Erden, so im Himmel. Dies erhält eine weitere Bestätigung: Worum wir auf Erden einmütig bitten, das wird der Vater im Himmel tun. Und der Grund solcher „Gleichung“ zwischen Himmel und Erde scheint auf: Jesus, der Herr, ist nicht nur zur Rechten des Vaters, sondern er ist lebendig in der Mitte seiner Gemeinde, dann wenn wir wahrhaft in seinem Namen, in seinem Geist miteinander eins sind (Verse 19-20). Der Himmel kann auf Erden sein, wenn der von sich her bei seiner Kirche bleibende Herr auch von ihr her, von uns her zum Zuge kommen, im konkreten Miteinander dasein und wirken kann. Der souveräne Neuanfang Gottes, unser Leben nicht aus dem Hergebrachten und Mitgebrachten, sondern aus seiner grundlosen Huld, kommt am deutlichsten zum Durchbruch in der Vergebung. Deshalb schließt das Kapitel mit der Ermahnung zum unbegrenzten Vergeben unter den Brüdern, die das Gleichnis vom unbarmherzigen Gläubiger unterstreicht. Ein letztes Mal wird der Himmel an die Erde gebunden. Nur in dem Ausmaß, wie wir Vergebung gegenseitig leben, kann der Wille des Vaters im Himmel, uns zu vergeben, wirksam werden (Verse 2135). Der Vorrang des Kleinsten, der „Grundvertrag“ der grenzenlosen gegenseitigen Vergebung, Vollmacht als Dienst an dieser Ordnung der Versöhnung, gemeinsames Gebet, das seine Erhörung in sich trägt, weil der Herr in unserer Mitte lebt und mit uns betet: dies ist der Spannungsbogen des Kapitels, in dem Kirche so groß und so demütig uns in den Blick tritt, wie wohl nirgendwo sonst im Neuen Testament. e) Vor der Rede über die Endzeit, in der letzten Woche Jesu in Jerusalem, überliefert Matthäus die scharfen Herrenworte des 23. Kapitels gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer. Sie brandmarken eine Haltung, die der Evangelist wohl auch in der jungen Kirche als Gefahr heraufkommen sieht. Jedenfalls sollen sich das Verhalten der Jünger und somit die Ordnung der Gemeinde abheben von Äu- [119] ßerlichkeit, Unehrlichkeit und Ehrsucht, die es schwer wenn nicht unmöglich machen, sich der Gottesherrschaft zu öffnen. Wir sollen uns nicht Rabbi nennen lassen, weil nur einer unser Meister ist, wir alle aber Brüder sind; wir sollen auf Erden niemand unseren Vater nennen, weil wir nur einen Vater haben, den im Himmel; wir sollen uns nicht Lehrer nennen lassen, weil nur einer unser Lehrer ist: Christus – der größte unter uns soll unser Diener sein (vgl. 23, 8-11). Noch einmal also dieser Kontrast: Das Matthäusevangelium setzt die Vollmacht in der Kirche ganz hoch an, sieht den Herrn selbst in ihr wirksam und rückt so Kirche und Reich Gottes nahe aneinander. Und doch – sollten wir nicht besser sagen: gerade darum? – wendet sich dasselbe Evangelium so scharf gegen jede Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Selbstherrlichkeit, jede Verwechselbarkeit mit irdischem Machtgebaren. Wo sich Vollmacht im Herrn gründet, da ist sie doppelt verpflichtet, auf den Herrn hin durchsichtig zu sein. Dies heißt aber durchsichtig zu sein auf seine Demut, seine Schlichtheit, auf seine Bereitschaft zu vergeben und sich zu erbarmen. f) Da es in der brüderlichen Gemeinde um den Herrn, um das Leben mit ihm geht, darf in unserem Zusammenhang auch die Rede Jesu vom Maßstab beim Jüngsten Gericht erwähnt werden. Was wir dem geringsten der Brüder getan oder nicht getan haben, das haben wir dem Herrn getan oder nicht getan (vgl. Mt 25, 40 und 45). Nicht nur in jenen, die der Herr sendet, sollen wir ihn aufnehmen und erkennen, sondern gerade auch in jenen, bei denen es nur allzu nahe liegt, ihn zu übersehen: bei denen, die am Rande stehen. Nur einen „Meister“ nennen, ihn aber im Geringsten der Brüder erkennen und im Geringsten auf den Herrn zugehen: das ist das Lebensgesetz nicht nur für den einzelnen Christen, sondern im Sinne des Matthäusevangeliums auch für die Gemeinde, für die Kirche. g) Kehren wir nochmals zum Sendungsauftrag Jesu am Ende des Matthäusevangeliums zurück. Kirche lebt bei Matthäus gewiß zumal in der brüderlichen Gemeinde. Aber sie schließt sich nicht in ihr, sondern öffnet sich – der Missionsauftrag gehört zum Grundvollzug der Kirche: „Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen [120] zu meinen Jüngern.“ Und Kirche lebt bei Matthäus zwar vom persönlichen Vollzug der Jüngerschaft, die Maß nimmt an Jesu Beispiel. Aber nichts desto weniger lebt Kirche auch aus dem Sakrament: „Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ (vgl. Mt 28, 19). Zum ganzen Bild des Matthäusevangeliums von der Kirche gehört auch der Zug des Missionarischen und Sakramentalen. Den Herrn in der Kirche sehen, ihm in allen Richtungen begegnen, ihm das Leben der Gemeinde beständig offenhalten, mit ihm, dem gegenwärtigen Herrn, leben – das ist das Konzept des Matthäusevangeliums von der Kirche. Der Entwurf des Paulus Paulus entfaltet das Thema Kirche in einer kaum zu erschöpfenden Vielfalt Wir weisen nur auf zwei sich eng berührende Ansätze hin: auf das Geheimnis der Kirche nach dem Epheserbrief und auf die paulinische Redeweise vom Leib Christi. Auf die Bedeutung von Kirche im Epheserbrief sind wir bereits im Zusammenhang mit der Heilsbedeutung des Kreuzes zu sprechen gekommen. Erinnern wir uns einiger wichtiger Momente: Gottes Heilsplan ist es, nicht nur das eine Volk, in dem er seinen Namen in der Welt bekannt machte, Israel, Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 sondern alle Völker in die erfüllende Gemeinschaft mit sich selbst zu führen. Dieser Heilsplan wird erfüllt in Jesus Christus. Er ist die Verbindung des Menschen vertikal zu Gott, indem er das, was den Menschen von Gott trennt, die Schuld, in seinem Kreuz überwindet. Er ist – durch die umfassende, nicht auf Israel eingeschränkte Heilsbedeutung seines Todes, in welchem er alle Schuld der Welt ausleidet – zugleich in der horizontalen Richtung der „Friede“, der aus dem Getrennten eine neue Einheit bildet (vgl. Eph 3 insgesamt und 2, 11-22). Dieser Heilsplan wird offenbar in der Kirche, die Juden und Heiden zu einer neuen Einheit zusammenfaßt. Jesus Christus, Zielpunkt der Schöpfung (vgl. Eph 1, 10), ist auch der „Schlußstein“ der Kirche (Eph 2, 20). Als Ziel ist er zugleich das alles einende Prinzip, Haupt des [121] Leibes (Eph 4, 15), der in den verschiedenen Diensten und Gaben des Herrn zusammenwächst, die dem Einzelnen fürs Ganze verliehen sind. Somit wird Kirche zum Raum, in dem Gott und Gottes Heil in der Welt lebendig sind (vgl. Eph 2, 20-22), ja zum lebendigen Christus selbst. Er hält sich, sein Geheimnis, in seinem Leib, der Kirche, in die Geschichte hinein (Eph 4, 7-16). Zwei Konsequenzen sind zu beachten. Einmal prägt das Verhältnis der Kirche zu Christus auch das Leben des einzelnen Christen. Christus gibt sich hin für die Kirche in einer Liebe ohne Grenzen (vgl. Eph 5, 2), er erlöst die Menschen in die Kirche hinein und bildet sie als seinen Leib, teilt sich ihr mit und ist so in ihr anwesend und durch sie anwesend in der Welt. Die Kirche verdankt sich ganz und gar Christus, lebt aus ihm, für ihn und hat ihre Freiheit und ihren Eigenstand gerade in der totalen Hinordnung auf ihn allein. Dies wird im Verhältnis des Mannes zur Frau und der Frau zum Manne geheimnisvoll abgebildet (22-32). Was zunächst aussehen kann wie Ideologisierung einer Überordnung des Mannes über die Frau und umgekehrt einer Unterordnung der Frau unter den Mann mit der einzigen „Überhöhung“ durch das Gebot der Liebe, das ist im Grunde „Revolution von innen“. Was Herrsein heißt, wird allein im Dienst Christi, in seiner Entäußerung sichtbar, denen sich die Kirche verdankt. Was Einordnung und Unterordnung bedeutet, ist innerlich von Grund auf umgewendet, indem es Hinorientierung auf Jesus Christus wird. Auf entsprechende Weise werden auch die anderen Beziehungen unter den Menschen in der Gemeinde neu und alle diese Beziehungen heißen: leben auf Jesus Christus hin, leben mit ihm, leben auf das unbedingte Recht und die unbedingte Macht seiner befreienden Liebe hin (vgl. 5, 21-6, 9). Die Kirche leben heißt im Epheserbrief mit Christus leben, auf ihn hinleben – und dies in allen Beziehungen unseres Daseins und unserer Welt. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Zum anderen bleibt noch hinzuweisen auf die Bedeutung, die dem Aposteldienst des Paulus für die Kirche zukommt. Er ist in der Perspektive des Epheser- und auch des Kolosserbriefes der beson- [122] dere Anwalt dieses Geheimnisses: Gott in Jesus, Heil für alle Menschen, und Kirche Zeichen und Ort dieses universalen Heils. Sein Dienst in der Kirche ist Dienst für die Kirche, und dieser Dienst verlangt von ihm dasselbe, was Jesus einsetzte, um Kirche zu gründen und zu bilden: das Leiden (vgl. besonders Eph 3, 1-13; 4, 1; Kol 1, 24-29). Das Stichwort „Leib Christi“ ist bereits gefallen. In ihm verdichtet sich paulinisches Denken über die Kirche zur Antwort auf die Frage: Wie die Kirche leben und in der Kirche mit dem erhöhten Herrn leben? Die Rede vom Leib Christi gehört nicht nur organisch in den Zusammenhang des Epheser- und Kol 1, 18.24), Kolosserbriefs sondern ursprünglicheren, ebenso des (vgl. Eph 1, 23; 4 insgesamt; 5, 23.30; zentral Römer- auch und in den anderen, Korintherbriefs noch (Röm 12, 4-8; 1 Kor 12 insgesamt). In beiden Briefen läßt ein verwandter Anlaß den Apostel das Bild vom Leib „enthusiastischen“ Daseinsweise Christi Frühzeit fasziniert. für die des Kirche Glaubens. Mitunter einführen. Das gefährdet Wir leben Andersartige das Streben der in der neuen nach dem Ungewöhnlichen die Einheit, Gelassenheit und Klarheit jenes Zeugnisses, in dem der Unterschied des Geistes Jesu und seiner Botschaft von den unruhigen Geistern sichtbar wird, die sich selbst und ihre eschatologische Ungeduld feiern. Man ist erinnert an das 4. Kapitel des 1. Johannesbriefs, wo eine Marke der Unterscheidung der Geister heißt: klares Bekenntnis zu Jesus als dem im Fleisch gekommenen Sohn Gottes und Mut, die Liebe zu tun, an die solcher Glaube glaubt (1 Joh 4, 1.6.7-16). Man ist ebenfalls erinnert an den Philipperbrief, wo Paulus die Gesinnung Jesu der Gemeinde als Maß ihres Verhaltens vorstellt: Demut, Gehorsam, Entäußerung. Diese Haltung, die Jesus dem Vater gegenüber lebt, soll jeden dem Nächsten gegenüber beseelen, damit Gemeinde die Stätte sei, an der Jesus Christus „durchkommt“ in dieser Geschichte (vgl. Phil 2, 1-11). Im Römer- und 1. Korintherbrief nun läuft folgende Denkbewegung im Hintergrund der Texte über die Kirche als den Leib Christi: Wer ja sagt zur unbegrenzten Liebe Christi, der sagt auch ja zu sei- [123] nen eigenen Grenzen. Nicht nur zu den Grenzen seiner persönlichen Begabung und Eigenart, sondern auch zu den Grenzen der Gabe, die er empfangen hat, um darin seinen Glauben zu leben und zu bezeugen. Wir haben alle den einen Geist empfangen, in dem wir bekennen können: Jesus ist der Herr! Sicher ist dieser Geist und ist das, was er mitteilt, so überwältigend groß, daß jeder sich ganz dafür einzusetzen hat. Aber dem einen gelingt der Rat, dem anderen die praktische Hilfe, dem dritten die geistliche und geistige Durchdringung der geglaubten Botschaft. Der eine Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Geist ist jeweils da in einer bestimmten Ausprägung, wie er sich nach außen hin umzusetzen und zu bezeugen vermag. Das ist aber nicht Schwäche, sondern „Stärke“, will sagen Berufung, die einem besonderen Plan Gottes entspricht. Durch seine besondere Gabe hat jeder etwas für die anderen, fürs Ganze. Wenn wir vom Herrn und seinem Geist leben wollen, dann müssen wir voneinander, von Zeugnis und Dienst leben, die der einzelne dem anderen erweisen vermag. Man kann auch vom Ganzen der Gemeinde her denken und muß dann sagen: sie braucht unterschiedliche Dienste und Gaben, braucht ein Geflecht von verschiedenen Funktionen. Wäre jeder für sich allein schon das Ganze, dann wäre er selbstgenügsam in sich abgeschlossen, der Grundimpuls des „Für“, der doch das Leben und Sterben Jesu prägt und der das Kennzeichen seines Geistes ist, drohte verloren zu gehen, könnte sich nicht mehr spiegeln in unserem persönlichen Leben und im Leben der Gemeinde. Nur seiner eigenen Eingebung, nur seinem eigenen Drang und Wunsch entlangleben heißt nicht auf Jesus hin leben, der nicht für sich, sondern für die anderen gelebt hat. Wir dürfen in der Begrenzung unserer eigenen Gabe und unserer eigenen Funktion das schlechterdings Unbegrenzte, Göttliche, dürfen in ihnen jenes Eigenste und Unverwechselbare leben, das Christus in die Welt gebracht hat: das Für, die Liebe. Sowohl die Reflexion des 1. Korintherbriefs über die unterschiedlichen Gnadengaben wie auch die Ermahnung des Römerbriefs über den Sinn unterschiedlicher Dienste münden jeweils in die Betonung der Liebe als des Einen, das über allem steht und in al- [124] lem zur Geltung kommen muß (vgl. Röm 12, 9f.9-21 insgesamt; 13, 8-10; 1 Kor 12, 31 und 13 insgesamt). Nur der lebt für Christus, der für die anderen, fürs Ganze lebt. Nur der lebt von Jesus Christus, der auch von der Gnade der anderen, der vom Ganzen und im Ganzen lebt. Nur der hat die ganze Liebe Christi, der sich mit seinem begrenzten Dienst und seiner begrenzten Gabe bescheidet, aber auch jeden begrenzten Dienst und jede begrenzte Gabe und jedes andere Glied des Ganzen ohne Einschränkung annimmt. Nur dann kommt Jesus Christus selbst zur Geltung und Darstellung in der Kirche und in der Gemeinde, wenn Kirche und Gemeinde das geordnete Zueinander und Miteinander vieler Gaben und Dienste sind, zusammengehalten vom einen Wort Christi durch die eine Liebe, die das Zeichen des einen Geistes ist. Im Anbruch der Gottesherrschaft ist das Ganze, Endgültige bereits hereingekommen in unser Leben, aber wir können dieses Ganze und Endgültige nur leben und wir leben es sogar in gesteigertem Maß, wenn unsere eigene Begrenzung, unsere eigene Endlichkeit für uns selbst zur Gabe und zum Geschenk werden: In solcher Begrenztheit und Endlichkeit können wir das Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 göttliche Für leben, können wir jenen neuen Zusammenhang und jene neue Einheit leben, in der sichtbar wird, daß wahrhaft Gottes Leben in uns lebt, daß Jesus Christus und sein Geheimnis in uns und zwischen uns sich Raum schafft und kundgibt für diese Welt. Wie ernst es Paulus ist mit dem Weiterwirken und Weiterleben Christi durch die Kirche in der Welt, läßt sich daran ablesen, daß die Kirche ihm nicht nur der Leib Christi, sondern Christus selber ist (vgl. 1 Kor 12, 12). In einem anderen Umfeld nennt der 1. Korintherbrief auch jenen Grund und jene Kraft, die aus uns vielen den einen Leib Christi, den einen Christus wirkt: die Eucharistie. In ihr schenkt sich der Herr uns, um in uns mächtiger zu sein als wir selbst. Durch sie lebt der Eine in den vielen, der in jedem einzelnen wichtiger und größer ist als nur er selbst und seine Unterschiedenheit von dem anderen: „Ist der Kelch des Segens, über den wir den Segen sprechen, nicht Teilhabe am Blut Christi? Ist das Brot, das wir brechen, nicht Teilhabe [125] am Leib Christi? Ein Brot ist es. Darum sind wir viele ein Leib; denn wir alle haben teil an dem einen Brot“ (1 Kor 10, 16f.). Der Leib Christi hat ein einziges Haupt, Kirche hat einen einzigen Herrn: Christus. In der Kirche gibt es zwar die Unterscheidung der vielen Dienste, Gaben und Funktionen, aber es gibt die umfassende, je größere Einheit miteinander. Lebensform der Kirche ist das Für-sein und Inne-sein des einen im anderen, durch das sich Christi Sein für uns und Sein in uns darstellt und vollendet. Von dieser Aussage darf kein Abstrich gemacht werden – und doch legen Römer- und 1. Korintherbrief es uns nahe, noch auf einen anderen Aspekt innerhalb derselben Kirchentheologie des Paulus hinzuweisen. Paulus schärft der Gemeinde ein, daß sie der Leib Christi ist, daß keiner sich über den anderen erheben, keiner sich vom anderen absondern soll – und er tut es kraft der Autorität, die er sich als dem Apostel gegeben weiß. Er tritt der Gemeinde gegenüber, spricht zu ihr im Namen, im Auftrag, in der Vollmacht des Herrn. Er bringt vom Herrn her das ein, was ihm als unverfügbarer Grund und Auftrag übergeben ist. Sicherlich, Paulus setzt alles ein, um in der Gemeinschaft, im Austausch des Glaubens seinen Auftrag und seine Gabe einzubringen. Er tut dies aber nur, wenn er sich nicht davor zurückzieht, dort, wo es sein muß, auch die Stelle des Gegenüber zur Gemeinde einzunehmen, um in ihr die Offenheit für den einzigen Herrn und das einzige Haupt vollmächtig zu gewährleisten. Das apostolische Amt – und die Kirche hat von ihren Anfängen her dies auch für seine von ihm verschiedene und doch mit ihm verbundene Nachfolge in Anspruch genommen – steht in der Kirche, aber es leitet sich nicht aus der Kirche ab, sondern wächst von Jesus Christus her durch seine besondere Gabe und Sendung in die Kirche hinein. Daß Jesus Christus das einzige Haupt der Kirche Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 und der einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen ist, bleibt in der Kirche lebendig durch dieses bevollmächtigte Amt, das man bezeichnen darf als „Sakrament der Vermittlung der einzigen Mittlerschaft Christi“. Dies erfordert von denen, die das Gegenübersein Amt zur innehaben, Gemeinde ebenso wie einen eine unbequemen demütige, sich Mut zum entäußernde Durchsichtigkeit für den einzi- [126] gen Herrn und das einzige Haupt und darin ein dienendes und brüderliches Innesein in der Gemeinschaft, einen unkomplizierten Austausch des Glaubens und Lebens mit allen, ein achtsames Hören und Ernstnehmen der anderen Gaben und Dienste, mit denen der Herr durch seinen Geist den Leib der Kirche ausgestattet hat. Mit einem Wort: In dem Maße, wie auch geistliches Amt sich als Liebe, nichts als Liebe versteht und vollzieht, bringt es die unverfügbare Vorgabe der Liebe Christi in die Kirche ein und lebt mit allen und unter allen die eine, nahtlose Gemeinschaft des Schenkens und Beschenktwerdens. Nochmals anders gesagt: Struktur der Sendung und charismatische Struktur sind kein Entweder-Oder und sind auch keine auseinander liegenden Hälften oder Bestandstücke, sie sind die beiden Aspekte der einen Struktur jener Liebe, die sich unverfügbar von Gott her schenkt, in der alle alles ihm und alles einander verdanken und schenken. Der Entwurf des Johannes Es scheint klar und verhältnismäßig schnell abgemacht zu sein: Das Wesen von Kirche ist nach Johannes gegenseitige Liebe. Solche Liebe hat die Dimensionen: Bleiben im Wort (vgl. Joh 15, 7; 1 Joh 2, 14.24); Bleiben in Jesu Gebot (vgl. Joh 15, 9-12); Bleiben in der sakramentalen Gemeinschaft mit Jesus (vgl. Joh 6, 27.56); Bleiben in der Gemeinschaft miteinander (vgl. Joh 17, 11f.). Das Leben von Kirche ist vor allem nach innen gerichtet, in ihr soll jene Liebe, die Jesus in die Welt gebracht hat, soll seine Einheit mit dem Vater lebendig – so aber soll sie die Welt anziehen, Magnet werden nach außen, missionarische Kraft entfalten (vgl. Joh 13, 35; 17, 20-23). Solche Zusammenfassung ist zweifellos zutreffend. Kirche heißt bei Johannes: Bleiben im Herrn, Bleiben des Herrn bei den Seinen kraft seines Geistes in der gegenseitigen Liebe und Einheit und durch solches Bleiben immer tieferes und weiteres Durchdringen der Welt. Das Wort für Bleiben heißt im Griechischen auch Wohnen, die Bleibe ist die Wohnung. Der scheinbar so statische Charakter der Worte Bleiben, Wohnen erschließt indessen eine eigentüm- [127] liche Dynamik und Dramatik in der Kirchentheologie des Johannes, und darauf wollen wir noch einen Blick werfen. Man könnte, in zugespitzter Formulierung, das Johannesevangelium als eine Geschichte vom mehrfachen „Wohnungswechsel“ interpretieren. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Das „Vorspiel“: Von allem Anfang an wohnt das Wort bei Gott, der Sohn am Herzen des Vaters. Nun – und damit beginnt die Geschichte – kommt der Sohn in die Welt, nimmt Fleisch an, schlägt sein Zelt unter uns auf (vgl. Joh 1, 1f. und 18; 1, 14). Er wohnt bei uns, damit wir Menschen ihn in uns wohnen lassen und durch ihn beim Vater Wohnung nehmen. Dies beginnt damit, daß Jesus Jünger um sich sammelt. Das erste Wort, das die Jünger an ihn richten, heißt nun: „Rabbi – das heißt übersetzt: Lehrer –, wo wohnst Du?“ (vgl. Joh 1, 38). Er lädt ein, dort zu sein, wo er ist, er gibt teil an seiner Erfahrung mit dem Vater. Ja, er ist das Haus Gottes in dieser Welt, seine Wohnung. Seinen Tod deutet er als Einreißen des Tempels Gottes, den er in drei Tagen wieder aufbauen wird (vgl. Joh 2, 19-22). Seinen einzigartigen Anspruch begründet Jesus damit, daß er von oben kommt, daß er allein weiß, wovon er spricht, wenn er von Gott und vom Göttlichen spricht (vgl. Joh 3, 11.31-36). Das begrenzte Wohnen Gottes in diesem oder jenem Tempel wird durch Jesus überholt, Jesus eröffnet den neuen Raum des Wohnens Gottes, den Raum der Anbetung im Geist und in der Wahrheit (vgl. Joh 4, 19-24). Das ist der Anstoß, den Jesus mit seinem Anspruch erregt: er will in uns bleiben und wir sollen in ihm bleiben, indem wir ihn als Brot des Lebens in uns einlassen, ihn, sein Fleisch und Blut, essen und trinken (vgl. Joh 6, 56). Dies ist so schockierend, daß viele sich von Jesus trennen. Wahre Jüngerschaft aber entscheidet sich hier. Petrus spricht im Namen der Zwölf: „Herr, wohin sollen wir gehen? Du allein hast Worte ewigen Lebens!“ (Joh 6, 68), und so bleiben sie bei ihm. Und nur wer bei ihm, beim Sohn bleibt, bleibt überhaupt – der Knecht hat keine Bleibe im Haus des Vaters (vgl. Joh 8, 35). Darum geht es: daß das Wort Jesu, daß sein Gebot, daß seine Liebe in die Menschen eintritt. Wenn dies geschieht, kann er und [128] kann mit ihm der Vater in uns kommen, Wohnung in uns nehmen (vgl. Joh 14, 23). Doch nun bereitet sich, Schritt um Schritt, jenes vor, wodurch Jesus sich das Verständnis beim Volk und auch bei den Jüngern zu verwirken droht. Er sagt: Ich gehe fort, ich werde von der Erde erhöht. Die Antwort der Menge: Das kann nicht sein, denn der Messias bleibt für immer bei uns; ein Messias, der wieder fortgeht, ist keiner (vgl. Joh 12, 32-36). In der Stunde des Abschieds knüpft Jesus erneut an dieser Stelle an. Er sagt zu den Jüngern, daß er fortgeht und ruft so die große Betroffenheit und Ratlosigkeit hervor (vgl. Joh 13, 31-36). Er führt aber zugleich aus dieser Ratlosigkeit heraus. Denn zum einen sagt er, wohin er geht: er geht zum Vater, um uns dort Wohnung zu bereiten (vgl. Joh 14, 1f.), und er wird kommen, um uns zum Vater heimzuholen (vgl. 14, 3). Er ist der Weg, weil in ihm der Vater schon da ist und weil in ihm wir schon beim Vater sind (vgl. Joh 14, 4-11 und 20). Zum anderen aber schenkt er uns, in seinem Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Gehen zum Vater zugleich zu uns kommend, seinen Geist und macht uns zu seiner Wohnung (vgl. Joh 14, 18-23). Hier nun ist alles das eingeholt, was wir einleitend über das Kirchenbild des Johannes gesagt haben. Kirche sein heißt, wir haben unseren Ort nicht hier, sondern wir haben ihn mit Jesus im Vater. Kirche ist notwendig „weltfremd“, weil in der Welt kein Bleiben ist, weil nur der Ort, wo er ist, Leben ist. Dies bedeutet beständige Bedrängnis in der Welt (vgl. Joh 15, 18-25; 16, 1-4.20-22), es bedeutet zugleich einen von außen nicht erreichbaren, aber auch nicht zerstörbaren Frieden (vgl. Joh 14, 27; 16, 33). In solcher „Weltfremdheit“ ist Kirche freilich ebenso „weltoffen“ – denn an ihr liegt es, durch ihre Einheit, durch die gegenseitige Liebe der Welt jene Alternative anzubieten, an der sie inne wird: Hier ist wahrhaftes Leben, hier ist wahrhaft Gott (vgl. Joh 13, 34f.; 17, 21-23). Die erstaunte Frage des Apostels, warum Jesus sich den Seinen und nicht der Welt offenbaren will, wird von Jesus scheinbar übergangen, indem er darauf verweist: wer an seinem Wort festhält, bei dem wird er wohnen (vgl. Joh 14, 22f.). Im Grunde liegt hier doch die tiefste Antwort: Ort der Offenbarung Gottes an die Welt ist jene Gemein- [129] schaft, in deren Mitte der Herr wohnt. Solches „Bleiben“ in ihm, in seiner Liebe, so daß er in uns bleiben kann, ist der Weg, wie Kirche geht, weitergeht, hinausgeht in die Welt. 7.3 Jesus in der Kirche finden, in Jesus zur Kirche finden Es macht betroffen, welche Fülle sich uns aufschließt, wenn wir Neues Testament daraufhin lesen, wie in ihm Kirche begegnet, Kirche als Weg und Ort der Begegnung mit Jesus, als Weg und Ort seines Wirkens in der Welt. Was wir zusammenfaßten, nochmals zusammenzufassen, wäre müßig. Nur eines soll noch geschehen: Wir wollen ein paar wichtige Begegnungspunkte mit dem Herrn in seiner Kirche notieren. Vielleicht fällt es uns so leichter, diese Punkte nicht zu überfahren im Alltag mit all seiner Weltlichkeit und vielleicht auch mit all seiner Kirchlichkeit. a) Fangen wir mit etwas Erstaunlichem an: Jesus in mir begegnen. Durch den Glauben, durch die Taufe, durch die Eucharistie, durch seine Gnade, durch die Gabe des Geistes, die er mir verliehen hat, ist er in mir wirksam, wohnt er in mir. Ich soll in mir auf seine Stimme hören. Ja, auf seine Stimme. Nicht an den Heiligen Geist appellierend, den ich empfangen habe, meine eigenen Meinungen selbstbewußter und unbesorgter vertreten, sondern umgekehrt vor meinem Reden und Tun auf die mir geschenkte Nähe des Herrn achten, in ihrem inneren Licht die Dinge, die Erfahrungen, die Meinungen – gerade auch die eigenen – überprüfen. Wenn ich nicht dem Herrn und seinem Geist in mir Raum lasse, dann kann er an einer Stelle der Kirche weniger deutlich und weniger kraftvoll wirken. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Wie Kirche lebt und ist hängt davon ab, wieviel Raum ich Christus in mir gebe. Und wenn ich ihn verloren habe oder zu verlieren drohe: warum schlage ich nicht so schnell wie möglich den Weg ein, ihn zurückholen? b) Jesus in jedem Bruder begegnen. Was wir dem Geringsten der Brüder getan haben, das haben wir ihm getan. Dieses Wort gilt [130] nicht allein für jene, die lebendige Glieder an seinem Leib sind, in denen er ungehindert wirken und sprechen kann. Die gegenseitige Liebe, deren Zeugniskraft bei Johannes im Vordergrund steht, drängt von innen her zur Universalität, sie will Liebe zu allen werden (vgl. 1 Thess 3, 12; 1 Kor 9, 19-22). Kirche leben heißt jene Liebe, die Gott in Jesus zu allen hat, nach innen und nach außen sichtbar machen, ihr Ort, ihre Gegenwart sein. Und darum eben auch: jeden mit den Augen Gottes sehen, der in jedem seinen Sohn sieht, weil an jedem das Blut seines Sohnes hängt. c) Jesus in seinem Wort finden. Immer wieder stoßen wir auf dieses selbe: im Wort Jesu und im Wort von ihm mit ihm selber leben. Wenn uns die Kirche in der Liturgie das Evangelium verkündet, dann sagt sie uns in unsere eigenen Lebenssituationen den gegenwärtigen, erhöhten Herrn zu. Kirche will der Leib dieses Wortes, die Inkarnation dieses Wortes, die „Lesbarkeit“ und Verständigkeit dieses Wortes für die Menschen heute sein. Sie kann es nur werden, wenn wir mit diesem Wort leben. Ist es nicht so mit der Lebendigkeit der Kirche in allen Jahrhunderten gegangen? Menschen haben sich dem Wort geöffnet und haben dadurch eine neue Perspektive, eine neue Bahn von Nachfolge erschlossen, und auf dieser Bahn hat das Wort neu hineingefunden in die verschiedenen Kulturen und Erfahrungshorizonte der Menschheit. So wie ein Glied dem anderen seinen Dienst, seine Gabe schenkt im Fürsein aller für alle, so schenken wir auch einander und darin der Welt das gelebte Wort. Und wenn wir den Eindruck haben, in der Vermittlung durch die Kirche werde das Wort mehr verdeckt als verständlich gemacht, dann liegt es an uns, hindurchzuhören auf ihn, nicht zu leben mit etwas von ihm, sondern mit ihm selbst in seinem Wort – und nur im Kontakt von ihm in uns zu ihm in seinem Wort wird die Gestalt des Lebens und der Verkündigung in der Kirche, die Gestalt der Kirche selber transparent werden für ihn. d) Jesus im Sakrament finden. Jesus hat sich ganz gegeben – und daß diese Gabe ankommt, daß sie nicht verschlungen wird von der Ohnmacht des Menschen gegenüber der Zeit, ist Zeichen der anbrechenden Gottesherrschaft. Sakrament heißt: was Gott uns in Je- [131] sus zuwendet, das kommt bei uns an. Es kommt an über unser Vermögen, über unsere Offenheit, über unsere Würdigkeit hinaus. Aber der Überschuß des Sakramentes wird eben nur in dem Ausmaß wirksam, als wir uns diesem Überschuß hinhalten, ihn in uns aufgehen lassen. Und so heißt es, ihn selber suchen in allen seinen Sakramenten, ihn als Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 den, der sie und sich in ihnen schenkt. Er tut es am dichtesten in der Eucharistie, die wahrhaft die Herzmitte des Lebens der Kirche ist. Es ist gut, daß wir aus der Engführung einer bloß individuellen Kommunionfrömmigkeit herausgekommen sind und hingefunden haben zu der Fülle der Eucharistie. Es ist gut, daß wir uns selbst, die Kirche als lebendige Gemeinschaft, als lebendigen Leib des Herrn in ihr finden. Aber es wäre fatal, wenn Eucharistie nur die Feier unserer selbst würde und wir vergäßen, daß sie nur deswegen uns eint, zum einen Leib werden läßt, weil in ihr sich uns der Herr selbst, unmittelbar und ganz gibt. Er nimmt uns hinein in seine Hingabe an den Vater, in ihr sind wir schon dort „angekommen“, wohin wir doch noch unterwegs sind. In ihr ist aber auch er angekommen bei uns, ist seine österliche Wirklichkeit, sein auferstandenes, unsterbliches Leben angekommen in unserer Sterblichkeit und Vergänglichkeit. Ostern ist der Schnittpunkt der Ordnungen: In unserer Welt des Vergehens, des Abschieds, des Sterbens ist der Auferstandene, der Anfang der neuen Schöpfung, des neuen Kosmos da. In ihr ist der da, welcher das innerste Geheimnis meines und deines und jeden Lebens ist. Und so geschieht hier jene Einheit, die wir aus uns nie machen und erreichen können. Wir werden sein einer Leib. Mit dem ich in der Eucharistie verbunden bin, mit dem vereint mich ein Band des Friedens, das nicht von dieser Welt ist. So miteinander Leib des Herrn werdend, werden auch wir Brot für die Welt, Eucharistie für die anderen. Wir werden auf jenen österlichen Weg der Passion geschickt, deren Gewinn Verlust, deren Gewinn und Verlust aber heißen: sich geben, wie er sich gegeben hat. e) Jesus im Amt seiner Kirche finden. Wie ihn der Vater gesandt hat, so hat er Menschen gesandt. Wer seine Gesandten hört, der hört ihn (vgl. Lk 10, 16). Er selbst will bei seiner Kirche bleiben, und [132] dazu gehört auch, daß er die Zeugen seiner Auferstehung sendet und sie ihre Sendung, seine Sendung, in seinem Namen weitergeben. Die großen Heiligen haben es immer gewußt, und ihr Wissen war alles eher als bequem für die „betroffenen“ Päpste, Bischöfe und Priester: Der Herr selber ist da, spricht, handelt in denen, die er sendet. Wer nicht erschrickt vor solcher Nähe des Herrn, die er durch seine Gesandten in die Kirche hineingibt, der verkennt den Ernst der Inkarnation. Wer sich auf seiner eigenen Sendung in behäbiger Sicherheit ausruht, hat sie ebensowenig verstanden. Sendung kann den, der sie trägt, im Grunde nur klein und demütig machen. Sie will ihn auch dafür öffnen, überall und gerade im Unscheinbarsten und Geringsten auf den Geist des Herrn und auf seine Stimme zu hören. Ausweichen vor der Sendung ist genauso verkehrt wie Verbrämen des eigenen Willens mit der Sendung, in welcher sich der Herr uns ausliefert. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 f) Und noch einmal: Jesus finden in unserer Mitte. Wo Christen beieinander sind, da soll er in der Mitte sein können. Wo wir miteinander sprechen, miteinander beten, miteinander planen und agieren, da ist Raum, in dem Jesus leben, dasein, sich der Welt bezeugen will. Mit dem Wort des hl. Bonaventura gesagt: „Wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, da ist Kirche.“ Glaube geht, Leben mit der Kirche geht in dem Maße, in dem wir an diesen „Kontaktstellen“ auf den Herrn zugehen. Wir haben in unseren Hinweisen auf mehr gedeutet als nur auf das, was wir unmittelbar aus den Grundentwürfen des Neuen Testamentes erheben konnten. Die theologische Vermittlung wäre eine weiterreichende Aufgabe über den Rahmen dieser unserer Besinnung hinaus. Die „Logik“ der neutestamentlichen Grundentwürfe führt den, der sich auf sie einläßt, indessen bereits unmittelbar zu den von uns bezeichneten Kontaktstellen hin – und erschließt noch weitere Perspektiven. Wer etwa die Spannweite von Kirche nach dem Matthäusevangelium ermißt, der wird einen neuen Zugang auch zu etwas wie der Stellung des Papstes innerhalb der katholischen Dogmatik finden. Diese Stellung wird ihm nicht mehr Rechthaberei, sondern Chance [133] bedeuten, radikaler, unmittelbarer mit dem Herrn in seiner Kirche zu leben. Freilich, er wird erkennen, daß dieselbe Dynamik, die hierhin führt, zum Herrn im Geringsten der Brüder, im Unscheinbarsten und Entferntesten, in dem hindrängt, der am meisten „am Rande“ steht. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 [134] 8. Der Heilige Geist 8.1 Zugang: verschiedene Dimensionen von Geist Eingangs hatten wir uns überlegt, ob wir bei der Botschaft von der Gottesherrschaft oder beim österlichen Bekenntnis zum erhöhten Herrn anfangen sollen. Eine dritte, näherliegende, aber zugleich verborgenere Möglichkeit hatten wir nicht ausdrücklich in die Erwägung einbezogen. Eine näherliegende – denn jene Unmittelbarkeit zum Vater, die uns durch Jesus, durch seine Ansage des Gottesreiches erschlossen ist, und jene Nähe zum österlichen Jesus, die ihn als den Herrn weiß, haben eine und dieselbe Voraussetzung. „Abba, Vater!“ rufen wir im Geist, den wir empfangen haben (vgl. Röm 8, 15; Gal 4, 6). Und „Herr ist Jesus!“ kann niemand rufen außer im Heiligen Geist (vgl. 1 Kor 12, 3). Im Geist werden der Vater und der Sohn so Thema, daß sie an sich selber aufgehen. Im Geist gehen wir uns allererst so auf, wie wir vor Gott und durch ihn sind. Der Geist selbst aber wird nur schwerlich zum Thema. Man spricht nicht vom Licht, in dem man sieht, sondern von dem, was man im Lichte sieht. So ist es ein wenig geblieben auch durch die Geschichte der Kirche und der Theologie hin. Allerdings, dies muß man hinzu sagen, steht doch mehr in den Schriften des Neuen Testamentes vom Heiligen Geist, als es zunächst vielleicht den Anschein hat. Und auch die große Theologie, zumal der Väter wie auch jene etwa des Bonaventura im Mittelalter sagt mehr vom Geist, als wir in unserem gängigen Bewußtsein präsent haben. [135] Wie geht Glauben? Die erste, vielleicht treffendste und umfassendste Antwort auf diese Frage hieße jedenfalls: Glauben geht im Heiligen Geist. Hier wird gesagt, daß nicht wir es können, daß es nicht von unserer Kraft aus geht, daß es aber, wenn nicht aus unserem Vermögen, so doch durchaus mit uns, ja mit unserer Freiheit in unserem Eigensten, geht. Zugänge zu „Geist“ Darin sind wir schon in einen Zugang vorgestoßen, der uns verstehen hilft, von welch eigentümlicher Art das ist, von dem wir reden, wenn wir vom Geist reden. Von Geist freilich in dem Sinn, wie die Schrift von Geist, Heiligem Geist spricht, nicht im Sinne von Intellekt oder Vernunft oder Gegensatz zur Materie. Wenn einen der Geist überkommt, wenn einer im Geiste spricht, wenn einer einen bestimmten Geist hat, dann wirkt in ihm etwas, das nicht nur er selbst ist. Und es wirkt gerade in dem, was am meisten „sein“ ist: in seinem Sprechen, Sehen, Wollen, seiner Spontaneität, seinem Verhalten zu den anderen, zur Welt, zu sich selbst. Es ist, als ob in die Quelle, die er selber ist, eine tiefere Quelle sich Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 einspeiste. Es ist, als ob in dem Licht, das er ausstrahlte, ein anderes Licht durchstrahlte, ein Licht, das er nicht von einer äußerlich sichtbaren Lichtquelle her empfing und dann widerspiegelte, sondern das sein eigenes Lichtsein durchwirkt. Aus dir spricht und wirkt mehr als nur du! So wirkt auf uns jemand, der von einem Geist erfüllt – oder auch besessen ist. Dies sind die beiden Möglichkeiten – oder sollten wir nicht besser gleich drei mit in Betracht ziehen? Es gibt die Erfahrung: Hier ist einer überfremdet, hier spricht er nicht mehr so, wie er eigentlich ist, hier ist etwas in ihn hineingefahren und hat ihn übermächtigt, was quersteht zu ihm selbst. Dieser Zwiespalt oder diese Besetztheit, in einem nicht schon theologischen durchgeklärten Sinne gesagt: „Besessenheit“ von einem anderen Geist wäre die eine, die negative, ja schreckliche, weil die Freiheit zerstörende oder zumindest entfremdende Spielart. Die andere ist jene der Begeisterung, des Enthusias- [136] mus, der Entflammtheit: Eine Idee, eine Gesinnung, ein Einsatz bricht aus einem Menschen hervor, größer als er selbst, das, was wir von ihm gewohnt sind, sprengend, ihn sozusagen über sich selbst hinaus hebend – aber eben ihn, so daß von einem anderen Niveau aus doch er selber es ist, der sich da äußert. Anders gewendet: Was diesen Menschen entflammt, erfüllt, begeistert, ist zwar mehr als nur seine Leistung, aber es ist Steigerung, Entbindung eigener Kräfte und nicht ihre Minderung oder Hemmung. Und nun das dritte: In einem Menschen wirkt der Ursprung, der Anfang, der schlechterdings mächtiger ist als er, größer, aber auch früher als er. Jener Ursprung, von dem her er selber erst ist. Er, das Geschöpf, dieser endliche Mensch, sagt und tut Dinge, die nicht aus dem Vorrat seiner Endlichkeit möglich sind. Er wird Organ und Werkzeug göttlichen Wirkens. Wiederum ist er gerade nicht sich selbst entfremdet, ganz im Gegenteil. Er kann überdehnt, überfordert, bis zum äußersten beansprucht sein – aber er findet in dem, was ihn erfüllt und treibt und in Anspruch nimmt, eine neue, wenn auch nicht immer bequeme Identität. Geist ist hier die Kraft, durch die Gott seine Ursprünglichkeit in einen Menschen überspringen läßt, damit er Worte und Taten nicht nur im Auftrag Gottes vollbringt, sondern solche, in denen Gott selber spricht und wirkt in der Geschichte. Hierbei sind freilich verschiedene Ziele und ihnen entsprechend verschiedene Weisen von Geistmitteilung zu unterscheiden – „funktionale“, die einen Menschen von Gott her zu einem geschichtlichen Auftrag befähigen, „personale“, die ihn selber in seinem persönlichen Verhältnis zu Gott, in dem, was er selber ist, betreffen. Sehr oft sind beide miteinander verbunden – eine Entfaltung der Typen muß hier unterbleiben. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Dimensionen von Geist Eine andere Unterscheidung hingegen ist in unserem Kontext wichtig. Geist bedeutet, so wie wir es bisher sahen, allgemein andere Ursprünglichkeit, die sich in menschlicher Ursprünglichkeit durchsetzt. Wenn wir auch soeben diese Redeweise von jener anderen ab- [137] gehoben haben, die Geist von etwas wie Stoff, Materie abgrenzt, so spielt doch eine verwandte Gegenüberstellung ins Neue Testament hinein: im Wortpaar Fleisch und Geist (vgl. z. B. Joh 3, 6; 6, 63ff.; Röm 6-8; 2 Kor 5, 16; Gal 5, 17). Die Stoßrichtung der Aussage ist hier nicht eine Zweiteilung der Welt, bei welcher das Materielle minderwertig, das Geistige hochwertig, Gott zugeordnet erscheint. Es geht eher wiederum um verschiedene Ursprungsbereiche, hier des Handelns und Verhaltens des Menschen. „Fleisch“ meint jenen Ursprungsbereich, in dem Interessen und Wünsche wie die nach Geltung, nach Genuß, nach Macht beheimatet sind, die also grundsätzlich vom Ich ausgehen und sich in ihm erschöpfen. „Geist“ meint hingegen den Ursprungsbereich Gottes, in dem sich zwar die Interessen und Sehnsüchte des Menschen erfüllen, aber nicht auf das Ich allein bezogen, sondern in jener Offenheit fürs Ganze, in jeher Offenheit zumal fürs Höchste, Gott. An Stelle der isolierenden Selbstbeziehung tritt die Beziehung zu Gott und die Beziehung Gottes zu allen in die Mitte. Es ist nun kein bloß äußerer Umstand, daß Geist Gottes als Ursprungsmacht Gottes im Menschen und Geist als „andere Ordnung“ göttlichen Lebens und göttlicher Ursprünglichkeit sich im Neuen Testament durchdringen. Die Ursprünglichkeit Gottes ist eben anders, ist eben nicht nur Selbstbezogenheit, sondern sich mitteilende, sich verschenkende Freiheit. Im Geiste leben heißt in der anderen Lebensart Gottes leben. Das aber gelingt nur, wenn wir aus Gottes Ursprung leben. Beide Bedeutungen der Rede von Geist fallen hier zusammen. 8.2 Anlässe neutestamentlichen Sprechens vom Geist Wir können zumindest fünf Anlässe hervorheben, die unmittelbar im Neuen Testament zur ausdrücklichen Rede vom Geist drängen. Zunächst ist es die Neuheit des Denkens und Lebens, die der Christ in seinem Christsein erfährt. Er unterscheidet sich in seinen Reaktionsweisen nicht nur von den anderen, sondern auch von sich [138] selbst, von seinem Denken und Leben zuvor. Man kann abgekürzt sagen: Jener neue Anfang, den die Herrschaft Gottes schenkt und fordert, gibt sich uns im Heiligen Geist zu erfahren, Heiliger Geist wäre in diesem Sinn die Wirksamkeit der Gottesherrschaft in uns, das heißt aber die Wirksamkeit Gottes in uns. Wenn Gott aufbricht vom bloßen Horizont ins Zentrum nicht nur des Lebens, sondern auch unseres eigenen Herzens, wenn Gott sich uns mitteilt, dann waltet hier eben Heiliger Geist. Gott als Ursprung Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 unserer eigenen neuen Ursprünglichkeit, Gottes Ursprungsraum als unser Lebensraum in der Gemeinde – dies ist das Feld, in dem Heiliger Geist zur Sprache kommt (vgl. z. B. Röm 5, 5; besonders Kap. 8 insgesamt; 14, 17; Gal 5, 5-25). Ein zweiter Anlaß ist die Notwendigkeit, die Geister zu scheiden. Das Zeugnis von Jesus dem Christus ist nicht das einzige und es ist nicht in allen seinen Gestalten ursprünglich und echt. Im Umfeld von Gemeinde meldet sich vielerlei an Ansprüchen, Erleuchtungen, Heilslehren. Die Unterscheidung der Botschaft gegenüber anderen, ähnlich klingenden Botschaften oder gegenüber Entstellungen der Botschaft im Innern der Gemeinde braucht Kriterien des Geistes Gottes (vgl. besonders 1 Joh 4, 1-6; auch 1 Tess 5, 19 21; Gal 3, 1-5; 1 Kor 12, 3; 2 Kor 11, 4). Aber auch – dritter Anlaß – die echten Wirkungen und Gaben des Geistes können Anlaß zu einer Verkehrung werden. Man kann sie höher schätzen als den Geist selbst, der sie gibt, sich in sie verlieben, statt ihn zu lieben und aus seiner Liebe zu handeln. Charismatische Unordnung, charismatische Eigenbrödelei, das fordert die klare Entscheidung heraus, was wahrhaft des Geistes ist. Die Kapitel 12-14 des 1. Korintherbriefs gelten diesem Thema. Nicht die Wirkungen des Geistes sind der Maßstab für das Leben im Geist, sondern die Früchte des Geistes (vgl. auch nochmals Gal 5, 13 bis 25). Ein vierter Anlaß ist die Erfahrung des vollmächtigen, von Gott erfüllten Sprechens und Handelns Jesu. Immer wieder wird Jesu Auftreten in den drei ersten Evangelien und der Apostelgeschichte aus seinem Erfülltsein vom Heiligen Geist her interpretiert. Den be- [139] sonderen Stellenwert dieser Deutung des Wirkens Jesu bei Lukas haben wir bereits berührt. Aber auch in den anderen Evangelien (vgl. z. B. Mt 3, 11; Mk 1, 8; Mk 1, 10; Mt 4, 1; Mk 1, 12; Mt 10, 20; Mk 13, 11; Mt 12, 18.28.31f.; Mk 3, 29) nimmt bei der Darstellung des Lebens und Wirkens Jesu die Rede vom Heiligen Geist eine bedeutsame Position ein. Wir können hier nicht in die Untersuchung eintreten, inwieweit hier ursprüngliches Traditionsgut vorliegt und inwieweit die theologische Deutung durch die Evangelisten „ältere“ Worte reicher befrachtet. Jesus spricht aus dem Geist – Gottes Ursprünglichkeit waltet in ihm auf eine besondere Weise: dies ist Grundaussage der Evangelien. Johannes macht in seinem Evangelium eine Aussage, die nicht nur sein Verständnis Jesu, sondern – wir dürfen dies vom Ganzen, vom Ende her sagen – auch das der ersten drei Evangelien zusammenfaßt: „Der, den Gott gesandt hat, redet die Worte Gottes; denn unbegrenzt gibt er den Geist. Der Vater liebt den Sohn und hat alles in seine Hand gegeben“ (Joh 3, 34f.). Die Zuverlässigkeit der Zeugenschaft Jesu für den Vater, der unbedingte Rang seiner Botschaft, die Gottes neue Zeit, Gottes Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Herrschaft ansagt, ist darin begründet: die Geistmitteilung des Vaters an Jesus ist nicht mehr nur eine begrenzte, wie bei den Propheten, für diese oder jene Botschaft, für diesen oder jenen Auftrag, sondern Gottes Geist in seiner ganzen, göttlichen Fülle wirkt in Jesus, und so vollzieht er den letzten, totalen, universalen Auftrag Gottes, die Ansage seiner Herrschaft, den Anbruch seines Heils. Sowohl die Empfängnis Jesu vom Heiligen Geist (vgl. Lk 1, 35; Mt 1, 18.20) als auch die Herabkunft des Geistes auf Jesus bei der Taufe im Jordan (vgl. Mk 1, 10; Mt 3, 16; Lk 3, 22; Joh 1, 32f.) Verknüpfung zwischen Jesu Wirken und dem und die thematische Wirken des Geistes im Lukasevangelium laufen auf diese Deutung zu: Gottes Geist ist in Jesus nicht nur wie in einem Propheten, sondern in schlechthin erfüllender, überbietender und unüberbietbarer Weise da. Ein letzter Anlaß dazu, daß im Neuen Testament vom Heiligen Geist die Rede ist, steht im Hintergrund der beiden im Neuen Testament ausgeführten heilsgeschichtlichen Geisttheologien bei Lu- [140] kas und Johannes. Bereits Gesagtes erlaubt die Beschränkung auf einen Hinweis. Jesus geht fort, aber er ist auf neue Weise da. Und nicht nur er ist da, sondern auch seine Sendung geht weiter. Dasselbe, woraus er lebte, bewegt die Jünger, dieselbe Sendung, die ihn trieb, treibt auch sie, dieselbe Kraft und derselbe Ursprung, aus denen er schöpfte, stehen ihnen, stehen uns, der Kirche zur Verfügung. Die neue, andere Gegenwart Jesu und die Entsprechung zwischen seiner Sendung und seinem Sein einerseits und unserem, der Zeugen, der Kirche Sein und Sendung andererseits lassen nach dem Dritten, Verbindenden fragen. Und hier heißt eben die Auskunft bei Lukas und Johannes: Der Geist, der in Jesus wirkte, ist die Quelle der Verbindung mit Jesus, seiner Nähe (dies besonders bei Johannes) und seiner Sendung (bei Lukas Pfingstereignisses wie bei Johannes). (vgl. Apg 2, 1-13) bzw. Dies der ist die Bedeutung österlichen des Geistsendung (vgl. Joh 20, 19-23). Fassen wir zusammen: Wir stehen in einem neuen Leben, in einem Leben aus Gottes Ursprungsmacht – das ist christlicher Glaube und christlicher Vollzug. Wir haben das, was wir als Wirklichkeit und Anspruch von Jesus her glauben und erfahren, zu unterscheiden von anderen Ansprüchen und Deutungen. Wir dürfen uns nicht an die Gaben und Wirkmöglichkeiten verlieren und hängen, die uns aus der Verbindung mit Jesus Christus geschenkt sind, und dürfen uns vor allem nicht aus der inneren Einheit in seinem Namen heraussprengen lassen durch die Fixierung auf je unseren Weg. Dies sind die praktischen Anlässe, aus denen bei der Ermahnung der Gemeinde in den Apostelbriefen jenes Worin und Woraus zur Sprache kommt, das unsere gläubige Existenz prägt. Dieses unser Worin und Woraus haben wir von Jesus empfangen, er, der erhöhte Herr, hat uns seinen Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Geist gesandt, damit wir seine, des Sohnes Sendung, weitertragen in die Welt. Der Geist macht uns zum lebendigen Christus für diese Welt. Wie er in der Kraft dieses Geistes aus dem Vater gelebt und gewirkt hat, so lebt und wirkt er weiter in der Kirche durch seinen Geist, den er uns verliehen hat. In ihm wohnt der Geist ohne Grenze und Maß – wir haben diesen Geist ohne Grenze und Maß nicht in der Gabe, wie wir sie in uns haben, sondern durch die [141] Verbindung, die diese Gabe uns mit ihm, dem Herrn der Kirche, vermittelt. Wir verstehen nun auch, weshalb im Johannesevangelium Jesus sagt, es sei gut, daß er von uns geht, weil sonst der Geist nicht kommen könne (vgl. Joh 16, 7). Oder, wie ein anderes Schriftwort denselben Sachverhalt ausdrückt: Es gab noch nicht den Geist, weil Jesus noch nicht verherrlicht war (vgl. Joh 7, 39). Seine Stelle in der Geschichte einnehmen – das hat zur Voraussetzung, daß seine Stelle in der Geschichte „frei“ ist, daß er selbst diese Stelle nicht durch sich, sondern durch uns einnehmen will. Darin wird der tiefste Sinn des Heimgangs Jesu zum Vater sichtbar. Seine Liebe, die uns alles mitteilt, will uns auch mitteilen, daß wir „er“ sind für die Welt. Wir können aber nur er sein, wenn wir ihm bedingungslos in uns Raum lassen, wenn wir uns dem Geist öffnen. Tun wir es, dann erfahren wir in unserer Existenz jenes wiederum johanneische Paradox: Getrennt von Jesus können wir nichts tun (vgl. Joh 15, 5) – wer an ihn glaubt, aus dem werden selbst Ströme lebendigen Wassers hervorbrechen, er wird zur Quelle (vgl. Joh 7, 38), wir werden aus seinem Geist dieselben Werke wie er vollbringen und noch größere als er (vgl. Joh 14, 12). Das größere Werk: Jesu Hineinwachsen durch unsere Liebe in die Welt, das Wachstum seines Leibes. 8.3 Was ist das, wer ist das: der Geist? Gottes Geist in uns, dasselbe in uns, was Jesus erfüllt, woraus er lebt und wirkt und sich hingibt, so sehr, daß wir selbst Christi Leben teilen und seine Stelle für die Welt einnehmen: Was ist dieser Heilige Geist? Im Römerbrief lesen wir: „Wer den Geist Christi nicht hat, der gehört nicht zu ihm“ (Röm 8, 9), und: „Alle, die sich vom Geist Gottes führen lassen, sind Söhne Gottes. Denn ihr habt nicht den Geist empfangen, der euch wieder zu Knechten macht, so daß ihr euch fürchten müßtet, sondern ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen macht, den Geist, in dem wir rufen: Abba, Vater! [142] Der Geist selber bezeugt unserem Geist, daß wir Kinder Gottes sind“ (Röm 8, 14-16). Daß wir durch den Geist des Sohnes Söhne sind und nicht mehr den entfremdenden Gewalten der Weltzeit unterstehen, daß wir, über die Unterschiede unserer Herkunft und Tradition hinweg, im einen Geist durch Jesus Christus den freien Zugang zum Vater haben, daß der Geist Anfang unseres Erbes, also der Vollendung unserer Sohnschaft ist, sind andere Aussagen, die Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 denselben Sachverhalt in unterschiedlichem Zusammenhang bei Paulus im Auge haben (vgl. Gal 4, 1-7; Eph 2, 18; 2 Kor 1, 22). Im Heiligen Geist rufen wir also: Abba, Vater! Der Geist gibt uns Zeugnis, daß wir Söhne Gottes sind. Im Geist gehören wir zu Christus und erkennen wir, daß wir zu Christus gehören. Im Geist – so dürfen wir aus einem anderen paulinischen Zusammenhang hinzufügen – allein erkennen wir auch Jesus als den erhöhten Herrn (vgl. 1 Kor 12, 3). Dies entspricht dem uns schon bekannten Geistzeugnis, wie es bei Johannes formuliert ist: Wir erkennen, daß Jesus im Vater ist, wir in ihm sind und er in uns ist. Der Geist bezeugt also den Vater und den Sohn und uns als zu beiden gehörig. Das „Bezeugen“ des Geistes ist freilich im Blick auf uns schöpferische Kraft. Denn der Geist macht uns zugleich zu Söhnen, er gibt uns zugleich, als Gottes Gabe, den Anfang des Sohneserbes, das uns mit Jesus zuerkannt ist. Für Paulus ist der Geist aber nicht nur Gottes Kraft, die nach außen wirkt. Er ist wirksam in Gott selbst. Er ist jener, der die Tiefen der Gottheit kennt. Nur er ermißt Gott von innen, so wie unser Geist, hier verstanden als unser Wissen um uns, das Innerste in uns, uns selbst ermessen und verstehen kann. Als Geist, der Gott kennt, ist er letzte, keiner weiteren mehr unterworfene Instanz (vgl. 1 Kor 2, 14f.). Der Geist, der Gott von innen erkennt, ist für Paulus Geist des Vaters und des Sohnes. „Ihr aber seid nicht vom Fleisch, sondern vom Geist bestimmt, da ja der Geist Gottes in euch wohnt. Wer den Geist Christi nicht hat, der gehört nicht zu ihm. Wenn Christus in euch ist, dann ist der Leib tot für die Sünde, der Geist aber schafft [143] Leben aufgrund der Gerechtigkeit. Wenn der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, dann wird er, der Christus Jesus von den Toten auferweckt hat, durch seinen Geist, der in euch wohnt, auch euren sterblichen Leib lebendig machen“ (Röm 8, 9-11). Geist wird hier also in einem Atemzug als der Geist Christi und als der Geist dessen bestimmt, der Christus von den Toten auferweckt hat. Es ist der eine Geist, der in beiden lebt und wirkt, im Vater wie im Sohn. Er bezeugt zugleich, daß der Vater im Sohn und der Sohn im Vater ist. Dieser gemeinsame Geist unterscheidet sich von jenem gemeinsamen Liebender Bewußtsein ineinander der insofern, Liebe, als des der gegenseitigen Geist Gottes Inneseins selber zweier mitteilender, bezeugender, wirkender Ursprung ist. Wenn – um auf Matthäus und Lukas zu blicken – niemand weiß, wer der Sohn ist, nur der Vater, und niemand weiß, wer der Vater ist, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will (vgl. Lk 10, 22 und Mt 11, 27), dann gibt es etwas, was in beiden das Sich-kennen beider in göttlicher Ausschließlichkeit Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 kennt, weiß, bezeugt. Und gerade dies Gott ganz Umfassende, Durchdringende, Vater und Sohn Erfüllende und Verbindende ist, nach allem, der Geist. Könnte man indessen nicht auf die Vermutung kommen, Geist bedeute einfach eine göttliche Kraft, die im Vater und im Sohn wirkt, und wie dies mit Liebe und Glück, mit Weisheit und Tod ist, so habe man auch diese Kraft Gottes sinnbildlich zur Person hochstilisiert – und später glaubte man dann eben an ihre Personalität? Außer dem verbindlich in der Kirche entfalteten Glaubensbewußtsein als solchem sprechen innere Gründe gegen diese Meinung. Der Geist des Vaters in Jesus – der Geist des Vaters und Jesu in uns: hier handelt es sich um eine göttliche Selbstmitteilung, in der er etwas von sich in Jesus und in uns hineingibt. Etwas von sich? Erinnern wir uns an die Aussage bei Johannes, daß Gott den Geist ohne Maß in Jesus hineinlegt. Eine unangemessene, totale Selbstmitteilung Gottes aber – das kann nichts anderes sein als Gott selbst. Denn Gott hat gar keine andere „ganze Kraft“ seiner selbst [144] als sich selbst, es gibt in ihm keine andere Totalität als ihn, Gott selbst. Bei Johannes tritt der Geist aus dem möglichen Verständnis einer anfänglichen Gabe, die nur gegeben ist und nicht auch selber gebend ist, vollends heraus: Der Geist redet nicht von sich aus, sondern er redet, was er hört Er verherrlicht Jesus; er nimmt von dem, was sein ist, um es uns zu verkünden. Von dem, was sein ist, das meint: von dem, was des Vaters ist, weil alles, was des Vaters ist, auch dem Sohn gehört (vgl. Joh 16, 13-15). Der Geist steht also von sich aus im Verhältnis zum Vater und Sohn. Als beide innigst verbindend, ist er zugleich beiden gegenüber. Könnte es aber nicht problematisch sein, uns ausschließlich auf diese Aussage des Johannesevangeliums zu stützen, die so in früheren Schichten der Schrift nicht formuliert ist? Genau diese johanneische Aussage ist die geradlinige Fortführung und Ausformulierung dessen, was die Aussagen über den Geist in Jesus bei Paulus und in den ersten drei Evangelien anzielen: die qualitativ verschiedene, schlechterdings unüberholbare Weise, wie Gott in Jesus wirkt, wie er seine Vollmacht, seine Gegenwart, seine Herrschaft, sich selbst ihm anvertraut. Ein Gegenmodell gegen Geist als ein personales Drittes im einen Gott wäre der Gedanke: Der Sohn ist durch die grenzenlose Selbstmitteilung des Vaters, durch seinen Geist, verstanden als liebendes Ja des Vaters zum Menschen Jesus, der Sohn – und dieses Ja, dieser Geist, aus dem er lebt, gibt Jesus in uns hinein, wir werden so mit ihm zu Söhnen. Die Gegenfrage: Hätte dann Gott wirklich sich gegeben, indem er Jesus für uns dahingibt? Wäre die Hingabe eines Sohn Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 gewordenen Menschen für die anderen Menschen jene „größte Liebe“, in der Gott sich selbst hineingibt in unser Leben und Sterben – oder wäre Jesus nicht doch nur der ins Eigene Gottes von außen hineingenommene Andere, dem Gott unsere Last auflädt? Jene äußerste Liebe Gottes, wie sie uns nicht erst Johannes (vgl. Joh 3, 16), sondern auch Paulus bezeugt (vgl. Röm 8, 32; 5, 6-10), wäre in einer bloßen Geist-Christologie unterboten (wogegen auch 2 Kor 3, 17 nicht ins Feld geführt werden kann, wo Geist Lebensraum und Daseinsweise des erhöhten Herrn bedeutet. „Geschichtliche“, nicht personale Identität von Sohn und Geist sind bei dieser Stelle im Blick). Der Geist ist nicht nur die Gabe des Vaters an den Menschen Jesus, den er so zum Sohn machte, wie wir durch den Geist Söhne Gottes werden. Jesus ist der Sohn, der das Menschsein annimmt, ja der Mensch wird – Gott selbst gibt sich in ihm. Und Vater und Sohn geben, jeder sich dem anderen gebend, einander den einen Geist, der genauso ursprünglich und ursprunghaft, personhaft, zu Gott selbst gehört, in die göttliche Gemeinschaft von Vater und Sohn hineingehört. Auch das entgegengesetzte Deutungsmodell ist also auszuschließen: Geist als „anderer Name“ für den Sohn. Jesus gibt sich uns hin – aber er gibt nicht nur sich weiter, sondern zugleich das, was er dem Vater und der Vater ihm schenkt, die eine, gemeinsame Gabe, die sie einander schenken: den Geist als Drittes. Diese Gabe ist aber kein bloßes Etwas, sie ist lebendiger, wirkender Ursprung, der uns den Vater im Sohn, den Sohn im Vater bezeugt. Jesu Menschsein ist von diesem Geist durchdrungen, erfüllt, ja, gebildet – und diesen seinen Geist gibt der Sohn, sich gebend, uns dahin, damit wir die Kraft und Tiefe seines göttlichen Lebens in uns haben, damit wir im Geiste Söhne Gottes seien. Wir sind es, aber sind es im bleibenden Unterschied zum einzigen Sohn, unser anderer, geschöpflicher Ursprung wird in der göttlichen communio nicht ausgelöscht. Gott ist aber so der Gott der lebendigen Beziehung, der Gott, der in sich selbst Miteinander, Gemeinschaft ist. Die Linien des Neuen Testamentes laufen, zusammengelesen, auf diese Botschaft vom dreifaltigen Leben Gottes hin. Wer im Geist unser eigenes Verhältnis zu Vater und Sohn bedenkt, der findet diesen personhaften Heiligen Geist als den Schlüssel und als die Achse des Geheimnisses Gottes und des Geheimnisses unserer Berufung. [146] 8.4 Den Geist verstehen – im Geiste Gott verstehen Wer wir sind, haben wir an den elementaren Zeugnissen im Römerbrief und Galaterbrief abgelesen (vgl. Röm 8, 15f.; Gal 4, 6f.; vgl. auch 1 Joh 3, 1): Wir sind durch den Geist des Sohnes selbst Söhne, Kinder Gottes. Jesus ist der Sohn und hat den Geist des Vaters in Fülle – indem er seinen Geist uns mitteilt, erhalten wir Gemeinschaft mit ihm in dem, was er ist. Wir haben eben denselben Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Vater wie der einzige Sohn und können ihn als Vater im Geist anreden – und wir können im Geist erkennen, daß in Jesus der Sohn selbst unser Menschenbruder geworden ist und können des weiteren erkennen, daß er im Geist seine Sendung uns mitteilt, daß er, der in uns lebt, durch uns leben will in der Welt. Er gibt sich, indem er seinen Sohn für uns hingibt – er gibt sich, indem der Sohn uns seinen Geist sendet. Und indem uns der Geist Gottes Beziehung zu uns und unsere Beziehung zu Gott zeigt, zeigt er uns eben das Geheimnis Gottes selbst. Dieses Geheimnis Gottes steht nicht unerschlossen hinter seiner Hingabe, Gott hat sich keinen Privatraum für sein Innenleben vorbehalten, an dem er uns keinen Anteil gäbe. Sicher hebt der Anteil, den Gott uns durch seinen Geist an sich selber gibt, nicht unsere Geschöpflichkeit auf. Sicher bleibt unsere Weise, zu sehen und zu sagen, an Gott teilzuhaben, durch unsere Geschöpflichkeit begrenzt und bestimmt. Aber in dieser unserer Begrenzung haben wir doch Anteil am ganzen Leben Gottes. Wir dürfen wissen: Gott hat uns wahrhaft nichts von sich selbst vorenthalten. In dieser sich verschenkenden Beziehung zu uns geht er auf als jener, der in sich selber Sich-Verschenken, gegenseitige Liebe ist. Es gibt keinen Punkt, an dem Gott nur einsames Prinzip, verschlossenes Ich wäre. Von allem Anfang an ist der Vater im Sohn und der Sohn im Vater – und eben dies ist da in jenem personhaften Heiligen Geist, der als beider eine Gabe von ihnen ausgeht und der sie als diese personhafte Liebe gegenseitig mit sich selbst beschenkt. Hier schließt sich das göttliche Leben in sich selbst – und hier öffnet es sich zugleich über sich hinaus. Durch den Heiligen [147] Geist vermag Gott sich auch dem Höchsten seiner Schöpfung, der geschöpflichen Freiheit, mitzuteilen. Die „Revolution“ des Gottesbildes, die durch den Glauben an den personhaften Heiligen Geist und damit durch den Glauben an den dreieinigen Gott in der Menschheitsgeschichte eingesetzt hat, ist kaum zu ermessen. Sie hat sogar unser eigenes, christliches Bewußtsein noch nicht bis zum tiefsten Grund durchdrungen. Daß Gott ganz und gar Mitteilung, sich verströmendes Leben, daß er in sich geschlossene Seligkeit als lautere gegenseitige Hingabe ist, das dreht nicht nur das menschliche Bild von Gott um; es betrifft auch unser Selbstverständnis, unser Verständnis der Welt. Sein und Leben können auch für uns nur noch heißen: füreinander und miteinander sein. Dasein heißt in Beziehung treten. Ganz gewiß in Beziehung mit Gott, in Beziehung mit der Quelle, ohne die wir nichts sind. Aber diese Beziehung zur Quelle muß gelebt werden in der gegenseitigen Beziehung, im Geben und Schenken. Nur in diesem Rhythmus, in dem wir uns scheinbar verlieren, gewinnen wir uns selbst. Wie das Licht, das seine Strahlen nicht aussendet, erstickt und wie die Quelle, der kein Wasser mehr entsprudelt, in sich versiegt, Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 so ist es mit uns selbst und mit allem. Füreinander, für das andere und die anderen sind wir erschaffen und finden uns in solcher Hingabe erst selber. Nicht im Sinne eines einsamen Heroismus, sondern im Sinn jener Liebe, die den ersten Schritt je wagen muß, um den ersten Schritt zu finden und zu entbinden, der vom Gegenüber geschieht und uns beschenkt. Vergehen und Vergänglichkeit werden offen als jener Rhythmus des Seins, der seinen Sinn, das Geben, auch dort noch durchsetzt, wo wir uns ihm selbstherrlich verweigern – und zugleich als die neue Chance, uns bis zum tiefsten hin zu verschenken. Entdecken wir nicht hier erst, was wahrhaft Herrschaft Gottes heißt, Sich-Geben Gottes in unsere Welt hinein, in unser Dasein? Verstehen wir nicht, weshalb die tiefste Mitteilung und das tiefste Geschenk des göttlichen Lebens an uns im Kreuz geschieht? Gott steigt ein in den Rhythmus unseres Vergehens, um dieses Vergehen von innen her in reine Gabe zu verwandeln. Der Sohn Gottes gibt [148] sich selbst, gibt den Geist, der sein menschliches Dasein ausfüllt, in die Hände des Vaters weg (vgl. Joh 19, 30) – und so wird der Geist frei, um uns mitgeteilt zu werden in der österlichen und pfingstlichen Sendung. Die „Schlüsselstellung“ im Aufgang des dreifaltigen Geheimnisses Gottes und im neuen Verständnis des Menschen und der Schöpfung nimmt der Heilige Geist ein. Nur in ihm erschließt sich uns die neue Lebensart Gottes, jene andere Logik des göttlichen Lebens selber. In der einen, gemeinsamen personhaften Liebe, die Vater und Sohn einander schenken, vollendet und öffnet sich Gottes Geheimnis für uns. 8.5 Leben aus dem Geist – Leben in Gottes dreifaltiger Einheit Was geschieht, wenn wir uns dem Geist öffnen, wenn wir seine Vorgabe übersetzen in den Gang unserer Freiheit, unseres Lebens? Das Erste: Wir sind in Christus. Sein Leben wird unser Leben, wir bekennen nicht nur, daß er der Herr ist, und rufen nicht nur den Vater in seinem Vertrauen und seinem Freimut an; wir werden mit Christus „lebendiges und heiliges Opfer“, „das Gott wohlgefällt“ (Röm 12, 1). Der Geist Gottes ist es, von dem wir uns führen und treiben lassen, und so bewähren wir uns als Söhne Gottes (vgl. Röm 8, 14). Leben in Christus, Sein wie er sind aber keine bloß innerliche und keine bloß individuelle Angelegenheit – so sehr ich als ich selbst, ich im Einmal meines Lebens davon betroffen bin. Wenn das Leben aus dem Geist als Leben im Leibe Christi und dieses Leben im Leibe Christi als Dienst eines Gliedes am anderen und am Ganzen von Paulus dargestellt besonders 4-13; Eph 2, 18; 4, 1-13), so werden hebt (vgl. 1 Kor 12 insgesamt, dies den unlöslichen Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Zusammenhang zwischen unserem Leben in Christus und unserem Leben in gegenseitiger Einheit ans Licht. Besonders eindrucksvoll geschieht dies ebenfalls in einem Text, der ausdrücklich vom Heiligen Geist nicht spricht. Er entfaltet jedoch exemplarisch, was Leben aus dem Geist meint. Es ist jene Er- [149] mahnung des Paulus zur gegenseitigen Liebe, zum gegenseitigen Dienen, zur gegenseitigen Höherschätzung in der Gemeinde im Philipperbrief. Er begründet sie mit der Gesinnung Jesu, der sich dem Vater gehorsam hingibt und von ihm erhöht wird (vgl. Phil 2, 1-11). Die gegenseitige Verherrlichung von Vater und Sohn wird zum Maß dessen, wie wir uns zueinander verhalten sollen. Von hier aus ist es nur noch ein Schritt hinüber zu jener abschließenden, wiederum den Geist deutlich voraussetzenden, aber nicht mehr eigens nennenden – Erhellung des christlichen Lebens in Jesu hohepriesterlichem Gebet. Die gegenseitige Einheit von Vater und Sohn, ihre absolute Gütergemeinschaft (vgl. Joh 17, 10), ihre Hinordnung zueinander in der Verherrlichung des Vaters durch den Sohn und des Sohnes durch den Vater: dies ist Modell, Anstoß und Ziel der Gemeinschaft zwischen den Jüngern im Namen Jesu und der Einheit aller Glaubenden zum Zeugnis für die Welt (vgl. Joh 17, 11.21-23). Wie der Vater im Sohn ist und der Sohn im Vater, so sollen sie in den Vater und den Sohn hineingenommen sein – und gerade dadurch ist Christus in ihnen, wie der Vater in ihm ist. In der Hinordnung auf Vater und Sohn im einen Geist sollen sie das Spiegelbild der Einheit von Vater und Sohn in diesem Geiste sein. Solche Einheit erfordert zweierlei – beides aber ist im Vollzug dasselbe. Zunächst einfach die Hinorientierung auf Vater und Sohn, das Bleiben in ihnen, will sagen jene Verbindung mit Jesus, dem wahren Weinstock, in Sakrament und Wort und gegenseitiger Liebe, die in jedem einzelnen und zwischen allen das eine und einzige Leben Gottes aufgehen läßt und bezeugt. Das Zweite, das im Ersten aber bereits enthalten und die Marke der Echtheit und Glaubwürdigkeit für dieses Erste ist: gegenseitige Einheit miteinander, Maßnahme an der Lebensbewegung zwischen Vater und Sohn im Leben miteinander, Hören aufeinander, Haben miteinander, Dienen füreinander. Nehmen wir nochmals das zweite Kapitel aus dem Philipperbrief hinzu: Wie der Vater den Sohn verherrlicht und wie der Sohn gehorsam sich ganz und gar, bis zum Tod, an den Willen des Vaters hingibt, so soll auch zwischen uns das „dreifaltige Rollenspiel“ In- [150] halt unseres Lebens sein. Das eine Leben Gottes leben wir, indem wir uns in dieses „Spiel“ hineingeben. Wie der Vater ganz und gar den Sohn aufgehen läßt aus sich, alles von sich selbst in ihn hineingibt und sich in ihm gibt, so sollen wir all unser Handeln, all unsere Aktivität, all unsere Initiative und Vollmacht in diese hingebende Liebe Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 verwandeln. Und wie der Sohn sich vernehmendes, sich verdankendes Wort des Vaters ist, wie er reiner Ausdruck des Vaters ist und darin ihn, seinen Auftrag, seine Liebe weitergibt, sein Werk vollbringt, so soll unser Hören, Dienen und Empfangen Ausdruck des Nächsten sein, der jeweils der Sprechende, Handelnde, Bestimmende ist. Freilich wird es nicht selten auch unsere Aufgabe sein, jene vermittelnde und verbindende, jene im Verborgenen die Einheit gewährende und Atmosphäre stiftende Rolle des Geistes zu übernehmen, durch den das Miteinander aufgehen, der Zusammenklang aller gelingen kann. Eigentlich haben wir nie etwas anderes zu tun als die Rolle zu erkennen und zu übernehmen, die es je jetzt im Sinne des dreifaltigen Lebens zu spielen gibt. Und so gerade wird unser Leben, wird unser Miteinander Ausdruck der göttlichen Einheit sein. Wo gibt es eine kühnere Alternative zu isolierendem Individualismus und einebnendem Kollektivismus? Alle eins wie Vater und Sohn, damit die Welt glaube. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 [151] 9. Maria 9.1 Der Weg Mariens – der Weg des Glaubens Es verhält sich ähnlich wie mit dem Heiligen Geist: Er steht am Anfang des Glaubens, er steht am Anfang des Kommens Jesu, aber gerade deshalb tritt er erst verhältnismäßig spät aus dem selbstverständlichen Dasein hervor und wird zum Thema. So auch Maria in den neutestamentlichen Schriften. Wie könnte es anders sein, da Jesu menschliches Leben selbst Frohe Botschaft ist, als daß seine Mutter mit zur Sprache kommt, wo von ihm gesprochen wird? Aber es ist ebenso „logisch“, daß diese menschliche Schale, die ihn birgt und darreicht und weitergibt, hinter dem zurücktritt, was sie umfaßt. Das Negativ, die Hohlform, so dürfen wir im nachhinein sagen, muß sich zurücknehmen, ja sie muß auf gewisse Weise zerbrechen, damit die Gestalt, das Positiv, von dem sie selbst geprägt ist und das zugleich sie ihrerseits prägt, hervortritt und ans Licht kommt. Wenn es dann aber darum geht, daß im Geiste wir selbst die von Christus geprägte Hohlform werden, die wiederum ihn Gestalt werden läßt, hervortreten läßt in der Geschichte, dann wird Maria neu aktuell. So wie sie sich dem Geist zur Verfügung stellte, so wie sie im Glauben Jesus annahm und zur Welt brachte, so geht auch unser Glaube, so geht auch unser Zeugnis. Die innere „Logik“ des Zurücktretens und Hervortretens Mariens in der Geschichte des Glaubens treibt uns dazu, nunmehr an Maria abzulesen, wie Glaube geht. [152] Außer ihr gibt es noch jene andere Gestalt, die Hinweis, Zeugnis, Fanal für den kommenden Herrn ist: Johannes. Er tritt früher ans Licht des Interesses, er tritt aber auch früher zurück. „Jener muß wachsen, ich aber abnehmen“ (vgl. Joh 3, 30) – das faßt sein Zeugnis in einem Wort zusammen. Weil dieses Zeugnis in der Öffentlichkeit erfolgte, weil so Unterscheidung fällig wurde, um Verwechslungen auszuschließen, wurde Johannes schon sehr früh in der Predigt von Jesus thematisch. Maria hingegen war Hintergrund und konnte daher länger im Hintergrund bleiben. Doch genau deshalb, weil ihr ganzes Dasein Hintergrund-sein für Jesus bedeutete, müssen wir sie ans Licht heben, wenn wir unseren Glauben, unsere Existenz im Heiligen Geiste verstehen wollen. 9.2 Maria in der Perspektive der Schrift Wer in Mittelmeerländern auf einem Berghang im kniehohen Gesträuch umherwandert, der findet eine merkwürdige Art von Wegen. Man weiß nicht genau, hat sie sich durch den Gang der Hirten und Tiere im Gelände ergeben – oder bietet sich das Ineinander und Auseinander von Gewächs und Gestein sozusagen von selbst an. Nun, eines hängt am anderen. Der gebahnte Pfad ist „Antwort“ auf die Gestalt der Natur, auf das Gewordene. Und das Gehen knüpft Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 umgekehrt die gangbaren Stellen zusammen zum Weg, macht Unwegsames gangbar. Wer die Heilige Schrift auf Maria hin durchsieht, dem mag es ähnlich ergehen. Er findet einzelne Stellen über Maria, aber sie fügen sich zusammen zu Figuren eines Weges, der eine deutliche Gestalt beschreibt. Haben jene sie bewußt gezeichnet, die ihnen vorliegende Traditionen zusammenfügten? Oder schenkt diese Gestalt sich wie von selbst, ohne kompositorische Absicht, einfach aus dem inneren Zusammenhang der Botschaft? Beides spielt wohl ineinander. Aber die Gestalt, die im glaubenden Mitgehen sich in und zwischen den verschiedenen Schichten und Schriften des Neuen Testamentes ergibt, „stimmt“, sie steht in sich. [153] Bei Lukas: Maria und der Geist Am Anfang des Lukasevangeliums und am Anfang des anderen lukanischen Werkes, der Apostelgeschichte, begegnet uns Maria. Und sie begegnet dort, wo vom Heiligen Geist die Rede ist, wo aus dem Heiligen Geist neuer Anfang geschieht. Im Evangelium ist dieser Anfang das Kommen Jesu, in der Apostelgeschichte das Werden der Kirche (vgl. Lk 1, 1-2, 53; Apg 1, 12-14). Voraussetzung für das Kommen Jesu ist die Offenheit eines Menschen, sich von seinen Plänen zu lösen, sich dem Willen Gottes zu öffnen und so Raum zu geben, daß der Heilige Geist in ihm den neuen, unerhörten Anfang wirken kann. Entstehen und Wachsen der Kirche haben zur Voraussetzung, daß Menschen sich betend versammeln, um in Treue zum Auftrag des erhöhten Herrn seinen Geist zu erflehen, ihn zu erwarten, bis er kommt und sie zum Zeugnis befähigt. Das erste Mal ist es Maria allein, die sich dem Willen Gottes zur Verfügung stellt und Werkzeug des Geistes wird. Zum zweiten Mal ist es die Gemeinschaft der Jünger um Maria, die Mutter Jesu. Die Herrschaft Gottes rückt nahe – das hat bei Lukas die Färbung: der Geist wirkt in Jesus und durch Jesus. Aber der Geistmitteilung zu Anfang des Wirkens Jesu geht jene andere, begründende und tragende voraus, der Jesus seine menschliche Existenz aus Maria der Jungfrau verdankt. Er ist von allem Anfang an der im Geist und aus dem Geist Kommende. Sein Kommen „braucht“ aber nicht nur den Geist, sondern es braucht auch den Menschen, der sich vorgängig dem Geist öffnet. Dieser Mensch ist Maria. Bei Matthäus wird nicht weniger eindrucksvoll, durch die Verknüpfung mit der Ahnenreihe Jesu, seine doppelte Ursprünglichkeit aus Gottes Geist und aus der Menschheitsgeschichte dargetan, die auf Maria als die jungfräuliche Mutter Jesu zuläuft (vgl. Mt 1, 1-25). Das Moment des vorgängigen Glaubens, der vorgängigen Bereitschaft tritt bei Lukas nachdrücklicher ans Licht. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Sicher ist auch der Glaube Mariens antwortender Glaube, dem der Anruf und die Botschaft von Gott her vorausgeht. Doch es ist das Besondere des lukanisch verstandenen Glaubens, daß er Wag- [154] nis, Aufbruch des Menschen bedeutet als Bedingung, damit Gottes neuer Anfang geschehen kann. Der Glaube Mariens ist verwandt mit dem Glauben des Petrus, der auf Jesu Wort hin die scheinbar sinnlose Fahrt auf den See wagt (vgl. Lk 5, 5). Gottes erster Schritt und des Menschen erster Schritt rufen sich und tragen sich gegenseitig, so sehr alles allein an Gottes erstem Schritt liegt. Das bleibt bei Lukas durchaus; denn der „erste Schritt“ des Glaubens ist Schritt des Gehorsams, dienender, empfangender Schritt. Solcher Glaube Mariens, solche zuvorkommende Empfänglichkeit und dienende, gehorsame Angewiesenheit auf Gottes Gabe ist auch die Voraussetzung für Pfingsten und somit für das Wachstum von Kirche. Bedingungslose Offenheit als menschliche Bedingung für den Geist und für das, was er wirkt: das ist Maria. Sie wird hier Sinnbild, aber nicht abstraktes, sondern lebendiges, konkretes Sinnbild. Wir sollen vollkommen sein wie und – das Wort dafür ist dasselbe – weil der Vater im Himmel vollkommen ist. Wir sollen lieben, wie Jesus geliebt hat und weil er uns geliebt hat. Wir dürfen die Übertragung wagen: Christlicher Glaube ist Glaube, wie Maria geglaubt hat, aber auch weil Maria geglaubt hat. Das Urbild wird zur Ursache nicht hochstilisiert, sondern es ist Ursache. So entspricht es der Ordnung der Menschwerdung, der Ordnung der Herrschaft Gottes, in welcher der entzogene Gott nicht bloß Maßstab bleibt, sondern eingreift und eintritt in den Lauf der Geschichte. Bei Johannes: Maria und die Stunde – Maria und die anderen Im Johannesevangelium begegnet uns Maria an zwei Stellen: am Anfang des Wirkens Jesu, bei seinem ersten Zeichen, der Hochzeit zu Kana (vgl. Joh 2, 1-12) und am Ende dieses Wirkens, unter dem Kreuz (Joh 19, 25-27). Dort, wo Jesus sein Wirken beginnt und im Zeichen seinen Sinn vorwegnimmt, ist Maria dabei. Fürbittend, die Sorge um die anderen im Vertrauen an ihren Sohn herantragend, scheinbar abgewiesen, weil er nicht aus menschlicher Rücksicht, sondern allein gemäß der Stunde handelt, die ihm der Vater gesetzt [155] hat. Aber vom Vater her geht in Jesu Wirken die Bitte seiner Mutter in Erfüllung, indem er das Wunder der göttlichen Fülle wirkt. Und wiederum ist sie dabei, wenn ihr Sohn sein Wirken vollendet, wiederum weggewiesen vom Sohn, aber in weiterweisender Liebe, die den Jünger ihr und sie ihm anvertraut. Beide Male geht der Weg Jesu über Maria hinaus – aber mit Maria. Sie, ihr Glaube werden mitgenommen in die Lebensbewegung Jesu, die weiterführt zum Vater, aber auch hinein in den Kreis der Jünger, hinein in die Kirche. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Wie bei den beiden lukanischen Stellen, so wollen wir auch hier nicht die theologische Grenze und die theologische Fülle dieser Aussagen genau umreißen, sondern an ihnen den Weg und den Gang des Glaubens anschauen, den die neutestamentliche Tradition an Maria, der Mutter Jesu, anschaut. Dann aber zeigt sich uns: Glaube geht, indem er über sich, über seine Erwartungen und Horizonte hinausgeht und damit hineingeht in die doppelte Bewegung des Lebens Jesu, hin zum Vater, hin zu den anderen. In diese Richtung deuten beide marianischen Stellen des Johannesevangeliums. Auch die Bittende bei der Hochzeit zu Kana bittet nicht für sich, sondern für die anderen, wie hernach sie an den anderen als ihren Sohn weiterverschenkt wird. Und wie bei der Hochzeit zu Kana Maria ihre Wünsche und Erwartungen an der Stunde begrenzen und bemessen muß, die der Vater Jesus bestimmt hat, so erst recht dann, wenn Jesus in dieser Stunde innesteht. Die Trennung von ihm, die Gott ihr auferlegt, wird zur neuen Verbindung mit ihm in seinen Jüngern, in seiner Kirche. Auch dies ist nicht nur menschliche Geste Jesu, sondern Maria geht hier seinen Weg mit, da er nicht nur im Vater sein wird, sondern vom Vater her in denen, die an ihn glauben (vgl. nochmals Joh 14, 20). Maria und die neue Ordnung der Gottesherrschaft Wenden wir uns einer Reihe von Worten der Schrift zu, die Mariens Stellung in der neuen Ordnung der Gottesherrschaft betreffen. Es handelt sich ausschließlich um – unmittelbar gelesen – kritische Worte gegenüber Maria. Vom Zeugnis über Maria als die Begna- [156] dete und Glaubende werden sie mittelbar freilich in ein neues Licht gerückt. Die drei ersten Evangelien berichten die Begebenheit, wie die Mutter und die Verwandten Jesu ihn sprechen wollen, er aber, statt sie zu empfangen, auf seine Jünger hinweist und sie als seine wahren Verwandten bezeichnet. Wer den Willen seines Vaters im Himmel tut, oder, nach Lukas, wer das Wort Gottes hört und befolgt, der ist ihm nicht nur Bruder und Schwester, sondern auch: Mutter (vgl. Mk 3, 31-35; Mt 12, 46-50; Lk 8, 19-21). Die einzige „Unmittelbarkeit“, die einzige „Verwandtschaft“, die in der neuen Ordnung der Gottesherrschaft zählt, ist jene aus dem Willen und Wort des Vaters. Die Verbindung über den Vater ist die direkteste, die es gibt. Wer aus ihm lebt, wer ihm glaubt, wer seine neue Ordnung zur Ordnung seines Lebens werden läßt, der steht Jesus näher als alle, die ihm bloß menschlich nahestehen. Wenn hier von Bruder, Schwester und Mutter die Rede ist, so meint dies zunächst wohl ganz allgemein: Verwandtschaft. Es ist aber doch wohl erlaubt, die Linie geistlich durchzuziehen daraufhin, daß es auch eine Art glaubender Mutterschaft mit der Mutter Jesu gibt, wenn wir das Wort Gottes, den Willen Gottes in uns austragen und Gestalt Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 werden lassen. Paulus nennt die Galater seine Kinder, für die er von neuem Geburtswehen erleidet, bis Christus in ihnen Gestalt gewinnt (vgl. Gal 4, 19). Hier kommt unabhängig von unserem Evangelienwort diese Wirklichkeit zur Sprache. Umgekehrt ist Maria jene, die aus dem Glauben Mutter Jesu geworden ist und aus diesem Glauben ihn bis in seinen Tod und bis in unser neues Leben, ins neue Leben der Kirche hinein begleitet. Und so ist ihre Mutterschaft, auch ihre „natürliche“, schon eine Wirklichkeit der neuen Ordnung der Gottesherrschaft. Diesen Rang der Mutterschaft Mariens heben die weiterreichende Glaubensaussage des Matthäus- und Lukasevangeliums über Jesu Herkunft ans Licht. Das Wort über die Mutter Jesu und seine Verwandten ist zugleich Wort an sie. Denn sie sollen nicht aus einem selbstverständlichen Gefühl des natürlichen Vorrechtes auf Jesus leben, sondern mit ihm den neuen Weg der Gottesherrschaft gehen, der auch den Sohn und [157] Verwandten nur noch aus der Perspektive des Vaters her kennt. So geschieht Trennung, aber in ihr wird die alte Nähe neu, tiefer, bleibend begründet. Im Glauben ist mir jeder, was er ist, ist mir alles, was es ist, vom neuen Anfang, von der einzig tragenden Wirklichkeit, von Gott her, der in das Zentrum aller Beziehungen rückt. In dieser Bewegung zerschneidet er die Beziehungen und stiftet sie neu. In dieselbe Richtung deutet die bei Lukas überlieferte Seligpreisung der Mutter Jesu. Eine Frau ist von Jesu Wort und Wirken so betroffen, daß sie den Sohn in jener preist, deren Sohn er ist (vgl. Lk 11, 27f.). Jesus greift diese zunächst bloß-menschliche Reaktion auf und rückt sie in die neue Dimension: Selig, die das Wort Gottes hören und es befolgen! Die Frau braucht nicht nur aus bewundernder Distanz auf die große andere Frau zu blicken, die das Glück hat, einen solchen Sohn ihr eigen zu nennen. Sie erhält im Hören und Tun des Wortes Gottes Anteil am Vorzug der Mutter Jesu. Wie in der Geschichte vom reichen Jüngling nach Markus (vgl. Mk 10, 17f.), so dreht Jesus auch hier die Perspektive um. Nicht menschliche Bewunderung für Jesus wird umgedreht, sondern Entscheidung für Gott und seine Herrschaft. Darin bekommt jedoch – in unserem Falle indirekt – die ursprüngliche Begeisterung ihr neues Recht: Der Mutter Jesu darf in der Tat gelten, vor allen und über alle die Seligpreisung jener gelten, die Gottes Wort hören und tun. Und zugleich eröffnet sich Mariens Geheimnis für die jetzt vom Wort Gottes im Wort Jesu Betroffenen: Sie erhalten selbst Anteil am Glauben, an der Fruchtbarkeit, an der Gnade Mariens. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Im selben Kontext ist an zwei Worte aus der Kindheitsgeschichte nach Lukas zu erinnern. Einmal an die Weissagung des greisen Simeon, die der Mutter die Teilhabe am Messiasleiden ihres Sohnes ankündigt (vgl. Lk 2, 35). Zum anderen an jenen schmerzlich-abgründigen Dialog zwischen Mutter und Sohn, als der 12jährige Jesus drei Tage in Jerusalem zurückbleibt und im Tempel wiedergefunden wird: „Kind, warum hast Du uns das getan?“ – „Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist?“ Gerade als die Verwundete und von der Berufung ihres Sohnes Überforderte, die nicht mit dem spontanen Verstehen, sondern mit dem geduldi- [158] gen Mitleiden in ihn hineinwächst, ist Maria noch einmal und tiefer greifend dasselbe, was sie in ihrem anfänglichen Glaubensgehorsam wurde: Negativ, Hohlform des menschgewordenen Wortes. Maria und das Wort Eine letzte Gruppe von Evangelientexten, auf die wir hier einen Blick werfen wollen, bezieht sich auf das Verhältnis Mariens zum Wort. Diese Texte stehen in keinem literarischen Zusammenhang miteinander, doch lassen sie einen geistlichen Grundzug der Gestalt Mariens hervortreten, der sich an jenen des Glaubensgehorsams, der dienenden Bereitschaft, des Raumgebens für den Willen Gottes dicht anschließt. „Mir geschehe nach Deinem Wort“ (Lk 1, 38) – dieses entscheidende Wort Mariens gibt den Grundton an. Er klingt wieder auf, wenn es von Maria heißt, daß sie alle diese Begebenheiten (das griechische Grundwort hat beide Bedeutungen: Worte und Begebenheiten), will sagen: all das Bedeutungsvolle, das über Jesus gesagt wurde und mit ihm in seiner Geburt geschah, in ihrem Herzen erwog und bewahrte (vgl. Lk 2, 19; vgl. auch 2, 51). In ganz anderem Kontext steht das Wort Mariens an die Diener bei der Hochzeit zu Kana: „Was er euch sagt, das tut!“ (Joh 2, 5). Auch wo Jesus ihr etwas zumutet, auch wo das Glaubensverstehen den Glaubensgehorsam nicht augenblicklich einlösen und einholen kann, bleibt Maria die Hörende und jene, die andere zum Hören auf Gottes Wort, auf Jesu Weisung hinführt. Ihr Leben ist ein Leben auf das sich in Jesus, seinem Wirken, seinem Schicksal enthüllende Wort Gottes hin. Wir erinnern uns daran: Nach Lukas nennt Jesus die seine wahren Verwandten, die das Wort Gottes hören und es befolgen, und die Seligpreisung seiner Mutter durch die Frau aus dem Volk wird von Jesus mit genau demselben Ausdruck beantwortet: „Selig, die das Wort Gottes hören und es befolgen!“ (vgl. Lk 8, 21; siehe Lk 11, 28). So ist Mariens Grundhaltung und die des Jüngers überhaupt eine und dieselbe: Gottes Wort annehmen, in sich austragen, [159] in sich Leben und Gestalt werden lassen. Das Wort ist Fleisch geworden aus Maria der Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Jungfrau, und dies ist nicht nur ein „biographisches“ Faktum, sondern es ist auch der Lebensvollzug Mariens. Wie eine Zusammenfassung mag das Gespräch erscheinen, das nach Lukas Maria und ihre Base Elisabeth bei ihrer Begegnung miteinander im Heiligen Geist führen. Elisabeth preist Maria selig, weil sie geglaubt hat, daß in Erfüllung gehen wird, was ihr vom Herrn gesagt worden ist (vgl. Lk 1, 45). Die Antwort Mariens, das Magnificat, sagt ihr eigenes Leben, aber sagt es mit lauter Worten der alttestamentlichen Überlieferung. Maria sagt sich selbst aus, indem sie Gottes Wort sagt. Ihr eigenes Geheimnis ist kein anderes als das des Wortes Gottes, das – unterstreichen wir es noch einmal – in ihr, in ihrem Leben Raum und Gestalt gewinnt. Zuvorkommender, tragender, Gott den Ansatzpunkt seines Wirkens in der menschlichen Geschichte eröffnender Glaube – Mitgehen mit dem Willen Gottes über die Grenzen des eigenen Interesses und Verstehens hinaus in reiner Verfügbarkeit und Werkzeuglichkeit, somit gerade Mittun seines Heilswerkens für die anderen – Treue auch im Glaubensdunkel, in dem tiefste Gemeinschaft mit dem Kreuz und seiner Fruchtbarkeit erwächst – Einholung des Wortes Gottes, Wiederholung durch das Leben, Fleischwerdung im eigenen Leben: das ist Nachfolge, abgelesen an Maria. Es ist Nachfolge, die aber nicht nur hinterdreinläuft, sondern die zugleich den Weg bereitet, die das anfänglich und konstitutiv tut, was Kirche insgesamt tut im Heiligen Geist, indem sie Jesus Gestalt gewinnen läßt im Miteinander. Die apokalyptische Frau ist die Kirche der Endzeit – aber sie ist es nach dem Urbild Mariens (vgl. Offb 12, 1-6). 9.3 Maria in der Perspektive der Kirche Die Kirche hat Maria als Urbild und Vorbild des Glaubens verstanden, und die Grundmerkmale des Glaubens sind in den großen Mariendogmen zum gültigen Bild und zur prägenden Form verdichtet. Aber diese Dogmen und die kirchliche Marienfrömmigkeit insge- [160] samt bedeuteten nie nur eine Selbstreflektion des Glaubens, sondern lebendige Beziehung zu einem Menschen, der gelebt hat und lebt Wir dürfen an Maria anschauen, wie wenig sich Jesus, der menschgewordene Sohn Gottes, von der Geschichte der Menschheit, von der Gemeinschaft der Heiligen trennen läßt. Und so dürfen wir unsere österliche Formel auch auf Maria übertragen: Unser Christsein heißt leben mit der, die lebt. Solches Leben mit ihr hat kein „Eigenleben“, sondern kommt allein vom Leben mit ihm, der lebt, führt aber auch aus einer inneren Dynamik zum Leben mit ihm, der lebt. In jener, aus der das Wort Fleisch angenommen hat, hat auch unser Glaube Fleisch angenommen. So wirkt in Maria der Anstoß fort, ja steigert sich in ihr der Anstoß, daß Gott in Jesus die Geschichte und das Leben des Menschen umgedreht hat, indem er sich total mit dieser Geschichte und diesem Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Leben eingelassen hat. Doch wer sich diesen Anstoß erspart, der droht der Herausforderung des Glaubens und seiner befreienden Kraft auszuweichen. Gibt es nicht zu denken, daß Maria, daß Kirche als Institution, besonders die Gegenwart Jesu im Amt der Kirche, daß schließlich die Sakramente jene drei Punkte sind, an denen wir nur zu leicht den Anstoß der Menschwerdung zurückzudrängen versucht sind? Geschieht aber nicht gerade an diesen Punkten die erregende Übersetzung des Christusgeheimnisses in die menschliche Geschichte hinein? Der Herr selber handelt unter endlichen, geschichtlichen Zeichen – Anstoß des Sakramentes. Der Herr selbst verschenkt sich, indem er Menschen schenkt und sendet, die in seinem Namen und seiner Vollmachten sprechen und handeln – Anstoß von Amt und Sendung in der Kirche. Der Herr selbst handelt unmittelbar mit seiner aus dem Nichts erschaffenden, mit seiner begnadenden und auferweckenden Macht an einem Menschen, an jenem Menschen, der Werkzeug für die Fleischwerdung des Wortes ist – Anstoß Mariens. Es ist dreimal der Anstoß der in Jesus gekommen und in Jesus an uns weitergeschenkten Nähe Gottes. Die Kirche preist Maria als die unbefleckt Empfangene, will sagen als den Menschen, in dem von Anfang an und ohne die Trübungen und Brechungen unserer gefallenen Freiheit Gott, seine Gnade, [161] sein Sich-Schenken, alles hat wirken können, was er wollte. Die Kirche glaubt weiter Maria als die jungfräuliche Mutter des Herrn, die sich, die ihre Leibhaftigkeit ganz einbrachte in die Fleischwerdung des Wortes – aber so, daß sie sich und ihr leibhaftiges Dasein rein und allein dem wirkenden, schaffenden Gott dargebracht hat. Die Kirche glaubt Maria als die „Gottgebärerin“, als jene, die nicht nur einem begnadeten, von Gott erfüllten Menschen, sondern wahrhaft dem Sohn Gottes aus der Kraft des in ihr wirkenden Geistes Gottes menschliches Leben geschenkt hat. Schließlich glaubt die Kirche Maria als die mit Leib und Seele, als die in ihrer ganzen menschlichen Existenz aus dem Tod in die Vollendung, in die Herrlichkeit Aufgenommene. Geht es hier nur um ein paar „Ehrentitel“ für Maria, um ein paar theologische Spezialitäten, an denen für unser Glaubenszeugnis letztlich nichts hängt? Oder können wir hier die Nähe, die Wirksamkeit, die geschichtliche Konkretheit des Wirkens Gottes anschauen? Lesen wir die kirchlichen Glaubensaussagen über Maria einmal im Licht der biblischen Ansage der Gottesherrschaft, die uns den Einstieg in unsere Frage eröffnete: Glauben, wie geht das? Wir erinnern uns der elementaren Sätze Jesu nach Markus: „Erfüllt ist die Zeit und nahegekommen ist die Herrschaft Gottes. Kehret um und glaubet an das Evangelium!“ (Mk 1, 15). Der Anfang von seiten des Menschen ist die Umkehr, ist die Aufgabe des eigenen Anfanges, der Sprung in den Anfang Gottes hinein. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Die Umdrehung des Menschen ist verlangt, ein Denken, das nicht nur die Pläne und Möglichkeiten des Ich zur Voraussetzung hat, sondern Gott, den neuen Anfang, den er schenkt. Nirgendwo können wir solche Umkehr menschlicher Existenz tiefer anschauen als in Maria, der unbefleckt Empfangenen. In ihr hat Gott mit seiner Bereitschaft, selber der neue Anfang zu sein, bis in die äußerste Konsequenz hinein ernst gemacht. Maria, reiner Mensch, bloßer Mensch, Mensch aus der Geschichte der Schuld und ihrer Last hervorgegangen, aber dem Anfang Gottes so total überantwortet, daß nichts anderes in ihrem Menschsein hervortritt als seine Mitteilung, als seine Gabe. Diese Gabe kommt ihr, kommt ihrem Handeln und Antworten zuvor – [162] und löst sich doch in ihrer Glaubensantwort ganz ein, entspricht ihr. Wir sind nicht „Immaculata“, wir sind im nachhinein in Jesu Tod und Auferstehung getauft und der immer neuen Umkehr und Versöhnung bedürftig. Aber in solcher Umkehr geschieht das Entsprechende: Hineinnahme in Gottes neuen Anfang, jene neue Ursprünglichkeit und Reinheit, die wir aus uns nicht zu erreichen vermögen, die uns so neu mit uns selbst überrascht, wie unser eigenes Dasein uns mit uns selbst überrascht, da wir geschaffen sind und uns nicht selber machen können. Umkehr in die neue Schöpfung, und darin Gemeinschaft mit einer, in der diese neue Schöpfung, die Umkehr der Geschichte in Gottes neuen Anfang sichtbar ist – das ist der Weg auch unseres Glaubens. Ja, auch für Maria ist der Weg, der aus dieser Umkehrung ihrer Existenz folgt und der sie einlöst, der Glaube. Und ihr Glaube wird Gestalt in ihrer jungfräulichen Mutterschaft. Mit dieser tritt sie in die Geschichte alttestamentlichen Glaubens ein und wächst über diese Geschichte zugleich hinaus. Im Alten Testament heißt Glaube in immer neuer Abwandlung: die Zukunft, die wir nicht aus uns vermögen, uns schenken lassen von Gott allein, uns selbst dabei aber einlassen auf sein Geschenk. Und das wiederum heißt, sich einlassen auf Gottes Verheißung, auf den Weg, auf den diese Verheißung uns über unser eigenes Vermögen und über unser eigenes Erfahren und Sehen hinaus ruft. Der Glaube des Abraham, der aufbricht ins Unbekannte (vgl. Gen 12, 1-9), der aus dem erstorbenen Schoß Sarahs den Sohn der Verheißung erwartet (vgl. Gen 17, 1522; 18, 1-15); die Geburt des Simson (Richter 13, 1-25), den der Engel der unfruchtbaren Frau verheißt, der Glaube der Hannah, die den Samuel empfängt (vgl. 1 Sam 1, 1-20) – sie weisen in die Richtung, die bis zum äußersten ausgeschritten wird im Glauben Mariens und in ihrer jungfräulichen Mutterschaft. In ihr „dehnt“ Gott nicht nur die Möglichkeiten des Menschen über ihr eigenes Maß hinaus, sondern er erschafft aus Unmöglichkeit neue Möglichkeit, er setzt beim Nullpunkt an. Und der Glaube Mariens tut diesen ersten Schritt, diesen schöpferischen An- [163] fang Gottes mit. Gott nimmt in Maria den Menschen in Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Anspruch, um unser Menschsein mit uns zu teilen und anzunehmen, um von sich aus und zugleich von uns aus Mensch zu werden. Der Glaube Mariens, ihre jungfräuliche Mutterschaft, ist der Höhepunkt schöpferischer Aktivität des Geschöpfes, und dieser Höhepunkt ist zugleich eben „Nullpunkt“, reines SichÜberlassen, reines Sich-Beschenkenlassen. Und wiederum laufen in dieser Spitze die Linien unseres Glaubens und Lebens zusammen, oder besser: diese Spitze entfaltet sich in den Linien unseres Glaubens und Lebens. Bei allem Unterschied unserer Berufung zur einmaligen Berufung Mariens gilt doch auch für uns: Produktiver Glaube ist immer jungfräulicher Glaube, Glaube, daß Gott mit unserem Nichts-Haben und NichtsSein etwas, ja alles anfangen kann, etwas, ja alles wirken kann. In der Tat ist der Schritt des Glaubens in der Geschichte der Kirche immer wieder und heute im besonderen der Schritt dieses „jungfräulichen“ Glaubens, der sich beileibe nicht in äußerer Jungfräulichkeit erschöpft, der aber im Mut zur buchstäblichen Jungfräulichkeit und im Verständnis für solche Jungfräulichkeit eine wichtige Erkennungsmarke hat. Umkehren und an das Evangelium glauben, dazu ruft uns die Botschaft Jesu, weil sie uns das Ereignis der Ereignisse zuzurufen weiß: das Nahekommen der Herrschaft Gottes. Und Gottes Herrschaft kommt uns nahe, indem eben Gott aufbricht vom Jenseits unseres Erfahrungshorizontes und einbricht in ihn, Mitte unserer Welt werdend. Was Jesus ansagt, das aber ist er bereits. Er ist der nahe, der mit uns lebende Gott, der alles von Gott einbringt und alles vom Menschen annimmt. Der einzige Sohn Gottes, Fleisch annehmend aus Maria der Jungfrau, das heißt aus der Perspektive Mariens: Maria ist die „Gottesgebärerin“. Zweifellos ist dies die Mitte der Mitte ihres Geheimnisses. Und doch ist es keine einsame Mitte. Auch hier dürfen wir in Maria unsere eigene Berufung anschauen, auch hier bahnt sie den Weg des Glaubens, den wir zu gehen haben. Denn unser Glaube läßt sich nicht trennen von jenem bezeugenden und Leben zeugenden Ge- [164] horsam Mariens, der nicht weniger als Gott selbst empfängt, weitergibt und verschenkt. Wenn Paulus in Geburtswehen liegt, damit Jesus Christus in den galatischen Christen Gestalt gewinne, dann ist der springende Punkt aller Seelsorge berührt, und nicht nur der Seelsorge jener, die dafür eine eigene Weihe und Sendung haben. Die Sorge des Christen um seinen Nächsten ist Sorge darum, daß Jesus in ihm erkannt und erkennbar wird, daß Jesus in ihm Lebensraum gewinnt, Gestalt gewinnt. Unser Wort und unser Leben sollen Jesus selbst zum Zuge kommen lassen, einbringen, vermitteln. Unser Glaube ist der Weg der Herrschaft Gottes, ist der Weg dessen, was wir aus uns und was auch unser Glaube aus uns nicht vermag. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Unser Markusvers leitet die Anzeige der Gottesherrschaft ein mit dem Sätzchen: „Erfüllt ist die Zeit!“ Die Zeit ist deshalb erfüllte Zeit, weil grundsätzlich jetzt das Auseinander von Verheißung und Erfüllung überwunden ist. Die Zeit wird – wir sahen es an Jesu Kreuzestod – bis in die tiefste Tiefe ihrer Endlichkeit hinein ausgelitten. Der Schmerz der Endlichkeit wird nicht wegoperiert. Aber die Endlichkeit selbst wird zur Schale der Erfüllung. Der Karfreitag wird zur Schale von Ostern, und Ostern bricht aus dem Karfreitag hervor. Daß dies nicht der einmalige Sonderfall im Geschick des Heilsbringers ist, sondern Verkündigung dessen, was auch mit uns geschehen wird, Anfangen einer neuen Zeit, eben der erfüllten Zeit, die unsere leere und gespannte Zeit bereits jetzt umfängt, das dürfen wir wiederum mit dem Glauben der Kirche ablesen an Maria. Sie ist die „Assumpta“, die schon jetzt ganz in die Herrlichkeit Gottes Hineingenommene. Das Ende, die Vollendung ist in ihrem Schicksal schon eingetroffen und betrifft darin unser eigenes Schicksal, das noch in der Spanne zwischen Anfang und Vollendung steht. In der Assumpta erhält auch für uns das österliche Wort eine neue Dimension: „Ihr seid in Christus auf erweckt; darum strebt nach dem, was im Himmel ist, wo Christus zur Rechten Gottes sitzt. Richtet euren Sinn auf das Himmlische und nicht auf das Irdische. Denn ihr seid gestorben, und euer neues Leben ist mit Christus verborgen in Gott. Wenn Christus, unser Leben, offenbar wird, dann werdet auch ihr mit ihm offenbar werden in Herrlichkeit“ (Kol 3, 1-4). [165] Wir erleben die Erfüllung in der Verborgenheit, und diese Verborgenheit macht uns je neu mit Maria zur Schale, die den Herrn empfängt und birgt und weiterreicht, zum Hintergrund, den er erfüllen, auf dem er Kontur gewinnen, auf dem er hervortreten kann für die Welt. Weil wir mit ihm verborgen sind, kann er in uns und aus uns aufleuchten. Darin faßt sich das marianische Geheimnis unseres eigenen Glaubens und seines Weges durch die Welt zusammen. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 [166] 10. Die Welt 10.1 Gottesbild – Weltbild Daß sich im Gottesbild etwas wandelt, wenn das Weltbild sich wandelt, das versteht sich beinahe von selbst. Wie wir Gott sehen, was wir von ihm sagen, das hängt zusammen mit den Erfahrungen, die wir machen, mit dem Leben, das wir erleben, mit dem Gang der Welt, in den wir mit unseren Erwartungen und Befürchtungen eingespannt sind. Natürlich bedeutet das eine perspektivische Verkürzung unseres Gottesbildes – eine solche gehört sogar notwendig zu unserem Gottesbild hinzu, weil wir eben endliche, geschaffene Wesen sind. Die weltbildliche Verengung unseres Gottesbildes ist aber nicht nur ein Defizit. Daß Gott überhaupt in den begrenzten Blickwinkel unseres Weltbildes eintreten kann, ist ein Zeichen seiner Größe, und daß wir die Spuren unserer Armseligkeit und Endlichkeit mitbringen, wenn wir vor Gott hintreten und auf ihn blicken, das läßt ihn für uns lebendiger und näher werden. Nur wenn er „mein“ Gott, „unser“ Gott ist, nur wenn er meine endliche und geschichtliche Situation betrifft, erfahre ich die Wucht seiner unendlichen Bedeutsamkeit. Weniger geläufig ist die Umkehrung unseres Satzes: Wenn das Gottesbild sich wandelt, dann wandelt sich auch das Weltbild. Es wäre verlockend, diese Umkehrung durch mancherlei Beispiele aus dem Gang des philosophischen und religiösen Denkens der Menschheit zu belegen. Doch stoßen wir unmittelbar vor zum Ra- [167] dikalfall: Das neue Gottesbild in Jesu Botschaft von der herannahenden Gottesherrschaft bedingt auch ein neues Weltbild. Wenn die Sonne heraufkommt über den Horizont und unseren Sichtraum unmittelbar anund ausleuchtet, dann verwandelt sich alles. Wenn Gott nicht mehr nur die entzogene Quelle unserer Zukunft jenseits des Horizontes ist, sondern Zentrum unseres Lebens und unserer Geschichte werden will, dann wird die Welt neu. Wir stehen freilich noch in jenem zwielichtigen Zwischenraum: der Anfang der Gottesherrschaft ist eindeutig und unwiderruflich in Jesus Christus gesetzt – die Vollendung steht noch aus. Das Neue der neuen Schöpfung ist nicht allen Augen, sondern nur dem Glauben sichtbar. Aber weil Glaubende ihren Glauben leben, tritt es doch in die allen erfahrbare Welt ein, so wie sie jetzt ist. Denn glaubend gehen wir anders heran an die Welt, im Glauben bedeuten uns ihre Glücksfälle und Enttäuschungen, ihr Licht und ihre Schatten etwas anderes – und die Weise, wie wir hoffend und liebend durch diese Welt gehen, wie wir sie „lassen“ und uns ihr zuwenden, fordert unsere Mitmenschen heraus und wirkt hinein in unser gemeinsam mit allen zu bestehendes Geschick. Christlicher Weltdienst soll Gottes Liebe zu dieser Welt und soll die Vorläufigkeit dieser Welt, soll die weltbejahende und weltübersteigende Kraft unserer Hoffnung bezeugen. Christlicher Weltdienst Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 soll ganz einfach Gottes Liebe mittun, das Werk seiner Hände soll uns angelegen sein, wie den Kindern des Künstlers das Werk ihres Vaters angelegen ist. Und was Menschen mit Gottes Welt anfangen, soll uns angelegen sein, so wie Geschwistern angelegen ist, was Geschwister mit dem gemeinsamen Erbe anfangen – und zwar nicht nur um ihres Anteils willen, sondern um des Erbes selber und um der Geschwister willen. Doch kehren wir uns unmittelbar unserem Thema zu: Wie verändert das neue Gottesbild Jesu das Weltbild? Wie geht, in der Sicht unseres Glaubens, diese Welt und wie geht der Glaube in ihr? [168] 10.2 Der Boden: alttestamentlicher Schöpfungsglaube Wir erinnern uns: Jesus holt den Anfang ein, den Gott in der Schöpfung gesetzt hat. Er setzt neu an, wo Gott zum ersten Mal angesetzt hat. Der Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, der Gott, dem Himmel und Erde gehören, ergreift seine Herrschaft, er tritt aus der Distanz heraus und bricht ein in diese Welt. Er, der Gott über der Schöpfung, will der Gott in der Schöpfung werden, der Gott über Himmel und Erde will der Gott sein, dessen Wille wie im Himmel so auf Erden geschieht. Damit stellt sich Jesus ausdrücklich auf den Boden des alttestamentlichen Weltbildes oder – was dasselbe sagt – des alttestamentlichen Bildes vom Schöpfergott. In unserem Jahrhundert hat der jüdische Religionsphilosoph Franz Rosenzweig eindringlich auf das bleibend Neue und auch heute noch provokatorisch Andere biblischen Gottes-, Menschen- und Weltbildes hingewiesen. Gott, Welt und Mensch werden nicht ineinander aufgelöst, sondern stehen in gegenseitiger Beziehung zueinander. Das Grundwort dieser Beziehung heißt „und“. Sowohl abendländische Philosophien wie auch Totalentwürfe verschiedener Religionen haben die drei Größen Gott, Welt und Mensch immer wieder auf verschiedene Weise ineinander aufgelöst. Entweder blieb als einzige Wirklichkeit der Mensch übrig, Gott und Welt wurden zu seinem Produkt, zu seiner Projektion, zumindest zu „Funktionen“ des Menschen, die ihren Sinn und Zusammenhang und ihre Realität allein von Gnaden des Menschen haben. Oder – in materialistischer Weltsicht – der Mensch wurde selbst zum Produkt von Welt und Gott zur weiteren Potenzierung dieses Produktes. Die Wirklichkeit, von der her alles zu verstehen, zu gestalten und zu steuern ist, wäre hier eben die Welt, der Stoff, die Verhältnisse, das Milieu, die im Menschen zum Bewußtsein kommen – und dieses Bewußtsein feiert sich dann, sich von seiner realen Basis lösend, in der Gottesidee. Oder aber Gott wird zum einzig Wirklichen, einzig Seienden, und zwar dergestalt, daß Mensch und Welt nicht nur Produkte Gottes, sondern Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Masken, Erscheinungsformen Gottes, [169] Durchgangsphasen Gottes auf seinem Weg zu sich selbst oder Endphasen auf dem Weg seiner Entäußerung von sich selbst sind. Damit sollen keine fertigen Formeln für die so reich differenzierten Gottes-, Weltund Menschenbilder der Geschichte menschlichen Denkens und Lebens geliefert werden. Wohl aber werden Richtungen markiert, von denen sich das alttestamentliche Wirklichkeitsverständnis deutlich absetzt. Gott ist nicht die Welt und nicht der Mensch. Aber Gott ist – schaffend, sich offenbarend, seine erlösende Liebe zuwendend – auf Welt und Mensch bezogen. Er steht vor und über und zugleich zu Welt und Mensch. So ist aber auch der Mensch an sich selber freigegeben, wenngleich oder besser: indem seine Freiheit hinorientiert ist auf Gott und zugewandt zur Welt. Die Welt wiederum ist der von Gott geschaffene und dem Menschen zugewiesene Raum, in dem der Mensch sich bewähren und den er gestalten soll, in dem er sich jedoch nicht verlieren darf; denn die Welt ist zwar für ihn, er aber nicht nur für diese Welt, sondern für Gott erschaffen. Herrschaft Gottes, Gott in allem, der neue Anfang, den Jesus bringt, dies setzt Gott, Welt und Mensch in eine neue Beziehung zueinander: Gott bricht auf in diese Welt, ja er wird Mensch. Und doch ist die neue Beziehung nicht ein Aufgehen dieser drei Größen ineinander, das sie verschlänge. Herrschaft Gottes bedeutet nicht den Selbstverlust Gottes in Mensch und Welt oder den Selbstverlust von Mensch und Welt in Gott. Die innigste Einheit, die der Liebe, wahrt die Pole, die miteinander in eins gesetzt werden. Nicht Vermischung von Gott, Welt und Mensch, sondern Freigabe von Welt und Mensch in der grenzenlosen Gemeinschaft der Liebe, das ist der neue Ton des Neuen Testamentes, durch den das Alte und sein Weltbild nicht außer Kraft gesetzt sind. Machen wir auf einige Züge aufmerksam, die in diesem Weltbild eingefaltet und für unser glaubendes Weltverhalten von besonderem Belang sind. [170] Der eine Gott Himmels und der Erde Der Gott, der sich von Mensch und Welt abhebt, ist der eine Gott. Er hebt sich auch von jenen Formen der Religiosität ab, die viele Götter kennen. Es ist naheliegend, daß die Religiosität der Menschheit das Göttliche je dort verehrte, Gestalt werden ließ, wo es im Lebensraum des Menschen diesen betraf und rief. Aus den vielen Begegnungen mit dem Göttlichen, aus den vielen Berührungen des Göttlichen gewann dieses seine vielfältigen Gesichter und Gestalten, das Heilige wurde in vielen „Göttern“ verehrt. Die Übermächtigung des Menschen in seinem Leben, in seiner Alltagserfahrung, zumal in seiner Schöpfungs- und Naturerfahrung sind auch der Mutterboden, aus dem viele Zeugnisse der Religion Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Israels erwachsen. Aber mit zielsicherer Geradlinigkeit hebt sich der Glaube Israels aus derlei Verklammerungen empor, wird er zum Glauben an den einen Gott, der, in der Welt sich zeigend, über ihr steht. Als der eine Gott, der dem Menschen vielfältig nahe ist, wird er mehr und mehr zum Gott des Weges, zum Gott der Geschichte. Menschliche Verehrung kann ihn nicht festhalten, indem sie ihn in diese Welt hineinbannt, sondern sie begegnet den Spuren seiner Führung und geht im Vertrauen auf ihn, der verheißt, fordert, schenkt, führt, rettet, auf sein Wort hin, den Weg durch diese Welt. Sie wird Raum der Beziehung zu Gott, aber nicht Grund dieser Beziehung. Glaube bewährt sich in dieser Welt und gestaltet sie so. Der Schöpfer und die Schöpfung aus dem Nichts Konsequent, daß diese Welt nicht ein von Gott auf irgendeine Weise vorgefundener Raum, nicht eine Vorgabe an den nachträglich sie gestaltenden Gott ist; konsequent, daß sie nicht Endprodukt eines innergöttlichen Kampfes oder Prozesses ist, wie dieser Gott nicht Produkt eines Weltprozesses, einer Entwicklung ist. Nein, dieser Gott hat Himmel und Erde geschaffen – und, wie sich in der Reflexion des Grundansatzes immer deutlicher herausschält, aus dem Nichts geschaffen. Gott ruft – und die Welt entsteht. Die Eigen- [171] ständigkeit der Welt ist Eigenständigkeit ganz und gar von Gottes Gnaden, ganz und gar ohne eigene Voraussetzung. Dualismus ist von der inneren Logik alttestamentlichen Gottesglaubens her umso mehr ausgeschlossen, je tiefer dieser Glaube sich selbst erfaßt und reflektiert. Die Welt, die sich Gott allein verdankt, ist indessen nicht weniger, sondern mehr eigenständige Welt. Sie stammt nicht von sich selbst, aus einem undeutlichen und unbewußten Urgrund und wäre dann hernach von Gott überformt worden, von einem Gott, der ihr erst so sein ihr zutiefst fremdes Lebensgesetz aufprägte. Vielmehr ist diese Welt „gemeinte“, „gewollte“, von Grund auf sich selbst gegönnte, überlassene, freigegebene Welt. Sie muß sich auf Gott beziehen, ihm entsprechen – aber in solcher Beziehung und Entsprechung hat sie ihren eigenen Glanz und ihren eigenen Wert. Glanz und Wert, gewiß. Und doch ist sie „entzauberte“ Welt. Die Schauer und Schrecken des Heiligen wohnen auch in der Welt, die das Alte Testament kennt. Aber eine Verfallenheit an diese Schauer und Schrecken gibt es im Glauben an Jahwe, den Bundes- und Schöpfergott Israels, nicht. Sonne und Mond, Himmel und Naturgewalten sind nicht die Rivalen des Gottes, der alles dies gemacht, geordnet und dem Menschen hingestellt hat, daß er sich dessen bediene. Nüchterne Freiheit, mit dieser Welt umzugehen, wächst aus der Treue, die jeden Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Augenblick auf die Hand des Herrn schaut und die Dinge so gebraucht, wie er sie uns in unsere Hand hineingelegt. Der Mensch – Gottes Bild Indem der Mensch diese Welt Gott verdankt und im Blick auf Gott gestaltet, bewahrt er seine eigene, seine menschliche Eigenständigkeit. Er ist Bild Gottes – gerade indem er die Herrscherlichkeit Gottes über diese Welt ausübt, ausübt aber in der dauernden Maßnahme an Gott, im Bund mit ihm. Auch und zumal beim Menschen gehören Abhängigkeit von Gott und Eigenstand aufs innigste zusammen. Die Welt, die ihr Geschick im Umgang des Menschen mit ihr und in der Führung und Fügung des Gottes hat, der sie dem Menschen [172] übergibt, ist nicht nur Natur; sie ist Natur und Geschichte, Natur in Geschichte. Der Schöpfungsbericht gehört in die Vorgeschichte Schöpfungsberichtes des Gen 1 und 2 Bundes im hinein gesamten (vgl. die Stellung der Komposition des der 5 Bücher Mose). Besonders eindrucksvoll sehen wir dies etwa am Lobpreis der Größe und Barmherzigkeit Gottes, wie sie Psalm 136 uns darbietet: Gottes Großtaten sind zugleich jene der Schöpfung und die Taten der Führung in der Geschichte Israels. Welt ist Welt in jener Geschichte, die sie mit dem Menschen auf Gott hin und von Gott her hat. Welt ist der Raum, der sich öffnet für das Heil des Menschen, indem er sich öffnet für die Herrschaft Gottes. 10.3 Die Welt – überholt in die Gottesherrschaft Die alttestamentliche Botschaft von der Welt als Schöpfung ist das Fundament, auf dem die Botschaft Jesu und des ganzen Neuen Testamentes aufbaut. Und doch sind die Aussagen des Neuen Testamentes über die Welt vielfältig und spannungsreich. Um sie theologisch aufzuarbeiten, wäre es notwendig, ihre unterschiedlichen Perspektiven, aber auch ihre zeitgeschichtlichen Hintergründe anzuleuchten. Erst so ließen sich ihre jeweilige Färbung, ihr jeweiliger Zusammenhang, aber auch die jeweilige Haltung oder Ideologie erkennen, von denen sich die einzelne Aussage oder Aussagereihe absetzt. In der Weise, wie mannigfaltige Einflüsse verarbeitet werden, wie sie übernommen, aber in der Übernahme umgewendet oder wie sie nicht übernommen und in der Absetzung dennoch wirksam werden, spiegelte sich jene stille, aber gewaltige Gedankenarbeit wieder, die im Rahmen der neutestamentlichen Schriften geleistet wird: Verwandlung von Gedanken, Traditionen, Erwartungen durch die Begegnung mit dem Evangelium, mit Jesus Christus. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Wir können uns hier nur auf ein recht abgekürztes Verfahren einlassen. Vom Blickwinkel der Gottesherrschaft her gelingt es, durch [173] die scheinbar unzusammenhängenden Aussagepunkte eine Linie, eine Wegbahn ziehen, die insgesamt zeigt, wie im Sinne des Evangeliums der Weg des Glaubens durch diese Welt geht. Die Welt – das Vorletzte Zur Botschaft Jesu vom heranbrechenden Gottesreich gehört elementar die Mahnung, sich zu lösen von der Sorge dieser Zeit und dieser Welt (vgl. Mk 4, 19; Mt 13, 22). Es nützt nichts, die ganze Welt zu gewinnen, aber an der eigenen Seele Schaden zu leiden (vgl. Mk 8, 36; Mt 16, 26; Lk 9, 25). Klugsein in dieser Welt, Weisheit dieser Welt, Geltung dieser Welt, Erfolg dieser Welt, Maßstäbe dieser Welt sind nicht mehr das Entscheidende (vgl. z. B. Lk 12, 30; 16, 8; 20, 34; 1 Kor 1, 20ff.; 3, 19; Gal 6, 14; Jak 4, 4). Die Welt und ihre Zeit (vgl. die beiden Ausdrücke für Welt im Neuen Testament, den räumlichen Weltbegriff, „kosmos“, und den zeitlichen: „aion“) nehmen ihren Gang im Zusammenwirken und Gegeneinanderwirken unterschiedlicher Faktoren. Die Welt, das ist nicht nur der von Gott dem Menschen eingeräumte, zugeordnete Raum, den er sich gestaltend und genießend nutzbar macht, um über ihn zu herrschen (vgl. Gen 1, 26.28). Zur Welt gehört es, so wie sie ist, daß der Mensch sich seiner Zukunft, seines Lebens in der Schöpfung und aus ihren Vorräten nicht von sich her sicher sein kann. Er vermag – immer wieder begegnet uns dies – seine Zukunft nicht aus sich selbst, sondern empfängt sie aus der ihm entzogenen Quelle aller Zeit. Und er empfängt nicht „Zeit an sich“, sondern Lebensmöglichkeiten, die im Zusammenwirken aller Kräfte und Mächte in der Schöpfung ihm zuwachsen, im Zusammenwirken dieser Kräfte und Mächte ihm aber auch unversehens entzogen werden können. Das Zusammenspiel aller dieser Kräfte und Mächte und ihr Zusammenspiel mit dem Menschen, mit seinem kennenden, vorsehenden Ordnen, Verändern, Genießen und vor allem mit dem Zusammenwirken der Menschen miteinander – dies ist das Geschäft dieser Welt. Seine Faktoren freilich sind umfangen von jenem Faktor, der kein einzelner dieser Faktoren und auch [174] nicht ihre Summe und ihr Inbegriff ist: von jenem, an dem alles liegt und zumal der je nächste Augenblick. Er, die Quelle der Zukunft, er, über aller Zeit und Welt, bricht nun auf und ein in diese Welt- und Zeit-Herrschaft Gottes. Die Faktoren, die menschliches Kennen und Können ermißt und bemißt, sind nicht alles, und auch die Ungewißheit, die aus dem Gesamt aller Faktoren herausspringt, ist nicht das Letzte. Welt insgesamt wird zum Vorletzten, wenn jener seine Macht in dieser Welt antritt, an dem der Anfang, der Bestand und das Ende dieser Welt liegen. Weder die Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 lähmende Sorge davor, daß der Mensch seine Zukunft nicht gestalten kann, noch die vorwitzige Sicherheit, die immer mehr und am Ende alles in der Hand zu haben wähnt, haben mehr ihr Recht. Sie sind überholt, sie sind selbst „gestrige“ Haltungen geworden gegenüber jener Armut im Geist, die sich alles schenken läßt und die sich selbst verschenkt. „Vergangene“ Welt Die Welt ist das Vorletzte. Nur wer über die Welt hinaus auf den Herrn schaut, nur wer die Zeichen seines Kommens gewahrt und sich auf sein Kommen, das Kommen seiner Herrschaft einläßt, hat die Welt ganz im Blick. Die Welt als das „vorletzte“ ist vergehende Welt (vgl. 1 Kor 7, 31; 1 Joh 2, 17). Vergehen ist der Rhythmus der Zeit und damit der Rhythmus dieser Welt. Diesem Vergehen wird in der Botschaft vom Anbruch der Gottesherrschaft das Kommen, die von Gott eröffnete Zukunft ohne Maß und ohne Ende entgegengesetzt. So entsteht eine merkwürdig gespannte Situation. Die Welt – will sagen die Menschen, die so leben, als ob diese Welt und die in ihr feststellbaren Strebungen und Wirkmächte alles wären – glaubt, ihren Anfang von einem anderen, von Gott, hinter sich gebracht zu haben. Es scheint, als ob die Welt ihr Geschick aus sich selbst gestalten könne, ihre Zukunft aus sich selber habe. Genau diese Welt aber, die sich loskettet von ihrer Vergangenheit, von der Herkunft aus der Hand des Schöpfers, der sie sich verdankt, ist jedoch nicht [175] nur vergehende, sondern im Grunde bereits „vergangene“ Welt. Denn mit ihrer Sorge, ihrem Optimismus, ihrer Geschäftigkeit, ihrer Verzweiflung blendet sie das Licht der frohen Botschaft ab, die uns sagt: Die Zeit ist erfüllt, das Vergehen ist vergangen in die neue Zukunft, in die Zuwendung Gottes, der uns sich und mit sich alles schenkt. Jener, der aus dieser neuen Zukunft Gottes lebt, ist augenfällig ein „Armer“. Einer, der mit dem Geschäft dieser Welt nicht mithalten kann, einer, der sich um seine sicheren Anteile an der Zukunft bringt. Er ist der Tor, der alles verlassen hat und dem nichts anderes bleibt, als Augenblick für Augenblick um das Brot für den jeweiligen Tag zu bitten (vgl. Mt 6, 11; Lk 11, 3). Doch solche Armut im Geist weiß sich selbst der Zukunft ohne Ende sicher – und gerade deshalb hat sie nicht notwendig, sich um mehr als um dieses Brot für heute zu sorgen. Sie erfährt zwar die Bedrängnis und die Verfolgung – aber zugleich wird dem, der alles verlassen hat, schon jetzt das Hundertfältige in neuer Köstlichkeit, in der Köstlichkeit des unverdienten Geschenkes, zuteil (vgl. Mk 10, 29f.). Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 „Böse“ Welt Welt, die sich in ihr eigenes Vergangensein hinein verbohrt und an ihm festhält, wird zur „bösen“ Welt. Dieser Ausdruck selbst ist nicht neutestamentlich, hat aber im Neuen Testament seinen Hintergrund. Welt, in diesem Sinn verstanden, kann den Geist nicht empfangen, weil sie ihn nicht sieht und nicht kennt (vgl. Joh 14, 17). Es ist jene Welt, aus der die geboren sind, die Gott nicht lieben und sich seiner Heilsbotschaft nicht öffnen (vgl. 1 Joh 2, 15-17). Es ist jene Welt, für die Jesus nicht bitten kann, daß sie gerettet werde, weil sie eben in sich selbst Widerspruch dazu ist, sich retten zu lassen. Es ist jene Welt, die sich weigert, in die Lebens- und Liebesbewegung Jesu einzutreten, außerhalb derer es keine Gemeinschaft mit dem Gott geben kann, der selber die Liebe ist (vgl. Joh 17, 9). Es ist jene Welt, welche die haßt, die lieben und damit das Konzept der Selbstbehauptung durcheinanderbringen (vgl. Joh 15, 18-25). [176] Genau besehen richten sich die Aussagen gegen die Welt jedoch nicht gegen die Menschen, die „Welt“ sind – sie sollen ja aufgerüttelt, zur Entscheidung gerufen werden; es soll ihnen vor Augen gestellt werden, daß sie nicht zu retten sind, wenn sie Welt bleiben, wenn sie in der Ordnung der Selbstbehauptung verharren. Und ebenso wenig wird durch dieses Wort Gottes gute Schöpfung schlechtgemacht, auf ein böses Prinzip, auf einen Gegengott zurückgeführt, der die Wirklichkeit spaltete. Nein, alles stammt von Gott, und aus seiner Hand ist alles gut. Aber herausgebrochen aus der Hinordnung auf Gott, zum unbedingten Wert gesetzt, zum Letzten erkoren oder zum Ersten gemacht, verstellt das Geschaffene den Schöpfer, der in ihm durchscheinen und aufscheinen will. Und in solcher Entfremdung und Verkehrung entwickelt sich in ihm der Sog einer widergöttlichen, wenn auch ewig zweiten und nachträglichen Ordnung, eben der des Bösen. Die Schöpfung ist gut. Sie gründet im Ja Gottes. Er kann nur von sich mitteilen, er kann nur seine Spur und sein Bild ins Geschaffene hineinlegen. So bewährt das Geschaffene sein Gutsein, indem es sich Gott verdankt, indem es von Gott her und auf ihn zu ist. Das Ja und Gut des Geschöpfes zu sich selbst kann nur als Ja und Gut des Geschöpfes zum Schöpfer gelingen. Das Ja zu mir ist ein Ja, das ich über mich hinaus, von mir weg zu Gott hin zu sagen habe, damit es mich selber ganz erreicht und umfängt. In der geschaffenen Freiheit hat die Schöpfung ihren Höhepunkt, aber auch ihre äußerste Gefährdung. Denn die geschaffene Freiheit kann sich in Gegensatz zu ihrer geschöpflichen Grundstruktur setzen, sie kann ihr Ja und Gut ganz auf sich selbst zurückbiegen, sich selbst als Letztes und Höchstes, als Anfang und Ziel behaupten. Es soll hier weder eine Lehre von Gut und Böse noch gar eine dogmatische Lehre von den reinen Geistern, den guten und den böse gewordenen, dargeboten Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 werden. Nur eine Zwischenfrage sei gestellt: Warum soll der Mensch das einzige Wesen sein, in dem das Ja und Gut der Schöpfung zum Schöpfer vollzogen wird? Gibt es nicht die Erfahrung, daß die Schöpfung Lobgesang ist, Lobgesang, der größer und umfassender ist als jener, den wir zu vollbringen [177] vermögen? Stimmen wir nicht, wenn wir zu lobpreisen und der Schöpfung uns zu freuen anheben, schon ein in einen Lobgesang der Schöpfung, der uns umfängt? Ist der Lobgesang des Menschen geringer, wenn er mitsingt mit den Engeln? Und können wir nicht erahnen, wie schrecklich es ist, wenn jene Wesen, die zum reinen Ja und Gut, zur reinen Erkenntnis und Anerkenntnis Gottes, des Woher und Wohin der Schöpfung erschaffen sind, ihr „Ja und Gut“ nur noch zu sich selber sagen? Kann der reine Aufstieg des Lobpreises nicht umschlagen zu Selbstgenuß und Selbstbehauptung? Und was nicht mehr aufsteigt zum Schöpfer, das stürzt bodenlos und grenzenlos in sich selbst hinein, wird darin schrecklich, mitreißend, versucherisch. Bekommen nicht auf solchem Hintergrund auch die Schuld des Adam und der Gehorsam Jesu im Widerspruch zur Macht des Versuchers neue Kontur? Hat es also nicht doch etwas mit dem Gang des Glaubens zu tun, wenn wir uns gerufen wissen, mitzugehen mit dem Lobpreis der Engel und gegen den Rausch, die Faszination, die Verführung des bösen Engels anzugehen, mit Jesus, im Vertrauen auf ihn, getragen von seinem rettenden Gehorsam? Noch einmal: Die Welt ist und bleibt als Gottes Schöpfung gut. Noch in ihrer Verkehrung durch das Nein der geschöpflichen Freiheit zu Gott spiegelt sie Gottes Größe und Güte. Ja, nur aus dieser Spiegelung Gottes rührt die anziehende und mitreißende Mächtigkeit des Bösen, welches das verkehrte Gute ist. Doch so sehr das Böse das verkehrte Gute ist, so sehr ist es auch das verkehrte Gute. Die Warnung vor solcher Verkehrung, die Offenlegung der Gefahr und des Unheils solcher Verkehrung gehören zur frohen Botschaft. Verdecktes Unheil ist nicht Heil, sondern nur um so gefährlicheres Unheil. Die Rede vom Bösen in der Welt, von dem, was in der Welt vom Bösen besetzt, verkehrt, gefährdet ist, schmälert nicht die Verkündigung vom guten Gott und von seiner Herrschaft. Er bleibt der Stärkere und erweist sich in Jesus als der Stärkere. [178] Überwundene Welt „Habt Mut, ich habe die Welt überwunden“ (Joh 16, 33)! „Das ist der Sieg, der die Welt überwindet: unser Glaube“ (1 Joh 5, 4). „Welt“ ist in diesen johanneischen Aussagen doppelt zu verstehen. Einmal ist sie das Näherliegende, das dem Menschen die raschere und bequemere Erfüllung verspricht als jener Gott, der die ganze Entscheidung, die Umkehr, das Loslassen der Gabe um des Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Gebers willen fordert. Zum andern ist sie die Welt, in der und an der wir je neu zu leiden haben, die uns immer neu Abschied, Schmerz, Unsicherheit aufbürdet. Welt ist unausweichlich unser Lebensraum, aber auch unser Leidensraum. Diese Welt ist nun in Jesus Christus für den, der sich glaubend ihm überläßt, überwunden. Der Gehorsam Jesu setzt das Gegenbild gegen alle Weltverfallenheit, und er ist mehr als nur ein Vorbild. Er ist der Weg, der durch die Welt hindurchführt, hin zum Vater. In Jesus finden wir zugleich den Weggenossen, der uns geleitet und trägt. In seinen heilsmächtigen Zeichen und Wundern hat Jesus gezeigt, daß Gott stärker ist als diese Welt und daß er entschlossen ist, die Endlichkeit und Vergänglichkeit in ihr zu überwinden. Das Zweideutige, Vorletzte, Schmerzliche an ihr ist nicht Gottes letztes Wort. Vor allem aber hat Jesus diese Welt ausgelitten. Es gibt nichts in ihr, was er in seiner liebenden Solidarität mit uns nicht mitgetragen und in seinem Mitleiden mit uns „ausgestanden“ hätte. Innerlich ist die Welt überwunden, weil sie geheilt ist – und sie ist geheilt, weil alles in ihr durchlitten und so in Liebe verwandelt ist. Der Atem der Selbstbehauptung ist kürzer als der Atem der Liebe, die alles aushält und im Aushalten verwandelt. Dieser Atem ist der Atem des Geistes, den Jesus sterbend hingibt und der ihn und mit ihm uns auferweckt in die neue Schöpfung hinein. Geliebte Welt Eine Klammer gibt es zwischen der neuen und der alten Welt: dieselbe Kraft, welche die Welt überwindet, ist auch die Kraft, welche [179] die Welt neu schafft – die Liebe. Die Welt ist geliebte Welt. Aus Liebe ist sie geschaffen. Aus Liebe ist sie in ihrem Fall ausgehalten von Gott und aufgehalten von Gott. Aus Liebe ist sie ausgelitten im Leiden Jesu und ist sie neu geworden in der Ordnung der Auferweckung. In dieser Liebe ist sie schon jetzt uns, denen, die an Gottes Liebe glauben, geschenkt. An dem Punkt, an dem die Hinfälligkeit, ja Verfallenheit dieser Welt demaskiert wird am Kreuz, wird sie offenbar als die geliebte. Denn „so sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen einzigen Sohn für sie dahingab“ (Joh 3, 16). Gottes Liebe ist in Jesus da, sie überwindet die Welt, und in ihr, im Glauben an den, der uns geliebt hat, überwinden wir mit ihm die Welt (vgl. Röm 8, 37-39). Wir sind die Geliebten dieser unendlichen Liebe Gottes, der seinen eigenen Sohn nicht geschont hat. Und wie sollte diese Liebe uns nicht mit dem Sohn auch alles, die ganze Welt schenken (vgl. Röm 8, 32). Welt ist Geschenk für uns – Schöpfung aber ist insgesamt geliebt, und der in uns wirkende Geist ist nur Anfang und Zeichen jener Erneuerung, zu welcher der ganze Kosmos gerufen ist (vgl. Röm 8, 18-25). Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Geeinte Welt Die Liebe Gottes in Jesus Christus ist das neue Vorzeichen vor der ganzen Welt, vor allem – was in dieser Welt geschieht. Gottesherrschaft ist keine bloß „regionale“ Wirklichkeit, sondern eine allumfassende. Sicher, sie wird erst in uns, den Glaubenden, in unserer Geduld und Hoffnung, in unserer neuen Freiheit von der Welt und zur Welt sichtbar – aber wie in den Wundern und Zeichen Jesu der Wille zum Heil der ganzen Welt sich anzeigte, so jetzt in uns, in dem, was unserem Glauben und Hoffen jetzt geschenkt wird. In Jesus Christus ist die ganze Schöpfung geeint, zusammengefaßt, mit einem Haupt versehen, „rekapituliert“ (vgl. Eph 1, 10; auch Kol 1, 15-20). Und diese neue Einheit der Welt in ihm wird dargestellt durch den Leib Christi mitten in der Welt, durch die Kirche. Indem in ihr die verschiedenen Menschheitstraditionen, indem [180] in ihr Juden und Griechen zur Einheit zusammengefaßt sind, wird ihre kosmische Bedeutung in der Geschichte bereits anfangshaft Gestalt (vgl. Eph 2, 11-22 in Verbindung mit dem 3. Kapitel und mit 1, 22; ferner Kol 1, 13-20). In diesem Licht läßt sich auch die „Haustafel“ des Epheserbriefs (vgl. Eph 5, 216, 9) neu lesen. Die Herrschafts- und Kommunikationsverhältnisse, die diese Welt prägen, müssen durch die Liebe Christi von innen her verwandelt werden. Autorität und Gehorsam werden nicht ineinander aufgelöst, nicht nivelliert, und doch werden beide dasselbe: ihr Geheimnis ist das sich schenkender Liebe. Sie gewährt ebenso Unterscheidung wie Gleichheit in der umfassenden Einheit. Im Wie unseres neuen Lebens fängt das Wie der neuen Schöpfung zeichenhaft bereits an. 10.4 Neues Weltverhältnis In Jesus Christus sind wir wieder eingesetzt in die grundsätzliche Überordnung des Menschen über seine Welt – die Elemente dieser Welt, an die wir versklavt waren, haben keine Gewalt mehr über uns, weil wir Zwang und Angst zu überwinden vermögen in dem, der uns aus aller Verfallenheit „freigeliebt“ hat (vgl. Gal 4, 1-7). Darin ist uns die Welt neu geschenkt. Wir sind in eine neue Freiheit nicht nur von der Welt, sondern auch zur Welt hinein erlöst. Die Welt vermag uns wieder das zu sein, was sie von ihrem Ursprung ist: Gottes gute Schöpfung. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Frei zur Welt Sofern wir in Jesu Verhältnis der ganzen Hingabe, der bedingungslosen Einheit mit dem Vater eingehen, sofern wir also Christi sind, wie Christus Gottes ist, gilt: „Alles ist euer“ (1 Kor 3, 21). Wir treten in Jesu Freiheit zur Welt ein. Jesus, frei, den Aussätzigen zu berühren, dem heidnischen Hauptmann den Besuch anzubieten (vgl. Mt 8, 1-13), am Sabbat Ähren abzureißen, ja einen Ge- [181] lähmten zu heilen (vgl. Mk 2, 233, 6), mit den Zöllnern und Sündern zu essen (vgl. Mk 2, 13-17), unbefangen der Sünderin zu begegnen und Frauen in seinem Gefolge zu dulden (vgl. Lk 7, 36-8, 3): dies wird in den Evangelien nicht als liberaler Protest gegen engstirnigen Konservativismus dargestellt, sondern als die neue Situation, die Jesu Verhältnis zu den Realitäten und deswegen auch zu dem Gesetz bestimmt, welches das Verhältnis zu diesen Realitäten regelt. Die Gefahren dieser Welt sind gebannt, ihre Trennungen überwunden. Hoffnung und Zuversicht für alle und dadurch neue Nähe des Menschen zu allen und allem fließen aus Gottes erbarmender Nähe, die in Jesus angesagt und angebrochen ist. Solche Freiheit steht nicht im Widerspruch zur Behutsamkeit, mit der Jesus vor dem warnt, was wahrhaft Ärgernis und Versuchung zu Unglauben und Untreue gegenüber Gott bedeutet (vgl. Mt 5, 29.30; 18, 8f.; 18, 6). Ja, solche Vorsicht und solche Freiheit gehen Hand in Hand. Selbstgerechte Sorglosigkeit, die nicht auf den Herrn, sondern auf eigene Leistung vertraut, öffnet den Menschen jenen dunklen Mächten, die grundsätzlich in Jesus entmachtet sind (vgl. Mt 12, 43-45). Auf dem Hintergrund der Freiheit Jesu muß auch die Freiheit der jungen Gemeinde zur Mahlgemeinschaft mit den Heiden verstanden werden, wie die Apostelgeschichte sie in der Begegnung des Petrus mit dem heidnischen Hauptmann Kornelius ansagt (vgl. Apg 10, 9-48). Genauso die Ausführungen des Paulus über die Freiheit und Rücksicht beim Genuß von Götzenopferfleisch (vgl. Röm 14 und 1 Kor 8). Wenn Christus der Herr aller Mächte und Gewalten ist, wenn in ihm die Liebe Gottes über alles andere gesiegt hat (vgl. Röm 8, 3539), dann haben Gesetzhaftes, Angsthaftes, Rücksicht auf nur Vorletztes (vgl. Gal 4 und 5; Kol 2, 8-23) im christlichen Leben eigentlich keinen Platz mehr. Wohl aber Rücksicht auf den Bruder, auf den Schwächeren. [182] Frei in der Welt über die Welt hinaus Die Freiheit des Christen zur Welt ist zugleich Gelassenheit. Gelassenheit in Gestalt jener Sorglosigkeit, die uns immer wieder als Grundzug der Predigt Jesu begegnet (vgl. Mt 6, 19-34; Lk 12, 22-32). Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Solche Sorglosigkeit, in der wir die Welt lassen, um sie uns schenken zu lassen, hat eine noch weiterreichende Konsequenz im christlichen Weltverhalten. Auch wenn wir alles lassen, kommen wir nicht umhin, die Welt zu gebrauchen. Und wir sollen sie gebrauchen, ist doch alles unser! Dennoch muß sich christlicher Gebrauch der Welt von dem Gebrauch der Welt durch jene unterscheiden, denen die Dinge das schlechterdings Notwendige und die Zukunft das ungewisse Resultat ihrer eigenen Sorge sind. Wir aber gehen dem kommenden Herrn entgegen, und gleichviel wie lange diese Geschichte dauert, die Zeit bis zu seiner Ankunft ist kurz, er steht immer unmittelbar vor der Tür und klopft an (vgl. Offb 3, 20). Daher steht all unser Gebrauch unter dem Vorzeichen des „als ob nicht“: „Denn ich sage euch, Brüder: Die Zeit ist kurz. In Zukunft möge, wer eine Frau hat, so sein, als habe er keine, wer weint, als weine er nicht, wer sich freut, als freue er sich nicht, wer kauft, als sei er nicht Eigentümer geworden, wer sich die Welt zunutze macht, als nutze er sie nicht; denn die Gestalt dieser Welt vergeht. Ich wünsche aber, ihr wäret ohne Sorgen“ (1 Kor 7, 29-31). Jene Haltung, die ihren radikalen Ausdruck in dem gewinnt, was wir das Leben nach den evangelischen Räten nennen, ist immer und ist für jeden Christen fällig: haben, was wir haben, und gebrauchen, was wir gebrauchen, im Blick auf den nahen, in unser Leben eintretenden Herrn. Alles wird sein Geschenk und Geschenk an ihn. So gerade nicht wertlos, sondern um so kostbarer – in jener Kostbarkeit, die nur Beschenkte und Verschenkende erfahren, nicht aber solche, die angsthaft um ihren Besitz kreisen. Um es in einem Bild auszudrücken: Die Welt ist das Zimmer, in das der Herr eintritt. Wir dürfen und sollen alle Sorge haben, daß es in diesem Zimmer schön und gastlich und in Ordnung ist. Aber es [183] wäre töricht, vor lauter Sorge darum den Gast zu übersehen, uns auf die Einrichtungsgegenstände statt auf den Gast zu konzentrieren. Ihm soll nichts fehlen, aber er soll mehr sein als das Objekt für die Objekte, die wir ihm vorstellen und anbieten. Das gilt es auch zu berücksichtigen bei unserem Verhalten zum Nächsten, zum Bruder in Not, in dem der Herr selbst von uns erkannt sein will. Glaubensmacht und Kreuzesnachfolge Die Gegenwart der neuen Schöpfung und ihre Zukunft sind in unserem Verhältnis zur Welt eigentümlich verschränkt. Schon jetzt ist alles unser, schon jetzt gibt es nicht mehr Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Mann und Frau, sondern wir sind „einer“ in Christus Jesus, sind in ihm neue Schöpfung – und das allein zählt (vgl. Gal 3, 28; 6, 15). Und doch sind auch wir noch in jenem sehnsüchtigen Harren auf die Vollgestalt der Erlösung, haben teil am Seufzen der Kreatur (vgl. Röm 8, 9-25). Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Zumal Paulus erfährt immer wieder diese Spannung in sich selbst: die Sehnsucht, daß das Vorläufige endet und er in das ganze und bleibende Leben bei Christus und mit ihm eintritt, und die Bereitschaft, hier und jetzt die Gemeinschaft mit Jesu Leiden geduldig durchzuhalten und so der Botschaft zum Zuge zu verhelfen, durchdringen sich. Das macht die Dramatik und Spannung seines apostolischen Dienstes aus (vgl. z. B. 2 Kor 4, 8-6.10; Phil 1, 12-26). Dieselbe paradoxe Gleichzeitigkeit des Endgültigen mit dem Vorläufigen, der Glaubensmacht mit der Kreuzesnachfolge zeichnet indessen auch unsere Situation, zeichnet die Situation des Glaubenden, solange diese Weltzeit währt. Uns ist die Macht gegeben, zu bitten – und wir werden empfangen (vgl. Mt 7, 711; Lk 11, 9-13). Unser Glaube kann Berge versetzen, dem, der glaubt, ist alles möglich (vgl. Mk 11, 24; 9, 23). Das Hundertfältige kommt nicht erst später, sondern schon jetzt auf den zu, der alles um Jesu willen verläßt (vgl. Mk 10, 30). Und doch ist uns die Bedrängnis, die Ohnmacht, die Schicksalsgemeinschaft mit Jesus vorausgesagt, das täg- [184] liche Kreuztragen aufgegeben (vgl. z. B. Mt 10, 17-26; 24, 9; Mk 13, 9-12; Lk 21, 1219; Mk 8, 34; Mt 16, 24; Lk 9, 23). Solche Spannung bedeutet aber keineswegs Spaltung. Denn sowohl die sieghafte Macht über die Welt wie die Teilhabe am Leidensgeschick Jesu sind Ausdruck einer und derselben Liebe, jener Liebe, der schon alles geschenkt ist und die zugleich sich ganz verschenkt. Alles ist uns geschenkt, alles ist uns zum Verschenken gegeben, an den Herrn und an die anderen – dies, letztlich dies ist die Formel christlichen Weltverhaltens. 10.5 Das neue Weltmodell Wir müssen noch einen Schritt weiter. Die Welt steht nicht nur in einem neuen Licht, wir sind nicht nur in ein neues Verhältnis gewiesen zu der Welt, die es gibt – als Glaubende fangen wir an, Welt neu zu gestalten, damit es neue Welt gebe. Nicht daß wir die Welt vollenden können. Dies liegt in den Händen Gottes allein, dies wird geschehen, wann der Herr wiederkommt. Aber schon jetzt erleiden wir nicht nur die alte Welt und empfangen nicht nur die neue, sondern gestalten Welt, zeichenhaft, anfanghaft, aber eben doch als Zeugnis, das geschichtlich wirken soll. Welt haben füreinander Es mag entlegen erscheinen, und doch trifft es den Kern. Jesus sagt in seinem Abschiedsgebet zum Vater: „Alles meine ist dein und alles deine ist mein“ (Joh 17, 10). Im Grunde ist dies die neue Position der Welt, wie sie uns im Kommen Jesu aufgeht: Die Welt ist das Geschenk des Vaters an den Sohn und Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 des Sohnes an den Vater. Der Vater gibt den Sohn hin für die Welt und schenkt ihm die Welt, alles ist ihm gegeben. Und der Sohn legt alles in die Hände des Vaters zurück, hat nichts außer im Vater und vom Vater her. In dieser Beziehung von Vater und Sohn stehen wir mittendrinnen. Wir sind in sie [185] hineingenommen, unser Leben wird Gabe; was wir haben, wird Gabe. Es ist so nur konsequent, daß die Gemeinschaft der Güter, daß Sorgen füreinander und Teilen miteinander den Rhythmus des Lebens in der jungen Gemeinde bestimmt (vgl. Apg 2, 43-47; 4, 32-35). Paulus greift dieses selbe Motiv bei seiner Sammlung für die Gemeinde in Jerusalem auf: Großzügiges, angstfreies Schenken im Vertrauen darauf, daß der lebendig und nahe ist, der uns alles schenken wird, was wir brauchen – dies heißt gelebter, vollzogener, welthaft gewordener Glaube (vgl. 2 Kor 8 und 9). Das neue Gemeindemodell soll das neue Weltmodell werden. So fatal es ist, wenn man bei „Kirche“ immer an den Sammelhut des Pfarrers zu denken Anlaß hat, so sehr spiegelt sich in solcher Verzerrung doch ein elementarer Grundzug unseres Glaubens: er muß sich bewähren in der Weise, wie wir füreinander und für alle geben, leben, da sind. Christen müssen jene sein, die im Umgang mit den Gütern der Welt die neue und doch ursprüngliche „Ontologie“ des Welthaften beglaubigen: Alles ist Gabe, alles ist zum Verschenken und Sich-Verschenken da, noch das Vergehen ist Spur und Chance des Weitergehens, indem eines dem anderen Raum macht, eines das andere nährt und trägt. Einssein miteinander Alles füreinander haben, die Welt als das Füreinander der Menschen und der Dinge – dies läuft hinaus auf jenes Einssein miteinander, das in der Communio Sanctorum als Ziel der Menschheit und der Welt aufleuchtet. Im universalen Frieden aller mit allen, in der Liebe, in welcher alle das dreifaltige Leben spiegeln, wird auch die Einheit und Fülle der Welt vollendet sein. Solche Einheit ist der Gegensatz zur summierten Einsamkeit der Individuen und zur Nivellierung der einzelnen in der Masse. Es ist Einheit in jener Liebe, die alle verbindet und in der Verbindung doch die Unterscheidung wahrt. Nur aus solcher Einheit kann es auch in der Welt, in ihren Gütern, in ihren Kulturen gelingen, Verschiedenheit nicht auszu- [186] löschen und doch umfassende Kommunikation zu ermöglichen. Entschiedene Schritte dahin sind zumal heute fällig, wenn unsere Welt nicht zerbrechen oder in sich selbst zerfließen soll. Gelebte Einheit der Menschen miteinander nach dem Maß Christi ist nicht nur für die Zukunft der Menschheit, sondern auch für die Zukunft der Schöpfung lebensnotwendig. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Eucharistie Gott gibt sich, die Menschen geben sich, die Welt gibt sich – dies wird anschaubar, dies wird Wirklichkeit schon jetzt in der Eucharistie. Hingabe und Dank und Lobgesang an den Vater, Heimkehr zum Vater – Gabe aneinander, Einswerden miteinander – Weitergabe an alle, Austeilung an alle, bis alle eins sind: dieser Gang und diese Dimensionen der Eucharistie sind Geheimnis und Weg einer erlösten, erneuerten Welt. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 [187] 11. Die Letzten Dinge Die Zeit ist erfüllt – eine andere Zeit nach dieser erfüllten gibt es nicht mehr. Die Herrschaft Gottes ist im Kommen – sie ist das letzte Wort der Geschichte, durch kein anderes mehr zu überholen. Das Endgültige und das Ende – diese Dimensionen sind notwendig mit der Botschaft Jesu verknüpft. Und es ist nicht minder von innerer Konsequenz, wenn das Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn sich verbindet mit dem Bewußtsein, daß er der Wiederkommende ist, derjenige, der eingesetzt ist zum Richter und Vollender der Welt. Das Ende hat angefangen, weil das Endgültige angebrochen ist. Das Ende steht noch aus, weil das Kommen der Gottesherrschaft noch nicht vollendet ist. In unserem jetzigen Zustand die Endgültigkeit und das angebrochene Ende anzuschauen – in unserem jetzigen Zustand auf das ausstehende Ende hinzuschauen: beides gehört zum Weg des Glaubens. Daß in Jesus Christus Gott sich für mich, für die Menschheit, für die Welt entschieden hat, überholt zwar unsere letzte Unsicherheit und Angst vor dem Ende; es erspart uns aber nicht, uns für diese Entscheidung Gottes zu uns je neu zu entscheiden, Gottes Entscheidung für uns in unserem Leben aus dem Glauben einzuholen. Und dazu braucht es den nüchternen Blick auf unser Ende, auf das, was noch offensteht, auf das, was von unserem Ja zu Gottes Ja noch abhängt für uns und für die Welt. Das Kapitel von den Letzten Dingen, die Eschatologie, gehört unabdingbar zur christlichen Botschaft. Und die Frage, wie auf diese Letzten Dinge zuleben, gehört wesenhaft zur Frage, wie Glauben geht. Das be- [188] zeugt die Predigt Jesu, das bezeugen die Schriften des Neuen Testamentes insgesamt. Wir wollen indessen einmal auf andere Weise als bislang ansetzen. Wir gehen nicht von den vielfältigen Aussagen der Bibel über die Letzten Dinge aus, sondern vom Gesamt unseres Glaubens und unserer geschöpflich-endlichen Situation auf sie zu. 11.1 Grundlegung: Gottes und des Menschen „Letzte Dinge“ Ist es nicht absurd, von Gottes „Letzten Dingen“ zu sprechen? Die Rede von Letzten Dingen hat doch wohl nur einen Sinn im Blick auf endliche und vergängliche Wesen. So plausibel dies klingt, so wenig wollen wir uns unbesehen damit zufrieden geben. Gottes „Letzte Dinge“? Dafür haben wir zwei Gründe. Einmal sind die Letzten Dinge des Menschen mehr als bloße Folge einer Endlichkeit, die entweder zu einem bösen oder zu einem guten Ende führt durch eine richtende oder rettende Maßnahme Gottes. In der Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 christlichen Botschaft von den Letzten Dingen spielt Gott selbst und spielt die Gottebenbildlichkeit des Menschen inwendiger und grundlegender mit. Zum anderen unterläuft uns nur zu leicht ein falsches Verständnis von göttlicher Unendlichkeit. Um es banal zu sagen, wir stellen uns die Unendlichkeit Gottes vor nach dem Bild einer Geraden ohne Anfang und ohne Ende. Aber ist sie wirklich nur so? Ist sie wirklich nur ein Weglaufen von sich und nicht auch ein Zulaufen, hat Gott nicht in sich selbst sein Auf-zu? Ja, Gott ist unendlich. Aber seine Lebensbewegung hat ein Ziel. Er ist ganz und gar Aufbruch, ohne Grenze. Aber dieser Aufbruch ist zugleich ein Zugehen, ist zugleich Ankunft. Gott kommt bei sich selber an, ist schon ewig bei sich selber angekommen – aber diese Ankunft bei sich ist nicht eine Rückkunft auf eine absolute Einsam- [189] keit, sondern Ankunft bei sich selbst als Ankunft beim Du. Reine „Selbstlosigkeit“ und reiner Selbstbesitz schließen in Gott einander nicht aus, sondern sind in ihm dasselbe. Weil der Vater aufbricht zum Sohn und der Sohn sich zuwendet zum Vater und weil beide einander die Frucht der einen und selben Liebe schenken, ihr eines, ganzes Ineinandersein, deswegen braucht Gott nicht über sich hinaus. Er wird nicht über sich hinausgetrieben, um sich in etwas anderem zu finden und zu verwirklichen. Und zugleich kann Gott doch über sich hinaus. Er kann frei anderes seinlassen, die Schöpfung. Ja er kann sich selbst seiner Schöpfung frei mitteilen, ihr an seinem göttlichen Leben Anteil geben. Gott hat in sich sich selbst zum Ziel – in Gott hat jede göttliche Person ihr göttliches Du zum Ziel – Gott ist so gerade frei, über sich selbst hinauszugehen, seiner Liebe ein Ziel zu schaffen, dem er sich zu schenken vermag, ohne sich selbst, seine reine Vollendung in sich selbst zu schmälern oder zu gefährden. Freiheit über sich hinaus als Freiheit zu sich selbst, diese göttliche Freiheit ist begründet in seinem göttlichen Leben, das reine Selbstmitteilung, reines Weggehen von sich und Zugehen auf sich ist. Gottes „Letzte Dinge“? In diesem Sinn also doch: ja; denn er ist sich der Erste und der Letzte, er begegnet sich in sich selbst, sein Aufbruch zu sich ist Aufbruch in die vollkommene, ebenso in sich geschlossene wie über sich hinaus offene dreifaltige Gemeinschaft. Des Menschen „Letzte Dinge“ Und in der Tat, das ist die Grundlage auch für die Letzten Dinge des Menschen, dies ist der Anfang und das höchste Ziel jeglicher Eschatologie. Wiederum aus zwei Gründen. Einmal weil der Mensch auf Gott zu geschaffen ist. Gott selbst setzt seine Herrschaft der Schöpfung zum Ziel, er selbst will dem Menschen zum „Letzten“ werden, zu jenem Licht und jenem Heil, in denen Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Mensch und Welt ewig leben. Gottes sich liebend mitteilender Selbstbesitz: daraufhin hat uns Gott geschaffen, dazu hat er uns berufen. [190] Und das andere: Der Mensch ist erschaffen zum Ebenbild Gottes. Auch wir sind stets im Aufbruch über uns hinaus, auch wir gehen mit jedem Blick, mit jedem Gedanken, mit jedem Streben weiter, von uns weg – aber wir sind dabei immer auch uns selbst zugewandt, es geht uns um uns selbst, wir haben ein unendliches Interesse an uns selbst. Wir können gar nicht anders leben als so. Es „muß“ uns um uns, um unsere Erfüllung, um unseren Sinn, den Sinn des Ganzen gehen – Interesse am Sinn des Ganzen und am Sinn unseres eigenen Lebens lassen sich nicht voneinander scheiden –. Doch wenn wir nur auf uns zurückkämen, blieben wir in jener erschreckenden Einsamkeit, die sich gerade nicht erfüllte. Ich bin so zu mir erschaffen, daß ich erschaffen bin für mein Anderes, für mein Du. Zuhöchst und zuletzt fürs unendliche, göttliche Du. Aber darin bin ich auch dem geschöpflichen Du erschlossen. Ich kann mich ihm schenken. Nur wenn der Mensch bereit ist, zuzugehen auf Gott und auf seinen Nächsten, findet er sich selbst. Gottes Bereitschaft, sich dem Menschen mitzuteilen und zu verschenken, „kann“ nur Erfüllung des Menschen werden, wenn der Mensch als freier Partner Gottes sich beschenken läßt. Das aber heißt: wenn er sich auf den Lebensrhythmus Gottes einläßt. Und das wiederum heißt: wenn er aufbricht auf Gott und auf den Nächsten zu, wenn er die Zielrichtung zu sich selbst versteht als Zielrichtung zum Anderen. So, nur so ist er, was er ist: Gottes Ebenbild. Dies gilt im Ansatz, weil der Mensch Mensch ist und als solcher offen für Gott. Es gilt umso mehr, weil der Mensch von Gott berufen ist zum gnadenhaften Anteil an seinem göttlichen, dreifaltigen Leben. Die Gottesherrschaft ist dem Menschen nur Erfüllung und nicht Gericht, wenn er Gott sein Alles sein läßt. Weil Gott auf den Menschen zukommt, weil Gott dem Menschen sich mitteilt, findet menschliches Dasein Erfüllung. Wenn der Mensch aber sich von Gott und von den anderen abwendet, denen dieser Gott sich doch mit ihm zugleich zuwendet, dann tritt die Zuwendung Gottes zum Menschen in Konflikt mit dem Streben seines Ich. Das Beseligende wird zur Unseligkeit. Hier wird der fundamentale Unterschied zwischen dem Men- [191] schen und Gott sichtbar. Der Mensch ist nach Gottes Bild geschaffen. Aber gerade darum muß er sich an Gott als seinem Maßstab und seinem Urbild orientieren. Wenn er seine Freiheit nicht nach dem Bild Gottes gebraucht, wenn er ihr ein anderes Ziel und eine andere Richtung gibt als die Richtung auf Gott und die Richtung Gottes selbst, dann bleibt seine Freiheit, dann bleibt er selbst im Widerspruch zu sich selbst. Daß der Mensch Gottes Ebenbild ist, verschärft die Situation seiner Geschöpflichkeit. Gott ist und bleibt der Erste, der Mensch der Zweite. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Indem aber der Mensch daran Anstoß nimmt und probiert, sich selbst der Erste zu sein, „zu sein wie Gott“, ist er gerade nicht wie Gott. Der Mensch, der keine anderen „Letzten Dinge“ haben will als sich selbst, stößt an seine eigene Endlichkeit – sie wird ihm zum bitteren Ende. Und genau an diesem Punkt setzt sich, wenn auch für ihn negativ, seine Gottesbildlichkeit nochmals durch. Der Mensch, der sich Gott und dem Anderen nicht öffnet, stößt an Gott und an den Anderen. Menschliche Freiheit kommt nicht umhin, Gott und den Anderen als ihr Ziel zu erfahren. Nur daß gegen die Weigerung der Freiheit eben Ziel sich als Ende erweist, und im Vorblick muß gesagt werden: als endloses Ende. Menschliche Freiheit verliert ihren unendlichen, aufs Unendliche ausgerichteten Charakter nicht. 11.2 Erschließung der Eschatologie: drei Grunderfahrungen für die Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft einen Als wir Hintergrund in unserer eigenen Erfahrung suchten, kamen wir auf unser Verhältnis zur Zeit zu sprechen. Wir nahmen Zeit einfach so, wie wir sie im Rhythmus unseres Lebens vorfinden. Wir fragten jedoch nicht nach den Voraussetzungen, weshalb wir Zeit so und nicht anders erleben. Vom Gesamt der christlichen Botschaft her müssen wir sagen: Menschliche Zeiterfahrung ist Erfahrung aufgrund des konkreten heilsgeschichtlichen Zustandes des Men[192] schen, ist Erfahrung des gefallenen Menschen mit seiner noch unerlösten Zeit, zumindest mit seiner Zeit, deren Erlösung noch nicht offenbar und vollendet ist. Um die Letzten Dinge und ihre Bedeutung für unseren Weg des Glaubens zu verstehen, kehren wir nochmals in diese Zeiterfahrung zurück. Wir versuchen zum einen, unsere Zeiterfahrung als die Selbsterfahrung des gefallenen Menschen zu interpretieren; wir blicken zum anderen auf die schärfste Zuspitzung unserer Endlichkeitserfahrung: auf die Todeserfahrung. Sodann bemühen wir uns, die spezifisch christliche Perspektive zu gewinnen: Verwandlung unserer Erfahrung durch Jesus Christus und den Glauben an ihn. Die Zeit des gefallenen Menschen Es sind zwei „harmlos“ erscheinende Feststellungen: Die Zeit geht immer weiter, kennt keinen Halt – die Zeit geht nur tropfenweise weiter, wir haben nicht in der Hand, daß sie weitergeht und müssen sie Augenblick für Augenblick entgegennehmen. Beide Feststellungen hängen unmittelbar mit der Verfassung unseres endlichen Daseins zusammen. Wir haben unser Dasein uns nicht selber gegeben, es geht aus einem anderen Ursprung als nur aus uns her weiter. Wir Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 können uns keinen Augenblick selber geben, sondern sind auf jene Quelle der Zukunft angewiesen, die nicht wir selber sind. An den genannten Tatbeständen hängt aber eine eigentümliche menschliche Not: die Not des Streß und die Not der Angst. Daß es immer weitergeht, wir nie rasten, nie aussteigen können, sondern unseren Vorrat an Zeit ständig verbrauchen und verringern, zugleich keine „Konsumverweigerung“ der Zeit vermögen, daß wir für jeden Augenblick uns zur Verantwortung gerufen wissen, weil an jedem Augenblick für uns hängt, wie es weitergeht: dies ist die eine Belastung unserer Zeitsituation – der Streß. Und die andere: daß wir eben nie wissen können, wie es weitergeht und ob es weitergeht, daß alle Sicherungen und Planungen Rechnungen sind, die ohne den großen Wirt aller Zeit gemacht werden – die Angst. In „glücklichen“ Augenblicken vergessen wir beides. Die Zeit [193] vergeht wie im Fluge und scheint zugleich stehenzubleiben. Es scheint ein Verweilen in der Zeit zu geben, das sich nicht ums Nachher zu kümmern braucht und das dieses Nachher nicht unter Druck zu leisten braucht. Doch sobald der Gedanke an die Endlichkeit solchen Glückes einbricht, sobald die Möglichkeit am Horizont erscheint, es könne auch anders werden, kehrt die genannte Not wieder: Wir müssen mitschwimmen und weiterschwimmen in einem Strom, dessen Quelle wir nicht regulieren können, sind drinnen in einem Gefälle und in einer Schnelligkeit, die über uns kommen und uns mitreißen – wir können nur leben von den Tropfen, die aus einer Quelle uns zurinnen, aus der nie mehr als je dieser eine Tropfen uns sicher ist. Warum gibt sie nicht mehr auf einmal? Wird sie und wielange wird sie dieses „Einmal“ uns überhaupt geben? Diese „Zeitnot“ des Menschen hat mit seinem Verhältnis zur Quelle aller Zeit, zu Gott, zu tun; damit daß es dem Menschen zur Last, geworden ist, der Zweite und nicht der Erste zu sein, damit, daß er nicht jenes unmittelbare und ungebrochene Vertrauen zu Gott hat. Sicher, der Mensch kann auch unabhängig vom Glauben an Jesus Christus geschöpfliche Bescheidung üben, er kann demütig es annehmen, daß er nur der Zweite ist. Er kann sich ergeben und vertrauen, daß das, was als Geschick über ihn kommt, nicht Unrecht ist, das ihm angetan wird, ja daß dahinter eine fügende und sinnverleihende Hand waltet. Aber gibt es nicht so etwas wie eine negative Vorentscheidung, in welcher der Mensch innesteht und der er eine solche positive Haltung je erst abringen muß? Eine negative Vorentscheidung, die nicht er in einem persönlichen Handeln getroffen hat, sondern die sein persönliches Geschick umspannt? Ist er nicht hineingeboren in die Angst vor dem Weitermüssen und in die andere, daß es einmal nicht mehr weitergeht? Deutet nicht manches, vielleicht Verborgenes und doch Wichtiges darauf hin, daß so etwas wie ein Bruch durch die menschliche Zeit und ihre Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Geschichte hindurchscheint? Zittert nicht doch ein von unserer Freiheit nicht einfach wegzuarbeitendes Nein des Menschen zu seiner Gottbildlichkeit nach? Ein Nein, in dem der Mensch sich davor zurückzog, aufs Du des lebendigen Gottes und aufs Du des Nächsten hin sein [194] eignes Ich und seine Erfüllung zu suchen? Wirkt nicht jenes mißverstandene „Seinwollen wie Gott“ in dem nach, was uns nunmehr in Streß und Angst der Zeit hineintreibt? Unsere endliche anerkennen und Freiheit uns ist gerade doppeldeutig. dadurch Wir über können sie ihre erheben Endlichkeit zu unserer Gottebenbildlichkeit. So können wir die „Unerträglichkeit“ menschlichen Daseins zumindest abfangen, können uns sozusagen verbünden mit dem, was wir von unserem Ursprung her sind. Oder aber wir können ein Nein sagen zu dieser unserer Endlichkeit, ein Nein zu jener Gottbildlichkeit, die uns prägt, im vermeintlichen, mißverstandenen Seinwollen wie Gott. Hier steigert sich die Unerträglichkeit des Daseins. Der Prozeß der Entscheidung ist nie abgeschlossen, sie muß je neu getroffen werden, vom Christen wie vom Nichtchristen. Wenn wir aber hineinschauen in die Geschichte insgesamt, in die Weise, wie der Mensch sich vorfindet in seiner Zeit, dann vermeinen wir eine Übermacht, zumindest einen Überhang des negativen Vorentscheides wahrzunehmen. Dem steht freilich eine andere Übermacht entgegen. Die Zeit, die in ihrem unaufhaltsamen und doch nur je augenblicksweisen Weitergehen uns bedrängt, ist und bleibt nicht nur der Rhythmus des Vergehens, sondern auch der Rhythmus einer elementaren Hoffnung. Nicht wir können diese Hoffnung einlösen, aber es gibt so etwas wie den Vorblick auf das, was uns hoffen heißt. In der Zeitlichkeit unserer Zeit, so wie wir sie erfahren, scheinen Gericht und Gnade – in einem vorläufigen, noch recht allgemeinen Sinn – sich gegenseitig zu durchdringen. In der Sprache und nach der Auskunft christlichen Glaubens: Der Mensch ist ein gefallener Mensch, und der Sündenfall des Anfangs wirkt nach, indem die Menschheit je unter dem Gesetz der Erbsünde bleibt. Dieses Gesetz der Erbsünde ist zwar in Jesus Christus überwunden, aber nicht einfachhin außer Kraft gesetzt. Sofern der Mensch nur vom Menschen kommt und stammt, sofern er nur aus der inneren Kraft der Geschichte heraus in sie hineinwächst, steht er unter dem Gesetz der Erbsünde. Allein der neue Anfang, das Geborenwerden von oben, die Umkehrung in jenen neuen Beginn, den [195] Gott in seiner Herrschaft und Gnade schenkt, entreißt ihn diesem Gesetz. Und so bleibt der Mensch eben auch seiner Endlichkeit als einer realen Macht verhaftet. Er erfährt seine eigene Unfähigkeit, dem Weitergehen der Zeit zu entkommen. Auch wer sich selbst abschneidet vom Weitergang der Zeit, wer sich die Zukunft selber nimmt, wer sich das Leben nimmt, entrinnt nicht der Zukunft, Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 er tut den entscheidenden Schritt des Weiter ja gerade doch. Er erfährt zugleich seine Ohnmacht, sich selbst die Zukunft zu geben, ja des Weitergehens der Zukunft überhaupt gewiß zu sein. Auch der Glaubende, auch der in der Taufe von oben Geborene bleibt in dieser Geschichte des Vergehens, in diesem Leben zum Tode hin. Sicher, das neue Leben wirkt in ihm, er lebt aus dem Leben Gottes – er lebt aus ihm aber sein sterbliches und sterbendes Leben. Und wie er, mit jedem anderen zusammen, die Annahme seiner Zeitlichkeit jeden Augenblick noch einmal vollbringen muß, so auch seinen Glauben, so auch sein Ja zum neuen Anfang von oben. Heil und Glaube sind nichts „Automatisches“, sie sind der immer neue Anspruch an unsere Freiheit. Die Hilfe: Wir haben diesen Anspruch zu erfüllen in der je bleibenden Gemeinschaft des uns nahen Herrn, der sich für uns entschieden hat. Doch mit der Endlichkeit und dem Zuende-Gehen ist auch jenes Andere bleibend verbunden: Solange die Zeit nicht zuende ist, ist es nicht aus, und solange es nicht aus ist, greift die Zeit aus nach dem, der sie dem Ende entreißt, der sie gewährt und der ihr den Sabbat, die Ruhe gewähren kann, die nicht Stillstand, sondern Erfüllung ist. Als zeitliche Wesen, genauer als Wesen dieser Zeit unserer Vergänglichkeit und unseres Vergehens sind wir erlösungsbedürftige, aber auch erlösungsfähige Wesen. Die Vorgabe des Falles, die Vorgabe der Zuversicht, die Herausforderung zur je neuen Entscheidung, Erlösungsfähigkeit und Erlösungsbedürftigkeit – dies umschreibt das Feld, in dem wir die Botschaft von den Letzten Dingen vernehmen und verstehen. Vielleicht kann ein etwas drastisches Bild uns das Eigentümliche der Zeit des gefallenen Menschen vor Augen stellen. Auch im Para- [196] dies blieb der Mensch ein Wesen, das sich die Vollendung nicht geben, sondern sie nur von Gott empfangen konnte. Der auf sich selbst zurückgedrehte Mensch, der in sich selbst verliebte Mensch, der Mensch, welcher der Versuchung der endlichen Freiheit zur Selbstherrlichkeit erlegen ist, hatte Gott, das erfüllende Gegenüber, das Ziel und Woraufzu seines Lebens als „Stopschild“, als „rote Ampel“ mißverstanden. Der Drang und die Leidenschaft seines Ausgriffs, seines Lebenwollens, seines Sich-vollendenwollens wollten weiter. Er stellte sich die Ampel selbst auf grün, er überfuhr die rote Ampel. Und nun, in der durch seinen Fall verursachten anderen Zeit, in der nicht mehr paradiesischen Zeit, hat er die Folgen zu tragen. Alle Ampeln stehen ihm auf grün, er „kann“ immer weiter, aber er kann nie anhalten: der Streß des Weitermüssens. Er muß immer weiter, aber er sieht nicht weiter. Er ist auf sich selbst gestellt. Im Weitermüssen, in der Unaufhaltsamkeit seines Mitmüssens mit dem Gang der Zeit ist er zugleich bedroht von der Angst, daß die Straße unversehens vor ihm Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 abbricht, daß es nicht weitergeht. Er muß weitergehen – aber es muß nicht weitergehen: die gegenseitige Steigerung von Streß und Angst. Nur die umgekehrte, die erfüllte, die neue Zeit, die geschenkte Zeit der Gottesherrschaft, die Zeit des Gottes, der all seine Zeit dem Menschen schenkt und ihn lehrt, ihn befähigt, sich selbst und seine Zeit zu schenken: nur sie kann ihm Erlösung bringen. Grunderfahrung des Todes Nirgendwo spitzt sich die Erfahrung von Vergänglichkeit und Vergehen mehr zu als angesichts des Todes. Im Tod ist es handgreiflich, daß aus der Endlichkeit für den Menschen Ende wird. Es gibt für ihn „Letzte Dinge“. Schauen wir in dreifacher Perspektive auf die Grunderfahrung des Todes. a) Tod von innen: Erschöpfung, Auslaufen. – Zunächst sehen wir: Der Tod kommt immer von innen. Der Mensch hat nur einen begrenzten Vorrat ihm übergebener Daseins- und Lebensmöglichkeiten. Diese erschöpfen sich, laufen aus. Sie sind einfach so, [197] daß es einmal nicht weitergeht. Dies ist auch dann der Fall, wenn der Mensch gewaltsam, durch Einwirkung von außen, stirbt. Er stirbt nur deswegen, weil sein Organismus, weil sein Leben, weil seine Selbstregeneration nicht weiterlaufen, zum Stillstand kommen. Die Einwirkung von außen, die seinen Tod hervorruft, bringt darin den inneren Lebensprozeß zu Ende. Er, der bislang je weiterging und sich erneuerte, hört nun auf. Der Mensch ist sterblich, das heißt: er, seine Kraft, seine Lebensmöglichkeiten sind auf Dauer schwächer und geringer als das, was sie in Anspruch nimmt, was auf sie zukommt. Der Mensch vermag nicht von sich, von innen, von dem her, was er an Kräften in sich trägt oder sich assimiliert, eine Zukunft ohne Grenze und Ende. Sein Leben ist, aus der inneren Dynamik, aus der es nie ausrinnen kann, die Spannung aufs je Mehr und je Weiter, aber nicht die Kraft zum je Mehr und je Weiter; der wollende, fragende Ausgriff des Lebens geht weiter als seine innere Kraft. Was könnte diese innere Not, was könnte dieses Mißverhältnis wenden? Nur die Kraft des göttlichen Ursprungs, die sich dem Menschen mitteilt, nur Gottes Leben im sterblichen Leben des Menschen. b) Tod von außen: Übermächtigung. – Mit demselben Recht, mit dem wir sagten, daß der Tod je von innen kommt, müssen wir aber auch das andere sagen: Der Tod kommt je von außen. Immer ist er Abbruch, immer ist er Schnitt, auch dann, wenn er durch den allmählich sich dem Ende zuneigenden Prozeß des Lebens vorbereitet und greifbar nahegerückt ist. Sterben ist nicht ein Immer- schwächerwerden, nicht ein Immer-kränkerwerden. Er ist der Sprung vom Noch zum Nicht. Dieses Nicht ist der Abbruch, ist der Stoß, der das Leben trifft, der Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 den Menschen trifft, der stirbt. Insofern liegt der Tod nicht in der Linie des Lebens, sondern er durchkreuzt sie. Sicher wirkt dieser Tod voraus, nicht nur in der Angst und Sorge des Menschen, sondern in jenen Bedrohungen, Abschieden und „Abbrüchen“, die das ganze Leben durchziehen. Aber ist nicht doch ein qualitativer Sprung zwischen den vielen Toden, die wir im Vorhinein sterben, und jenem einen Tod, der einmal und für immer [198] kommt? Daß man den Tod personifiziert hat, daß man ihn den Schnitter Tod genannt hat, das hat man im Ernst wohl immer als bloße Allegorie verstanden. Aber solche Allegorie verkörpert doch die Wucht der zerstörerischen, einbrechenden, fremden, von außen allgewaltig wirkenden Macht des Todes. c) Tod als Trennung. – Eine weitere elementare Dimension des Todes: er bedeutet Trennung. Dies im doppelten Sinn. Einmal trennt er mich unmittelbar aus meiner Welt heraus. Er ist Abschied. Ich kann meine Bindungen und Verbindungen im Tod nicht mitnehmen, und meine Bindungen und Verbindungen können mich aus dem Tod nicht herausnehmen. Der Tod ist nur einmal. Aber auch ich bin nur einmal. Und ich bin ganz in diesem Einmal. Es ist der Ernstfall schlechthin, daß ich sterben muß, mit allem, was zu mir gehört, in diesen Tod eintreten muß. Aber da ist auch noch jene andere Seite: Tod ist Trennung, die durch mein Innerstes hindurchfährt. Sagen wir es so klassisch und altmodisch: er ist Trennung von Seele und Leib. Lange war das die leitende Aussage über den Tod. Man hat sie in letzter Zeit oft als Verharmlosung verstanden. Nur Trennung? Kann ich den Tod vernachlässigen, weil mein „besseres Selbst“ ja doch unzerstörbar ist? Bin ich nicht ganz und elementar, einfach durch die Tatsache des Todes, in Frage gestellt? Eine Trennung von Seele und Leib, die uns dazu berechtigte, den Tod nicht „ganz so schlimm“ zu betrachten, wäre in der Tat ein Mißverständnis der unendlichen Wucht des Sterbens. Aber es könnte ja auch das Gegenteil der Fall sein. Es könnte ja auch der Fall sein, daß ein Sterben, in welchem der Aspekt der Trennung sehr ernstgenommen wird, ein noch ernsteres Sterben wäre. Erinnern wir uns an jenes schlaue Gedankenspiel des Epikur, das nicht sticht: Der Tod ist gar nicht; denn wenn ich bin, ist der Tod nicht, und wenn der Tod ist, bin ich nicht, also ist der Tod nicht. Solange ich lebe, ist der Tod nicht da – warum mich also aufregen seinetwegen? Und wenn er da ist, dann bin ich ja nicht mehr da – warum dann noch mich aufregen, wenn ich es überhaupt nicht mehr kann? [199] Eines jedenfalls ist klar: Wenn der Mensch im Tod nicht nur verschwindet, wenn im Tod so etwas wie Trennung von Leib und Seele geschieht, dann ist die Nichtigkeit dieses Gedankenspiels nachgerade gefährlich. Sicher, dies ist kein Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Beweis für die Unsterblichkeit der Seele. Der innerste Grund, weshalb die angeführte antike Denkfigur nur eine verschleierte Ausflucht ist, liegt auf der Hand: Der Mensch als Wesen, das weitersieht, das aufs Ganze sieht, hat mit seiner Angst und Hoffnung, mit seiner Verantwortung und seinem Interesse schon je über den Tod hinausgesehen – und gerade deswegen trifft ihn der Tod, trifft er ihn total. Der Mensch ist Wesen, das aufs Ganze schaut und das deswegen von seinem Ende ganz betroffen ist. Doch weil der Mensch das Wesen des Ganzen ist, weil er schon je über alle seine Grenzen hinaus gegangen ist, ist etwas in ihm, macht ihn etwas zu ihm selbst, was größer ist als sein Ende. Er ist größer als er selbst – und dieses Größersein wird in ihm zur endlichen, konkreten Gestalt. Er ist die Spannung zwischen unendlicher Größe, sagen wir es ruhig: zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit. Und um dessentwillen ist er nicht weniger, sondern mehr endlich; denn er allein ermißt unter den Wesen dieser Welt seine Endlichkeit. In diese Spannung hinein, die der Mensch ist, aber trifft trennend der Tod. Im Ende, welches die Gestaltwerdung, das Werk, den Raum, den „Leib“ des Menschen vernichtet, bleibt gerade dieses: die Verantwortung des Menschen für seine Gestalt, für sein Leben, für das, was in seinem Leib zur Gestalt geworden ist. Unsterblichkeit der Seele heißt nicht, daß der Mensch dem Kerker des Leibes entrinnen und in die Sphäre des besseren Selbst entschweben könnte, sondern daß er als der total Getroffene und Betroffene in seinem Sterben stehenbleibt, im Gegenüber stehenbleibt zu dem, der ihm Sinn und Leben und Menschsein gegeben hat. Der Tod wird so zum absoluten Ernstfall jener Zeitlichkeit, die wir angeschaut haben: weiter müssen, nicht weiter können. Darin aber ist er zugleich verantwortliches und doch hoffendes Angewiesensein auf den, der die Quelle des Lebens und der Zukunft ist. Tod als Trennung von Seele und Leib, das ist Marke für das noch [200] schwerere Gewicht des Todes. In ihm kommt eine ganze Verantwortlichkeit auf mich zu, eine Verantwortlichkeit fürs Ganze. Tod als Trennung von Seele und Leib, das ist Marke aber auch der Hoffnung, die zugleich mit meiner Verantwortung über den Tod hinausgreift, die hinlangt zu dem entzogenen Anderen. Allerdings wird auch ein anderes deutlich: Unsterblichkeit der Seele, auch wenn sie erlöst wird in ein Mitleben mit Gott, ist noch nicht die Erlösung des ganzen Menschen. Auferweckung des ganzen Menschen, Auferstehung des Fleisches gehört dazu. Dort, wo ich ganz Welt werde, dort wo ich ganz Übersetzung bin in diesen Stoff, dort wo in dieser Welt ich selbst Gestalt werde und durch mich das Unendliche Gestalt wird, dort erst, in meinem Leib bin ich ganz zu mir eingeholt. Und so wäre eine bloß individuelle Unsterblichkeit der Seele aufgrund meines Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 individuellen Todes nicht jene ganze Erlösung, auf die ich angelegt bin – selbst wenn mir in meiner persönlichen Gottesschau nichts fehlt und ich die Fülle dessen, was erfüllt, genieße. Das Erfüllende wäre da, aber ich, der zu Erfüllende wäre nicht ganz da, wäre nicht als jener da, als der ich jetzt lebe, als der ich jetzt geschaffen und gerufen bin. So also geht der Tod: Der Tod ist die Erschöpfung der eigenen Kraft – der Tod ist das Fremde, das in mich einbricht und mich mir nimmt – der Tod ist der Stoß, der mich in meiner Mitte trifft und mich in meiner Mitte trennt. Der Tod ist der absolute Ernstfall meiner Endlichkeit. Und dies gerade, weil er der absolute Ernstfall meiner Unendlichkeit ist. Meine Freiheit greift aus nach dem Unendlichen, meine Verantwortung ist unendlich. Aber ich erfahre, daß meine Kraft und mein Vermögen nur endlich sind, ich erfahre, daß ich ausgeliefert bin an das, was stärker ist als ich, ich erfahre, daß ich nicht aus mir selber ganz und in mir selber eins mit mir bin. Doch derselbe unendliche Ausgriff meiner Freiheit, der mich erst dazu befähigt, meine Endlichkeit zu ermessen und an meinem Ende unendlich zu leiden, ist auch das Organ meiner Hoffnung, die über das Ende hinaus fragt, ohne über das Ende hinaus aus sich selbst etwas zu vermögen. Die Frage über mein Ende hinaus bleibt doppelte Angst: Angst [201] einmal deshalb, weil ich jenseits des Todes überhaupt nichts mehr, nicht einmal mehr diesen einen Augenblick, der mir je gegeben ist, selber vermag. Angst zum anderen deshalb, weil im Tod die Verantwortung meiner Freiheit für sich selbst, die unendliche Verantwortung für mein endliches Dasein nicht ausgelöscht, sondern wie in einem Brennpunkt zusammengefaßt ist. Wenn ich über meinen Tod hinausschaue, wieso soll ich da nicht in meinem Tod für mich selber einstehen müssen? Mit der Frage über mein Ende hinaus ist aber nicht nur die doppelte Angst, es ist damit auch die Hoffnung verbunden, jene naturale, ihrer selbst unsichere und doch mein Leben leitende und haltende Hoffnung, die sich auf den richtet, von dem her und auf den zu meine Freiheit allein frei ist. Kann nicht er diese Freiheit, kann nicht er ihren Ausgriff über das Ende hinaus auffangen, halten, kann nicht er die leere, ausgestreckte Hand meines Daseins erfüllen? Es ist merkwürdig. Der Tod, der mich total bedroht, der Tod, der – christlich gesehen – die äußerste Konsequenz aus meiner Freiheit ist, die ich an mich selbst gerissen habe, um von mir aus ganz frei, so wie Gott, zu sein, dieser Tod, der meine Position gegen Gott dokumentiert und vollstreckt, ist der neue Berührungspunkt mit Gott. Er ist jener Punkt, an dem ich meine ursprüngliche Verfassung und Bestimmung wieder erreiche, in der ich meine geschöpfliche Freiheit von neuem erfahre: Freiheit als Freiheit von her und auf-zu. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Verwandlung durch Jesus Christus Wer glaubt, der bleibt in seiner eigenen Endlichkeit, der bleibt sterblich, dem bleibt die Not des Sterbens. In der Sprache des 1. Korintherbriefes: Der Tod wird als letzter Feind dem auferweckten Herrn unter die Füße gelegt werden (vgl. 1 Kor 15, 26). Solange die Geschichte dauert, herrscht also noch das Gesetz des Sterbens – und doch ist der Sieg des Todes gebrochen und hat der Tod seinen Stachel verloren, seit Jesus Christus auferstanden ist. Weil er auferstanden ist, in dem unser Leben, unser ewiges Leben verankert und zugesagt ist, deshalb ist schon jetzt der Tod verwandelt. [202] Wie sieht diese Verwandlung des Todes aus? Grundgelegt ist sie darin, daß Jesus Christus, der Sohn Gottes, selbst unser sterbliches Fleisch annimmt, selbst sterblich wird wie wir. Er nimmt seinen Tod und damit unseren Tod an. Der neue Adam setzt den Anfang der neuen Menschheit nicht neben die „alte“ Menschheit, sondern heilt und wendet ihr Geschick von innen, indem er es, indem er den Tod annimmt und austrägt. Dieser Tod ist gehorsamer Tod, Tod in die Hände des Vaters hinein und Tod für uns, um unseres Heiles willen. Das Verstummen des Todes wird also zum Für-Wort. In seinem für uns angenommenen und getragenen Tod, im Votum des Sohnes für den Willen des Vaters gerade auch dort, wo dieser Wille fremd und unbegreiflich erscheint, ist menschliche Freiheit grundsätzlich wiederhergestellt und eingesetzt. Wir erhalten die „Letzten Dinge“ zurück, die uns frei machen, den Vater, zu dem wir Zugang haben in Jesus Christus, und den Nächsten, mit dem wir versöhnt sind in der einen, allen geltenden Liebe des Herrn. Die doppelte Scheidewand, die uns von Gott trennt und die uns voneinander trennt, ist eingerissen im Tod Christi (vgl. Eph 2, 1418). Wir schauen im Sterben Jesu und in dem neuen, erweckten Leben, in das es sich österlich verwandelt, Gottes doppelte Zielrichtung und des Menschen doppelte Zielrichtung an: Gott ist dreifaltiges Sich-Verschenken, Gott ist Offenheit über sich selbst hinaus, frei sein anderes sein zu lassen, zu lieben, sich ihm zu schenken – der Mensch ist Freiheit von Gott für Gott und darin Freiheit zu seinem Nächsten, zu seiner Welt. Hier begegnet uns der tiefste Sinn, warum mit dem Tod Jesu und mit seiner Auferstehung die Epoche des Vergehens und der Endlichkeit und des Abschieds nicht zu Ende ist. In Jesu Tod und Auferstehung ist auch noch dieses Vergehen, dieses Sterben, dieser Abschied verwandelt in den Vollzug des zugleich göttlichen und menschlichen Lebens, in den Vollzug des Geschenks. Wir können die Schmerzen unserer Endlichkeit als Geschenk der Hingabe leben, können das, was uns beengt, und was uns die Freiheit zu nehmen scheint, in die Tat der größten Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Freiheit, können es in liebende Hingabe verwandeln durch den, der uns zuerst und der uns gerade so geliebt hat. [203] 11.3 Die vielen Letzten Dinge und das Eine Letzte Eschatologie, theologische Lehre von den Letzten Dingen setzt hier an, setzt an bei der Verwandlung von Ende und Endlichkeit durch das Geschenk der größten Liebe Gottes, durch die Verwandlung unserer Endlichkeit und unseres Endes in der Todeshingabe Jesu und in seinem neuen Leben, das Anfang unseres Lebens ist. Von hier aus, von dem Punkt aus, an dem die Herrschaft Gottes durchbricht in unsere Endlichkeit und sie von innen her ereilt, heilt und neu werden läßt, hat christlicher Glaube seine Zukunft zu lesen, von hier aus geht Glaube auf die Zukunft, auf das Ende unseres Lebens und auf das erfüllte Leben ohne Ende zu. Die Letzten Dinge: Sein beim Vater, Gemeinschaft der Heiligen, Leben im Geist Unmittelbar aus Kreuz und Auferstehung her gibt es für den Christen eigentlich nur drei Letzte Dinge. Jesus ist für uns zum Vater gegangen, mit ihm ist unser Leben verborgen beim Vater, verborgen in Gott (vgl. Kol 3, 3). Für uns ist Jesus zum Vater heimgekehrt, um uns dort, im Hause des Vaters, die bleibende Wohnung zu bereiten (vgl. Joh 14, 2-4). Dort, wo Jesus ist, beim Vater, dort ist das Letzte, auf das wir zugehen; unsere letzte, endgültige Daseinsstation heißt, kraft der christlichen Hoffnung, Sein beim Vater. So wenigstens, wenn wir auf dem Weg bleiben, der uns eröffnet ist und auf den wir in Taufe und Glaube mitgenommen sind, Jesus Christus, welcher der Weg ist (vgl. Joh 14, 6). Doch mit dem Vater sind uns jene mitgeschenkt, die zum selben Leben, zum selben Bleiben beim Vater berufen sind, jene, für welche Jesus Christus gestorben ist. Die Brüder, die Welt, die Menschheit sind uns geschenkt. Unser Leben und Sterben ist nicht nur ein Hindurchgehen durch die Welt, ein Vorbeigehen an den Menschen, ein Abschiednehmen von Menschen und Welt, sondern Leben und Sterben sind Zugehen auf die Menschen und die Welt. Zu den Letz- [204] ten Dingen gehört entscheidend die Communio Sanctorum, die Gemeinschaft der Heiligen hinzu. Wir werden nicht in privater Seligkeit nur Gott anschauen, sondern wir werden mit Jesus zu Tische sitzen im Reich des Vaters und so miteinander. Eucharistiegemeinschaft ist Vorwegnahme des himmlischen Hochzeitsmahles, der bleibenden Gemeinschaft mit den Erlösten. Und diese Gemeinschaft fängt schon jetzt an nicht nur hier auf Erden, sondern im bleibenden Kontakt mit denen, die uns im Zeichen des Glaubens vorangegangen sind und bei Gott leben (vgl. Mt 22, 32). Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Ein drittes Mal müssen wir ansetzen, um aus dem Blickwinkel von Ostern die Letzten Dinge beim Namen zu nennen. Die Letzten Dinge werden nicht nur später einmal sein. Nein, das Letzte ist schon gültig und ganz Gegenwart in einer anderen Dimension, in der des Heiligen Geistes. Gott hat sein Innerstes schon jetzt in unser Herz hineingegeben, wir leben schon jetzt im Innenraum Gottes, in jener ganzen und unendlichen Liebe, die den Vater und den Sohn miteinander verbindet, weil wir im Heiligen Geist schon jetzt „Abba, lieber Vater“ rufen dürfen, weil wir schon jetzt im Heiligen Geist Vater und Sohn bei uns zu Gast haben dürfen (vgl. Röm 8, 15; Gal 4, 6; Joh 14, 23). Die Letzten Dinge und die Liebe In diesen drei Letzten Dingen – Sein beim Vater, Gemeinschaft der Heiligen, Sein im Geist – haben wir alles, haben wir das Ganze, was uns bevorsteht, das Ganze, was am Ende kommen wird. Aber dieses Ganze hat noch eine andere Seite. Gottes Heilswille ist ungetrübt, Gottes Liebe ist ohne Schatten. Aber diese Liebe „geht“ anders, als wir von uns aus ihren Gang vorzustellen geneigt sind. Gottes Liebe als Liebe zu verstehen, erfordert von uns eine beständig neue Umkehr – eine Umkehrung der Vorstellungen, die nicht weniger radikal ist als jene, die Jesus seinen Jüngern zumutete, da er ihnen sagte, daß Gottes Herrschaft kommt durch seinen Tod, durch sein Kreuz hindurch. Gottes Liebe kommt durch unseren Tod hindurch, kommt in un- [205] seren Tod. Angesichts so vieler tragischer Trennungen und Schicksale, so vieler Ängste und Unsicherheiten sind wir immer wieder versucht zu fragen: Ist das wirklich notwendig? Hätte Gott es nicht anders machen können? Warum ist durch Jesu Tod und Auferstehung nicht unser Sterben abgeschafft worden? Aber dreht Gott jemals das Rad zurück? Er schafft das, was einmal in der Geschichte gekommen ist, nicht ab. Er dreht das Rad weiter. Und so ist es die Gangart seiner Liebe, daß er die Welt, die einmal unter das Gesetz von Vergehen und Sterben geriet, nicht wieder zurückholt in den paradiesischen Zustand, sondern daß er in Sterben und Auferstehung Jesu einen Schritt nach vorne tut. Der Tod bleibt, solange diese Weltzeit bleibt, aber der Tod wird verwandelt. Er wird Gemeinschaft mit dem Sterben Christi. Er wird unsere Chance, der größten Liebe, die es gibt und die sich für uns gegeben hat, Antwort zu geben. Nur in einer solchen Antwort holen wir uns selbst, holen wir die Erfahrung der Endlichkeit, Gefallenheit und Verfallenheit ein. Nur so wird Liebe Gottes nicht als eine Lösung von oben auf unsere ungelösten Probleme „aufgepfropft“, sondern werden sie von innen her eingeholt und verwandelt. Christliches Sterben ist durch solche Verwandlung nicht einfachhin „schönes Sterben“ geworden. Sicherlich, es gibt bewegende Zeugnisse dessen, wie sehr Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 der Tod sichtbare Gestalt und eindringliches Zeichen von Glaube, Hoffnung und Liebe zu werden vermag. Aber es gibt auch das Andere, das Sterben Glaubender in Verlassenheit und Unsicherheit und Angst, die uns nur an den Todesschrei Jesu am Kreuz, nur an seinen Ruf erinnern können: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Was in Jesus, in seinem Schicksal geschehen ist, das will auch im Schicksal jener geschehen und sichtbar werden, die seinen Weg mitgehen: Heimholung der Ferne, Ausfüllung der Abgründe, Durchschreiten des dichtesten Dunkels als Weg zum Vater. Alles christliche Sterben ist berufen, Jesu Sterben gleichgestaltet zu werden, Anteil an seinem Weg zu sein, Ort der Begegnung mit der größten Liebe und zugleich Antwort auf diese größte Liebe. Auch wo der Christ nicht für sich oder für andere erfahrbar in seinem Sterben das Sterben Jesu mitzuvoll- [206] ziehen vermag, ist dieses Sterben eingebunden in die Schicksalsgemeinschaft mit Jesus, ist es hineingetaucht in Jesu Tod. Das, was von solchem christlichen Sterben nach außen dringt, mag Widerhall der Erlöstheit unseres Todes durch Jesus oder Widerhall jener Todesnot sein, die er aus Liebe zu uns zu der seinen machte: so oder so ist es hineingenommen in Jesu Sterben und Auferstehung. Dieser Vorrang und dieses Übergewicht des Todes Jesu in unserem Sterben ist der größte Trost und die größte Hoffnung, die wir auf Erden haben. Wohin wir unterwegs sind, wir sind zum Weg Jesu unterwegs, und er selbst wird uns auf seinem Weg geleiten. Und doch ist dieses Bewußtsein alles eher als eine „Versicherung“, alles eher als ein „Automatismus“. Dies ist der zweite, aufs erste befremdliche, unseren Glauben herausfordernde Zug der Liebe Gottes. Sie ist nicht nur eine Liebe, die dem Geliebten nichts erspart – Gott hat das Rad des Todes nicht zurückgedreht–, sondern sie ist auch Liebe, die uns die freie Antwort nicht erspart. Ja, so ist wahre Liebe. Sie nimmt den ernst, dem sie gilt, sie setzt frei, aber sie fordert die Freiheit, die sie freisetzt, auch heraus, nimmt sie in Anspruch. Auch wenn die Liebe nichts erwartet und keine Ansprüche stellt, sie selber ist ein Anspruch an den, dem sie gilt. Anderenfalls würde dieser ja zu ihrem bloßen Objekt, er würde bestenfalls Konsument, nie aber Partner. Liebe ist immer gefährlich. Sogar für Gott. Sicher, er kann nicht aufhören, Gott zu sein, Vater und Sohn und Geist können sich nie untreu werden. Aber weil Gott Liebe ist, kann er sich selbst für uns, für seine Schöpfung aufs Spiel setzen, Gottes Sohn kann unser Bruder werden, kann unseren Tod sterben, kann sich verwunden lassen von unserer Liebe und in dieser Verwundung liebend unsere eigene Gottferne auskosten. Für uns ist Gottes Liebe gefährlich, weil sie uns alles schenkt, weil ihr Geschenk aber nur bei dem ankommen kann, der es annimmt, der sich ihm öffnet. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Im Tod erwartet uns so Gottes unendliche Liebe – doch die Begegnung mit der unendlichen Liebe ist unser Gericht. Nicht daß Gott kleinlich Versagen, Verfehlungen, Verdienste aufrechnen wollte, aber wir bringen uns einfach mit vor diese Liebe, so wie wir [207] sind. Sicherlich, es wäre nicht gut, vorwitzig sich auszumalen, wie das ist, wenn man im Tod vor Gott hintritt. Wir sollen es ihm überlassen, und wir können es getrost dem überlassen, der uns bis zum Äußersten geliebt hat. Ein Heiliger formulierte es einmal so: Wenn ich die Wahl hätte, in meinem Tod vor meine eigene Mutter hintreten zu müssen, um gerichtet zu werden, oder vor Jesus Christus, so würde ich ohne Zögern Jesus Christus als Richter vorziehen. Und doch ist es nicht eine glaubensschwache Ängstlichkeit, wenn wir vor dem Augenblick der Begegnung mit der größten Liebe erzittern. Wir werden von der Liebe, weil sie Liebe ist, in unsere Wahrheit gestellt. Bei der Liebe kann es letztlich nur die Liebe aushalten. Nur der Liebe kann die Liebe das größte Glück bringen. Das was nicht Liebe ist an uns, muß verbrennen, muß sich in Liebe verwandeln. Geht es uns nicht schon so bei der Begegnung mit einem Menschen, dem wir vielleicht nicht immer gerecht geworden sind, über den wir diesen oder jenen Verdacht, dieses oder jenes Urteil hegten? Nun treten wir vor ihn hin, und wir finden lautere Liebe vor, lauteres Verstehen, auch wenn er alles von uns weiß. Dann schmerzt es uns umso mehr, daß wir ihm nicht gerecht geworden sind. Die Freude, nun doch von ihm angenommen zu werden und unbefangen mit ihm sprechen zu dürfen, muß durch diesen Schmerz hindurch, in dem das uns selber auf der Seele brennt und von der Seele wegbrennt, was wir gegen ihn unaufgearbeitet in uns tragen. Läßt sich nicht so das „Fegfeuer“ verstehen? Das, was bislang noch an Nein zur Liebe Gottes in uns lebte, aber auch die Wunden, die ein einmal gesprochenes Nein in unserer Seele zurückläßt, das, was noch nicht ausgefüllt und umgeformt ist vom Ja zur Liebe, das ist angesichts der unendlichen Liebe da als Schmerz, der den Prozeß der Umwandlung in die Liebe begleitet. Aber dürfen wir das andere Schreckliche ausschließen? Kann es nicht auch jenes Nein zur Liebe Gottes in uns geben, das sich selbst festhält, verhärtet, abschirmt gegen diese Liebe Gottes? Hölle kennt kein anderes Feuer als das der Liebe Gottes. Aber wo Gottes Liebe auftrifft auf unser Nein, da wird diese Begegnung zur Spannung, [208] und diese Spannung ist deswegen das „Letzte“ für den Menschen, weil Gottes Liebe das Letzte ist. Wer selbstsicher sagte: Ich bin ja offen für die Liebe, ich wehre mich nicht gegen sie – hat der die Liebe verstanden? Wir können nur von der Hoffnung leben, daß in uns seine Liebe stärker sein möge als alle unsere Selbstherrlichkeit, Verschlossenheit, Enge und Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 auf sich selbst fixierte Schwäche. Aber solches Vertrauen macht gerade keine Rechnung, es ist ganz anderer Art als jene Sicherheit, die sich auf sich selbst verläßt – und so gerade nicht mehr Antwort auf die Liebe ist. Gottes Liebe hat mich schon gerettet – aber bis zur letzten Stunde bleibt es mir aufgetragen, daß ich mich ihr ganz anvertrauen, ihr antworte, mich von ihr wahrhaft retten lasse. Gib mir, daß ich mich von dir retten lasse! Gib mir, daß nie jene Selbstherrlichkeit und nie jene Feigheit und nie jene Bequemlichkeit in mir die Oberhand gewinnen, die den Prozeß deiner Liebe in mir zum Erlahmen bringen, den Prozeß, in dem ich in das verwandelt werde, was du bist, in reine Liebe! Gottes Herrschaft ist die Herrschaft der reinen und ganzen Liebe. Das, was in Einklang steht mit dieser Liebe, wird Seligkeit, Erfüllung, Heil in sich erfahren. Alles in mir, was nicht Liebe ist, muß verbrennen. Das ist das einzig Notwendige, was geschehen muß – und es muß sofort geschehen, Augenblick für Augenblick geschehen. Ein solches Leben für den „Himmel“ ist die stärkste Kraft, um auch diese Erde zu verwandeln, um schon jetzt aus den Verhältnissen dieser Erde und dieser Gesellschaft ein Zeichen für Gottes anbrechendes Heil werden zu lassen. Wer in sich und um sich herum alles in Liebe verwandelt, wer also aufs Letzte zulebt, dem können kein Leid und keine Not auf Erden, dem können kein Mensch und keine Ungerechtigkeit zwischen den Menschen, dem können keine Aufgabe, keine Krise und keine Chance im Hier und Jetzt gleichgültig sein. Himmel und Erde sind in der Ordnung des anbrechenden Gottesreiches, in der Ordnung einer Eschatologie der Liebe unlösbar miteinander verbunden. Die Liebe macht alles neu. Die Liebe sieht aber auch alles neu. Sie leidet unter der Tragik der Endlichkeit, die uns nicht nur in der [209] menschlichen Geschichte, sondern auch in der Schöpfung begegnet: Einer lebt vom anderen, eines verzehrt das andere, eines geht auf über dem Untergang des anderen. Ist nicht selbst solche Tragik verschleiertes „Für“ und somit der vorläufige, endliche, ja entstellte und verfremdete Lebensrhythmus der Liebe, von dem wir eingangs sprachen? Endlichkeit als Hinleben auf ein anderes und somit christlich als Spiegel des göttlichen Lebens, das Leben füreinander, Hingabe aneinander ist? Daß der neue Himmel nicht nur die Privatkabine einer individuellen Seligkeit ist, sondern der Raum jener umfassenden Gemeinschaft, in der Sein mit Gott Sein miteinander und Sein füreinander bedeuten, Communio Sanctorum, war uns schon aufgegangen. Nun aber sehen wir des weiteren: Zum neuen Himmel gehört auch die neue Erde hinzu, die verwandelte Schöpfung, die jetzt noch in Geburtswehen liegt (vgl. Röm 8, 18-25). Zur Auferstehung des Fleisches, zur Erlösung unseres Leibes gehört die Erlösung der Schöpfung – wie auch immer – dazu. Das Wie können wir getrost der Liebe Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 überlassen, die alles und gerade auch die Dinge, den Stoff, das Leben als Gabe und somit als Spur auf dem göttlichen Weg der Liebe erschaffen hat. So gehen wir zu aufs Einmal der Vollendung von Welt und Geschichte, der Gleichzeitigkeit des All im einen Letzten, was es gibt, in der Gemeinschaft der einen, unendlichen, dreifaltigen Liebe, die Gott selber ist, der Gott, der sich uns gibt. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 [210] 12. Nachfrage: Glauben, wie geht das? Auch lesen, auch mitdenken ist ein Weg. Und jene Besinnung, die einen Text zum Lesen entstehen lassen, ist Weg. Den, der einen Weg hinter sich hat, fragt man: Wie ist es gegangen? Die Sorge des Schreibenden und die des Lesenden beim Weg dieses Buches sind wohl dieselbe: Ist es deutlicher geworden, ist es näher gerückt, ist es „gangbarer“ geworden, wie Glaube geht? Oder hat der Weg des Glaubens sich aufs neue verstellt in eine Fülle von Überlegungen und Beobachtungen hinein? Oder muß einer gar sagen: Wenn Glaube so geht, dann ist er nichts für mich, dann kann ich ihn nicht mitgehen? Und wenn das so ist, woran liegt es dann? Törichtes Unterfangen, diese Fragen allgemeingültig auflösen und beantworten zu wollen! Und doch tut die Nachfrage not. Sie ist Sache des einzelnen, Sache derer, die vielleicht miteinander im Mitdenken und Mitleben die Begehbarkeit des angebotenen Weges erprobt oder sich selbst einen gangbaren Weg im Dialog mit diesem Angebot erschlossen haben. Was hier vonseiten des Anbietenden noch geschehen kann, ist ein dreifaches: einmal die methodische Rechenschaft darüber, wie er den Weg zu weisen versuchte; zum andern die persönliche Rechenschaft, was dieser Weg ihm selbst bedeutet; schließlich die inhaltliche Rechenschaft, die den weitgezogenen Weg in wenigen Linien auf einer „Landkarte mit großem Maßstab“ zusammenfaßt. [211] 12.1 Methodische Rechenschaft Unser Versuch, die Botschaft Jesu Christi und die Botschaft von Jesus Christus als einen Weg zu verstehen, hat uns von der Ansage der Gottesherrschaft in der Predigt Jesu bis hin zu den Letzten Dingen geführt. Wir haben also einen Weg in der Zeit zurückgelegt. Sicher, wir haben da oder dort eingehalten und umgeblickt, so daß uns Früheres später und Späteres früher auffiel. Der Grundrhythmus blieb indessen jener zeithafte des Weges Jesu und des Weges der Kirche durch die Welt zum Ende hin. Dieser Zeitbezug ist nicht zufällig, nicht beliebig. Denn wir sind ausgegangen vom Erfülltsein der Zeit, das Jesu Botschaft ausruft. Das „Schon“ und „Nochnicht“ der Gottesherrschaft bestimmte unseren Gang und unsere Sicht. Damit ist das entscheidende Wort gefallen, jenes, das den führenden Gesichtspunkt des Ganzen bestimmt: Gottesherrschaft. Wenn die Herrschaft Gottes anbricht, dann verändert sie die Gangart unseres Lebens und der Geschichte; denn Herrschaft Gottes bedeutet die neue Gangart Gottes, in welcher er auf uns zukommt, in unser Leben einbricht, auf neue und unerhörte Weise unser Gott wird. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Herrschaft Gottes, das ist keineswegs das einzige Interpretationsmodell des Neuen und Einmaligen, was Jesus bringt. In der Schrift selbst begegnen uns andere Deutemöglichkeiten. Und Herrschaft Gottes ist durch die auslegenden Striche, in denen wir ihren Inhalt zu erschließen suchten, keineswegs umfassend und erschöpfend entfaltet. Wohl aber scheint es möglich, die grundlegenden Aussagen der Schrift unmittelbar über die Herrschaft Gottes wie auch den Zusammenhang dieses Verstehensmodells mit wichtigen anderen, die das Neue Testament anbietet, einsichtig zu machen. Was bestimmt und beherrscht den Menschen? Woraus lebt er? Was blockiert seine Freiheit oder setzt sie frei? Was nimmt ihm seine Zeit aus der Hand oder gibt sie ihm in die Hand? Was erschließt oder entzieht ihm und der Menschheit die Zukunft? Das sind Fragen, an denen wir nicht vorbeikommen, wenn wir den Weg suchen, wie Glaube heute geht. Auf sie ist Antwort gefordert, auf sie wird Ant- [212] wort gegeben, frappierende, befremdende und doch er-lösende Antwort in der Botschaft von der Herrschaft Gottes. Von der Seite der Botschaft selbst her gesagt: Wir legten Herrschaft Gottes so aus, daß wir die andere Gangart, die andere Bewegung des Lebens Gottes und unseres Lebens mit Gott von der Initiative und Vorgabe Gottes her in den Blick bekamen. Dieses Vorgehen eröffnete sodann etwas Überraschendes: Andere Seh- und Denkweisen innerhalb des Neuen Testamentes zielen auf ein selbes Verstehen Gottes und ein selbes Gehen unseres eigenen Weges ab, es ergibt sich eine merkwürdige Übereinstimmung unterschiedlicher „Theologien“ im Neuen Testament. In diesem Sinn versuchten wir die Aussagen verschiedener Schichten neutestamentlicher Theologie parallel zueinander zu lesen. Sicherlich ist die hierbei angewandte Weise, mit den Texten der Heiligen Schrift umzugehen, von mancherlei Seiten her befragbar. Ziel und Art dieses Buches verboten eine breit angelegte Rechtfertigung exegetischer Art im einzelnen und auch eine Rückkoppelung an die exegetische Fachliteratur. Das Neue Testament wurde weder dogmatische einflächig Aussagen als noch Ansammlung als gleichartiger kritisch-historisch Belegstellen für aufzubereitendes Nebeneinander religionsgeschichtlicher Quellen für die Erforschung der Worte und Taten Jesu und ihrer Rezeption durch die junge Kirche betrachtet. Vielmehr galt das Neue Testament uns als Buch der Kirche, das einen geistgewirkten Prozeß des Zeugnisses von Jesus, seinem Werk und seiner Botschaft verbindlich in die Kirche hinein weitergibt. Die Texte wurden von ihrem Wohin, sie wurden als Schritte auf Glauben und Leben aus dem Glauben hin gelesen. Die Analyse des Woraus, des Bezugsrahmens und Kontextes, der Schichtung und vielfältigen Geschichte, die „hinter“ ihnen steht, erforderte weitere und andere methodische Bemühungen, die hier keineswegs als unwichtig abgetan, die hier aber auch nicht Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 geleistet werden sollten. Wort Gottes, sich zusprechend im menschlichen Wort aus Glauben auf Glauben hin, dies könnte eine Formel für das von uns zugrunde gelegte Verständnis der Schrift sein. So fügten sich uns „vordogmatische“ Unmittelbarkeit der [213] Schrift, kirchliche Tradition, dogmatische Reflexion und geistliche Weisung fürs Leben aus dem Glauben zu einer Einheit des Weges, wobei Weg gerade das nicht in glatter Identifizierung an dieselbe Stelle schiebt, was er in seinem Gang miteinander verbindet. Was soll diese methodische Bemerkung? Was hat sie mit der uns bewegenden Frage zu tun, wie Glauben geht? Vielleicht darf es einfältig so ausgedrückt werden: Schau, wie dein eigenes Sehen und Gehen, wie du selbst und deine Sicht Gottes und der Welt sich verändern, wenn du dich glaubend auf das einläßt, was als Gottes Botschaft, als sein Weg zu dir im Evangelium angeboten wird! Dann kannst du entdecken, wie Gott, Welt und Mensch sie selbst bleiben und dir doch neu werden im selben Weggeschehen. Dann wirst du erkennen, wie verschiedene Schichten und Perspektiven der Schrift sich ineinander spiegeln und bei aller Verschiedenheit zusammengehören. Dann wirst du die Verbindung zwischen Evangelium, Kirche, und persönlichem Lebensvollzug entdecken. 12.2 Persönliche Rechenschaft Ein solcher Zusammenhang kann aber nicht nur vom einen Pol her entfaltet werden, er muß auch in der umgekehrten Richtung gehen. Sicher hat die Botschaft den Vorrang, sicher ist der Anfang Gottes auf uns zu jener Anfang, der im Glauben, im Leben aus dem Glauben unserem eigenen Anfangen vorausgeht und es trägt. Der Anfang Gottes kommt aber nur im menschlichen Zeugnis auf uns zu, er wird nur dort als Anfang Gottes sichtbar, wo jemand bereits antwortend auf Gott zu anfängt, sich, sein Glauben, sein Leben dem Anfang Gottes einräumt. Daß Gott in der Botschaft des Evangeliums, daß Gott im Weg der Kirche auf den Menschen zugeht, das wird erst glaubhaft, das rückt erst in den Horizont des Menschen, indem Glaubende ihren Glauben, ihr Leben aus dem Glauben, ihren Ansatz, antwortend auf Gott zuzugehen, offenlegen. In der Tat erwuchs so auch die Besinnung, die sich in diesem Buch verfaßt. Leitend war der Hinblick auf die Schrift, auf die Botschaft. [214] Vom Wort Gottes aus sollte sichtbar werden, wie Glaube geht. Doch in solches Wegblicken von sich auf die Botschaft zu nimmt der Glaubende notwendig sein Glauben, sein Leben, sich selbst mit. Er rechtfertigt, begründet, korrigiert, vertieft seinen eigenen Weg am Weg Gottes, er trifft auf diesen Weg Gottes nur als einer, der selbst einen Weg geht, seinen Weg geht. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 So gehört zur Rechenschaft über den vorgelegten Gedankengang auch etwas wie die persönliche Rückfrage dessen, der ihn vorlegt, an sich selbst: Geht Glaube auch für dich so, wie du ihn anderen sagst? Wie bringst du deinen eigenen Weg mit ein in jenen Weg, auf den du andere einlädst? Im Gang der Besinnung zielten mancherlei Hinweise bereits auf das Leben des einzelnen und auf das Leben miteinander aus dem Glauben. Am Ende sollen diese Hinweise noch einmal miteinander verbunden und knapp zusammengefaßt werden. Es geschieht in einer Reihe von Fragen, die der Schreiber aus seinem Tag und Alltag in den Tag und Alltag des Lesers hineingibt. – Glaube ich, daß Gott wirklicher, wichtiger und wirksamer ist als alles andere, als meine Erfahrungen, Vorstellungen, Wünsche und Ängste, als meine Meinungen und die Meinungen anderer, als das, was man gemeinhin die Realitäten nennt? Wenn Gottes Herrschaft herangekommen ist, wenn Gott in Jesus Christus sich hineinbegibt in mein Leben und meine Welt, dann bleibt mir keine andere Antwort als die: ihn meinen Gott sein zu lassen, gegen allen anderen Anschein ihm Recht, Rang und Macht über mein Leben und meine Welt einzuräumen, mich und alles unter der Prämisse Gottes zu sehen, mein Bewußtsein und seine Maßstäbe auf diesen Gott hin umzuorientieren, umzukehren. – Glaube ich daran, daß dieser Gott Liebe ist? Löse ich in meinem Verhältnis zu ihm dieses elementare Credo ein: Wir haben geglaubt an die Liebe! (1 Joh 4, 16)? Glaube ich daran, daß die Liebe mehr recht hat und daß sie mehr Macht hat? Glaube ich daran, daß auch das, was nicht aufgeht, daß auch das, was ich nicht verstehend auflösen und in eine heile Welt hinein harmonisieren kann, von Gott her zutiefst nichts anderes ist als Liebe? Auch dann, wenn ich nicht [215] sehe, wie und warum? Löse ich immer wieder die Inseln der Angst, die sich in dieses Vertrauen einnisten wollen, in gelassene, wartende, lautere Hingabe auf? – Lebe ich in Gottes neuer Zeit? Lebe ich im gegenwärtigen Augenblick? Oder weiche ich ihm und damit dem Blick des lebendigen Gottes aus in eine Vergangenheit, von der ich mich nicht löse, oder in eine Zukunft, die es erst in meinen Phantasien, Ängsten, Erwartungen, Plänen gibt? – Bin ich in lauterer Gesinnung bereit, lieber als alles andere Gottes Willen zu tun? Oder rede ich mich darauf hinaus, daß man so genau diesen Willen Gottes nicht kennen könne, und verstecke mich dann hinter meine eigenen Vorsichten und Rücksichten? Daß Gott mein Gott ist und daß ich mit diesem Gott lebendig lebe, entscheidet sich doch daran, daß ich will, was dieser Gott will. Und wenn einmal das Was des Willens Gottes undeutlich wäre, immer deutlich ist sein Wie: er will von mir vorbehaltloses Vertrauen Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch und Version: Juni 2010 – „Auf dein Wort hin“ (Lk 5, 5): Ist dies auch die Formel für mein Leben und mein Tun? Es gibt sicher verschiedene Wege, um das eigene Leben mit dem Wort Gottes zu durchdringen und aus ihm zu gestalten. Daß es aber Fleisch werden will in unserem Alltag, daß es uns lebendiges, gegenwärtiges Wort sein will, daß es uns hier und jetzt gelten und betreffen will, das gehört unabdingbar zu unserer Situation hinzu, zur Situation der Nachfolge im Zeitalter der anbrechenden Gottesherrschaft. Der Versuch, gemeinsame Erfahrungen im Alltag mit dem Wort Gottes zu machen und diese Erfahrungen auszutauschen, ist nicht die einzige, aber eine besondere wirkmächtige und vielfältig bewährte Möglichkeit des Lebens aus dem Wort. – [216] Schaue ich und stoße ich durch die vielen Aufgaben und Situationen immer wieder hindurch zur Mitte dessen, was Jesus will: auf „sein“ Gebot (vgl. Joh 15, 12), aufs „Neue Gebot“ (vgl. Joh 13, 34)? Lieben, wie er geliebt hat – das fordert mir die Frage ab: Bin ich bereit, das Ja mitzusagen und mitzutun, das Jesus mit seinem Blut zu meinem Nächsten hat? Bin ich bereit, den je jetzt fälligen „Blutstropfen“ für ihn zu vergießen? Für den, der jetzt meine Zeit, meine Aufmerksamkeit, meinen Rat, mein Geld, meinen Blick, meine klare, vielleicht auch nicht für ihn und mich bequeme Entscheidung braucht? – Stoße ich durch in den Erfahrungen des Negativen zur Begegnung mit dem, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat (vgl. Gal 2, 20)? Mache ich ernst damit, daß ich keinem Schmerz, keiner Schuld, keinem Warum, keiner Tragik – in mir, bei meinem Nächsten, in der Welt – begegnen kann, ohne ihm zu begegnen, der dies alles zu seiner Last gemacht, ausgelitten und so von sich her in Liebe verwandelt hat? Bin auch ich bereit, dies alles zu verwandeln, indem ich mein Ja und Du zu ihm, dem für mich und für die Welt Gekreuzigten, sage? Lebe ich in der Flucht vor ihm oder im Mut, liebend jeden Tag neu auf ihn zuzugehen? Solches Zugehen ist die tiefste Kraft, das veränderliche Negative zu verändern und das unveränderliche Negative zu verwandeln. – Bin ich bereit, im Blick auf ihn auch mich und meine Situation anzunehmen, meine Problematik und vielleicht Unerträglichkeit für mich selbst? Lebe ich Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 – Lebe ich mit dem, der lebt? Bleibe ich an mir, an den Umständen, an meinen Vorbehalten oder schlechten Erfahrungen, am Äußeren der Kirche hängen – oder dringe ich durch, bis ich ihm begegne, bis ich ihn finde, der sich hier mir gibt: im Bruder und in mir selbst, in dem Wort, das er mir sagt, in dem Sakrament, das er mir reicht und in dem er sich und seine Liebe mir reicht, in denen, die in seinem Namen der Kirche und so auch mir etwas und ihn selber sa- [217] gen und bringen? Starre ich auf meine Angst vor dem unbeweglichen Stein – oder sehe ich, daß er weggewälzt ist, daß die Begegnung mit ihm mir freigegeben ist, daß er lebt? – Wo immer ich mit anderen zusammen bin, zu sprechen und zu tun habe, ist Raum, in welchem der lebendige Herr gegenwärtig, in welchem er mitten unter uns dasein will. Tue ich wenigstens das Meine dazu, um ihm den Weg zu bereiten? Gehe ich so auf ihn und aus seinem Geist auf die anderen zu, daß die Voraussetzungen wachsen können, damit er seine Gegenwart schenken kann? Habe ich diese Leidenschaft für ihn, für die Welt, für die Gesellschaft, für die Kirche, die weiß: Leben, ganzes Leben ist, wo er unter uns lebt? – Ist mir der Jesus im anderen und der Jesus in unserer Mitte wichtiger als „mein“ Jesus? Bin ich nur in mein Charisma, in meine Einsicht, in meine Probleme verliebt – oder gehe ich auf ihn im andern, auf ihn in unserer Mitte zu? Bin ich in der Mitte oder ist er es, wo ich mit anderen zusammenbin? – Bin ich auch dann, wenn ich allein bin, Ausdruck von Jesus, der inmitten seiner Kirche lebt? Bin ich auch dann bereit, aus dem Licht des Herrn in der Mitte jener, die an ihn glauben, mein Leben und meine Aufgaben zu sehen, anzunehmen, zu tun? Der Herr kann nur die Mitte meines Lebens und meines Denkens sein, wenn er mir Mitte gemeinsamen Glaubens und Lebens, wenn er mir der eine Herr in der Mitte der vielen ist. – Habe ich die Leidenschaft, daß alle eins seien (vgl. Joh 17, 21-23)? Bin ich der Diener der Einheit dort, wo ich bin, in meiner Familie, in meinem Wohn- und Lebensraum, in meinem Arbeitsfeld, unter meinen Freunden? Und bin ich zugleich jeweils offen, über den eigenen Kreis hinauszuschauen und Türen zu öffnen, Gräben zu überspringen, Risse zu heilen? Und wenn ich die Einheit suche: ist sie für mich nur ein Kompromiß, der den Konflikt verhütet oder zukleistert – oder weiß ich, daß Jesus dort Einheit stiftete, wo er die Spannung und Spaltung zwischen Gott und Menschen und zwischen Mensch und Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 – [218] Bin ich – diese Frage mag eigentümlich klingen – für die anderen Maria? Bin ich so leer von mir, so offen über mich hinaus, daß mich Gott für sich beanspruchen und so für andere in Dienst nehmen kann? Maria ist der Weg, ihr Schweigen, ihr Hintergrundsein, ihr Sichgeben und Allesgeben, damit Jesus geboren werden kann. Was in Bethlehem geschah und was an Pfingsten neu geschah, ist auch unsere Aufgabe: Der Herr will geboren werden, er will in die Mitte kommen, er will durch seinen Geist neue Einheit und neue Offenheit stiften. Das Werkzeug dafür heißt Maria. Maria als geschichtliche Gestalt und als unsere Lebensgestalt. – Wie sehe ich meine Rolle, wenn ich mit dem Nächsten zu tun habe, im Sprechen und Zuhören, im Dienen und Leiten, im Versöhnen, Vermitteln und Inspirieren? Wenn christliches Leben Leben aus Gott, Leben nach dem Maß Gottes bedeutet, wenn der Herr uns erbittet, daß wir eins seien, wie Vater und Sohn eins sind im einen Geist, dann muß Gottes dreifaltiges Leben seine Rückwirkung haben auf unser alltägliches Verhalten zueinander, (vgl. Phil 2, 111). Nur wenn wir uns selber mitgeben, wo wir zu sagen, zu handeln, zu geben haben; nur wenn wir selbst Wort und Ausdruck des andern werden, wo wir zu hören, zu dienen, zu helfen haben; nur wenn wir uns zurücknehmen ins vermittelnde und inspirierende Dasein für …, kommt dieses göttliche Leben, kommt unser Auftrag zur Geltung, Einheit zu stiften, göttliches Einssein weiterzutragen in der Welt. – Wie im Himmel so auf Erden: Haben wir den Mut, über den Bereich der bloß spirituellen Haltung vorzustoßen, um unseren Dienst in Welt und Gesellschaft mit dem Geist des Evangeliums zu durchdringen? Werden unser Haben und Nichthaben, unser Geben und unser Leisten; wird unser Umgang mit der Not in der Welt; werden unser Einsatz und unsere Erholung, unser Bauen, Wohnen, Genießen; werden unsere Bildung und unsere Kommunikation Ausdruck, Zeichen dessen, was Gott uns gegeben hat, indem er sich uns gegeben hat? Ausdruck und Zeichen dessen, worauf wir hoffen, wenn wir auf die Vollendung der Herrschaft Gottes hoffen? – Wo schließlich liegt unser Ziel? Kann man uns anmerken, [219] daß wir nur ein Höchstes und Letztes kennen, jene Liebe, an die wir glauben, jene Liebe, die nicht nur Gottes erstes, sondern auch Gottes letztes Wort zu uns und zur Welt ist? Verbrennen wir in uns alles, was nicht Liebe ist, verwandeln wir um uns alles, damit es Ausdruck der Liebe sei? Können jene, die uns, unsere Liebe und unser Einssein sehen, daran glauben, daß Gottes Herrschaft nahe herangekommen, daß Gott die Liebe ist und daß die Liebe mehr recht hat? Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 Die Fülle, aber auch der Anspruch solcher Fragen können uns nicht nur ermutigen. Sie können uns auch in die Krise stürzen: Geht das wirklich? Jeder, der sich auf diesen Weg einläßt, wird durch die notvolle Erfahrung mit seiner eigenen Armseligkeit hindurchmüssen. Es genügt auch nicht, an jene Frage der Jünger zu erinnern „Wer kann da noch gerettet werden?“ und an Jesu Antwort, daß bei Menschen dies unmöglich sei, nicht aber bei Gott (vgl. Mk 10, 26f.). Es ist wichtig und hilfreich, hier vor allem auf das eine zu verweisen: Nicht vieles, nicht Unübersehbares ist gefordert, sondern immer nur das eine: Leben im je gegenwärtigen Augenblick. Den je fälligen einen Schritt tun im Glauben an die Liebe und im Versuch zu lieben, das ist das Ganze. Und zudem: entdecken wir hier nicht jene Einfachheit, die nicht vereinfacht? Jene Klarheit, die nicht um die Dimension der Tiefe verkürzt? Gott Gott sein lassen, Gott Liebe sein lassen, seine Liebe auch im Kreuz verstehen, seiner Liebe mit Liebe antworten, im Blick auf jeden und jedes, so die göttliche Einheit aufdecken und Gestalt werden lassen in unserem Leben und schließlich ihm, seiner Liebe die Vollendung überlassen. Sicher, das ist eine provozierend kühne Alternative zu dem, wie „gängigerweise“ das Leben geht. Doch es ist die Alternative des Glaubens, die Alternative Gottes. Der einzige Weg, damit diese Alternative gelingt: Er in uns, wir in ihm, jeden Augenblick aufs neue. Und wo etwas von dieser Alternative durchscheint in den verworrenen Wegen unseres Lebens und unserer Welt, da erkennen wir: Ja, das ist Leben, das ist Weg und Wahrheit, das ist Er! [220] 12.3 Inhaltliche Rechenschaft Meinen Weg gehen heißt, ihn meinen Weg gehen lassen, seinen Weg in meinem mitgehen. Die Schritte, die mir aufgetragen sind, daß ich sie im Glauben tue, sind dieselben, die ich an seinem Weg ablese. Mein glaubendes Tun ist gegründet, getragen und umfangen von dem, was Gott an mir getan hat, was er für mich getan hat und was er, der Gott für mich, ist. In der persönlichen Rechenschaft über den zurückgelegten Weg ist die inhaltliche mit eingeschlossen. Ziehen wir die Grundlinie noch einmal nach. Fragten wir, im Blick auf den Vollzug, das zum Glauben herausgeforderte Ich, so wenden wir uns jetzt um und schauen auf ihn, auf Gott selbst, der seinen Weg auf uns zu und mit uns geht. Wer ist er uns, als wer ist er uns aufgegangen? – Gott, der aus seiner Verborgenheit aufsteigt in die Mitte unserer Welt und unseres Lebens, indem er niedersteigt, sich einläßt in die Mitte unserer Welt und unseres Lebens. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 – Gott, der uns aus der Vielfalt der Wege, auf denen wir ihm entgegengehen und auf denen wir ihm entgehen, hinwegruft auf den einen, konkreten Weg, den er selbst auf uns zugegangen ist: Jesus Christus. Gott, der auf seinem Weg uns offenbart, daß er nur eines für uns und von uns will: die Liebe, die er schenkt und die er ist. – Gott, der das Ungöttliche und Widergöttliche nicht in einem Akt seiner größeren Macht verdrängt und vernichtet, sondern der es ausleidet im Leiden seines Sohnes und so als der Gott in allem über alles aufgeht, alles verwandelnd, alles integrierend, in allem uns begegnend. – Gott, der im Leiden und Sterben seines Sohnes sich selbst bis zum äußersten gibt, Gott, der uns seinen Sohn und seinen Geist gibt und der uns darin zu erkennen gibt, wer und was er ist: dreifaltiges Sich-Geben. – Gott, der Trennung in Verbindung, Spaltung in Einheit, Tod in Leben verwandelt in der Auferweckung des gekreuzigten [221] Herrn. Gott, der menschliches Mitsein mit uns ist: durch Jesus inmitten seiner Kirche, durch Jesus in unserer Mitte. – Gott, der die menschliche Geschichte mit uns geht in bleibendem Weggeleit, Gott, der berührbar ist in Jesus: durch das Wort, durch das Sakrament, durch das Amt, durch den Bruder, durch sein Wohnen in mir und mitten unter uns. – Gott, der uns hinaussendet in die Welt und uns sammelt zur Einheit seines Lebens in seinem Geist. – Gott, der in diesem Geist sein Leben wiederholen will in uns, zwischen uns, durch uns in der Welt. – Gott, der geboren werden will von uns, indem wir, leer von uns selbst, ihn empfangen und weiterschenken, das Wort in uns Fleisch werden lassend wie Maria. – Gott, der uns und alles vollenden wird in der ewigen Gemeinschaft mit ihm, im ewigen Leben mit ihm, der die Liebe ist. Wiederum kann es uns vorkommen, als ob wir erdrückt würden von einer Fülle der Aussagen. Und doch ist in dieser Fülle im Grunde nur eines uns gesagt: Gott ist Gott und Gott ist Liebe. Er liebt uns mit einer Liebe, über die hinaus keine größere gedacht werden kann, indem er sich selbst uns gibt, seinen Sohn uns gebend bis zum Äußersten, bis zum Tod, seinen Geist uns gebend bis ins Innerste, damit er in uns lebe. Und er will von uns nichts anderes als diese Liebe, wie er selbst uns geliebt hat. Darin aber wächst in uns und zwischen uns das Mitleben seines dreifaltigen Lebens: Einheit, wie der Vater und der Sohn im einen Geist eins sind. Nicht wir können dies erreichen und vollenden, sondern er in Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch Version: Juni 2010 uns. Auf dieses Ziel, auf seine vollkommene Liebe als unsere vollkommene Erfüllung und die Erfüllung aller Geschichte gehen wir zu. Ein letztes Mal: Glauben, wie geht das? Glaube geht nicht, wir vermögen ihn nicht. Aber Gott geht auf uns zu und geht mit uns – und wenn wir seinem Weg uns öffnen, dann werden wir entdecken: Es ist unser Weg. Sein mit Gott und Sein in Gott, das ist nicht nur Weg christlichen Glaubens; es ist der Weg, wie unsere Sehnsucht, wie unser Leben, wie unser Menschsein geht. Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch