Christliche Spiritualität in einer pluralistischen

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Version: Juni 2010
Glauben – wie geht das?
Wege zur Mitte des Evangeliums
[5] Vorwort
Manchmal haben wir den Eindruck, eine ungezählte Fülle von Perlen in der Hand
zu haben, Schriftworte, Dogmen, Normen, Institutionen, Formen. Alles das
gehört zum Glauben, zum Christsein – aber wir wissen nicht, wie wir diese
einzelnen Perlen in der Hand behalten sollen, ohne die oder jene uns entgleiten
zu lassen. Und wir wissen schon gar nicht, wie diese vielfältigen Perlen in einen
inneren Zusammenhang bringen. Es fehlt uns sozusagen die eine Schnur, an der
sie sich alle aufreihen und zur Kette werden, es fehlt uns der eine Weg, der
durch die vielen Gestalten des Glaubens hindurchführt und daraus diese eine,
überzeugende Lebensgestalt Glaube werden läßt. Zornig oder ärgerlich oder
achtlos die und jene Perle fallenlassen, damit man die Sache besser in der Hand
behalten kann, nützt wenig. Alles wahren, aber das viele zum Einen, zum Ganzen
werden lassen: darauf kommt es an.
Vielleicht machen wir auch die entgegengesetzte Erfahrung. Der Glaube kommt
uns vor wie ein ungemein perfektes und stimmiges System, alles paßt
zusammen, alles läuft in sich ab – aber wir selbst kommen nicht dazwischen. Wir
können es zwar in scheuer Bewunderung bestaunen, aber damit leben können
wir nicht. Wir fühlen uns wie in einem Museum, in dem viele wertvolle Tische und
Vasen und Teller und Einrichtungsgegenstände ausgestellt sind; nur sind wir
durch ein Absperrseil davon getrennt und durch ein Schild ferngehalten: Bitte
nicht berühren! Und so können wir nicht auf diesen Stühlen sitzen, nicht an
diesem Tisch essen, nicht der schönen Dinge [6] uns bedienen. Glaube ist groß
und ehrwürdig, aber Glauben geht nicht, so haben wir dann den Eindruck.
Tausend Perlen ohne die verbindende Kette; das perfekte System, aber ohne daß
wir in diesem Museum leben könnten.
Oder vielleicht bedrängt uns eine nochmals andere Not ums selbe: Wir strengen
uns redlich an, zu glauben und unser Leben aus dem Glauben zu gestalten. Aber
wir treten dabei auf der Stelle. Vielleicht noch schlimmer, wir versinken ohne
Grund und Fundament. Glauben wird für uns wie zu einer Gehübung, doch es
fehlt der tragende Boden – zu einer bloßen Haltung, doch es fehlt der Halt; zu
einem Wie, doch es fehlt das Was. Worauf dürfen wir uns verlassen, wo sind die
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klaren Wegzeichen? Sicherlich, wir brauchen keine ausgetretene und gepflasterte
Straße, aber eben doch jenen Pfad, von dem wir wissen dürfen: er trägt und
trägt weiter.
Glauben geht schwer, wenn wir nicht den inneren Zusammenhang, den einen
roten Faden sehen. Glauben geht schwer, wenn wir ihn nicht in unmittelbare
Beziehung setzen können zu unserem Leben und zu unserer Erfahrung, wenn wir
mit dem Geglaubten nicht so, wie wir sind, umgehen und leben können. Glauben
geht schwer, wenn wir nicht wissen, wo es entlang geht, wo der Weg weiterführt.
Einen der ältesten Namen, vielleicht den ältesten, für das Christentum überliefert
uns die Apostelgeschichte: der Weg (vgl. Apg 9, 2; 19, 9. 23; 22, 4; 24, 14. 22).
Jesus selbst sagt von sich: „Ich bin der Weg“ (Joh 14, 6). Paulus spricht von
dem, worauf ihm alles ankommt, von der Liebe als von jenem Weg, der über alle
hinausführt (vgl. 1 Kor 12, 31); der Hebräerbrief schließlich nennt das, was uns
Jesu Erlösungstat geschenkt hat, den „neuen und lebendigen Weg, den er uns
erschlossen hat“ (Hebr 10, 20). Ist uns hier nicht ein Stichwort zugespielt, das
uns
aus
den
Engführungen
des
bloß
objektiven
und
bloß
subjektiven
Glaubensverständnisses herausführen könnte, ein Stichwort, das uns zum
Programm werden könnte, damit Glaube wieder geht? Vor lauter Bäumen doch
den Wald wieder sehen, in den vielen Bildern und Stationen des Glaubens den
einen Weg finden – Christentum und Kirche nicht als eine in sich fertige und
ferne Sache, sondern als den Weg erfahren, den [7] Gott auf uns zugeht und den
nun wir mit ihm selbst weitergehen – für unser Bemühen, für unsern je neuen
Anlauf die Bahn und den Boden finden.
Wo immer wir stehen, wo immer unsere Fragen und Nöte liegen, im persönlichen
Glauben oder im Auftrag, den Glauben zu vermitteln, es kommt darauf an, eine
Antwort auf diese Frage zu finden: Glauben, wie geht das?
Das vorliegende Buch kann nicht die Frage in ihrem ganzen Gewicht einlösen, in
dem sie sich uns stellt. Es bietet sozusagen nur einige Wegnotizen aus dem
Bemühen, „objektive“ Grunddaten christlichen Glaubens als Wegzeichen zu
verstehen, als Zeichen des Weges, den Gott zuerst auf uns zugegangen ist und
den nun wir auf ihn und aufeinander zu im Glauben gehen sollen. Es will einüben
in den Zusammenhang zwischen Schrift, Dogma und Spiritualität, zwischen
unverfügbarer Vorgabe des verbindlichen Glaubenszeugnisses und persönlichem
Versuch, den Glauben zu tun. Vielleicht kommt dabei eine Art verschwiegener
Weggenossenschaft zustande, in der Lesende und Schreibender dieses Bandes
sich gegenseitig beim Gehen dieses Glaubensweges stützen und, jeder an seiner
Stelle, auch anderen dann das Zeugnis geben kann: Wirklich, Glaube geht, und
indem der Glaube geht, geht das Leben!
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Aus solcher Weggenossenschaft ist dieses Buch auch entstanden. Ich habe mit
den Regionaldekanen des Bistums Aachen und mit leitenden Mitarbeitern des
Aachener Generalvikariats im Oktober 1976 eine Besinnungswoche unter dem
Thema gehalten: „Glauben, wie geht das?“ Das Wichtigste waren dabei zweifellos
nicht die Worte, mit denen ich auf den gemeinsamen Weg hingewiesen habe,
sondern
die
Gemeinschaft,
die
dabei
Herrn lic. theol. Hans-Günther Schmalenberg
entstanden
dankbar,
ist.
daß
Ich
bin
er
die
Tonbandnachschrift meiner Denkanstöße geordnet hat, die ich nun, nochmals
aus dem zeitlichen Abstand heraus überdacht und überarbeitet, anderen zum
Mitdenken und Mitglauben und Mitleben weitergeben möchte.
Aachen, Pfingsten 1978
+ Klaus Hemmerle
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[11] 1. Vorfrage: Glauben, wie geht das?
Man sollte sich öfters einmal die Freude gönnen, einem Kind ein Spielzeug zu
schenken, und zwar möglichst eines, das nicht zu kompliziert ist. Dann kann man
miterleben, wie die Welt entsteht. Das fremde Ding wird ausprobiert. Nach allen
Seiten hin wird es gezerrt und gezogen, seine Widerstandsfähigkeit wird erprobt,
die eigenen Kräfte werden an ihm gemessen, es wird auf jede erdenkliche und
kaum erdenkliche Weise mit anderen Gegenständen kombiniert. Dabei kommt
zweierlei heraus, und beides läßt sich nicht voneinander trennen. Zum einen
kommt heraus, was an Möglichkeiten in diesem Etwas drinnensteckt, und zum
andern kommt heraus, was an Möglichkeiten im Kind drinnensteckt. Das
Spielzeug bekommt seine Rolle, indem das Kind mit ihm spielt, im Spiel
entscheidet sich, „was“ es ist. Und das Kind gewinnt seine Rolle, indem es spielt.
Es entfaltet seine Eigenart, seinen Charakter, wenn wir so wollen: sein Wesen im
Vollzug des Spiels.
Wie geht das? Eine scheinbar harmlose Frage, die auf das Funktionieren einer
Sache, auf den Gang eines Spiels abzielt. Aber in diesem „Gehen“ laufen nicht
nur Funktionen, nicht nur Regeln ab, in diesem Gehen geht das Leben, geht der
Mensch, geht die Welt. Wenn wir uns auf einen neuen Mitarbeiter oder eine neue
Stelle oder eine neue Wohnung oder auch nur auf ein neues Auto einzustellen
haben, dann sind wir gespannt, ob und wie es gehen wird. Es kommt darauf an,
sich auf jene Gangart einzupendeln, die den anderen oder die Sache zur
Entfaltung kommen läßt und zugleich [12] mich selbst. Im Mindestfall ist der
Kompromiß gesucht, im Grunde aber immer mehr, immer die Steigerung, den
Zugewinn an Leben, an Sinn, an Wirklichkeit.
Natürlich kann es mitunter auch zum Druck werden, daß es gehen muß. Dies
nicht nur, wenn wir auf Widerstände stoßen, auf mangelndes Zusammenspiel,
sondern oft genug einfach durch die sich steigernden Anforderungen in einer
immer
mehr
technisierten
und
verwalteten
Welt.
Wie
oft
und
in
wie
unterschiedlichen Richtungen muß jeder von uns sich die Frage stellen: Wie geht
das? Wie muß ich diesen Apparat bedienen, wohin muß ich mich in dieser
Behörde begeben, was muß ich tun, um die richtige Fahrkarte zu lösen und sie
auf die richtige Weise zu entwerten, wie muß ich diesen Wahlzettel ausfüllen,
damit er gültig ist? Mitunter hat man den Eindruck, zum bloßen Mitläufer eines
auf vollen Touren laufenden Apparates zu werden, den unsere eigene Freiheit
programmiert hat. Sie wollte sich entlasten, wollte mehr Zeit fürs Wesentliche
haben – und nun läuft sie ihrem eigenen Programm hinterher und wird sein
Sklave.
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Das unbefangene Abenteuer des Kindes, das spielend seine Welt probiert, und
die Last des vorprogrammierten Mitläufertums mit den Programmen des
selbstgezimmerten Systems – beides steht unter derselben Frage: Wie geht das?
1.1 Die Not mit dem Glauben
Wo sich die Ansprüche an uns vervielfachen, wo jeden Augenblick soundsoviele
Signale auf uns einwirken und von uns verlangen, auf sie zu reagieren, damit das
Leben weitergeht, da haben es Botschaft und Anspruch christlichen Glaubens
besonders schwer. Wir sind dann nicht sonderlich daran interessiert, daß Glaube
geht; denn es geht ohnehin schon zu viel, und alles, was nicht gehen muß, das
lassen wir am liebsten auf der Seite, bestenfalls in Reserve für später einmal.
Nun, so plausibel diese Aussage klingt, sie allein faßt die Wirk- [13] lichkeit nicht.
Wie wenig der Mensch ohne Antworten auf die Sinnfrage auskommt, wie sehr er
sich über den bloßen Schlagabtausch zwischen Leistung und Konsum, zwischen
Funktion und Komfort hinaussehnt, dafür gibt es eindrückliche Zeugnisse.
Aber genau an diesem Punkt setzt eine neue Not mit dem Glauben ein, eine Not,
die in der Tat ratlos machen kann. Die Verheißung der christlichen Botschaft und
der Anspruch des christlichen Lebens scheinen zu hoch zu hängen, um dem
Menschen erreichbar zu sein, ihn unmittelbar dort anzusprechen, wo er sich in
seiner Alltagswelt vorfindet. Und zum andern werden solche Verheißung und
solcher Anspruch repräsentiert durch Größen wie Dogma, Norm, Institution,
Amt – und dies wiederum erscheint zu konkret-diesseitig, zu massiv und zu sehr
eingebunden in diese Welt voller Anforderungen und Institutionen. Oft genug
siedelt sich die neue Religiosität jenseits der institutionellen Gestalt von
Christentum und Kirche und diesseits des entzogenen Geheimnisses an, von dem
die christliche Botschaft spricht. Neu und drängend stellt sich die Frage: Wie geht
das, Glauben?
Sicherlich muß die erste Antwort auf diese Frage heißen: Glauben geht nicht.
Glaube läßt sich, dies ist die eindeutige Auskunft des christlichen Glaubens über
sich selbst, nicht mit menschlicher Geschicklichkeit machen, nicht durch
Argumente und Übungen herbeizwingen. Glaube ist, um es theologisch zu sagen,
eine „eingegossene Tugend“, will sagen, etwas, das nicht der Mensch aus sich,
sondern das nur Gott im Menschen vermag. Der Grund des Glaubens – wiederum
eine „klassische“ theologische Aussage – ist nicht das, was an menschlicher
Plausibilität, an Gründen für die Glaubwürdigkeit und Unabweislichkeit des
Glaubensanspruchs beigebracht werden kann, sondern allein die Autorität des
sich offenbarenden, sich mitteilenden, den Inhalt und die Kraft des Glaubens
schenkenden Gottes. Nichtsdestoweniger ist der Glaube freie Antwort des
Menschen auf den Anruf Gottes, Weg, in den der Mensch sich selbst einbringt,
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den er mit seinem Leben und seiner Freiheit und seinem Denken geht. Der
Glaube bricht nicht von einem fremden Außen in den Menschen ein, ohne sich
ihm, und das heißt: sei- [14] ner Freiheit, innerlich zu verbinden. Der Gott, der
den Glauben schenkt und sich im Glauben schenkt, ist vielmehr dem glaubenden
Menschen inwendiger als sein Innerstes. Deshalb ist vollzogener Glaube ein Weg,
auf dem der Mensch entdeckt, wie Menschsein geht, wie seine Welt geht. Das ist
die Zeugniskraft des Glaubens auch nach außen: Wo Glaube gelingt, wo er zur
Lebensgestalt des Menschen wird, da wird sichtbar, daß glaubendes Menschsein
mehr und nicht weniger Menschsein bedeutet. Es ist zu wenig zu sagen, Glaube
wolle den Menschen nur menschlicher machen, denn Gott will uns durch den
Glauben Anteil geben an sich – aber gerade weil der Glaube den Menschen
„vergöttlicht“, vermenschlicht er ihn auch. Der glaubende Mensch wird mehr
Mensch, ja menschlicherer Mensch und weltlicherer Mensch.
So bleibt die Frage also stehen: Glauben, wie geht das? Es ist eine Frage an den
Glauben selbst, genauer: eine Frage an den, der glaubt. Er selbst soll im Licht
seines Glaubens Zeugnis und Rechenschaft dafür ablegen, wie Glaube geht und
wie im Glauben das Menschsein geht.
1.2 Der Einstieg: Wegerfahrung des Glaubens
Wo Menschen ein neuer Anfang im Glauben geschenkt wird, wo sie einen
Durchbruch erfahren, wo sie eine Kehrtwendung in ihrem Leben vollziehen, da
bezeugen sie genau dies: Glaube geht! Und Glaube geht, das heißt: mein Leben
geht, meine Ehe, mein Verhältnis zu diesem schwierigen Nächsten, das
Aushalten in meiner scheinbar ausweglosen Situation, das Ertragen meiner
Krankheit geht. Leben geht, dies heißt: das Wort des Evangeliums geht, der
Weg, den Jesus in seinem Tun und seiner Botschaft vorzeichnet, er geht und wird
Weg eigenen Lebens. Nicht daß Gottes Wort dadurch zum Rezept würde, das sich
nur in ethische Leistung umsetzte. Ganz im Gegenteil. Denn der Weg, der dem
Glaubenden gelingt, gelingt ihm nur, weil er erfährt: mein Schritt auf Gott zu ist
Antwort auf Gottes ersten Schritt auf mich zu. Das Wort der Schrift zeichnet [15]
meinen Weg, zeichnet das Gehen meines Lebens nur, weil es zuerst den Weg
Gottes zu mir, sein Zugehen auf mich bezeugt. Nachfolge geht nicht ohne Ruf,
erlöstes Leben nicht ohne die erlösende Tat, unsere Liebe nicht ohne die Liebe
dessen, der uns zuerst geliebt hat.
Doch dies ist eben die Verwandlung des Wortes. Es ist nicht mehr Information
über etwas, was unabhängig von mir geschehen ist, sondern was da geschehen
ist und was im Wort anwesend wird, ist selbst Weg, ist selbst Brücke, die Gott zu
mir schlägt. Und auf dieser Brücke kann ich nun gehen. Dasselbe Wort, das mir
sein Handeln, seine Nähe, sein Kommen bezeugt und darin ihn selber mir
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offenbart, ist so zugleich Erhellung meines Weges, Anstoß und Aufriß dessen, wie
mein Leben mit Gott und auf ihn zu geht.
Wenn wir in die Geschichte der Kirche, in die Geschichte gelebten Christentums
hineinschauen, dann entdecken wir immer wieder: Die großen Aufbrüche sind
Berufungen,
in
denen
das
Evangelium
selbst,
der
Kern
der
Botschaft
durchschlägt in ein menschliches Leben und in eine menschliche Gemeinschaft
hinein. Dadurch tritt die Botschaft neu ans Licht und wird ein neuer Weg von
Nachfolge, eine neue Erfahrung eröffnet, wie Glaube geht.
Es handelt sich hier um gelebten Glauben, gewiß. Aber der gelebte Glaube ist
auch der gewußte, der reflektierte, der sich theologisch verfassende Glaube.
Nicht nur bei Augustin lassen sich Bekehrung und Theologie nicht voneinander
trennen, auch bei einem Anselm stehen Gebet und Reflexion ineinander, und
nicht
umsonst
siedeln
sich
die
großen
theologischen
Aufbrüche
des
13. Jahrhunderts, siedeln sich ein Albert und Thomas einerseits und ein
Bonaventura andererseits im Umkreis eines Dominikus und eines Franz von
Assisi an.
Die Theologie, mehr noch: die Verkündigung des Glaubens und auch die
Verfassung des Glaubens in seiner dogmatischen Gestalt sind nicht eine
Voraussetzung, die außerhalb des Lichtkreises unserer Frage liegt: Wie geht
Glaube? Alles das ist Vollzug dieser Frage, Ansatz der Antwort und muß im Licht
dieser Frage wieder aufgeschlüsselt werden. Es geht also nicht um ein bißchen
Existentialität [16] und Subjektivität, mit denen die „objektiven“ Formeln
attraktiver und lebensvoller gemacht werden sollen, sondern es geht darum, den
Wegcharakter der Botschaft selbst anzuvisieren. Daß die Mitte der Botschaft
bewegende, strahlende, „weghafte“ Mitte ist, daß jener, der sich Wahrheit und
Leben nennt, nicht nur einen Weg führt, sondern Weg ist (vgl. Joh 14, 6), das
soll
uns
in
den
nachfolgenden
Besinnungen
über
die
neutestamentliche
Grundbotschaft nahe kommen.
1.3 Glaube als vielfältiges Weggeschehen
Als ich mit Freunden in den Bergen Urlaub machte und wir nach der
Wanderschaft des Tages am Abend miteinander im Neuen Testament lasen, da
fiel uns auf, wie viele Worte und Passagen das Weggeschehen von Offenbarung
anschaulich machen. Da ist ein Sprech- und Denk- und Kommunikationsmuster,
das aus der damaligen Umwelt und Tradition stammt, aber in dieses Muster trifft
etwas Neues ein, die Erfahrung und das Zeugnis von Gottes Handeln in Jesus.
Sprechen und Denken werden neu, die Landschaft des gewohnten Lebens wird
neu,
und
jene,
denen
das
Wort
gilt,
werden
auf
diesen
neuen
Weg
mitgenommen. Anders gewendet: im vorfindlichen und vorgeprägten Gang ihres
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Lebens wird ihnen ein neuer Weg eröffnet. Müßte nicht genau dasselbe mit der
Botschaft auch heute geschehen? Heißt Lesen der alten Texte und Übernehmen
der überlieferten Formeln nicht auch: den Weg wieder aufspüren, der sich in
ihnen verfaßt hat, ihn so in Kommunikation bringen mit unserer Erfahrung und
unseren Fragen, daß wir neu denselben Weg finden? Um nicht mißverstanden zu
werden, es geht nicht darum, nur soviel vom Überlieferten stehenzulassen, wie
wir verkraften und vollziehen können. Nein, umgekehrt, das, was unsere
mitgebrachte Erfahrung und Möglichkeit übersteigt, soll eintreffen können bei
uns,
um
neue
Möglichkeiten
zu
entbinden,
um
uns
über
uns
selbst
hinauszuführen. Weggeschehen heißt nicht auf der Stelle treten, sondern
weiterkommen, über sich hinauskommen.
[17] Was vom Lesen der Schrift gesagt wurde, das gilt genauso von den großen
dogmatischen Formeln. Wenn wir etwa von den drei Personen im einen göttlichen
Wesen, wenn wir vom ungetrennten und unvermischten Einssein der göttlichen
und menschlichen Natur in Jesus Christus sprechen, dann sind das Marken eines
Weges, der Gott selber ist, eines Weges, den Gott selber geht, einer Bewegung
von Liebe, die Gott ist. Nur wenn wir das Weggeschehen aufschlüsseln, das in
solchen Aussagen sich verdichtet, wächst jenes Verstehen, in dem Glauben geht.
Anselm von Canterbury spricht vom Glaubensverstehen, vom intellectus fidei. Es
ersetzt nicht den Glauben und ist dem Glauben nicht äußerlich, sondern ist die
innere Konsequenz des Glaubens: Der Glaube hebt das ans Licht und deswegen
ins Verstehen, was er glaubt. Von Anselm wurde die unüberholbare Formel für
Theologie geprägt: fides quaerens intellectum, Glaube, der sein Verstehen sucht,
der nach seinem Verstehen drängt.
Glaube sucht sein Verstehen, das heißt: Glaube sucht seinen Weg, Glaube sucht
zu erhellen, wie er geht und wie in ihm unser Dasein geht. Das ist Theologie.
Wir können im Gesamt der christlichen Botschaft einige Stufen herausstellen, in
denen das Weggeschehen des Glaubens sich entfaltet.
Weggeschehen des Glaubens, das meint hier freilich nicht allein und nicht einmal
zuerst unseren Vollzug, so sehr wir nur im ersten Schritt, den wir selber wagen,
Gottes vorgängigen ersten Schritt „entdecken“. Den Anfang setzt jenes Handeln
Gottes, das dem Glauben seinen Inhalt, seine Sache, sein Licht und seine Kraft
gibt. Bloßer Glaubensvollzug ohne Glaubensinhalt wäre kein Glaubensvollzug.
Man könnte deshalb auch vom Weggeschehen der Offenbarung sprechen, könnte
die Frage formulieren: Offenbarung, wie geht das? Hierbei wäre freilich
umgekehrt zu sagen, daß Offenbarung von sich selbst her hineinführt in den
Glauben, der sie bezeugt. Offenbarung ohne Bezeugung wäre nicht als
Offenbarung da; und das Offenbarungszeugnis, das uns die geoffenbarte
Wahrheit vermittelt, ist eben Glaubenszeugnis.
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[18] Die Schritte, die nun im Offenbarungs- und Glaubensgeschehen sich
ineinander-, sich zum Weg fügen, lassen sich wie folgt formalisieren:
Der erste Schritt ist Gottes Schritt auf uns zu, ist Weg, den Gott geht, sich
überschreitend, sich verschenkend, sich mitteilend. Er spricht, er handelt. Im
Vordergrund von Offenbarung und am Anfang menschlichen Glaubens steht das
Handeln Gottes in diese Welt hinein, der Einbruch Gottes in diese Welt. Gottes
Weg zu uns, der Weg, den Gott macht, die heilsgeschichtliche Dimension ist das
erste.
In diesem ersten aber ist ein zweites eingefaltet, was dieses erste trägt und doch
erst durch dieses erste hindurch aufgeht: Gott macht nicht nur einen Weg,
sondern Gott „ist“ Weg. Er veranstaltet nicht einen Ausflug über sich hinaus in
die Welt, um uns etwas von seinem Licht und seinen Gaben mitzuteilen, sondern
er begibt sich selbst auf diesen Weg und zeigt so, wer er ist: Gott des Weges, ein
sich überschreitender, sich hingebender, liebender Gott, ein Gott, der in sich
selber Liebe ist. Gott zeigt uns nicht nur, was er tut, sondern wer er ist, auch
wenn sein Wesen stets unser Fassen-können überschreitet. Aber als dieser je
Größere, uns je Übersteigende, gibt und gönnt er sich. Es ist sein eigenes Leben,
es ist er selbst, an dem er uns Anteil gibt, indem er handelnd und offenbarend zu
uns kommt.
Wie Gott auf uns zugeht, so ist er. Überscharf gesagt: Gottsein geht so, wie Gott
es uns zeigt, indem er sich in Jesus Christus uns schenkt.
Dies kommt aller unserer Freiheit zuvor und übertrifft all unser Können. Und
doch ist es kein Geschehen, das nur an uns und über uns hinweg passiert. Es ist
Geschehen, das sich uns mitteilt, indem es uns selbst auf den Weg ruft. Dies ist
der Aufbruch Gottes zu uns, daß er uns selber aufbricht, damit wir aufbrechen.
Der Weg, den Gott zu uns geht, der Weg, der Gott selber ist, erreicht uns, indem
wir uns auf den Weg machen – dies der dritte Schritt. Offenbarung kommt im
Glauben an, Glaubensinhalt (fides quae) vermittelt sich zum Glaubensvollzug
(fides qua). In diesem Aufbruch aber sind wir [19] selber ganz drinnen. Glaube
ist nicht nur ein Weg, den wir machen. Glaube ruft uns selbst und ganz auf
diesen Weg, verwandelt uns in Weg, deckt es als unsere Berufung und unser
Wesen von Gott her auf: daß wir selber Weg sind, Weg über uns hinaus, als
„Weg“ Bild Gottes.
Darin bereitet sich der vierte Schritt vor, der sich vom dritten nicht lösen läßt.
Sicher, jeder muß aufbrechen, jeder persönlich glauben, jeder sich entscheiden,
jeder den ersten Schritt tun. Aber dieser Schritt ist als Schritt auf Gott zugleich
Schritt aufeinander zu, Schritt, der das glaubende Miteinander in Gang bringt
und von ihm schon in Gang gebracht ist. Gemeinschaft, Kirche ist keine
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zusätzliche und äußerliche Dimension zum „Glauben an sich“. Offenbarung ruft
Menschen, indem sie Menschen zusammenruft und somit zueinander ruft. Glaube
geht nur, indem wir zueinander gehen und miteinander gehen. Hier ist der Ort, in
dem mitten in der Geschichte Gott wohnt und durch seinen Geist seine
Offenbarung und sein Heil weitergehen bis an die Grenzen der Erde und bis ans
Ende der Zeit.
Der Weg Gottes auf uns zu; der Weg, der Gott selber ist; der Weg, den wir auf
ihn zugehen; der Weg, den wir aufeinander zu und miteinander gehen – dies ist
der eine Weg, der uns sagt, wie Glauben geht.
Sollten wir nicht immer, bei jeder Verkündigung, bei allem, was wir im Namen
des Glaubens und der Kirche tun, bei unserem eigenen Glaubens- und
Lebensvollzug diese vier Dimensionen gegenwärtig haben? Er macht den ersten
Schritt, wir sind stets nur Antwortende auf ihn und müssen zuerst von uns selbst
weghören auf ihn. Dabei macht er uns aber nicht nur Vorschriften und
Mitteilungen über dies und jenes, sondern er gibt und erschließt und schenkt sich
selbst; wer ihn liebt, dem will er sich offenbaren (vgl. Joh 14, 21). Doch nur
wenn wir den ersten Schritt wagen, wir auf ihn zugehen, wir uns loslassen ohne
vorherige Garantien und Sicherheiten, werden wir erkennen, daß sein Weg trägt,
daß er uns zuvor schon entgegengekommen ist. Und ein Schritt auf ihn zu heißt
immer auch ein Schritt aufeinander zu, ein Schritt, bei dem ich mich [20] auf den
anderen einlasse und ihn annehme. Dabei werde ich freilich auch entdecken und
annehmen: Er hat schon den ersten Schritt auf mich zu gemacht. Mehr noch, ich
stehe schon immer in einem Miteinander, das ich nicht mehr aufkündigen kann,
weil es sein Weg zu mir und mit mir ist.
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[21] 2. Jesu Grundbotschaft: das Kommen der Gottesherrschaft
2.1 Die Frage nach dem Ansatz
Wie geht Glaube? Dies von der Mitte der Botschaft des Neuen Testamentes her
entfalten zu wollen, stellt vor eine Entscheidung: Wo soll man ansetzen? Zwei
grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten bieten sich an. Entweder man beginnt
dort, wo die christliche Predigt begonnen hat, oder man beginnt dort, wo Jesus
mit seiner Predigt begonnen hat. Man beginnt mit der Botschaft von Jesus dem
Christus oder man beginnt mit der Botschaft Jesu, das heißt mit der Botschaft
vom herannahenden Gottesreich, von der anbrechenden Gottesherrschaft.
Für die erstgenannte Möglichkeit spricht Gewichtiges. Denn obgleich die
Evangelien vordergründig nicht so ansetzen, sind sie die Bezeugung des Lebens
und der Predigt Jesu aus der österlichen Perspektive, aus jener Perspektive, in
welcher das erste und entscheidende Wort heißt: Jesus ist der Christus, Jesus
der Herr, er hat sich als solcher an Ostern erwiesen. Die Evangelien sind,
vergröbernd gesprochen, auf Ostern zulaufende vorösterliche Ostergeschichten.
Aber sie verankern eben die Botschaft der Ostern in dem, was vor Ostern
geschah, sie „identifizieren“ und „ratifizieren“ die Predigt von Jesus dem Christus
am Leben, Wirken, Sprechen Jesu.
Wenn wir freilich auf unsere Grundfrage blicken, wie Glaube geht, dann fällt uns
als erstes eine merkwürdige Nähe zwischen der Predigt von Jesus dem Christus
und der Predigt Jesu von der Got- [22] tesherrschaft auf. Ob die ersten
christlichen Prediger nun Jesus als den gekreuzigten und von Gott auferweckten
Herrn ansagen oder ob Jesus das Nahen der Gottesherrschaft ausruft, in beiden
Fällen sind darin die Aussage und der Appell enthalten: Es geht nicht so weiter,
wie es bislang ging! Der Weg der Welt nimmt einen entscheidend anderen Lauf
als den bisherigen, als den der gängigen Erwartungen und Meinungen! Kehrt um,
stellt euch ein auf die anders gewordene, von Gott, dem Herrn der Zeit anders
gewordene Zeit! Daß Jesus, der Gekreuzigte, von Gott nicht im Tod gelassen
wurde, sondern lebt, erhöht ist als Herr, das ist in der apostolischen Predigt
Zeichen der Umkehrung der Geschichte, einer Umkehrung, die vom Hörer dieser
Predigt
die
Umkehr
seines
Herzens
und
Lebens
fordert
(vgl. die
Charakterisierung der „neuen“ Situation der Glaubenden z. B. 1 Thess 1, 9; Eph
2, 11-13; aber auch der gesamte Hintergrund etwa des Galaterbriefes).
Genau dieselbe Situation begegnet uns in der Ansage der Gottesherrschaft und
im damit verbundenen Bekehrungsruf Jesu. Die Welt geht nicht mehr weiter wie
bisher, und deshalb muß jeder sich neu orientieren, einen neuen Anfang setzen.
In den Zeichen und Wundern verdeutlicht Jesus, daß nun eine andere Zeit
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angebrochen ist; in seinen ethischen Forderungen stößt er die Menschen in die
neue Unmittelbarkeit Gottes zu uns, aus der eine neue Unmittelbarkeit zu Gott
folgt; in den Gleichnissen sagt er die Nähe des handelnden Gottes an, auf dessen
Tag nun alles zuläuft. „Jetzt ist der Tag des Heils“ (2 Kor 6, 2), diese
Kennzeichnung der Situation, in welcher der auferstandene Herr durch Paulus
gepredigt wird; das Hier und Jetzt des zur Entscheidung rufenden Jesus
entsprechen einander (vgl. z. B. Mt 12, 41f.; Lk 4, 21).
Zeit geht anders, Leben geht anders, auch Religion, Verhältnis zu Gott geht
anders! Dies ist die gemeinsame Basis, der gemeinsame Inhalt der Predigt Jesu
und der Predigt über Jesus. Das, was Jesus in seiner Botschaft von der
Gottesherrschaft ansagt, verwirklicht sich, spitzt sich zu in dem, was die
christliche Predigt über Jesus den Messias und Herrn sagt. So entspricht es der
„Logik“ unserer Frage, bei dem anzusetzen, was Jesus uns als das Neue und
Andere von Gott [23] verkündet, um von hier aus sodann ihn selbst und sein
Geheimnis zu verstehen.
2.2 Die Zusammenfassung der Botschaft Jesu
Wie in einem Brennpunkt zusammengefaßt begegnet uns Jesu Botschaft vom
nahenden Gottesreich in dem Satz, den Markus formelhaft der Entfaltung des
Wirkens und der Predigt Jesu vorausschickt: „Nachdem man Johannes ins
Gefängnis geworfen hatte, ging Jesus nach Galiläa und verkündete das
Evangelium Gottes: Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe. Bekehrt
euch und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1, 14-15).
Blicken wir einen Augenblick auf die Struktur des entscheidenden Satzes. Er
besteht aus zwei Doppelgliedern, die in sich je mit einem „und“ verbunden sind.
Das erste Doppelglied enthält eine doppelte Ansage, das zweite eine doppelte
Aufforderung. Die Ansage handelt von der Zeit und von Gott. Beide haben ihre
bisherige Position verändert, wir können sagen: sie haben sich „umgekehrt“. Die
Zeit verläuft nicht mehr so, daß jeder einzelne Zeitpunkt im Grunde gleich weit
von der Erfüllung dessen entfernt wäre, worum es in der Zeit geht. Die Zeit
beschreibt also nicht mehr einen Kreis, dessen Linie zu dem erfüllenden,
sinngebenden Mittelpunkt in einer immer gleichen Distanz bliebe, sondern diese
Linie läuft in den Mittelpunkt des Sinngebenden, Erfüllenden hinein, ja ist dort
eingetroffen. Und Gott bleibt nicht in einer gleichbleibenden Distanz zu uns, die
wir in unserer Zeit leben und handeln und unsere Erfahrungen machen, er bleibt
nicht über uns und darin uns vom Leibe, sondern die Tatsache, daß er Herr und
König ist, seine Königsherrschaft (basileia) rückt heran, er selbst als der Herr, er
selbst als der göttliche Gott rückt heran an unser Leben. Die Zeit läuft ein zu
ihrer Mitte, die Mitte bricht aus und stürzt auf uns zu.
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Daraus wird nun im zweiten Doppelglied die Folgerung gezogen für unser
Verhalten:
Wir
sollen
umkehren,
sollen
den
Gang
unseres
Lebens
neu
orientieren, sollen uns auf das neue Verhältnis Gottes zu [24] uns und darin
unserer eigenen Zeit zu uns umstellen. Umstellen woraufhin? Wir sollen glauben,
will sagen: uns nicht in uns selbst, sondern in etwas anderem festmachen, in
etwas anderem unseren Schwerpunkt haben. Worin? In dieser frohen Botschaft,
in dieser Ansage des nahenden Gottes. Nicht mehr von uns her leben, nicht mehr
aus unserer Distanz zu diesem Gott über uns leben, sondern uns auf sein Nahen,
auf seine Nähe, auf ihn, der sich uns naht, stützen und verlassen, von ihm her
leben.
Wie geht Zeit?
Umkehren heißt unser Leben umkehren, unsere Zeit umkehren, als Antwort auf
Gott, der sich uns zukehrt und uns die Zeit neu, anders schenkt. Um das zu
verstehen, müssen wir zunächst einmal unsere Zeit verstehen, die Weise
verstehen, wie sie normalerweise läuft.
Zeit läuft eben, indem sie vergeht. Sie ist immer nur da in einem einzigen
Augenblick, und wir leben je nur jetzt. Doch das, was war, verarbeiten wir im
jeweils jetzigen Augenblick auf das hin, was kommt. Wir bereiten andauernd
unsere Zukunft vor. Wir tun es, weil wir es wollen, aber wir wollen es nicht
beliebig, sondern dieses Wollen ist der unausweichliche Rhythmus unseres
Lebens. Schon Stoffwechsel, Atem, Herzschlag gehen so – und erst recht die
Regungen und Bewegungen unseres seelischen und geistigen Lebens.
Hier können wir uns zwar anscheinend anders verhalten, können ein Nein sagen
zur Zukunft, können uns festklammern an dem, was war, können uns darauf
beschränken, nur den Augenblick nutzen zu wollen, ohne Rücksicht auf das, was
nachher kommt. Aber wir wollen uns eben in dem festklammern und somit das
festmachen, was war oder jetzt ist, wir wollen soviel wie möglich im Vergehen
davon hinüberziehen in den nächsten Augenblick, also in die Zukunft. Auch noch
die Formen der Selbstzerstörung bilden keine Ausnahme. Sie sind ein Verhältnis
zur Zukunft, sie sagen: lieber das Nichtsein als Zukunft als diese Zukunft, die ich
zu erwarten habe! Und wenn ich einfach das Morgen verdränge und nicht daran
denken mag, wie es weitergeht, dann geschieht dies in der Angst davor, [25] der
nächste Augenblick könne nicht oder nicht so kommen, wie ich ihn will, und so
probiere ich, den jetzigen Augenblick in den nächsten hineinzuziehen und somit
vom übernächsten zu entlasten. Oder ich habe jene – vielleicht unreflektierte –
Zuversicht: Wenn es bis jetzt gut ging, wird es auch weiter so gehen! Und so
lasse ich die Zukunft kommen – also wiederum ein Verhältnis zur Zukunft.
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Das Verhältnis zur Zukunft, zu unserer Zukunft und der unserer Nächsten, ist
der Ernst des Lebens. Und dieses Verhältnis zur Zukunft namens Zeit ist zugleich
ein Spiel. Denn wir setzen etwas, ja alles ein, ohne den Ausgang zu wissen.
Selbst wenn wir uns noch so gut absichern und eindecken und vorrichten für
morgen, eines wissen wir dabei nie: ob das Morgen, ob die Zukunft stattfindet.
Wir können es gar nicht wissen, denn wir leben eben jetzt. Die Zeit muß
kommen, wir können sie nicht in den Kühlschrank legen, einfrieren und bei
Bedarf auftauen. Sie muß kommen, ganz frisch, ganz neu, jeden Augenblick. Und
wenn der Augenblick nicht da ist, noch nicht da, dann ist er eben entzogen, und
es steht nicht in unserer Macht, ja es steht in niemandes Macht, ihn
herbeizuholen, ihn zu gewährleisten. Die Zukunft findet zwar im Jetzt statt, prägt
zwar das Jetzt – aber ob sie nachher stattfinden wird, ob sie Gegenwart sein
wird? Unser ganzes Leben geht von der Hypothese aus, daß Zukunft stattfindet.
Spiel mit ganzem Einsatz und absolut unsicherem Ausgang. Die unzähligen
Versuche des Menschen, sich des Sinnes seines Daseins, sich des Sinnes der
Geschichte zu versichern, wurzeln in dieser elementaren Not, die der Mensch
nicht zu beseitigen vermag. Auch die Religion hat hier wenigstens eine ihrer
Wurzeln.
Gott und Zeit
Steht die Zukunft wirklich in niemandes Macht? Wir entwerfen sie, und sie wird
uns zugeworfen, aber immer nur in der winzigen Rate des je gegenwärtigen
Augenblicks. Dieser Augenblick ist verliehene Macht. Und daß wir planen und
entwerfen können, ja müssen, ist verliehene Ohnmacht, die durch die Raten des
je gegenwärtigen [26] Augenblicks über sich emporwächst zu so etwas wie
Erwartung und Hoffnung. Unsere Macht und unsere Ohnmacht sind uns also
verliehen,
und
mit
unserem
Hoffen
und
Gestalten
stehen
wir
in
einer
Partnerschaft, in einer demütigen und ohnmächtigen Partnerschaft zur Zeit und
Zukunft verleihenden Macht. Diese Macht erscheint nicht im Horizont des vielen,
das wir in den Blick bekommen. Diese Quelle entspringt nicht auf dem Terrain
des von uns bebaubaren Landes. Tropfen um Tropfen fließt uns aus dieser Quelle
von jenseits unseres Horizontes zu.
Nun, es ist immerhin denkwürdig, daß bis zum Rand der Neuzeit es keine Kultur
gegeben hat, in der die Menschen nicht versuchten und glaubten, mit dieser
Macht und Quelle in Kontakt zu treten. Vom magischen Bemühen, den Gott
gnädig zu stimmen, bis zur sich selbst überlassenden, alles annehmenden
Hingabe an sein Geheimnis spielen die Gangarten menschlicher Religiosität.
Unter dem methodischen Ansatz, nur das gelten lassen zu wollen, was sich
innerhalb des Horizontes unserer Nachprüfung ausweist, muß sich das Verhältnis
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zu
Gott
zersetzen
—
dies
liegt
auf
der
Hand.
Nachprüfung
erfordert
Wiederholung, Wiederholung aber gibt es nicht, wo es um die Quelle des
einmaligen Jetzt, wo es um das Zukommen dieses Jetzt aus der entzogenen
Zukunft geht. Es ist keineswegs sinnlos, über unser Leben nachzudenken und zu
erkennen, daß es auf eine ihm je entzogene Zukunft zuläuft und daß dies nicht
von ihm und nicht von nichts, sondern von einer der Zukunft mächtigen Macht
herrührt. Aber diese Erkenntnis ist anderer Art und liegt auf einem anderen Feld
als alles, was eben mit Experiment und Nachprüfung und Kontrolle zu tun hat.
In einer Kultur, die auf derlei aufbaut, ist die Macht, der die Zukunft und die Zeit
entspringen, systemimmanent „ohnmächtig“. Der Gott der Neuzeit wurde zu
einem Gott, der nur noch das System garantierte, zum Gott außerhalb des
Horizontes und vor der Klammer, in welcher wir mit unseren Hypothesen
arbeiten. Es ist begreiflich, wieso im Lauf der neuzeitlichen Wissenschafts- und
Philosophiegeschichte ein solcher Gott weggearbeitet, ausgestoßen wurde.
Allerdings ist es auch begreiflich, warum eines nicht wegge- [27] arbeitet werden
konnte: die Angst. Alle Sicherheiten, sie mögen sich noch so dicht miteinander
verklammern, bilden insgesamt nur eine freischwebende Insel, die sich nicht
selber hält und die den außer Sichtweite hält, der sie hält.
Gottesherrschaft: Umkehrung Gottes und der Zeit
Menschliche Religion schwingt zwischen ohnmächtiger Angst und elementarem
Urvertrauen dem gegenüber, der sich in der Gabe der Zeit als übermächtig und
gnädig, als unheimlich groß und heimlich nahe bezeugt. Diese Religion läuft
freilich Gefahr, Gott nur als den Lieferanten und Garanten jenes Zeitvorrates zu
betrachten, den wir für die Stabilisierung der eigenen Pläne und Erwartungen
brauchen. Und gerade dann kann sich die Religion nicht wehren gegen den
Verdacht des Menschen, er habe sie sich nur als schlechten Trost, als
verbergende Kulisse vor den Abgrund seiner Ohnmacht hinprojiziert.
Der Gott Israels, der Gott ohne Bild, der Gott mit dem Namen Jahwe, „Ich bin
der Ich-bin-da“, anders gewendet: der „Ich werde sein, der ich sein werde!“, er
ist nicht einfach dieser Gott der Religionen. Es geht hier nicht um die religionsund
geistesgeschichtliche
Erklärung
seines
Namens
und
des
israelischen
Bilderverbots, sondern es geht um den Stellenwert des im Verlauf der Geschichte
Israels zu seiner Höhe und Klarheit heraufwachsenden Jahweglaubens. Israel
klammert sich gerade nicht an eine einzelne Erfahrung des Eindrucks göttlicher
Übermacht, die es dingfest machen, im Bild verfassen könnte. Das konkrete,
geschichtliche Handeln dieses Gottes am Volk ist das Handeln dessen, der
Himmel und Erde geschaffen hat. Es ist das Handeln dessen, der je größer ist als
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unser Wollen und Planen und der seine Sicherheit gibt allein als eine Verheißung,
die sich einlöst im Weiterwandern, im unabsehbaren Weg mit diesem Gott.
Er ist der Gott des Weges. Der Weg ist Weg auf sein Wort hin, Weg, den wir nicht
in der Kraft unserer eigenen Wünsche und Pläne vermögen, sondern allein im
Hinhören auf sein Wort, im Achtha- [28] ben darauf, wo und wie und woraufhin
er sein Dasein, seine Treue, seine Nähe uns bezeugt. Gott wird größer, der
Mensch ohnmächtiger, weil nicht mehr er der Inhaber seiner Planungen, seiner
eigenen Zukunftskonzepte ist. Und doch wird der Mensch zugleich größer, weil er
eben Partner Gottes ist, Anwalt eines Weges Gottes in der Welt, der nicht mehr
nur Weg des Menschen zu Gott, sondern Weg an der Hand und im Wort Gottes
ist.
Wenn Jesus ansagt: „Die Zeit ist erfüllt!“, dann heißt dies eben, dieser Gott
enthüllt seinen Plan. Gott selber erweist offenbar, daß er Gott ist. Er nimmt sich
der „Armen“ an, die auf seine Hand und sein Wort geachtet haben, über alles
Verlachtwerden und alle Enttäuschung hinweg. Gott macht Geschichte in unserer
Geschichte, und die Menschen werden es sehen. Darauf deuten die Heilszeichen
hin, die Jesus setzt, die Taten, die es beglaubigen sollen, daß Gott hier selber am
Werk ist.
Also einfach eine neue Stufe innerhalb der Geschichte Israels? Mehr als nur das.
Mehr nicht nur deshalb, weil Israel insgesamt mit der Botschaft Jesu nicht
unmittelbar und sofort „mitspielt“, so daß Raum für die Völker entsteht, für die
Menschheit, die nun Partner des Heilshandelns Gottes wird. Mehr als eine Epoche
in der Geschichte Israels ist die in Jesus erfüllte Zeit der von ihm angesagten
Gottesherrschaft, weil hier mit aller Menschenzeit und aller Menschenerwartung
und
allem
Menschenglauben
an
Gott
Neues,
Umstürzendes,
Endgültiges
geschieht.
Gott hält seine Hand nicht mehr hinter dem Horizont verborgen, läßt nicht mehr
aus seiner entzogenen Quelle die Zeit hineinrinnen in unseren Lebensraum; er
reicht auch nicht nur hin und wieder deutend und gewährend mit seiner Hand in
diesen Horizont hinein und zieht sie dann wiederum zurück. Er selbst bricht auf,
er selbst gibt sich hinein in unser Leben, er selbst läßt die Quelle unserer Zukunft
entspringen auf dem Gelände unseres Lebens. Er läßt sich ein mit uns, wird
radikal der Gott mit uns und Gott für uns, seine Herrschaft bricht an. Die Sonne
strahlt nicht mehr von jenseits des Horizontes einige Sterne an, die von ihr
Zeugnis geben, sondern sie kommt über den Horizont herauf, sie steigt auf und
will Tag wer- [29] den lassen. Wir sollen im Licht Gottes, im gegenwärtigen Licht
Gottes gehen und leben dürfen. „Nahegekommen ist die Herrschaft Gottes!“,
damit will Jesus uns sagen, daß Gott seine Position zu unserem Leben
grundsätzlich verschiebt, daß er in dieses Leben einbricht, daß die Zukunft von
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ihm her übergeht in bleibende, durch keine Angst und Unsicherheiten mehr in
Frage zu stellende Gegenwart. Die Quelle der Zukunft wird uns gegenwärtig, Gott
steigt herauf von der Peripherie ins Zentrum unseres Lebens.
Von Gott her leben
Von der Herrschaft Gottes, von seiner Gegenwart, vom Anbruch seiner
unmittelbaren Nähe zu uns, von der Verwandlung unserer Erwartung ins Ereignis
der Erfüllung zu sprechen, nimmt immer wieder den Atem. Ist das wirklich
geschehen? Hat sich Jesu Wort eingelöst?
Dieses Erschrecken, diese Unsicherheit sind nicht erst von heute. Wir wissen vom
Streit der Jünger um die ersten Plätze (vgl. Mk 10, 35-45), wissen von der
Erwartung des nachfolgenden Petrus (Mk 10, 28) und von seinem Unverständnis
gegenüber Jesu „anderem Weg“ (vgl. Mk 8, 32f.), wissen schließlich von der
Frage der Jünger vor Christi Himmelfahrt, wann Jesus das Reich Israel wieder
aufrichte (Apg 1, 6f.). Die Evangelien selbst berichten den schmerzlichen
Vorgang der Klärung von Vorstellungen und Erwartungen, die sich, nur zu
naheliegend, einer Botschaft wie der vom anbrechenden Gottesreich anheften
wollen.
Die Evangelien stellen dem aber etwas anderes voran. Der Prozeß, in dem
falsche Konsequenzen aus der Ansage der Nähe Gottes und seines Reiches
ausgeschieden werden, ist ein Weg des Glaubens, ja ein Weg im Glauben. Der
Glaube selbst setzt vorher, setzt als unmittelbare Antwort auf die Botschaft von
der Gottesherrschaft an. „Kehret um und glaubet an das Evangelium!“, dies
duldet keinen Aufschub. Mögen wir unsere verkehrten Meinungen und Bilder und
Hoffnungen mitbringen, der Weg, der neue Weg beginnt unverzüglich, wenn die
Kunde davon eintrifft, daß Gottes Herrschaft nahegerückt ist.
[30] Aufs erste mag es paradox erscheinen, daß ausgerechnet dort eine
Entscheidung, ein Einsatz, ein Weg vom Menschen gefordert werden, wo doch
alles allein an Gott liegt. In der Tat, der Mensch soll nun seine Sorge verkaufen,
seine Angst weggeben; der Glaube an den Einbruch der Zukunft Gottes verlangt
und gewährt, wie die Lilie auf dem Feld und der Vogel in der Luft im Heute
Gottes zu leben, der alle Zukunft ist und trägt (Mt 6, 25ff.). Doch solche
Sorglosigkeit ist keine Untätigkeit, im Gegenteil. Ihr entspricht die absolute
Sorge um die Herrschaft Gottes, die es zuerst zu suchen gilt – und dann wird uns
alles andere nachgeworfen (vgl. Mt 6, 33; Lk 12, 31). Das allein wird der
Göttlichkeit Gottes gerecht. Wo er kommt und handelt, da ruft er den Menschen,
da ruft er die Freiheit heraus. Gottes Handeln und Kommen können nur
ankommen, wo der Mensch selber aufbricht, wo er selber den ersten Schritt auf
Gott zu tut.
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Deswegen ist die Ansage im ersten Doppelglied unseres Verses (Mk 1, 15) in
einer
inneren,
„göttlichen“
Konsequenz
mit
dem
Appell
des
zweiten
Doppelgliedes verbunden: Wenn Gott nun ganz und gar damit ernst macht, daß
er Gott ist, daß alles allein an ihm liegt, dann, gerade dann liegt alles auch an
uns.
Aber was liegt da an uns, was ist die Tat unserer Freiheit, die dem Kommen der
Gottesherrschaft entspricht? Wie gehen Umkehr und Glauben? Solange Gott
Peripherie war, jenseits des Horizontes, war es unser Teil, von uns auszugehen,
ihn anzuvisieren, die Perspektive auf ihn offen zu halten. Leben war Ansatz beim
Menschen, Gott lag in der Verlängerung der Zielrichtung, war der äußerste Punkt
unserer Erwartung. Nun aber ist Gott von der Peripherie in die Mitte
aufgebrochen, nun hat er sich ins Zentrum unseres Lebens erhoben. Und
deswegen ist es jetzt unser Teil, von ihm auszugehen, von ihm her anzusetzen.
Denk nicht mehr von dir her, plane nicht mehr von dir her, baue Gott nicht mehr
ein in deine Pläne, sondern fang an bei ihm, lebe von ihm her, laß ihm dein
erstes Wort, bemiß an ihm dein Erwarten, Denken und Tun! „Wir haben alles
verlassen und sind dir nachgefolgt!“ (Mk 10, 28).
In der Tat, radikale Umkehr. Leben gegen die „normale“ Rich- [31] tung unseres
Lebens, gegen die Richtung eines bloßen Entwerfens und Sorgens, eines
Selbertuns, das sich durch Gottes Tun ergänzen läßt.
Gott, nicht mehr Horizont unseres Lebens, sondern Zentrum unseres Lebens, das
bedeutet Abschied von uns selbst, Abschied von einem bloß anthropologischen
Standpunkt unseres Handelns und auch unseres Denkens und Glaubens. Dies
steht keineswegs im Widerspruch dazu, daß wir – wie es Jesus selbst getan hat
und wie es auch die Predigt der Apostel zeigt, etwa die Rede des Paulus auf dem
Areopag (Apg 7, 22-31) – immer wieder dort im Dialog und Zeugnis einsetzen,
wo
im
Menschen
Sehnsucht
nach
Gott,
Offenheit
für
Gott,
verborgene
Hinordnung auf Gott schon lebt. Es kann nicht anders sein, wenn Gott einbricht
in unser Leben, wenn er unsere Sehnsucht nach Zukunft und Erfüllung mit sich
selbst erfüllt: Wir sind befreit zu uns selbst, „identifiziert“ mit uns selbst,
beschenkt mit uns selbst. Aber wir entdecken dieses Befreitsein, Beschenktsein,
Identischsein im Abschied von uns, im Ansatz dort, wo Gott ansetzt, im Leben
von ihm her.
Negativ heißt das: Unser „Ja, aber!“ muß fallen, unsere Berufung auf die eigenen
schlechten Erfahrungen hat kein Recht mehr, unser Verliebtsein in eigene
Probleme und Fragestellungen. Sein Wort hat unbedingte „Vorfahrt“, es ist der
Grund, auf dem wir stehen, die Warte, von der wir uns selbst und die Welt
sehen. Da gibt es keine fließenden Übergänge, sondern nur den Sprung. Dieser
Sprung kann behutsam vorbereitet werden, dieser Sprung kann leise und
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unauffällig geschehen, aber er ist durch nichts zu umgehen. Neuer Anfang muß
stattfinden, sonst fängt Christsein nicht an, sonst geht Glaube nicht. Glauben
heißt so leben, daß dieses Leben keinen Sinn hätte, wenn es Gott nicht gäbe,
wenn Gott uns nicht den neuen Anfang schenkte. Nur von solchem neuen Anfang
her kann auch der „anthropologische Standpunkt“ wieder eingeholt, kann
entdeckt werden: Ja, so ist der Mensch, so ist die Welt von ihrem Ursprung und
Anfang her.
Die Botschaft von der Gottesherrschaft ist Botschaft von der „Krisis“, von Gericht
und Entscheidung – und nur wer sich dem [32] ausliefert, wird darin die „Charis“,
die Gnade, das Heil, die frohe Botschaft entdecken. Glauben geht nur, indem wir
tun, was nicht geht, sondern was er in uns anfangen und vollenden muß. Doch
gerade so sind wir größer als wir selbst, und dies ist doch die Identität des
Menschen: größer zu sein als er selbst.
2.3 Kontexte bei Paulus und Johannes
Umkehren und dem Evangelium glauben heißt – dies ist nur eine andere Weise,
dasselbe nochmals zu sagen: damit anfangen, daß Gott anfängt, das Anfangen
Gottes mittun, seinem Wort, seiner Zusage, seinem Handeln den Vorrang
einräumen und auf sein Wort und seinen Anfang hin das Leben neu leben. Wenn
uns diese Dynamik deutlich ist, dann werden wir entdecken, daß scheinbar ganz
andere theologische Modelle des Neuen Testamentes uns dieselbe Auskunft auf
die Frage geben, wie Glauben geht.
Bei Paulus
Zum einen ist da an die Theologie des Paulus zu denken, wie sie uns vor allem
der Römerbrief und der Galaterbrief vor Augen stellen. Nicht Leistung, sondern
Glauben, nicht Gesetz, sondern Gnade schenken uns Gottes neue Gerechtigkeit.
So läßt sich die Formel des Paulus für Gottes Heilswirken in Jesus Christus
zusammenfassen. Gott steht nicht mehr gegenüber mit einem Anspruch, den wir
durch unser Tun abgelten könnten, so daß wir von uns aus vor diesem Gott
bestehen und letztlich unseren Stand in uns vor Gott, Gott gegenüber hätten. Er
ist der Vergebende und Schenkende, alles, unser Heil und unsere Gerechtigkeit
und das, was wir selber sind, liegt allein an ihm. Das Unsere geschieht im
Glauben, den zwar ebenfalls er uns schenkt, in dem aber zugleich wir uns und
unsere Freiheit ihm verschenken, uns einfach verlassend auf ihn, von ihm und
seinem Verheißen und Handeln den Ausgang nehmend.
Sicherlich entspricht der Absicht dessen, was Paulus sagen will, in [33] der
ursprünglichen Frömmigkeit des Alten Bundes mehr, als es in manchen seiner
scharf gemeißelten Antithesen aufs erste den Anschein hat. Israels Frömmigkeit
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geschieht bereits als Glauben, das sich nicht auf sich, sondern allein auf Gottes
Verheißung
verläßt.
ernstgemacht,
bricht
Und
in
doch
ihm
ist
die
mit
diesem
neue,
Ansatz
endgültige
radikal
Position
in
Jesus
Gottes
im
Heilsgeschehen durch: er schenkt in Jesus sich selbst, und so wird alles
Geschenk (vgl. Röm 8, 32). So werden wir befreit zur ganzen Freiheit, zu jener
Freiheit, welche die Fülle des Gesetzes in der Liebe vollbringt (vgl. Röm 12, 10;
Gal 5, 13f.). Der rechtfertigende Glaube des Paulus und der Glaube, den die
Predigt Jesu vom nahenden Gottesreich fordert, haben dieselbe Struktur, sie
gehen in derselben Gangart, mit demselben Schritt.
Bei Johannes
In der johanneischen Theologie können wir auf zwei Motive verweisen, die
denselben Ansatz besonders deutlich werden lassen.
Glauben kann nur jener, der nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des
Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren ist
(vgl. Joh 1, 12f.). Das Geborenwerden in der Dimension menschlichen Lebens
allein genügt nicht, um das Neue, das Jesus bringt, zu fassen; wir müssen von
neuem, wir müssen von oben geboren werden (vgl. Joh 3 insgesamt, besonders
3, 3 und 3, 31-36). Mitvollzug, geschenkter und zugleich frei sich entscheidender
Mitvollzug der Herkunft Jesu aus der anderen Dimension, aus dem Oben Gottes
ist der einzige Weg, um nicht in den Verfangenheiten und Ausweglosigkeiten des
Unten,
der
Verzweiflung,
der
Selbstgerechtigkeit,
der
Lieblosigkeit
steckenzubleiben.
Der von Gott geschenkte Anfang, die Geburt von oben, muß dadurch lebendig
und wirklich bleiben, daß wir „von oben“ leben, das heißt aber in Jesu Wort und
seiner Liebe bleiben, aus ihm herauswachsen, aus dem Leben Gottes, das er uns
bringt
(vgl. bes. Joh 14 und 15).
Solche
Liebe
ist
zwar
unsere
Tat,
uns
aufgegeben und von uns zu vollbringen. Aber sie fängt nicht damit an, daß wir
lieben, [34] sondern daß er zuerst geliebt hat (1 Joh 4, 10). Glauben heißt von
Gott her anfangen und in Gott bleiben, indem wir in Gott „gehen“, will sagen:
lieben wie er. Glauben geht in der Liebe, die sich darin gründet, daß wir an den
glauben, der uns zuerst geliebt hat. Das johanneische Urcredo heißt: „Wir haben
an die Liebe geglaubt, die Gott zu uns hat“ (1 Joh 4, 16). Es ist Reflex und
Vollendung dessen, was am Anfang steht: Jesu Botschaft von der Herrschaft
Gottes. Herrschaft Gottes bedeutet: Gott geht über sich hinaus, Gott bricht auf in
die Mitte unseres Lebens, Gott schenkt sich – und nichts anderes ist jene Liebe,
jene agape, von der die johanneischen Schriften sprechen, wenn sie von Gottes
Handeln und von Gottes Wesen sprechen.
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[35] 3. Der Nachfolgeruf
3.1 Gottesherrschaft und Nachfolge
Jesu Ansage der kommenden Gottesherrschaft ist nicht die Ouvertüre für ein
großes kosmisches oder geschichtliches Ereignis, das allen vor Augen stellt:
Wahrhaft, Jesus hat recht, die Herrschaft Gottes ist im Kommen! Diese Ansage
ist aber auch nicht die dicke Balkenüberschrift, unter der Jesus anschließend ein
vielgliedriges System von Anweisungen fürs Privatleben verkündet, die der
einzelne bloß hören, mit sich nach Hause nehmen und in seine Gesinnung und in
seinen Alltag übersetzen soll.
Nein, es geht anders weiter. Mit einem einfachen „und“ schließt Markus an seine
Zusammenfassung der Predigt Jesu vom Kommen der Gottesherrschaft die
Geschichte von der Berufung der Jünger an (Mk 1, 16-20). Der entsprechende
Bericht des Matthäusevangeliums hat grundsätzlich dieselbe Struktur (4, 17-22).
Für Lukas – in anderem Zusammenhang wird davon noch die Rede sein – ist das
Leitmotiv der Predigt Jesu der Geist, der ihn treibt und sendet; doch nachdem
zum erstenmal der Charakter seiner Predigt als Verkünden der frohen Botschaft
von der Herrschaft Gottes gekennzeichnet ist (4, 43), folgt auch bei ihm die
Geschichte der Jüngerberufung (5, 1-11).
[36] Nachfolgeruf – die Verdichtung der Botschaft von der Gottesherrschaft
Nicht allein aufgrund solcher Komposition der Evangelien muß uns dieser innere
Zusammenhang zu denken geben: Jesus ruft das ungeheuerlichste Ereignis der
Weltgeschichte aus, Gottes Einbruch in sie, das Kommen der Gottesherrschaft,
und er fordert alle auf, neu anzufangen und umzukehren – was das aber heißt,
wird anschaulich, indem er ein paar Menschen ruft, daß sie ihm persönlich
nachfolgen, buchstäblich nachlaufen.
Sicherlich, nicht alle, die Jesus mit seiner Predigt aufrüttelt, ruft er in seinen
unmittelbaren Jüngerkreis hinein. Die Geschichte des Glaubens erschöpft sich
nicht in der Geschichte derer, die in äußere Lebensgemeinschaft mit ihm treten.
Dennoch steht beileibe nicht nur das Interesse an der individuellen Geschichte
der prägenden Gestalten in der frühen Kirche hinter der Tradition evangelischer
Berichte von den Jüngerberufungen. Diese Erzählungen sind der Kern, um den
sich das ganze, breite Thema Nachfolge, Jüngerschaft, vollzogener Glaube in den
Evangelien entfaltet, maßgeblich für alle, auch für uns. Wirklich, so geht Glaube,
so geht Antwort auf die Ansage der Gottesherrschaft und den Ruf zur Umkehr:
Gott ruft dich – du folge Jesus.
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Gottesherrschaft und die Stellung Jesu
Ich, Jesus, sage dir, daß Gott am Kommen ist – und deswegen folge du mir! Auf
diese Formel läßt sich, in einer ersten, zur Deutung und Begründung drängenden
Stufe,
der
Anspruch
Jesu
also
bringen.
In
der
Entsprechung
zwischen
Gottesherrschaft und Jesusnachfolge ist also die Entsprechung zwischen Gottes
Kommen und Jesu Anspruch mitgesagt.
Die elementare Kürze, in der Markus den Vorgang beschreibt (1, 16-20), rückt
das Ungeheuerliche überdeutlich in den Blick. Da sind zweimal zwei Brüder, die
bei ihrem Geschäft, dem Fischfang, dem Netzeflicken, in der Welt ihrer Familie
leben. Jesus geht vorbei, sieht sie, sagt das eine Wort: Folgt mir! – und nach
Auskunft des [37] Evangelisten verlassen sie sofort ihren Lebenskreis und
schließen sich Jesus an. Das also heißt nicht mehr von sich, sondern von Gott her
leben, das also heißt seine Zeit und sein Leben umkehren, neu orientieren, einen
anderen Grund und Boden unter den eigenen Füßen gewinnen als den, auf
welchem man sich bisher bewegte und einrichtete. Doch noch einmal: das
Ungeheuerliche daran ist der Umstand, daß es dieser Eine, dieser Jesus ist, an
dem sich das Ernstmachen mit der Umkehr und dem Glauben entscheidet.
Hier fällt einem das Wort des Kirchenvaters ein: Ipse est regnum coelorum – er
ist die Herrschaft Gottes, er das Reich Gottes! In Jesus passiert es, verdichtet es
sich, daß Gott Mitte und nicht mehr Peripherie dieser Welt ist.
Bei Markus schließt sich an die Berufungsgeschichte unmittelbar die Erzählung
einer Dämonenaustreibung in Kafarnaum an (vgl. 1, 21-28). Das „Interessante“
an dieser Geschichte ist die zweimalige Unterstreichung der Vollmacht, in
welcher Jesus lehrt und die sich durch das Wunder bestätigt: Er lehrt wie einer
der Vollmacht hat, nicht wie die Schriftgelehrten (1, 22b). Es ist eine neue Lehre,
und sie wird mit Vollmacht verkündet (1, 27b). Was Jesus verkündet und wie er
es verkündet, das ist nicht nur Auslegung, vielleicht bessere Auslegung eines
schon Gewohnten, sondern Einbruch einer neuen Situation. Und es ist wirklich an
ihm, diese neue Situation anzusagen und heraufzuführen; denn in ihm ist die
Vollmacht, die sich erweisende Legitimation des handelnden Gottes anwesend.
Der die Vollmacht hat, so zu sprechen und so den bösen Geistern zu gebieten, er
hat auch die Vollmacht, Menschen zu rufen, sie an sich zu binden, um sie an Gott
zu binden, er hat die Vollmacht, es uns zu sagen, daß Gottes Stunde gekommen
ist, daß sein Reich anbricht.
Auch
Matthäus
und
Lukas
heben
in
unserem
Zusammenhang
Jesu
Vollmächtigkeit hervor (Mt 7, 29; Lk 4, 32.36). Die beiden möglichen Anfänge,
die sich uns anboten, um den Einstieg für unser Thema zu gewinnen, die Predigt
Jesu und die Predigt von Jesus dem Christus, durchdringen sich.
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Unser Ansatz drängt uns freilich eine weitere Frage auf: Wie geht das, diese
Verbindung zwischen der Gottesherrschaft, die Jesus an- [38] sagt, und der
Nachfolge, die Jesus fordert? Wie geschieht seine Vollmacht? Man könnte sagen,
das sei die Frage des Johannesevangeliums. Johannes spricht seltener als die
Synoptiker, wenn auch deutlich genug die Nachfolge Jesu ausdrücklich an
(vgl. 1, 35-51; 8, 12; 10, 4.27; 12, 26 indirekt; 13, 36f.). Doch da Glaube bei
Johannes fast durchgängig die Züge des Glaubens an Jesus trägt und Glaube
konkrete Lebensgemeinschaft mit Jesus im Kreis der Jünger bedeutet, dürfen wir
der Sache nach von ihm eine fundamentale Erhellung der Struktur und
Begründung von Nachfolge erwarten.
Wir greifen einen Satz heraus, der unmittelbar ein anderes Thema betrifft und
doch die Grundverhältnisse von Nachfolge prägnant zusammenfaßt: „Wie mich
der lebendige Vater gesandt hat und wie ich durch den Vater lebe, so wird auch
der,
der
mich
ißt,
durch
mich
leben“
(Joh 6, 57).
Was
hier
von
der
eucharistischen Mahlgemeinschaft mit Jesus gesagt wird, das gilt auch von der
Lebensgemeinschaft der Nachfolge – die Brotrede des Johannesevangeliums
kennt im einen Bild vom Lebensbrot ohnehin beide Schichten, jene der
Kommunion des Glaubens und jene der eucharistischen Kommunion. Der
entscheidende Akzent: Jesus lebt aus dem Vater, lebt vom Vater, Stunde für
Stunde, es ist seine Speise, den Willen des Vaters zu tun (vgl. Joh 4, 34). Was
Herrschaft Gottes heißt, ist an ihm, an seinem Verhältnis zum Vater, abzulesen,
ja zu erfahren – und in ihm bringt das Leben des Vaters, bringt die Anwesenheit
der Gottesherrschaft unsern Glauben in Gang. Unser Glaube aber bedeutet nun:
unser Verhältnis zu Jesus, unsere Kommunion mit ihm, unsere Nachfolge Jesu.
Unser Leben aus Jesus und mit Jesus
In Jesus reicht also das Geheimnis Gottes selbst durch in die Geschichte und
hinein in unser Menschsein, das im Kontakt mit Jesus, in seiner Nachfolge neues
Menschsein wird. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, daß die drei
ersten Evangelien an den Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu, in den Kontext
von
Ansage
[39]
der
Gottesherrschaft
und
Nachfolgeruf,
die
Versuchungsgeschichte rücken. Sie aber ist eine Geschichte vom Gehorsam Jesu,
von seinem Leben aus dem Willen des Vaters, eine Geschichte vom neuen Adam,
der
mehr
ist
als
eben
nur
ein
Adam,
ein
Mensch
(vgl. Mt 4, 1-11;
Mk 1, 12f.; Lk 4, 1-13). Der Gehorsame und zugleich Vollmächtige ruft die
Gottesherrschaft aus, ruft Menschen zu ihr und dann zu sich.
So geht, von ihrem Ursprung her, Nachfolge: Jesus sagt die Gottesherrschaft an
und lebt in sich selbst die Herrschaft Gottes, der Vater ist in ihm und gibt sich in
ihm. Und die vollmächtige Anwesenheit des Vaters ruft die Menschen, sie zu
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Umkehr und Glauben an das Evangelium rufend, zu seiner Nachfolge, zur
Nachfolge Jesu, zur Lebensgemeinschaft mit ihm. Diese Lebensgemeinschaft läßt
sie eintreten in die Dynamik, in den Bereich der anbrechenden Gottesherrschaft.
3.2 Exemplarische Verdeutlichungen
Blicken wir jetzt auf den Vollzug, darauf, wie Nachfolge menschlich geht, wie es
bei denen zugeht, die sich dem Nachfolgeruf öffnen. Daran können wir unser
eigenes Glauben lernen, unseren eigenen Weg – und zugleich die Kommunion
mit Jesus, das Hineinwachsen in sein Geheimnis, an dem uns die Nachfolge
Anteil schenkt. Wir lassen uns in den Geschichten von Petrus beim reichen
Fischfang, vom reichen Jüngling, in den Selbstzeugnissen des Paulus unsere
eigene Geschichte vorerzählen.
Der reiche Fischfang (Lk 5, 1-11)
Soll
man
sagen:
Die
bei
Markus
in
ihre
Spitze
hinein
konzentrierte
Berufungsgeschichte wird hier in ein persönliches, menschliches Geschehen
hinein entfaltet? Oder soll man sagen: Aus dem Rahmen, den der lapidare
Markustext steckt, wird eine kostbare Einzelheit hervorgehoben? Jedenfalls wird
der eine Schritt von Ruf und [40] Nachfolge in der Erzählung vom Fischfang des
Petrus bei Lukas in ein Geflecht von fünf Schritten auseinandergelegt, die uns
anschaulich machen: so geht Nachfolge.
Der erste Schritt ist der Schritt Jesu auf Petrus zu. Er begibt sich in die Welt des
Petrus hinein, holt ihn dort ab, wo seine Erfahrungen und Interessen liegen. Er
heißt ihn auf den See hinausfahren, um zu fangen.
Dieses „Abholen“ ist freilich eine Zumutung, es ist ein Hinausstoßen: Geh! So
„menschlich“ es ist, daß Jesus an der konkreten Lebenssituation des Petrus
anknüpft, so ungeheuerlich ist es, wie er dies tut. Petrus muß ihm sagen: Was du
sagst, hat keinen Sinn, es spricht gegen meine Kenntnisse und meine
Erfahrung – wir haben die ganze Nacht gefischt und nichts gefangen. Jetzt
hinauszustoßen auf den See, ist ein nutzloses Unterfangen. Das Wort, das Jesus
sagt, steht im Mißverhältnis zu sämtlichen Erfahrungs- und Erwartungswerten, es
verlangt nicht, was geht, sondern was nicht geht.
Aber Petrus tut den Schritt, tut ihn allein auf sein Wort hin, tut ihn, weil er es
sagt. In dieser zweiten Phase löst sich ein, was es heißt: nicht von sich her,
sondern von Gott, von seinem Wort her leben, umkehren und von ihm her einen
neuen Anfang nehmen.
Verweilen wir einen Augenblick bei diesem Hinausfahren des Petrus auf den See.
Jesu „Komm!“ heißt zuerst: „Geh!“ Jesus schafft nicht zuerst die Erfahrung der
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Geborgenheit, sondern die der Entscheidung, die des Ausgesetztseins, die des
Anfangens vom Nullpunkt an, wenn einer sich auf ihn einläßt. Nachfolge ist
radikales Sich-Verlassen auf ihn, sie ist zugleich aber das Gegenteil von
Unselbständigkeit, sie stellt den Menschen neu und tiefer als zuvor auf sich
selbst. Communio und missio, Gemeinschaft und Sendung, Geborgenheit und
Weggeschicktwerden lassen sich von allem Anfang an nicht auseinanderreißen,
sie sind zwei Seiten desselben.
Da draußen aber, in der Distanz zu Jesus, der am Ufer bleibt, erfährt Petrus das
Überwältigende. Jesu Wort löst sich ein, wo wir in Gehorsam und Vertrauen ihm
die Chance geben, etwas mit uns anzufangen und so seinen neuen, göttlichen
Anfang zu wirken.
Der dritte Schritt ist die Rückkehr zu Jesus, die neue Begegnung [41] mit ihm.
Dieser Schritt ist entscheidend, denn er bezieht das Geschehene auf Jesu Wort.
Weil ich dir gefolgt bin, habe ich die Macht Gottes erfahren; weil ich mich auf
dich eingelassen habe, hat sich mir die anbrechende Herrschaft Gottes bekundet.
Auf der Seite des Glaubens, im Verdanken und Anerkennen, wird der Anspruch
Jesu eingeholt: Er hat die Herrschaft Gottes angesagt und daraus die
Konsequenz gezogen, daß er Nachfolge vom Hörer seines Rufes fordert. Und nun
erfolgt die Gegenbewegung. Der Mensch läßt sich auf Jesus ein und erfährt darin,
daß Jesu Anspruch durch Gott gedeckt ist, daß Jesu Anspruch in der Tat die
Anwesenheit des handelnden, in die Geschichte eingreifenden Gottes ist:
Bekenntnis, Zuerkennung der Titel göttlicher Macht und Hoheit an Jesus als die
Kehrseite seiner Botschaft vom nahenden Gottesreich. Der Ort, wo beides sich
berührt, ist die Nachfolge.
Dieser dritte Schritt entlädt freilich seine ungeheuerliche Spannung in einem
vierten, der dann doch nicht stattfindet, der aber in der spontanen Antwort des
Petrus sich anzeigt: „Geh weg von mir, ich bin ein sündiger Mensch!“ Man ist
erinnert an jene erschreckten Differenzerfahrungen in den Berufungsgeschichten
der Propheten (z. B. Jes 6 und Jer 1). Wo der Heilige einbricht in unseren
Lebensraum, wird die Unangemessenheit unseres eigenen Lebens, unserer
eigenen Existenz, wird der von uns her nicht zu bestehende Abstand zwischen
ihm und uns überdeutlich. Nicht wir können diesen Abstand ertragen, sondern er
selbst muß ihn erträglich machen. Der Gott ganz nahe gegenüber kann nur
„aufgefangen“ werden durch den Gott, der in uns wirkt, der in uns die Nähe
Gottes aushält.
Das
entscheidend
Prophetenberufung:
Neue
Der
der
nicht
zu
Petrusgeschichte
ertragende
Heilige,
im
der
Verhältnis
zur
schlechterdings
Überragende und Überlegene ist nicht der Gott, der aus der Höhe offenbarend
seinen Lichtstrahl und sein Wort ins Herz des Berufenen schleudert, sondern es
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ist einer, der auf demselben Boden gegenübersteht, von Mensch zu Mensch. Um
es formal und abstrakt zu sagen, die absolute Differenzerfahrung findet in der
Horizontalen statt.
Mit dem theologischen und christologischen Rang dieses vierten [42] Schrittes
verbinden
sich
zwei
unmittelbar
uns
und
unseren
Vollzug
betreffende
Konsequenzen. Zum einen: es ist damit nicht alles getan, daß Gottes Herrschaft
in unser Leben eingreift und die Dinge, die wir nicht können, durch ihre Macht
ergänzt und ersetzt. Wer sich wirklich auf Gott einläßt, wer wirklich seine
helfende Macht und Nähe erfährt, sagt nicht: Es ist praktisch, daß es dich gibt,
weil ich so leichter über die Runden komme! In der Hilfe überfällt ihn zugleich
der Anspruch, einer anderen Dimension begegnet zu sein und sie tragen zu
müssen. „Wer von euch kann wohnen mit dem fressenden Feuer? Wer von euch
kann wohnen mit der ewigen Glut?“ (Jes 33, 14).
Hiermit haben wir aber bereits das zweite berührt: unsere Situation, mit dem in
Jesus nahen Gott „umgehen“ zu müssen. Geh weg von mir! So war es nicht nur
Petrus zumute. In der beständigen Nähe seines übermächtigen Anspruchs zu
leben, gar Bote und Mittler dieses Anspruchs zu sein, das „geht“ nicht. Die heute
so
oft
artikulierte
Erfahrung
der
Überforderung
durch
den
Ruf,
der
Unzumutbarkeit dessen, was Gott verlangt und schenkt, für unser menschliches
Vermögen – das
ist
nicht
sentimentale
Wehleidigkeit,
sondern
es
ist
Offenbarwerden der menschlich „unmöglichen“ Situation von Gottesherrschaft.
Wenn nicht er, wenn nicht sein Geist in uns Gott bei uns, Gott mit uns, Gott
unter uns aushält, dann bleibt nur der Rückzug.
Aber dieser Rückzug bleibt uns nicht. Denn – dies ist der fünfte Schritt – Jesus
spricht zu Petrus wie zu uns sein erlösendes „Fürchte dich nicht!“ Wir sind
angenommen, wir sind hineingenommen in die ganz göttliche und ganz
menschliche Gemeinschaft mit dem nahen Gott. Dieses „Fürchte dich nicht!“
setzt den Petrus wieder ein in sein Leben und seine Erfahrung, doch ist solche
Wiedereinsetzung zugleich totale Verwandlung. Petrus bleibt Fischer, aber er wird
Menschenfischer. Er tut, was er tat, er tut es aber von Gott aus und für Gott, tut
es in der neuen Dimension, die Jesu Kommen aufreißt und in der wir, ihm
nachfolgend, mit ihm leben.
[43] Der reiche Jüngling (Mk 10, 17-27)
Das Nachfolgegeschehen ist immer dasselbe und ist zugleich unabschließbar
vielfältig. Wie man, auf verschiedenen Wegen durch dieselbe Landschaft
wandernd, sie in je neuen Perspektiven sieht und trotzdem jedesmal nicht nur
etwas von ihr, sondern in der einzelnen Perspektive das Ganze sieht, so ist es
auch mit der Nachfolge. Die Erzählung vom reichen Jüngling nach Markus
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(vgl. die z. T. etwas anders gefärbten Parallelen Mt 19, 16-30; Lk 18, 18-30)
zeigt uns die weithin selben Momente wie die Geschichte vom reichen Fischfang,
und doch sind wir auf überraschend andere Weise hier vom selben Nachfolgeruf
Jesu angegangen und herausgefordert.
Wir können das Geschehen wiederum in fünf Etappen und ein „Nachspiel“
gliedern. Die erste Etappe, sozusagen die Ausgangsbedingung, rückt die
Begebenheit besonders dicht in unseren heutigen Erfahrungshorizont hinein. Der
begüterte Mann, der sich Jesus naht, bringt zweierlei mit: das Interesse für ein
ganzes, gültiges Leben, fürs „ewige“ Leben. Er möchte nicht nur vegetieren,
möchte nicht nur haben, was man so hat und vielleicht noch einiges mehr – er
möchte das, was bleibt, das, was Sinn und Erfüllung gibt. Und er spürt, dieses
Gültige und Bleibende, dieses Leben, das wahrhaft Leben heißen darf, hat etwas
zu tun mit der Gestalt Jesu. Er hat etwas zu sagen, er kann da weiterhelfen.
Ganz einfach, er ist begeistert von diesem Jesus, und so redet er ihn an: „Guter
Meister!“
Und nun – zweite Etappe – die schockierende Antwort Jesu. Sie scheint im
genauen Gegensatz zu dem zu stehen, was wir bislang beobachtet haben. Wir
sagten: Jesus zieht die Menschen, die er auf Gott hin orientiert, her zu sich
selbst, bindet sie an seine Person. Hier tut er, scheinbar und fürs erste, das
Gegenteil. Das Interesse am ewigen Leben läßt Jesus stehen, nicht aber die
Anrede „Guter Meister“. Er lenkt die Begeisterung, die sich auf seine Person
richtet, entschieden ab. Es geht nicht um ihn, sondern es geht um Gott. Wer in
ihm eine faszinierende Persönlichkeit sieht, der hat ihn nicht verstanden. Nur der
versteht ihn, der die einzige Leidenschaft und den einzigen Inhalt und die einzige
Botschaft seines Lebens kennt: [44] Gott, er allein! Wir könnten, vermittelnd und
aufs Ende blickend, zwar sagen, daß nur der Jesus findet, der ihn um Gottes
willen, in der Blickrichtung auf Gott findet. Aber lassen wir, wie es auch unser
Text tut, zunächst einmal diese Abweisung der „Huldigung“ an Jesus durch ihn
einfach so stehen. In unserem Text geht Jesus unmittelbar, in dreifacher
Steigerung, auf die Frage des Mannes ein, was er tun müsse auf dem Weg zu
seinem Ziel, dem ewigen Leben.
Zunächst folgt wiederum – dritte Etappe – etwas Schockierendes. Dieser Mensch
ist doch zu Jesus gekommen, um etwas anderes zu hören als das, was alle ihm
auch sagen können – und genau, was man gängig sagt und was er auch selbst
als frommer Jude wissen kann, ist für Jesus die Basis. „Halte die Gebote!“ Und
um keine Zweifel zu lassen, zählt er sie auf, jene Gebote, die das Leben des
bundestreuen Juden prägen.
Noch einmal scheint hier ein Widerspruch aufzuklaffen zu dem, was wir über Jesu
Predigt von der Gottesherrschaft sagten. Bringt nicht er das ganz Neue, das
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Unerhörte? Ist seine Botschaft nicht die Umkehrung des Gewohnten? Gewiß, aber
eine Umkehrung, die erfüllt, die das einlöst, was der Alte Bund vorbereitet. Wenn
Gott kommt, wenn Gott einbricht, dann ist sein Wille nicht weniger wichtig,
sondern wichtiger als zuvor. Und was Gott in seiner Zuwendung zum Menschen –
die Antwort Jesu bezieht sich gerade auf die zweite Gebotetafel – als dessen
Anwalt bereits beim Bundesschluß mit Mose von seinem Volk verlangte, das
erhält nur neue und um so dringlichere Aktualität, wenn Gott nun diese
Zuwendung vollendet, wenn er selbst hineintritt in die Geschichte, wenn er
Zentrum unseres Lebens und unserer Welt werden will. Das Ja zum allein guten
Gott und Gottes Ja zum Menschen, dies ist und bleibt das Grundwort eines
Lebens aus dem Glauben, auch in der Ära der Gottesherrschaft und der
Nachfolge. Für uns wichtig genug, dieses Normale und Alltägliche nicht zu
übersehen. Den großen Willen Gottes tun, der uns zum Ungewohnten ruft, das
ist kein Alibi für den kleinen, alltäglichen Willen Gottes jedem und dem Nächsten
gegenüber. Gottes Wille ist unteilbar, und der unteilbare, eine Gott, der Gott des
Ganzen ist der Gott der Predigt Jesu.
[45] Die Spannung, in der Jesu Antwort zur Anrede und Erwartung des
Fragestellers bis jetzt stand, schlägt gerade an diesem Punkt um in Verstehen
und Zustimmung. Von Jugend an hat sich dieser Mensch um den Weg der Gebote
bemüht. Nun darf er erfahren, er ist auf demselben Weg wie Jesus, dem Weg des
Vaters. Und so wagt Jesus das Mehr: „Eines fehlt dir noch!“
Dieses Eine legt sich nochmals in zwei Stufen auseinander. Zunächst, in einer
vierten Etappe, geht es darum, alles zu verkaufen, sich freizumachen von allem,
was ans Hier und Jetzt bindet und nicht an Gott allein. Es geht darum, den
Schatz auf Erden zu verwandeln in den „Schatz im Himmel“. Denn wo der
Schatz, dort ist das Herz (vgl. Mt 6, 21; Lk 12, 34). Um es in äußerster Schärfe
zu sagen: Die Gottesherrschaft ist so ernst wie der Tod. Was wir im Tod nicht
mitnehmen können, auf dem können wir auch angesichts der herannahenden
Gottesherrschaft nicht bestehen. Wer Jesus begegnet, wer in das neue Leben
eintritt, das er ansagt und bringt, der kann wirklich nur noch dieses eine
Zentrum haben: Gott. Wenn Gottes Herrschaft kommt, dann stehen wir eben so
vor Gott wie in unserer letzten Stunde. Freilich heißt es, aus diesem „Quell“, von
ihm her, von ihm allein her weiterleben, das neue Leben Gottes leben. Sicherlich,
es gibt verschiedene Gestalten, solche Armut zu realisieren, verschiedene
Weisen, nichts zu haben oder so zu haben, als hätten wir nicht (vgl. 1 Kor 7, 2931). Jedenfalls ist es äußerst bedenkenswert, wie dicht die Botschaft von
Gottesherrschaft und Nachfolge mit der Forderung der Armut im Evangelium
verknüpft ist. Kein Weg führt daran vorbei, daß christliches Haben Haben von
Gott her und Haben für die anderen heißt.
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Wir selbst müssen immer wieder „Kassensturz“ halten und fragen, was wir zu
verkaufen haben. Denken wir dabei nicht nur an bewegliche und unbewegliche
Güter, sondern auch an Fertigkeiten, Meinungen, Geschmack, Beziehungen,
Probleme, Sünden, Schwächen, die man gerne streichelt, Schwierigkeiten, die
man hätschelt, weil sie einen zum „besonderen Fall“ stempeln. Und der „gute
Meister“ hat es gewiß auf das am meisten abgesehen, was die heimliche, wenn
auch noch so „harmlose“ Achse unserer Selbstliebe ist.
[46] An das „Verkaufe alles!“ schließt eine fünfte und letzte Etappe an: ein „Und
dann!“ Hieronymus weist in seinem Matthäuskommentar einmal darauf hin, daß
es nicht genügt, alles zu verkaufen, weil dies auch die Heiden tun können, die
aus irgendeiner asketischen Lehre der Bedürfnislosigkeit sich aufs wesentliche
beschränken und fürs Geistige reinigen. Das Neue, Einmalige, Unverwechselbare
bei Jesus heißt: „Und folge mir!“ Freisein von … ist zwar die Voraussetzung des
Freiseins für …, aber das Hergeben, das Nichthaben sind nicht Ziel, sondern Weg.
Sein positiver Sinn ist die Gemeinschaft, die Verbindung mit Jesus, in dem Gott
da ist und nah ist, in dem wir an Gottes Leben teilhaben.
Orientierung auf Gott allein zu, alltägliche Treue zum Willen Gottes, gerade auch
dem
Nächsten
gegenüber,
sich
freimachen
von
allen
Anhänglichkeiten,
Besitztümern und Bindungen, das sind die Stufen des Weges in die Nachfolge
hinein, ins Leben mit Jesus hinein. Dies ist die eine Seite des Stufenganges durch
die Geschichte vom reichen Jüngling. Aber es gibt noch eine andere. Wir haben
am Anfang die kritische Abweisung der Begeisterung für Jesus durch Jesus selbst
festgestellt – und was daraus wächst, führt genau doch zur Nachfolge, zur
konkreten Gemeinschaft mit diesem Jesus hin. Es kommt auf Gott allein, auf den
Vater allein an – aber der Vater lebt und handelt konkret im Sohn. Wer
Gemeinschaft haben will mit dem Vater, muß mit dem Sohn Gemeinschaft
haben. Die Geschichte läuft zu auf Nachfolge als Einlösung der Gemeinschaft mit
dem
einzig
Guten,
mit
Gott.
Einmal
mehr
bewährt
sich
Nachfolge
als
christologisches Grunddatum.
Werfen wir noch einen knappen Blick auf die Nachgeschichte der Erzählung. Der
reiche Jüngling ging traurig weg, weil er eben sehr reich war und das Gewicht
seines Habens der sofortigen und ganzen Verfügbarkeit für die Stunde Gottes im
Wege
stand.
Jesus
betont
im
Nachgespräch
mit
den
Jüngern
die
Lebensgefährlichkeit der Spannung zwischen Gottesherrschaft und Reichtum,
und die Jünger werden traurig darüber, weil sie in solcher Spannung zwischen
den konkreten Lebensverhältnissen und der Forderung Gottes kaum mehr einen
Spielraum für die Rettung der Menschen entdek- [47] ken. Jesus nimmt nichts
von der Härte seiner Forderung zurück – aber er reißt einen neuen Horizont auf:
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„Für Menschen ist das unmöglich, aber nicht für Gott; denn für Gott ist alles
möglich“ (Mk 10, 27).
Der Anbruch der Gottesherrschaft und der Ruf der Nachfolge bringen in der Tat
den Menschen in eine „unmögliche“ Situation – aber die Unmöglichkeit dieser
Situation ist Kennzeichen für die Stunde Gottes, bei dem nicht nur die Forderung,
sondern auch die Erfüllung, nicht nur der Anfang, sondern auch die Vollendung
liegt. Dies ist freilich die Spitze der Armut: mir auch mein Armseinkönnen von
ihm, von seiner Gnade schenken lassen.
Fassen wir das Ganze unter der Perspektive des „Verkaufens“, der Armut
zusammen,
so
verlangt
Nachfolge:
Ich
muß
zunächst
verkaufen,
etwas
Besonderes zu wollen und zu vollbringen und muß mich auf die Basis des ganz
Allgemeinen und Normalen stellen: tu die Gebote. Sodann muß ich verkaufen,
woran ich hänge, was ich für mich persönlich reserviert habe, worauf ich glaube,
einen Anspruch zu haben. Weiter muß ich auch noch meine eigene Freiheit
verkaufen, die ich doch dadurch unter Beweis stellte, daß ich mich von allem
löste, woran ich hänge – ich muß diese Freiheit verkaufen in die Gemeinschaft
mit einem anderen, in die Abhängigkeit von einem anderen, in die Nachfolge, die
meine Freiheit an die Freiheit des Herrn bindet. Und schließlich muß ich
verkaufen, ihm nachfolgen zu „können“, es selber zu schaffen, und muß mir alles
schenken lassen von ihm. So erst bin ich jenes Nichts, in dem Gott als Alles
aufgehen kann – und stehe zugleich schon jetzt in der grenzenlosen Freiheit
Gottes, im Leben Gottes, im Anfang des ewigen Lebens.
Nachfolge bei Paulus
Reicher Fischfang und reicher Jüngling, diese beiden Erzählungen sprechen von
Nachfolge aus der unmittelbaren vorösterlichen Situation der Predigt Jesu.
Derselbe Weg markiert aber auch die Lebensstruktur eines Paulus, der auf den
ganz persönlichen Anruf Jesu [48] hin sein Leben neu begonnen, es zum Leben
mit Jesus und für Jesus „umgekehrt“ hat. Freilich ist die Nachfolge des Paulus
nachösterlich, Kreuz und Auferstehung eröffnen bei ihm eine neue, vertiefende
Dimension von Nachfolge.
Einen der unmittelbarsten Texte hierzu finden wir im Philipperbrief (3, 7-14).
Beschränken wir uns auf jene Momente, die sich auch schon vorösterlich
eröffnen. „Was mir ein Gewinn war, das habe ich um Christi willen als Verlust
erkannt. Ja ich sehe sogar alles als Verlust an, weil die Erkenntnis Christi Jesu,
meines Herrn alles übertrifft. Seinetwegen habe ich das alles aufgegeben und
halte es für Unrat, um Christus zu gewinnen und in ihm zu sein. Nicht meine
eigene Gerechtigkeit suche ich, die aus dem Gesetz hervorgeht, sondern jene,
die durch den Glauben an Christus kommt, die Gerechtigkeit, die Gott kraft des
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Glaubens schenkt … Ich vergesse, was hinter mir liegt und strecke mich nach
dem aus, was vor mir ist.“
Reicher Jüngling auf paulinisch! Alles, was in seiner bisherigen Welt Wert hatte,
was als Verdienst und Leistung galt, was ihm Grund und Zuversicht war, vor Gott
zu bestehen, das zählt nun nicht mehr. Auch und gerade nicht die eigene
Frömmigkeit, das gute Gewissen, das Menschenmögliche getan zu haben, um
Gottes Willen zu erfüllen. Die einzige Basis, der einzige Grund des Vertrauens
liegt nicht mehr in ihm, sondern allein in Jesus Christus. Er ist die absolute
Voraussetzung seines Daseins geworden – und zugleich sein einziges Ziel, das
den Rhythmus jedes Augenblickes, jedes Wegschrittes bestimmt.
Dies heißt konkret – um die fundamentale österliche Dimension nun doch
einzubeziehen: die Liebe Gottes, der sich selbst in der Hingabe Jesu ihm
geschenkt hat, der sein Leben und Sterben im Tod am Kreuz ausgelitten hat, ist
das einzige Woher seines Lebens und die Auferstehung Jesu ist das einzige
Wohin seines Lebens. Auf die schärfste Formel bringt das der Galaterbrief: „Ich
bin mit Christus gekreuzigt worden; so lebe nun nicht mehr ich, sondern Christus
lebt in mir. Soweit ich aber jetzt noch in dieser Welt lebe, lebe ich im Glauben an
den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat“
(Gal 2, 19f.).
[49] Die Grunddimensionen der Nachfolge
Wer die knapp angeleuchteten Texte und noch so viele andere des Neuen
Testaments liest, der tritt ein in eine konkrete Gemeinschaft mit solchen, die
Nachfolge gewagt haben oder sich doch zur Nachfolge herausgefordert fanden.
Nur in solcher Gemeinschaft mit anderen, die nachfolgen, geht auch die eigene
Nachfolge, geht ihr Weg. Vielleicht ist es jedoch nützlich, nochmals die
Scheinwerfer bewußt umzustellen auf unser eigenes Dasein und aus den
beobachteten Grundzügen des Evangeliums einige Signale zu gewinnen für uns,
damit bei uns Nachfolge und in der Nachfolge der Glaube gehe.
a) Entscheidung für Gott, für seine Herrschaft heißt Entscheidung dafür, daß ich
mein Leben mit Jesus, dem Lebendigen, lebe. Mein konkretes Lebensschicksal
muß von Jesus geprägt werden, dann, nur dann ist es ein Leben mit Gott. Es gibt
für uns keine andere „Religiosität“ als die der Jesusnachfolge.
b) Das Grundwort der Berufungsgeschichte bei Markus (1, 18) heißt „sofort“.
Nachfolge geschieht nicht im Großen und Ganzen, wenn sie nicht im Einzelnen
und Jeweiligen geschieht. Das Jetzt, dieser eine, gegenwärtige Augenblick ist der
Punkt, an dem mir der Ruf Jesu begegnet. Im Jetzt allein lebe ich, im Jetzt allein
kann ich Nachfolge leben. Sooft stehlen wir uns vor der konkreten Anforderung
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des Evangeliums davon, indem wir uns sagen: So einfach ist das mit dem Willen
Gottes doch nicht. Woher sollen wir wirklich wissen, was Gott will? Eines aber
wissen wir: im Jetzt, in diesem Augenblick gilt es, sich über den Rand der
eigenen
Angst
und
Anhänglichkeit
hinauszuwagen
und
seiner
größeren
Zuversicht, seiner größeren Freiheit, seiner größeren Treue, seiner größeren
Liebe
anzuvertrauen.
Das
zögernde
Festhalten
dessen,
was
war,
das
Nichtfertigwerden mit dem, was gewesen ist, und ebenso die Ausflucht ins Planen
und Träumen und in die Angst vor morgen sind Ausflucht vor dem Jetzt, in dem
Gott mich in Jesus ruft. Das Heute Gottes ist nicht irgendwann, sondern heute.
Jetzt will Jesus nicht, daß ich über diesen andern urteile. Jetzt will er, daß ich
mich nicht selbst damit ent- [50] schuldige, diese Nachgiebigkeit gegen meine
Schwäche sei nicht so tragisch. Jetzt will er nicht, daß ich mich auf mein Recht
berufe, abzuschalten und keine Zeit zu haben für den Nächsten, den er mir
schickt. Jetzt will Jesus, daß ich mein Ja sage zu ihm, dort wo er mir begegnet,
so wie er mir begegnet. Jetzt soll ich leben, wie er an meiner Stelle leben würde,
nein, wie er an meiner Stelle lebt.
c) Aber wie erkenne ich seinen Augenblick? Wie kann ich so in der Gemeinschaft
mit ihm leben, daß sie wahrhaft der Raum, die Kraft und das Licht meines Lebens
wird? Erinnern wir uns an Petrus: Auf dein Wort hin! Nachfolge heißt leben auf
Jesu Wort hin und deswegen leben mit Jesu Wort. Gottes Wort muß uns wirklich
das Leitseil unseres Weges werden, an dem wir uns Tag für Tag entlangtasten.
Es muß das Alphabet werden, mit dem wir unser Leben und seine Situationen
durchbuchstabieren. Uns ist dieses Wort gesagt, in unserem Leben will es neu
Fleisch werden.
d) „Wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt!“ (Mk 10, 28). Dieses Wort
„alles verlassen!“ muß uns immer neu im Ohr klingen. Es ist nicht ein für allemal
abzugelten, sondern muß immer neu getan werden. Wir dürfen aber nicht nur
das Wort „verlassen“ hören, sondern müssen das andere mitbedenken: „alles“.
Es gibt keine bloß partielle und keine bloß regionale und keine bloß kategoriale
oder territoriale Nachfolge Christi, sondern nur die totale Nachfolge. Wo wir einen
Bezirk aussparen, den wir Gott nicht öffnen, den wir in den Lebensrhythmus der
Nachfolge Jesu nicht hineingeben, da ist Gott nicht unser Gott, da sind wir nicht
auf dem Weg, da ist das bewegende oder gerade nicht bewegende Zentrum
unserer Welt nicht er, sondern unser Wille, unser Mögen und Meinen.
e) Jesus nachlaufen heißt über ihn hinauslaufen, seinen Weg weiterlaufen in die
Welt, heißt sich senden lassen. Wer Jesus nachfolgt, den nimmt er in die
Dynamik
seines
Lebens
mit
hinein.
Jeder
wird
auf
seine
„Menschenfischer“, jeder Zeuge und Bote.
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Weise
Version: Juni 2010
Entscheidung für Gott ist Entscheidung für Jesus. Leben mit ihm ist Leben im
Augenblick; es gibt einen konkreten Willen Gottes für jeden Augenblick. Dieses
Leben im Augenblick ist Leben auf sein [51] Wort hin, ein Leben, Millimeter für
Millimeter aus seinem Wort gestaltet. Es ist ein Leben, das alles aufs Spiel, auf
Jesu Spiel setzt. Es ist ein Leben in der beständigen Gemeinschaft mit Jesus und
deswegen im beständigen Weitergehen und Weitertragen seines Weges in die
Welt. So geht Nachfolge.
Und wenn wir in der Nachfolge gehen, dann gehen wir im Rhythmus des Lebens
Jesu selbst, dann wachsen wir hinein in sein Geheimnis. Jesus ist die lebendige
Nähe Gottes. Wer ihn sieht, sieht den Vater, wer mit ihm lebt, lebt mit dem Vater
(Joh 14, 9). Jesus ist die Zeit Gottes, der Augenblick Gottes, dieses Jetzt, in dem
er Gegenwart, neue, ewige Gegenwart, unser Licht und unser Tempel wird
(vgl. Offb 21, 22f.). Jesus ist das Wort Gottes, in dem er sich und alles uns sagt
(vgl. Joh 1 und 15, 15). Jesus ist das Ganze, er ist Alles – denn alles hat er in
sich
hineingenommen,
alles
in
seinem
Leben
und
Sterben
zum
Vater
hingetragen, in allem kann er uns begegnen. Und er ist nicht nur das Woher
unseres Weges, jener, dem wir folgen und von dem her wir gesendet sind,
sondern er ist auch das Wohin unserer Sendung: in allen und allem sollen wir ihn
entdecken und freilegen, er ist Anfang und Ende, er ist der Kommende, auf den
alle Linien unseres Lebens und der Welt zulaufen. Die Dimensionen der Nachfolge
sind Dimensionen des Geheimnisses Jesu selbst. Dieses Geheimnis Jesu deutet
sich an in der Verknüpfung des Nachfolgerufes mit der Botschaft vom
anbrechenden Gottesreich, im Zeugnis der Vollmacht Jesu, die beides – die
Botschaft und den Ruf – trägt. Kreuz und Ostern sind die Einlösung dieses
Anspruchs und in ihnen wird der Geist frei, der Jesu Geheimnis dem eröffnet, der
sich auf den Weg der Nachfolge begibt.
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[52] 4. Die „Ethik“ Jesu
Jesus sagt die Gottesherrschaft an, Jesus ruft zur Nachfolge. Er tut Zeichen, die
seine Sendung beglaubigen und hinweisen auf jene Macht Gottes, die das Heil
des Menschen und die Erfüllung der Geschichte wirken will. Er verdeutlicht die
Weise, wie Gott zum Menschen steht, durch sein Handeln, durch sein
erbarmendes, herausforderndes, ungewohntes Zugehen auf den Menschen. Er
entfaltet seine Botschaft in die Bild- und Gleichnisreden, die den Menschen
aufhorchen lassen, damit er die Zeichen der Zeit verstehe und sich der nahenden
Herrschaft Gottes öffne. Jesus tut aber ein weiteres. Er sagt uns, wie wir unser
Leben insgesamt anpacken sollen, sagt uns, wie wir uns gegenüber Gott und
dem Nächsten verhalten sollen. Er zieht die Konsequenzen aus seiner Botschaft
von
Gottes
Reich
und
von
der
Nachfolge
nicht
nur
im
Blick
auf
die
Lebenssituation des einzelnen, den er direkt anspricht, sondern umfassend,
grundsätzlich, für alle.
Daher kann man von der „Ethik“ Jesu sprechen, so problematisch dies sein mag.
Sicher, es geht Jesus nicht darum, neutral und „an sich“ zu sagen, wie der
Mensch sein soll, sondern es von der konkreten Situation des anbrechenden
Gottesreiches
her
zu
sagen.
Diese
Situation
ist
freilich
kein
wiederum
überholbarer Sonderfall, sondern die Erfüllung aller Zeit, die Erfüllung dessen,
was Gott im Alten Bund angelegt hat, ja die Erfüllung dessen, was in der
Schöpfung selbst grundgelegt ist.
Wenn im Epheserbrief gesagt wird, daß Gott in Christus die Fülle [53] der Zeiten
heraufführen, in ihm alles vereinen und wie in einem Haupt zusammenfassen
wollte, was im Himmel und auf der Erde ist (vgl. Eph 1, 10), so wird dies in der
„Ethik“ Jesu unmittelbar anschaubar. Es geht Jesus zugleich darum, Gesetz und
Propheten
nicht
herzustellen,
aufzuheben,
wie
es
„am
sondern
zu
Anfang“,
erfüllen
am
(vgl. Mt 5, 17),
Anfang
der
wieder
Schöpfung
war (vgl. Mk 10, 6) – und einen neuen Anfang zu setzen, der über das
hinausführt, was den Alten gesagt worden ist (Mt 5, 21.27.31.33.38.43). Dieser
neue Anfang ist zugleich Vorwärtsgang über alles bislang Dagewesene hinaus, in
die neue Stunde der anbrechenden Gottesherrschaft – und Rückgang in den
ursprünglichen Anfang. Es ist ja Gott, der Anfängliche, der seinen „Anfang“ nun
aus der Entfernung, aus der Peripherie ins Zentrum unseres Lebens einbringt.
Wenn wir im folgenden die Ethik Jesu in einigen ihrer Grundzüge zur Sprache
bringen, so heißt unsere leitende Frage wiederum: Wie geht Glauben? Hier
genauer: Wie geht Leben aus dem Glauben, wie geht gelebter Glaube? Es
interessiert hier also nicht in erster Linie, wieviel von der Ethik Jesu bereits von
der Perspektive des Alten Bundes oder der Schöpfungsordnung her möglich ist;
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ob
das
Neue,
das
in
Jesus
zweifellos
durch
den
Gesichtspunkt
der
Gottesherrschaft eingebracht wird, mehr motivierender oder mehr inhaltlicher
Natur ist; wo die Sicht des unmittelbar „Jesuanischen“ aufhört und wo die
gemeindliche, nachösterliche Verdeutlichung und Interpretation anfängt. Auf
derlei Fragen fällt im Vorbeigehen dieses oder jenes Licht. Unser Bemühen aber
gilt dem Weg, den wir zu gehen haben (und in dessen Gang der Glaube und der
„Urheber und Vollender des Glaubens“ [Hebr 12, 2] für uns Kontur und Nähe
gewinnen sollen).
[54] 4.1 Der Bund – die Zehn Gebote – das Hauptgebot
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal: Jesus kommt es nicht darauf an,
sozusagen am Reißbrett ein System der Ethik zu entwerfen, eine lückenlose
Herleitung und Aufstellung dessen, was zur sittlichen Haltung und zum sittlichen
Handeln des Menschen gehört. Die heilsgeschichtliche Situation, die Ansage des
Gottesreiches, fordert ihn, uns zu sagen, was wir tun sollen, was Gott, der
nahekommende Gott, von uns will.
Im Alten Testament ist es grundsätzlich nicht anders. Mag der religiöse Umtrieb
es mitunter verdunkelt haben, in den Schriften des Alten Testamentes und in der
Religiosität und Lebenseinstellung der Frommen Israels tritt zutage: Nicht das
„Du sollst!“ ist das erste, sondern das geschichtsmächtige Handeln des Gottes,
der sein Volk ruft und führt und immer wieder auf den Weg zurückführt. Weil ich,
Jahwe, dein Herr und Gott bin – so dürfen wir Gottes gesetzgebende Offenbarung
zusammenfassen –, weil ich an dir gehandelt habe und dich aus Ägypten
herausgeführt habe, deshalb sollst du mich ehren als deinen Herrn und Gott,
deshalb meinen Namen heilig halten, deshalb nicht mit deinen Interessen und
Planungen meine Zeit und meinen Tag zudecken! Gott handelt an seinem Volk
und stellt sein Volk in die Situation der Antwort. Nur in der Position der
bekennenden, dankenden, bezeugenden Antwort kann dieses Volk überhaupt
leben; denn seine ganze Existenz, seinen Anfang und seinen Bestand verdankt
Israel dem Handeln Gottes, die gelebte Beziehung zu diesem Gott ist sein
Lebensraum und seine Lebensbedingung. Und dieses dankende Bezeugen und
Bekennen ist zugleich seine Berufung als priesterliches Volk, als Gottes Eigentum
unter den Völkern.
Dieser Grundposition seiner Existenz und seines Auftrags entspricht Israel aber
nur, wenn es nicht nur als Summe privater einzelner, sondern eben als Volk
antwortet. Die Treue des Volkes zu Gott setzt sich fort in der Treue und
Verlässlichkeit zwischen Volksgenossen und Volksgenossen, in der Weise, wie der
eine zum anderen steht und sich für den anderen mitverantwortlich weiß.
Deshalb [55] sind die Eltern zu ehren, deshalb ist das Leben des Nächsten zu
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achten, deshalb muß die eheliche Treue gewahrt, das Hab und Gut des Nächsten
respektiert werden, deshalb muß man sich aufs Zeugnis eines jeden verlassen
können, deshalb sind Rechte, Familie, Güter des anderen unantastbar. Im
Miteinander des Volkes muß die Bundestreue zwischen Gott und dem Volk sich
widerspiegeln, sich fortsetzen, greifbar und offenbar werden für die Völker im
Umkreis – das Verhältnis zum Nächsten strahlt über die bloße Gegenseitigkeit,
über die Grenzen des eigenen Volkes hinaus, grundsätzlich ist die „Volks“-ethik
offen in die menschheitliche Dimension hinein (vgl. zum bisherigen besonders
Ex 19 u. 20; Dtn 5 u. 6).
Die „Ethik“ des Alten Testamentes, das, was sich in den 10 Geboten ausspricht,
ist also Antwort auf Gottes die Existenz Israels gründende und haltende Tat, ist
Vollzug der Existenz des Volkes und seines heilsgeschichtlichen Auftrages. Immer
wieder steht dies in der Gefahr, in frommer Geschäftigkeit und unfrommer
Untreue überwuchert, vergessen, verfälscht zu werden. Es ist die Stoßrichtung
der prophetischen Verkündigung, auf diesen zentralen Lebensgrund Israels
hinzuweisen.
Besonders eindrücklich geschieht das etwa beim Propheten Micha. Gott nimmt
die Angebote der Opfer nicht an, die das untreu gewordene Volk zur Versöhnung
ihm anbietet. Jahwe faßt unzweideutig seinen Willen und damit die Chance zum
neuen Anfang so: „Eines nur ist von dir verlangt: nichts als Recht tun und die
Güte lieben und in Demut wandern mit deinem Gott“ (Mich 6, 8). Es ist geradezu
ein Hauptzug prophetischen Bemühens, das Ausweichen auf die bloß kultische
Anerkennung Gottes zu unterlaufen durch die hartnäckige Forderung, das
Verhältnis zu Gott zu bewähren im Verhältnis zum Nächsten.
Es liegt in der inneren Logik der Botschaft Jesu von der herannahenden
Gottesherrschaft, daß er diesen Akzent wieder aufgreift. Gott, Gott allein, dies ist
bestimmt das Erste, ja wir dürfen sagen: im Sinne Jesu das Ganze! Aber Gott
allein, das ist das genaue Gegenteil eines bloßen „Sektorengottes“. Denn Gott
hat ja nicht mehr irgendwo nur einen Sektor des Horizonts für sich in Beschlag
ge- [56] nommen, jenseits dessen er thront und von dem her er seine Wohltaten
sendet; nein, er bricht auf, er rückt in die Mitte unseres Daseins, alles ist sein
Strahlungsbereich. Und so kann ich Gott nicht lieben, wenn ich nicht auch die
liebe, die er liebt, und das liebe, was er liebt. Wo alles auf Gott allein ankommt,
da kommt es auf den Menschen und auf die Welt an. Gott über alles lieben und
alles in Gott, dies sind die beiden untrennbaren Seiten desselben.
Zum Grundbestand der ersten drei Evangelien gehört Jesu Betonung des
Hauptgebotes: Gottesliebe aus ganzem Herzen, und als zweites, das denselben
und davon untrennbaren Rang einnimmt, Liebe zum Nächsten (Mt 22, 3440; Mk 12, 28-31; Lk 10, 25-28). Beachtenswert dabei der jeweils besondere
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Akzent: Bei Matthäus gibt Jesus selbst die Antwort auf die Frage nach dem
größten Gebot; er ist es, der unterstreicht, daß das zweite dem ersten gleich ist.
Bei Markus sind es Jesus und der die Frage stellende Gesetzeslehrer, die sich in
der einen Antwort treffen. Anlaß für Jesus, dem Gesetzeslehrer zu bescheinigen,
er sei nicht fern vom Reich Gottes. Hauptgebot und Gottesherrschaft hängen
unmittelbar zusammen. Bei Lukas wird der Dialog mit dem Gesetzeslehrer, der
seinerseits von Jesus zur Antwort herausgefordert wird, weitergesponnen. Die
Rückfrage „Wer ist mein Nächster?“ gibt Jesus Anlaß, das Gleichnis vom
barmherzigen Samariter zu erzählen (Lk 10, 25-37). Dies entspricht dem Blick
des Lukas über Israel hinaus, auf die gesamte Menschheit. Diese Hinsicht liegt in
der
Gesamtrichtung
der
Verkündigung
Jesu
und
verstärkt
einen
Akzent
alttestamentlicher Botschaft.
Grundlage der Ethik Jesu ist also die auf ihre Mitte konzentrierte und in die
menschheitliche Dimension geöffnete – sagen wir es einmal so – Bundesethik
des Alten Testamentes: ein ganzes Ja zum ganzen Gott und deswegen ein Ja
genauso zum anderen wie zu mir selbst, weil zu uns beiden der eine und selbe
Gott sein Ja sagt. Die neue Nähe und neue Universalität dieses göttlichen Ja zum
Menschen, das ist Kennzeichen der Situation der Gottesherrschaft, die nicht die
Situation des Alten Bundes aufhebt, sondern eben verdichtet, erfüllt.
[57] 4.2 Die Bergpredigt
Das Ethos der anbrechenden Gottesherrschaft wird wohl am schärfsten in der
Bergpredigt nach Matthäus (5, 1-7.29) konturiert. Es kann uns hier nicht um ihre
Gesamtinterpretation, nicht um die Analyse ihres Aufbaus, nicht um die ethische
Aufarbeitung ihrer Einzelheiten gehen. Wir wollen an ihr ablesen, wie das Leben
jener zweifältig-unteilbaren Liebe zu Gott und den Nächsten in der Situation des
anbrechenden Gottesreiches, in der Situation somit auch unseres christlichen
Lebens geht.
Ein paar Beobachtungen an der äußeren Struktur der Bergpredigt können dabei
hilfreich sein. Bei Matthäus hat die Bergpredigt zwei konzentrische Hörerkreise:
einmal, unmittelbar um Jesus herum die Jünger, sodann um die Jünger herum
die Menge des Volkes. Zunächst wendet sich Jesus an die Jünger in den acht
Seligpreisungen (5, 3-12). Die Situation der Spannung, der Differenz zum
erfüllenden und ersehnten Heil wird hier unmittelbar angesprochen, die nahe
Erfüllung und Erlösung durch die kommende Gottesherrschaft angesagt. Auf
diese zielt der gesamte Zusammenhang, wie vor allem der breite Abschnitt über
die falsche und die rechte Sorge dartut (6, 19-34); von nun an gilt nur noch die
Sorge um die Herrschaft Gottes, alle andere Sorge wird unnütz, aber auch
unnötig.
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Unmittelbar an die Jünger richtet sich auch das Wort vom Salz der Erde und vom
Licht der Welt (5, 13-16). Das weist auf ein Ziel der Bergpredigt hin: Die Jesus
nachfolgen, sollen das leben, was er ihnen ansagt. Darin geschieht bezeugender
Reflex der Herrschaft Gottes von unten, vom Menschen aus. Was Gott von sich
her tut, das sollen die Jünger von sich her mittun, ans Licht heben. Vollzogene
Ethik
Jesu
erhellt
die
Mächtigkeit
und
Wirksamkeit
der
anbrechenden
Gottesherrschaft.
Nichtsdestoweniger geht die Bergpredigt im ganzen alle an, bietet sie keineswegs
nur eine Spezialanweisung für einen engeren Kreis. Gerade der dreifache Anlauf
auf das Ende und das Nachwort weisen daraufhin: a) Jesus weist in seiner Rede
den schmalen Weg, der einzig zum Leben führt (7, 13f.). b) Er macht
unmissverständlich [58] klar, daß keine allgemeine Sympathie und kein
Lippenbekenntnis zu ihm zählen und auch keine Tat, die in seinem Namen
vollbracht würde, ohne daß sie erfüllt wäre mit dem lebendigen Glauben. Nur das
gelebte Leben, nur die Frucht des in Leben übersetzten Willens des Vaters gilt
(7, 15-23). Um in der heranbrechenden Zeit der Krisis zu bestehen, gibt es keine
andere Möglichkeit, als das Haus des eigenen Lebens auf das Fundament zu
bauen, das Jesu Botschaft und Anruf legt (7, 24-27).
Und die Menge bezieht das Gesagte in der Tat auf sich; denn – so die
abschließende Rahmenleiste des Evangelisten – sie ist bestürzt über seine Worte,
da er lehrt wie einer, der Vollmacht hat und nicht wie die Schriftgelehrten
(vgl. 7, 28f.).
Vollmächtige Rede, nicht Auslegung des bereits Gesagten durch dafür zuständige
Fachleute, sondern ein neues Wort von Gott her: darum geht es in der
Bergpredigt.
Doch nun: was sagt dieses vollmächtige Wort? Heben wir aus der Fülle des in ihr
Zusammengefaßten ein Dreifaches heraus, sozusagen drei Verdichtungen des
grundlegenden Imperativs, das Leben nunmehr von Gott her zu leben und neu zu
sehen.
Keine Reservate mehr Gott gegenüber
Damit wir in die Herrschaft Gottes, ins Himmelreich eintreten können, fordert
Jesus von uns eine Gerechtigkeit, die größer ist als jene der Schriftgelehrten und
Pharisäer
(vgl. Mt 5, 20).
Dieses
„größer“
meint
„radikaler“,
und
dieses
„radikaler“ heißt: ohne Reservate und Vorbehalte.
In den fünf Exempeln, die verhandelt werden – das Töten, der Ehebruch, die
Ehescheidung, das Schwören, die Vergeltung, die Nächstenliebe (Mt 5, 21-47) –
findet Jesus im gängigen Verhalten eine falsche Trennung vor: Bis hierhin fordert
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der Wille Gottes etwas von dir, jenseits dieser Grenzmarke setzt dein Freiraum
ein, das „neutrale“ Gebiet, in dem du es halten magst, wie es dir gefällt. Töten
darf ich nicht – aber wie ich von dir denke, wie ich über dich rede, das ist meine
Sache. Die Ehe brechen darf ich nicht – aber wo- [59] hin meine Blicke und
Gedanken schweifen, das fällt nicht ins Gewicht. Meinen Nächsten soll ich lieben
– aber wenn einer mir feindselig kommt, dann hat er das Recht des Nächsten
verwirkt.
Gegen solches Denken nun geht Jesus entschieden an. Gott ist der Gott des
ganzen Menschen, des ganzen Lebens. Deswegen haben auch die Regungen
meines Herzens, haben auch meine privaten und persönlichen Einstellungen, hat
auch mein Verhalten zu dem, der mir nicht liegt oder mir Böses getan hat, etwas
mit meinem Verhältnis zu Gott zu tun. Die Sonne Gottes steht nun so am
Himmel, daß dadurch der ganze Raum meines Innern und meiner Welt
ausgeleuchtet ist. Gottes Licht durchdringt alles. Schon jetzt fängt das an, was
die Geheime Offenbarung vom Ende sagt: Es gibt kein anderes Licht, keine
andere Sonne mehr in der heiligen Stadt, sondern Gott und das Lamm sind ihr
Licht (vgl. Offb 21, 22ff.). Alles wird in diesem Licht durchsichtig, es gibt keine
finsteren Winkel und Ecken mehr, die ausgespart wären von Gottes erhellender
Nähe. Die Beziehung zu Gott wird universale Beziehung – er allein ist alles in
allem, doch gerade so erhält alles einen neuen und unvergleichlichen Wert. Wenn
Gott so im Zenit steht, dann kann ich meine Gabe ihm nicht darbringen, solange
mein Bruder etwas gegen mich hat, ohne daß ich mich mit ihm versöhnt habe;
und
ich
kann
ebensowenig
die
Liebe,
die
Gott
auch
meinem
Gegner
entgegenbringt, diesem vorenthalten (vgl. Mt 5, 23f.44-48).
Wir verstehen von hierher besser, was uns schon die klassische Moraltheologie
sagt: es gibt nicht zwei Lieben, eine Gottesliebe und eine Nächstenliebe, sondern
nur die eine und unteilbare Liebe, die Gott und dem Nächsten zugleich gilt. Wer
Gott nicht liebt, liebt auch den Nächsten nicht und umgekehrt. Eine Sonne, die
nicht nach allen Seiten ihre Strahlen sendet, ist eben nicht mehr die Sonne. Die
vorbehaltlose Radikalität der Bergpredigt ist atemberaubend, erschreckend. Aber
sie ist mehr noch befreiend. Wir werden befreit von unserem andauernden
Messen mit zweierlei Maß, von unserer doppelten Moral. Das Leben wird einfach,
so einfach, wie Jesus es im anderen Kontext der Sorglosigkeit sagt. Wenn wir
uns nur noch um Gottes Reich kümmern, dann können wir alles von ihm [60]
erwarten und dürfen sein wie die Lilie und der Vogel (Mt 6, 25-34).
Wir haben nur noch eines zu tun: je neu, in jedem Augenblick auf Gott zu
schauen und alles in seinem Licht zu sehen. Das Leben wird sehr aktiv, sehr
weltzugewandt – und bleibt in allem doch Kontemplation. Ich erinnere mich in
diesem Zusammenhang an einen Angestellten, der nach harter Arbeit des Tages
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jeden Abend seine Betrachtung vor dem Tabernakel hielt. Ich fragte ihn, wie er
die Umstellung schaffe. Er sagte: Im Grunde geht es einfach; wenn ich den
ganzen Tag über in meinen Nächsten dem Herrn begegnet bin, dann kann ich mit
ihm auch in der Eucharistie ohne zuviel Mühe weiterreden.
Die lautere Innerlichkeit
Einen zweiten Aspekt desselben entfaltet Matthäus im 6. Kapitel (bes. 1-18).
Alles steht im Licht Gottes, aber gerade darum hat das bloß Äußerliche keinen
Wert mehr. Was zählt, ist die Gesinnung, ist das Innere, ist das Herz. Da ist
keine Innerlichkeit gemeint, die sich nicht ins Werk, nicht in die Tat umsetzte.
Gemeint ist vielmehr jene Lauterkeit, die sich nicht um den äußeren Effekt, nicht
um die Fassade kümmert, sondern damit ernst macht: Gott sieht ins Verborgene,
Gott sieht ins Herz (vgl. Mt 6, 4.6.18).
Wir sprachen von Kontemplation; doch Kontemplation beginnt nicht damit, daß
wir auf Gott schauen, sondern daß er auf uns schaut. Er sieht in uns hinein, in
jede Falte unseres Inneren. Und wir haben nur darauf zu schauen, daß er uns
sieht. Sehen, daß ich von ihm gesehen bin, sehen, daß dies allein zählt – dies ist
der befreiende Durchstoß in die Wahrheit, die sich vor nichts Äußerem mehr
scheut, dies der Durchstoß auch in jene Sorglosigkeit, die am Ende des
6. Kapitels zum Thema wird (Mt 6, 19-34).
Mit Gott leben ohne Vorbehalt, leben im Blick auf Gottes Mich-Anschauen, diese
beiden Schritte eines absolut offenen, absolut durchsichtigen liebenden Lebens
mit Gott mitten in der Welt und für die Welt, das sind Grundschritte der Ethik
Jesu. Gewiß [61] Schritte, die auch vom Ansatz des Alten Testamentes her
erreichbar sind,
Schritte aber, die jetzt, in
der Ära
des anbrechenden
Gottesreiches, nicht mehr Spitze ethischer Anstrengung, sondern unmittelbarer
Vollzug geglaubten Glaubens sind, eines Glaubens, der freilich nur geht, wenn
unser Leben ein beständiges Mitgehen mit Jesus in seiner Nachfolge, in seinem
Wort ist; anders gewendet: wenn wir also die Umdrehung und Umstellung
unseres Lebens von uns her aufs Leben von Gott her je neu vollziehen.
Gelassenheit: nur Gott Gott sein lassen
und darin sein wie er
Scheinbar nichts Neues bringt eine dritte Stufe, und doch tritt in ihr das Neue
zutage. Uns umstellen auf das Leben von Gott her, uns anschauen lassen von
ihm und sehen, daß er uns sieht; die Schranken einreißen, bis zu denen hin wir
seinen Willen anerkennen, und unsere Reservate, unsere „Freiräume“ erfüllen
lassen von seinem Anspruch und von seinem Licht: das heißt doch einfach Gott
Gott sein lassen. Ein Gott, mit dem ich mein Leben halbiere, ist selbst nur ein
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halber Gott und so kein Gott. Ein Gott, der mich nicht sähe, wäre ein blinder Gott
und wiederum kein Gott; ein Gott, der seine Sache tut und mich mir selbst
überläßt,
wäre
jedenfalls
nicht
der
Gott,
der
in
die
ganze,
lebendige
Gemeinschaft mit mir hineindrängt, nicht jener Gott der Gottesherrschaft, die
Jesus ansagt.
Das Neue tut er: Er kommt auf mich zu, er tritt in mein Leben ein, er sagt mir in
Jesus über all mein Ahnen, Berechnen und mein Recht hinaus zu, daß er mir gut
will, daß er mir nahe sein will. Ich habe nur dies anzunehmen und ihn meinen
Gott sein zu lassen.
Doch wenn ich das tue, so wird diese „Selbstverständlichkeit“ zur Überraschung,
zum Abenteuer. Gott Gott sein lassen heißt gewiß, ihm jegliches Recht
einräumen. Den Gott der Gottesherrschaft, den Gott Jesu meinen Gott sein
lassen, das aber heißt: mich beschenken lassen mit einer grenzenlosen
Gelassenheit.
Diese Gelassenheit hat drei Strophen. Sie heißen Sorglosigkeit – davon sprachen
wir bereits –, Verzicht aufs Richten (vgl. Mt [62] 7, 1-5), unbedingtes Vertrauen,
unbefangenes Bitten des guten Vaters (vgl. Mt 7, 7-11). Der Verzicht aufs eigene
Urteil macht damit ernst, daß eben nur er Gott ist. Nur ihm steht es zu, ins
Innerste meines Nächsten zu schauen, ich muß diesen innersten Punkt der Welt,
der das Herz des Menschen ist, dafür freilassen, daß Gott allein hier eindringt.
Und ich kann diesen Bereich auch freilassen. An mir ist das Lieben, etwas vom
andern zu wissen, ist nur nützlich, sofern ich dadurch ihn gemäßer lieben, ihm
besser gerecht werden kann (vgl. auch 1 Kor 4, 3; Röm 2, 1ff.; 1 Kor 6, 1ff.).
Verzicht aufs Urteil über den Nächsten ist die innerste Reinheit des Herzens und
die vielleicht sensibelste Form der Anbetung des allein göttlichen Gottes. Bitten
aber, das darum weiß, daß wir empfangen, kindliches Vertrauen, das von dem,
der sich uns selber gibt, auch alles andere erwartet, ist Siegel der Freiheit der
Kinder Gottes.
Gott Gott sein lassen, dies ist jedoch erst die negative Seite der Gelassenheit und
so erst das Vorletzte in der neuen Ethik Jesu. Der solchermaßen gelassene
Mensch wird in der Tat, gerade weil er leer ist von sich selbst, weil er Gott allein
Gott sein läßt, zum Spiegel des Gottes, der sein Licht, der sich selbst grenzenlos
uns mitteilt, der sich selbst auf- und hineingehen läßt in unsere Welt und unser
Leben. Als Spiegel werden wir „Licht der Welt“, lösen wir jenen anfänglichen
Appell der Bergpredigt an die Jünger ein (Mt 5, 14-16). Dann aber schlägt sich
der Bogen zum Positiven, zu jener Spitze der Bergpredigt: „Ihr sollt also
vollkommen sein, wie (weil) auch euer himmlischer Vater vollkommen ist“
(Mt 5, 48). Sein, wie Gott ist! Uns so von ihm erfüllen lassen, daß er selbst aus
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uns und in uns aufgeht! Das Maß Gottes unser eigenes Maß werden lassen: dies
ist die Ethik Jesu.
Auch hier fehlt nicht die Anknüpfung im Alten Testament. Doch was dort Spitze
ist, wird hier Grund. Das Ganze wird auf diese Spitze gestellt. Nicht im Sinn einer
systematischen Ableitung, nicht im Sinn eines dauernden Wiederholens dieser
Forderung – aber von der inneren Dynamik der Botschaft Jesu her. Gottes Wille
soll geschehen – will sagen: soll sich durchsetzen, soll seine Mächtigkeit erweisen
– wie im Himmel so auf Erden. Das Reich der Himmel, das [63] Reich Gottes, die
Herrschaft Gottes, das Leben Gottes kommt zu uns und will unser Leben werden.
Christliches Leben ist „Praxis des Himmelreiches“, Praxis des in Jesus offenbaren,
die Welt durchdringenden göttlichen Lebens. Das „Wie“ ist ein Grundwort des
Neuen Testamentes. In Jesus ereignet sich vielfältig die Gleichung zwischen dem
verborgenen Leben Gottes und dem Leben dieser Welt. Dies ist Offenbarung, dies
Heil, dies Einbruch des Endgültigen, eben Kommen der Gottesherrschaft.
Bleiben wir noch einen Augenblick bei der Aussage, daß wir vollkommen sein
sollen, wie und weil der Vater im Himmel vollkommen ist. Es ist eine Aussage,
die uns zur universalen Liebe aus der Haltung der Gelassenheit ermahnt. Wie
Gott seine Sonne aufgehen und seinen Regen niederfallen läßt auf Gerechte und
Sünder, wie er in seiner Liebe nicht reagiert, sondern den Anfang setzt, der die
Engführungen unseres guten oder bösen Verhaltens sprengt, so sollen wir den je
neuen Anfang machen aus der Gleichmütigkeit Gottes, aus dem je neuen ersten
Schritt einer je zuvorkommenden, sich nie erschöpfenden Liebe. Das elementare
Umfangensein unserer Menschenwelt von Gottes Handeln in der Schöpfung wird
zum Bild dafür, wie Gott nun geschichtlich, im Anbruch seiner Herrschaft,
handelt: Seine Liebe setzt den vom Menschen unabhängigen, aus seiner eigenen
Hoheit aufbrechenden neuen Anfang. Sein Anfang ruft den unsern, in unserem
„ersten Schritt“ vollbringen wir Gottes vorgängigen „ersten Schritt“ – hier berührt
die Bergpredigt jene johanneische Ethik, die sich im Neuen Gebot verdichtet.
4.3 Weiterführung bei Johannes und Paulus
Liebe ist eines der Grundworte in der johanneischen Theologie. Liebe, das meint
sich verströmende, sich verschenkende, grundlos anfangende Liebe. Sie ist nicht
nur eine Tat Gottes, sie ist nicht nur die „Transfusion“ Gottes in unser Leben,
Gott selbst ist Liebe (1 Joh 4, 8.16). In Jesus ist diese Liebe Gottes ganz da. Sein
Weg ist [64] jener der Liebe bis zum äußersten, der Hingabe bis zum letzten
(vgl. Joh 13, 1). Die Liebe bewahren, in der Liebe bleiben, aus der Liebe Frucht
bringen
–
das
sind
die
Lebensvollzüge
des
Christen
(vgl. Joh 14
und 15 insgesamt). Die einzelnen Schritte: wahrnehmen, daß Gott Liebe ist und
seine Liebe in Jesu Lebenshingabe verschenkt, die Liebe erkennen und an sie
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glauben (vgl. 1 Joh 4, 16); ernst machen damit, daß Gott zuerst geliebt hat und
deswegen bereit sein zum Selberlieben (vgl. 1 Joh 4, 1ff.); Jesu Liebe bis zum
letzten, bis zum Tod zum Grund und Maß der eigenen Liebe machen: lieben, wie
er geliebt hat (Joh 13, 34; 15, 12; 1 Joh 3, 16).
Sicher ist diese johanneische Perspektive der Ethik Jesu nur von Kreuz und
Auferstehung her plausibel zu machen. Dort wird offenbar werden, daß jene
heiter gelassene Liebe dessen, der seine Sonne aufgehen läßt über Gute und
Böse und regnen über Gerechte und Sünder, sich offenbart und mitteilt zuhöchst
in jener Liebe, die das Blut gibt. Dort wird sich erweisen, daß Leben gewinnen
heißt: das Leben hingeben, daß Leben, göttliches Leben selbst Hingabe bedeutet
(vgl. Joh 12, 25; Mt 10, 39; Mk 8, 35; Lk 9, 24; 17, 33). Die schockierende
Radikalität der Bergpredigt, die mit der Seligpreisung der um Jesu Namen willen
Verfolgten anhebt und auf die Forderung bedingungslosen Vergebens und
bedingungsloser Feindesliebe zuläuft, bahnt diese Dynamik an. Der gemeinsame
Nenner ist jenes Wie, das (in der Sprache der drei ersten Evangelien) Himmel
und Erde, Lebensraum Gottes und Lebensraum dieser Welt im Ereignis der
anbrechenden Gottesherrschaft und das (in der Sprache des Johannes) Jesu
Leben aus dem Vater und unser Leben aus Jesus miteinander verbindet und zur
Gleichung bringt. Die Ethik Jesu ist die Ethik dieses Wie.
In den paulinischen Schriften finden wir Bestätigung und Verdichtung der Ethik
Jesu in einer Haltung, die aus dem Glauben an den erhöhten Herrn wächst.
Eine knappe Formel, im Zusammenhang der Auseinandersetzung über die
Rechtfertigung, finden wir im Galaterbrief: „In Christus Jesus kommt es nicht
darauf an, beschnitten oder unbeschnitten zu sein, sondern darauf, den Glauben
zu haben, der in der Liebe [65] wirksam ist“ (Gal 5, 6). Immer wieder gipfelt im
Gebot der Liebe das Ganze des Ethos, das der Apostel von den Gemeinden als
Bezeugung und Bewährung ihres Glaubens erwartet. Das ganze Gesetz ist für
Paulus in dem einen Wort zusammengefaßt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie
dich selbst (vgl. Gal 5, 14; Röm 13, 8-10).
Liebe weist freilich über das „Du sollst!“ hinaus, sie ist vor allem die Liebe Gottes,
die uns in Jesus Christus, in seiner Selbsthingabe bis zum äußersten geschenkt
ist (vgl. Röm 5, 8; 8, 35.39; 2 Kor 5, 14; Gal 2, 20; Eph 2, 4). Diese Liebe wohnt
in uns als Gabe des Geistes (vgl. Röm 5, 5), und auch wo diese Liebe zu
unserem Weg, zu unserer Tat wird, ist sie zuerst Gottes in uns wirksames
Geschenk, Gottes in uns wirkende Gnade (vgl. 1 Kor 13).
Im Epheserbrief nähert sich Paulus einmal der johanneischen Formulierung des
Neuen Gebotes, indem er unsere Pflicht zur Liebe darin verankert, daß und wie
uns Christus geliebt hat (vgl. Eph 5, 2). Der – übrigens auch der johanneischen
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Denkweise entsprechende – Überschuß der Liebe über die Ethik ist paulinisch das
Entscheidende an der christlichen Ethik.
Kennzeichnend ist auch die Umkehrung der Wertordnung zwischen Erkenntnis
und Liebe: Erkenntnis bläht auf, Liebe baut auf (vgl. 1 Kor 8, 1; 13, 1f.). In ihr
ist das Göttliche Gottes in uns wirksam, in ihr wird Gottes Leben unser Leben.
Was wir als das Grundgeschehen des von Jesus angesagten Anbruchs der
Gottesherrschaft entdeckten, bestätigt sich in der Ebene des Verhältnisses
zwischen Gottes Handeln und unserem Handeln, seiner Gnade und unserer
Freiheit in der Lehre des Paulus von der Liebe. Der Sache nach dürfen wir auch
hier von der Struktur des Wie sprechen: liebend leben wir, wie Gott lebt, liebend
wird sein Leben – wir wiederholen – unser Leben.
[66] 4.4 Gesamtstruktur der Ethik Jesu
Wir haben einen vielschichtigen Weg durchmessen, der sich in wenigen Stationen
überschauen läßt. Jesus setzt an bei dem, was wir die Bundesethik des Alten
Testamentes nennen können. Er konzentriert den Appell des handelnden und
schenkenden Gottes an die Antwort des Menschen auf das doppelte Grundgebot
der Gottes- und Nächstenliebe. Sie ist das Ganze dessen, was Gott will, aber
dieses Ganze wird universal und total unter dem Zeichen der von ihm
angesagten Gottesherrschaft. Die ganze, alle und alles durchdringende Nähe
Gottes fordert die Überwindung aller sektorenhaften Einengung des Anspruchs
Gottes und alle Äußerlichkeit einer bloß formalen Erfüllung seines Willens. Gott
Gott sein lassen und darin seine Zuwendung zum Menschen und zur Welt mittun,
in radikaler Gelassenheit grenzenlosen Vertrauens und Liebens, dies ist der
unverwechselbare Akzent, den Jesus der altbundlichen Ethik der zweieinen Liebe
gibt. Dieser Anspruch heißt in letzter Tiefe: lieben, wie Gott liebt, leben, wie Gott
lebt, Gottes Leben selber mitleben und so weitergeben. Das konkrete Maß Gottes
ist Jesus, seine Liebe bis zum äußersten – und so spitzt sich johanneisch die
Ethik Jesu zum Neuen Gebot zu, das uns Jesu erlösende Liebe mittun und
weitertun heißt. Hier hört Ethik freilich auf, bloße Ethik zu sein, sie wird
Anwesenheit der Liebe, die Gott schenkt und Gott ist, darin aber Zusammenklang
der göttlichen Freiheit und unserer menschlichen Freiheit.
4.5 Liebe, wie geht das?
Kehren wir zurück zu unserer Grundfrage: Glauben – wie geht das? Glaube geht,
indem er in der Liebe wirksam wird; so können wir die Formel des Galaterbriefs
anwenden. Wie aber geht diese Liebe? Versuchen wir ihren Gang in sieben
Stichworten uns plastisch vor Augen zu stellen.
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[67] 1. Alle lieben! Gottes Liebe kennt keine Ausnahme. Solange ich einen von
meiner Liebe ausschließe, liebe ich nicht. Liebe ist unteilbar.
2. Immer lieben! Liebe ist keine Sonderaktion, kein Gipfel sittlicher Anstrengung
oder geistlicher Ergriffenheit. Liebe muß vielmehr Wesens- und Lebensform
werden. Sie kennt keine Ferien, sie kennt so wenig Unterbrechungen, wie das
Leben Unterbrechungen duldet.
3. Immer als erster lieben! Liebe ist so sehr Gottes Wesen, daß ich nur dann
liebe, wenn ich wie er grundlos, als erster liebe. Liebe findet nur statt, wenn ich
anfange und nicht warte, bis die Voraussetzungen erfüllt sind. Liebe fängt nur
mit der Liebe an.
4. Lieben bis zum Ende, bis zum äußersten! Liebe kennt kein: bis hierhin und
nicht weiter. Es gibt keine Erkenntnis und keine Erfahrung, welche die Liebe
falsifizieren könnten. Der Tod hat scheinbar die Liebe Jesu falsifiziert – und
gerade deshalb und gerade seither hat die Liebe immer recht. Liebe bewahrt
freilich nicht vor dem Tod oder der Erfolglosigkeit; vielmehr gilt: „Wenn ich
erhöht bin, werde ich alle an mich ziehen“ (Joh 12, 32). Erst im Sterben kommt
die Liebe zu ihrem radikalen neuen Anfang, zur Auferweckung, zur Fruchtbarkeit.
Grundgesetz der Liebe ist das Gesetz vom Samenkorn (vgl. Joh 12, 24).
5. Lieben, ohne etwas zu erwarten! Liebe erwartet nicht, Liebe benutzt den
anderen nicht, sondern Liebe schenkt einfach, absichtslos. Was bei der Liebe
herauskommt, ist allein Gottes Sache. Kein Brosamen Liebe kann verlorengehen,
denn Gott ist Liebe. Doch welche Frucht die Liebe bringt, dürfen wir getrost Gott
und der Freiheit dessen, dem die Liebe gilt, überlassen. Ich aber soll lieben!
6. Nicht erst erkennen, sondern erst lieben! Nur die Liebe erkennt, nur die Liebe
findet zur Wahrheit. Seit Gott geliebt hat bis zum äußersten und weil Gott Liebe
ist, gibt es keine Wahrheit, die nicht Liebe wäre.
[68] 7. Nicht Liebe „haben“, sondern Liebe „sein“! Es geht nicht an, dazusein und
meine Eigenschaften zu haben und unter ihnen auch die Eigenschaft Liebe. Liebe
ist nur da, wo sie mich in sich verwandelt, wo sie der Rhythmus, der Gang, die
Mitte meines Lebens und Wesens wird. So erst liebe ich, wie Gott liebt, wie Jesus
liebt.
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[69] 5. Das Kreuz
5.1 Ereignis – Deutung – Wirkung
Die Botschaft Jesu von der hereinbrechenden Gottesherrschaft geht nicht nahtlos
in ihre Erfüllung über, sie läuft durch die Krisis des Kreuzes hindurch. Die
Botschaft von Jesus dem Christus und Herrn ist Botschaft vom Gekreuzigten, der
auferweckt ist, sie kann sich nie ablösen vom Grund des Kreuzes. Glauben ist
Glauben an die Herrschaft und das Heil Gottes durch das Kreuz hindurch,
gelebter
Glaube,
Nachfolge
ist
Kreuzesnachfolge.
Ethik
Jesu
ist
zutiefst
gekreuzigtes Ja zum Willen Gottes, Liebe, die bis zum Kreuz geht, weil sie nur so
Liebe ist, wie Gott liebt, wie Jesus liebt. Das Kreuz also ist der Knotenpunkt.
Christliche Verkündigung hat das von allem Anfang an gewußt und damit
ernstgemacht. Sie hat sich stets davon abgesetzt, das Kreuz nur als eine Episode
statt es als Grund und Mitte zu verstehen, und erst recht hat sie sich davon
abgesetzt, das Kreuz nur als Schein zu verstehen.
Und doch gibt es – außer dem Geheimnis Jesu selbst – wohl keinen anderen
Punkt in der elementaren christlichen Glaubensüberlieferung, der in eine solche
Vielfalt von Deutungen, von „Theologien“ hinein ausstrahlt wie gerade der
Kreuzestod Jesu.
Die kritische Sorge legt sich nahe, die Vielzahl der Deutungen, die Fülle der
Theologien beinhalten einen Überschuß der Interpretation über das Ereignis. Hat
nicht die gegenteilige Vermutung zumindest ebensoviel recht: das Ereignis habe
seinen Überschuß über jede [70] mögliche Deutung und über alle Deutungen
zusammen? Nun, wer behutsam und offen über geschichtliche Ereignisse
nachdenkt, wird wohl folgendem Verständnis den Vorzug geben: Das Ereignis ist
der Überschuß seiner Deutungen über das Ereignis selbst und zugleich der
Überschuß des Ereignisses selbst über seine Deutungen.
Lösen wir diesen aufs erste kompliziert erscheinenden Satz ein wenig auf. Eine
Sache zeigt, was sie ist, indem wir etwas mit ihr anfangen – erinnert sei an den
Beginn unserer Reflexionen beim spielenden Kind. Sie wird immer mehr, was sie
ist, indem wir immer mehr mit ihr anfangen. Indem wir mit ihr dies und das
anfangen, deuten wir sie, geht sie uns auf, erhält sie ihre Kontur und ihr Profil.
Wenn man aber alles mit ihr angefangen hätte, was man mit ihr anfangen kann,
dann wäre sie sozusagen verbraucht, fertig nicht im Sinn von vollendet, sondern
im Sinn von erledigt. Sie ist interessant, weil man immer noch mehr, immer noch
Neues oder immer neu, in neuen Situationen und Zusammenhängen dasselbe
mit ihr anfangen kann. Was ich mit der Sache anfange, ist mehr als bloß die
Sache, die Sache ist aber auch mehr als das, was ich mit ihr anfange.
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Und wie es mit den Sachen ist, so ist es erst recht mit den Ereignissen. Sie
bringen etwas in Gang, und solange das nicht abgeschlossen ist, was sie in Gang
bringen, solange sie die Dynamik haben, immer Neues in Gang zu bringen, sind
diese Ereignisse noch nicht „fertig“. Sie sind wie eine Quelle, die mehr ist als bloß
das Wasser, das ihr entströmt. Und doch ist das Wasser, das ihr entströmt, nicht
nur der Überschuß der Quelle, sondern auch der Überschuß über die Quelle. Ein
Ereignis verstehen heißt, banal ausgedrückt, von dem her, was in ihm
drinnensteckt, verstehen, was aus ihm herauskommt, und zugleich umgekehrt
von dem her, was aus ihm herauskommt, verstehen, was in ihm drinnensteckt.
Warum stellen wir diese so allgemeine Erwägung an? Um aus dem einen
zentralen Ereignis des Kreuzes ein wenig besser die Fülle jener Deutungen zu
verstehen, die für dieses Kreuz uns im Neuen Testament und in der Geschichte
des Glaubens begegnen, und um in der anderen Richtung in diesen Deutungen
und durch sie hindurch das je größere Geheimnis des Kreuzes besser zu
verstehen.
[71] 5.2 Das Kreuz im Gang der Evangelien
Nicht nur die einzelnen Aussagen des Neuen Testamentes über das Kreuz sagen
aus, was das Kreuz ist und bedeutet, sondern auch der Stellenwert, die äußere
Position
der
Kreuzesbotschaft
in
der
neutestamentlichen
Darstellung
des
Glaubens. Nehmen wir die Evangelien in den Blick. Sie alle laufen zu auf die
Leidensgeschichte
und
das
Auferstehungszeugnis
als
den
abschließenden
Höhepunkt. Das entspricht nicht nur der biographischen Stellung von Tod und
Auferstehung im Leben und Wirken Jesu, sondern dieses Ende gibt auch die
Erzählperspektive für das Ganze ab und bestimmt seine Ordnung. Überscharf
gesagt: Nicht, weil Tod und Auferstehung zum Schluß des Lebens Jesu kommen,
bilden sie die Spitze der Evangelien, sondern weil diese Spitze zugespitzt zur
Geltung kommen soll, werden die vorlaufenden Linien auf sie hin durchgezogen,
wird die Vorgeschichte von Kreuz und Auferstehung berichtet, zumindest: so
berichtet.
Sehen wir ab von den Vorbereitungen, die Lukas und Johannes bereits in ihren
ersten Kapiteln treffen (vgl. Lk 2, 34f. 46-49; Joh 1, 11.29.36; 2, 19-22; 3, 1318), so fällt doch bei allen vier Evangelien auf: Das Hinlaufen des öffentlichen
Wirkens Jesu auf die Passion ist ein entscheidendes Gliederungsprinzip.
In den drei ersten Evangelien
Die drei ersten Evangelien bringen, jeweils im Anschluß an den Gipfelpunkt des
Petrusbekenntnisses
zu
Jesus
als
dem
Messias,
drei
einander
folgende
Ankündigungen Jesu von seinem Leiden und seiner Auferstehung. Am schärfsten
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tritt dieser Rhythmus bei Markus zutage, Matthäus und vor allem Lukas ordnen
zwischen der zweiten und dritten Ankündigung eine Fülle anderen Stoffes an; die
beiden ersten Ankündigungen werden noch in Galiläa, die dritte jeweils auf dem
Weg nach Jerusalem plaziert. Dieser „Weg“ hin zu den letzten Tagen in
Jerusalem
und
innerhalb
dieser
letzten
Tage
dann
hin
zum
Paschafest
unterstreicht kontrapunktisch dasselbe, was im [72] Dreimal des Hinweises auf
Leiden
und
Auferstehung
ausgesagt
wird.
Zumal
Lukas
(vgl. den
Drehpunkt 9, 51) versteht Jesu Weg als Weg in seinen Tod.
Was sagt solche Gliederung innerhalb der drei ersten Evangelien? Einmal ist
wichtig die Stellung der ersten Leidensweissagung nach dem offenen Bekenntnis
des Petrus, daß Jesus der Messias, daß er jener ist, der von Gott her die
entscheidende Rolle im Kommen seiner Herrschaft innehat. Das Leiden wird in
Kontrast zu dieser Rolle im Blick auf die Erwartung der Jünger und in
Entsprechung zu dieser Rolle in der Perspektive Gottes gesetzt; das hebt
besonders der Disput zwischen Jesus und Petrus am Anschluß an die erste
Leidensankündigung heraus (vgl. Mk 8, 32f.; Mt 16, 22f.). Zusätzlich wird diese
Position der ersten Leidensweissagung noch betont durch das, was jeweils nach
einem knappen, aber wichtigen Zwischenglied folgt: die Verklärung Jesu, die
wiederum auf Tod und Auferstehung Jesu hinweist und darin die Fassungskraft
der Jünger laut Markus und Matthäus übersteigt (Mk 9, 9f.; Mt 17, 9.12b;
insgesamt Mk 9, 2-8; Mt 17, 1-8; Lk 9, 28-36).
Die Leidensansagen Jesu stehen in einem für die Interpretation wichtigen
Zusammenhang mit Anweisungen Jesu an die Jünger. Die erste Ankündigung
bietet überall den Evangelisten den Ansatzpunkt, den Kreuzweg als Weg der
Nachfolge auch für die Jünger herauszustellen (Mk 8, 34 - 9, 1; Mt 16, 24-28;
Lk 9, 23-27). Auf die zweite Ankündigung folgt – nur bei Matthäus unterbrochen
durch ein kurzes Zwischenstück – die Episode vom Rangstreit der Jünger, den
Jesus damit auffängt, daß er das Kleinsein als das wahre Großsein hinstellt
(Mk 9, 33-37; Mt 18, 1-5; Lk 9, 46-48). Markus wie Matthäus lassen unmittelbar
auf die dritte Ankündigung die Bitte der Zebedäussöhne um die Plätze zur
Rechten und Linken Jesu und sein Wort an die Jünger folgen, das seine Mission
als Dienst und sein kommendes Sterben als sühnende Hingabe für die Vielen
deutet. Nur Lukas hebt dieses ab und rückt es in den anderen Zusammenhang
des letzten Abendmahles (vgl. Mk 10, 35-45; Mt 20, 20-28; Lk 22, 24-26). Jesu
Tod hat also in der Theologie der drei ersten Evangelien zu tun mit dem Plan
Gottes und der Sendung [73] Jesu für das Heraufkommen der Gottesherrschaft,
mit unserem Heil und unserer Erlösung, mit unserem Leben als Jünger, die auf
den Weg der Nachfolge als Kreuzesnachfolge gewiesen sind.
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Bei Johannes
Das vierte Evangelium ist deutlich anders angelegt als die ersten drei, doch in
einem wichtigen Punkt entspricht es ihnen: in der Stellung der Passion Jesu.
Nicht nur, daß sie auch bei Johannes der alles bestimmende und ausrichtende
Schlußpunkt des Ganzen ist, sie markiert auch den Dreh- und Mittelpunkt und
somit die Gliederung des Wirkens Jesu in der johanneischen Darstellung. In den
großen Reden des 3., 10. Und 12. Kapitels (Joh 3, 13-21; 10, 1-18; 12, 23-33)
wird die Passion als Hingabe und Erhöhung ausdrücklich angesprochen. Die Mitte
und Spitze des Aufbaus verbirgt sich jedoch in der Dramatik des 6. Kapitels.
Die Speisung der Fünftausend (6, 1-15) führt zum Mißverständnis Jesu als des
Brotkönigs. Dieses Mißverständnis arbeitet er auf in der Rede vom Lebensbrot
(6, 22-31). Doch gerade hier erfolgt der Umschlag von der Begeisterung zum
Ärgernis. Und dieser Umschlag hängt wiederum zusammen mit der Passion, der
Passion nicht in sich, sondern in ihrer sakramentalen Weitergabe: Jesus gibt
nicht etwas anderes als Brot des Lebens, sondern sich selbst. Das heißt aber in
äußerster Konsequenz: sich selbst als Speise. Sein Fleisch und Blut werden
Speise und Trank. Diese Rede ist hart. Hart ist sein absoluter Anspruch, als
Person der Heilsbringer schlechthin, das Brot des Lebens zu sein. Hart ist seine
Weise, dieses Heil zu wirken in jener Selbsthingabe, die Hingabe des Lebens, ja
Verwandlung des eigenen Lebens in Speise für die anderen bedeutet. Hier sind
die Jünger zum äußersten herausgefordert und folgt die Entscheidung (6, 60-71).
Aus der österlichen Perspektive, vom sakramentalen Weiterwirken der Passion
und Auferstehung her, wird die Dramatik ihrer Vorgeschichte im Leben und
Wirken Jesu vor Ostern und auf Ostern hin erkannt. So schließt sich auch ans
6. Kapitel unmittelbar die Auseinandersetzung Jesu mit seinen Brüdern [74] über
seine Stunde und alsdann der Wechsel des Schauplatzes seines Wirkens von
Galiläa nach Jerusalem an (vgl. Joh 7, 1-13).
Es bestätigt sich: Das Zulaufen der Verkündigung und Wirksamkeit Jesu auf das
Kreuz ist jener Klärungs- und Scheidungsprozeß, in dem der Sinn seiner Sendung
hervortritt und die Glaubensentscheidung herausgefordert wird. Der Anstoß, den
die Menschen an Jesus nehmen, ist dabei ausgerechnet der Anstoß an jener
Niedrigkeit, die Ausdruck der größten Liebe, jener Liebe ist, die bis zum letzten
und äußersten geht.
5.3 Wege zum Kreuz
Das Kreuz ist Mittel- und Zielpunkt, der die Botschaft eint. Gerade so ist
verständlich, daß es sich in vielen Perspektiven zeigt und daß viele Wege auf es
zulaufen.
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Weg der kommenden Gottesherrschaft
In großer Bereitschaft sind die Jünger gefolgt, als der Herr sie rief. Sie haben
nicht nach dem und jenem gefragt, aber sie haben sich natürlich ihre Hoffnungen
gemacht. Aus Petrus, der von seinem eigenen Boot weggelaufen ist und nun
sozusagen schon mit Jesus „in einem Boot sitzt“, bricht es hervor: „Du weißt, wir
haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt. Was werden wir dafür
bekommen?“ (Mt 19, 27). Jakobus und Johannes interessieren sich für die Plätze
zur
Rechten
und
Linken
des
Meisters
im
heraufkommenden
Reich
(vgl. Mk 10, 35-40). Dies und vieles mehr deutet auf die Einstellung: „Jesus, du
hast das Reich angesagt, deine Rede zeigt, daß sie in Vollmacht geschieht, deine
Wunder beglaubigen es. Was nun?“ Es widerspricht jedenfalls jeglicher Erwartung
und Vermutung, daß auf diesen Anfang und seine Verheißung das Kreuz kommt.
Es wird zum Anstoß schlechthin, zur scheinbaren Widerlegung des Anspruchs
Jesu.
Die neutestamentliche Botschaft stellt aber das Kreuz heraus als [75] den Weg,
auf dem sich der Plan Gottes durchsetzt und erfüllt, auf dem seine Herrschaft
wahrhaft herankommt. Sich aufs Kreuz einstellen heißt, sich auf die andere Logik
Gottes einstellen. Das ist Inhalt der Antworten, die Jesus dem Unverständnis der
Seinen für seine Leidensansage entgegenhält: Ihr solltet begreifen, so und nicht
anders erfüllt sich, was ich euch von Anfang an sagte, so und nicht anders
kommt Gottes Herrschaft.
Der Kreuzestod Jesu hat freilich mit seiner Verwerfung durch die Repräsentanten
Israels zu tun. Da sie ihn nicht erkannten und nicht anerkannten, ging Jesus ans
Kreuz – aber im Kreuz ist Gottes Herrschaft bei uns angekommen, ist Gottes
neue Zeit in unsere Zeit hinein durchgebrochen. Alle weiteren Deutungen und
Theologien des Kreuzes liegen in dieser „Bandbreite“ eingeschlossen: Kreuz als
der Weg, auf dem Gott seine Herrschaft und somit das Heil der Menschen
heraufführt.
Damit ist das Kreuz auch unerläßlicher Weg des Glaubens. Nur der glaubt an die
in Jesus angesagte Herrschaft Gottes, der sie sich durchs Kreuz hindurch
schenken läßt. Sie sich schenken lassen, das fordert aber ebenso – nach der
Auskunft aller Schichten des Neuen Testamentes –, daß der Glaubende den Weg
des Kreuzes mit Jesus als seinen eigenen Weg mitgeht.
Weg Jesu in die Erniedrigung und in die Verherrlichung
Das Kreuz ist Weg Gottes. Das Kreuz ist aber unmittelbar und zunächst Weg
Jesu. Er wird für seine Botschaft und seinen Anspruch ans Kreuz geschlagen, in
Treue zu seiner Sendung handelt er es sich ein, den Weg des Kreuzes bis zum
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bitteren Ende gehen und am Kreuz sterben zu müssen. An ihm bestätigt sich
aber auch, daß der Kreuzweg wahrhaft der Weg Gottes ist, der Weg seiner
Mächtigkeit: Er, der in den Tod Ausgelieferte, ist der von den Toten Erweckte,
Verherrlichte, Erhöhte, er ist der Herr. Jesus ist nicht nur Werk- [76] zeug des
Vaters, sondern in ihm ist der Vater da, der Vater ist der Inhalt seines Lebens.
Gottesherrschaft kommt nicht blindlings über uns – und Jesus wäre der für ihre
Ansage „gebrauchte“ Bote. Sondern Jesus ist das Kommen der Gottesherrschaft.
So kann auch das Kreuz nicht nur Geschick sein, das über Jesus hereinbricht,
sondern in all seiner Befremdlichkeit gehört es in die Beziehung Jesu zum Vater.
In der Sprache des Neuen Testamentes: Jesus unterwirft sich diesem Willen des
Vaters,
er
trinkt
den
Kelch,
den
er
ihm
zumutet
(vgl. Mk 10, 38f.;
Mt 26, 39; Mk 14, 36; Lk 22, 42; Joh 18, 11). Die Passion hebt in allen vier
Evangelien unter diesem Vorzeichen an, und in den drei ersten wird ausdrücklich
die leidvoll und demütig gehorsame Auslieferung an den fremden Willen des
Vaters uns vor Augen gestellt. Jesus ist der Gehorsame (vgl. Phil 2, 8;
Hebr 5, 8). Jenes Dienen, als das in den Evangelien Jesu Leiden gedeutet wird
(Lk 22, 24-30; Joh 13, 1-20; Mk 10, 41-45; Mt 20, 24-28), ist zwar Dienst für
die Menschen, aber es ist Dienst aus dem Gehorsam gegenüber Gott. Die
Verbindung mit den Aussagen über
den Gottesknecht
bei Deuterojesaia
(bes. Jes 53) unterstreicht diesen Gehorsam gegenüber Gott.
Das Schicksal des alttestamentlichen Frommen und der Propheten verdichtet und
steigert sich im Leiden Jesu: Er muß dieses Leiden auskosten bis zum Ende, er
wird nicht vor dem Tod, sondern aus dem Tod errettet, den er in aller
Abgründigkeit und Verlassenheit erleidet.
Aus dem Tod aber wird Jesus in die Herrlichkeit des Vaters erweckt. So wenig
seine Auferweckung nur ein privates Schicksal ist, sondern Anfang unseres Heils,
unseres neuen und ewigen Lebens, so sehr ist sie doch auch Bestätigung Jesu
und seiner Botschaft und seine Verherrlichung (vgl. etwa die Apostelreden in der
Apg, z. B. 2, 22-36; 3, 13-26; 10, 34-43).
Das Kreuz als Weg Jesu in die Herrlichkeit erfährt dort im Neuen Testament seine
höchste Potenzierung, wo der Eintritt in die Herrlichkeit erfahren wird als
Heimkehr in jene Ursprungs-Herrlichkeit, aus der heraus die Erniedrigung bis
zum Tiefpunkt des Kreuzes erfolgte (vgl. Joh 17, 4f.; 13, 1; 16, 28; Phil 2, 6-11;
Hebr 2, 5-10). [77] Gottes Weg wird hier als Jesu Weg von Herrlichkeit zu
Herrlichkeit durch die Erniedrigung verstanden. Wo die inneren Anlässe zu
solcher Deutung liegen, wird sich uns vom Ende unseres Mitgehens her
erschließen: Kreuz als Weg der größeren Liebe.
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Weg der Erlösung
Wozu wird Jesus der Weg des Kreuzes zugemutet? Zu unserem Heil. Noch einmal
sei erinnert an die Verknüpfung des Leidens Jesu mit dem Motiv des Dienens.
Jesus soll sein Blut als Lösegeld für die Vielen hingeben. Dasselbe bezeugen die
Deuteworte über den Kelch beim Abendmahl (Lk 22, 19f.; 1 Kor 11, 24f.;
Mt 26, 28; Mk 14, 24), dasselbe auch jene Demuts- und Gehorsamshaltung, die
Matthäus mit Jesu Bitte um die Taufe durch Johannes verbunden sieht (Mt 3, 1315). Solche Haltung ist auf Gott orientiert, gilt von ihm her aber jenen, zu denen
Jesus gesandt ist, um ihnen Herrschaft und Heil Gottes nahezubringen und ihre
Last mitzutragen. Das Motiv vom „Lamm Gottes“ (Joh 1, 29 und 36) führt
ausdrücklich diese Linie weiter.
Die Logik der Gottesherrschaft: Gott will in unserer Welt, in unserem Leben sich
uns als Quelle jener Zukunft erschließen, die wir nicht vermögen. In seiner
Zukunft soll unsere bloße „Vergangenheit“ – Schuld, Tod, Isolierung – aufgezehrt
werden. Genau das geschieht grundlegend in Jesu Weg durch das Kreuz zur
Herrlichkeit. Also trägt Jesus die Last des Todes, der Schuld, der Isolierung für
uns. Im Gehorsam Jesu tritt das Schicksal der Menschheit, Tod und Schuld der
Menschheit in den Anbruch der Gottesherrschaft ein, um in sie und durch sie in
neues Leben verwandelt zu werden.
Diese
Deutung
wird
gar
unumgänglich,
wenn
die
Perspektive
auf
das
Kreuzesgeschehen aus der eigenen Betroffenheit gewonnen wird wie bei Paulus,
der sich von der unverdienten Gnade des erhöhten Herrn und darin eben von
seiner Liebe, von seiner Hingabe ereilt weiß. Das „für mich“, das er so tief und
prägend an der Zuwendung des gestorbenen und erhöhten Herrn abliest, ist
aber – und auch dies ist konsequent – keine bloß private Besonderheit, [78]
sondern es gilt allgemein, für jeden, so sehr dies Paulus am eigenen Leben und
Erfahren aufgeht. Wir alle – durch die Sünde getrennt von unserem Ursprung,
ausgeliefert an unseren eigenen Versuch, Ursprung unserer Zukunft, unserer
Gerechtigkeit, unseres Bestehens vor Gott und Welt zu sein – „ermangeln der
Herrlichkeit Gottes“ (Röm 3, 23). Die Situation des Paulus ist die unsere: „für
uns“ ist Christus gestorben, persönlich für mich.
Immer wieder, in vielfacher Weise, wird auf die Bedeutung des Todes Jesu als
Opfer und Sühne für uns und unsere Sünden in den neutestamentlichen Schriften
hingewiesen (es sei nur an wenige Stellen aus unterschiedlichen Schriften des
Neuen Testamentes außerhalb der Evangelien hier erinnert: Röm 3, 25;
1 Kor 15, 3; Gal 1, 4; Eph 1, 7; Kol 1, 14; 1 Tim 2, 6; 1 Petr 3, 18; 1 Joh 1, 7;
2, 2; 4, 10).
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Die Reflexion im Neuen Testament führt aber weiter als bis zur Aussage: Jesus
erleidet ein Schicksal für uns. Sie durchdringt diese Erkenntnis mit der sie
vertiefenden und begründenden: Jesus erleidet für uns unser eigenes Schicksal,
er erleidet in seinem das unsere.
Um einige Ausformungen dieses Gedankens zu erwähnen: Jesus hat unsere
Sünden mit seinem Leib auf das Kreuz hinaufgetragen (1 Petr 2, 24). Er hat uns
vom Fluch erkauft, indem er selber den Fluch auf sich nahm, zum Fluch wurde
(vgl. Gal 3, 13). Ihn, der keine Sünde kannte, hat Gott für uns zur Sünde
gemacht, damit wir Gerechtigkeit Gottes werden in ihm (vgl. 2 Kor 5, 21).
Wie Gott nicht nur „über“ Jesus handelt, sondern in ihm sich in unser Spiel
bringt, so steht Jesus nicht nur für uns neben uns, sondern in sich, in seinem
Kreuzestod, trägt und leidet er uns, unsere Schuld, unseren Tod, unsere
Verlassenheit aus. Wir sind in ihm. So kommt Gottes Herrschaft: Jesus steht
zugleich ganz auf der Seite Gottes und ganz auf der unseren. Gott und wir sind
im einen, einzigen Sterben Jesu präsent (vgl. bes. 2 Kor 5, 15-21; auch der
Begriff des Mittlers 1 Tim 2, 5; Hebr 8, 6; 9, 15).
[79] Weg der Liebe
Es fehlt noch ein Schritt auf diesem Weg, ein Schritt, der den Anfang einholt und
zugleich deutend übersteigt: Jesu Tod ist Weg der Liebe. Daß Gott Jesus unser
Schicksal zumutet, ist Liebe, äußerste Liebe zu uns. Besonders eindrücklich wird
uns dies im Römerbrief vor Augen gestellt (vgl. Röm 5, 6-8; 8, 31 und 8, 3139 insgesamt). Ebenso hat hier die johanneische Theologie des Todes Jesu ihre
Spitze (vgl. Joh 3, 16; 1 Joh 4, 9 und 4, 7-16 insgesamt). Dort, wo die Liebe
Gottes zu uns als Grund und Inhalt des Kreuzestodes Jesu ausgesagt ist, wird
aber noch eine weitere Deutung mitgesagt: der Tod Jesu ist Weg seiner Liebe,
Tat seiner Liebe. Paulus will sein ganzes Leben nur noch in den Dienst und in die
Liebe dessen stellen, der ihn geliebt und sich für ihn hingegeben hat, er, Jesus
soll in ihm leben (vgl. Gal 2, 19, 20). Johannes eröffnet die Passion mit dem
Vorspruch, daß Jesus, da er die Seinen liebte, sie bis zum äußersten liebte
(vgl. Joh 13, 1.5.13ff.). Die Liebe Gottes und die Liebe Jesu lassen sich nicht
auseinanderreißen, Jesus ist nicht nur ein Werkzeug der Liebe Gottes, sondern er
tut mit, was der Vater tut. Das Leiden Jesu ist doppelte Tat: Tat Gottes und Tat
Jesu als Tat der einen, umfassenden Liebe, die Gott uns schenkt.
Wo der Tod Jesu als Tat der Liebe Gottes vorgestellt wird, da liegt es in der
inneren
Konsequenz,
daß
von
Jesus
als
vom
Sohn,
gar
vom
eigenen,
einziggeborenen Sohn die Rede ist. Gott bleibt nicht draußen und darüber,
sondern er ist „drinnen“ im Tod Jesu: in ihm geschieht Gottes Selbsthingabe. Es
ist eine Aussage über unser Heil, ja über uns selbst, über unseren Wert, wer
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Jesus ist. Daß Gott einen anderen für andere sterben läßt – warum sollte dies die
höchste Liebe sein? Daß er den eigenen Sohn dahingibt, daß im Tod Jesu etwas
mit Gott selbst „geschieht“, daß er sich einläßt in unser Geschick: dies, erst dies
ist die höchste Liebe, dies, erst dies ist aber auch die ganze Konsequenz von
Gottesherrschaft, wenn anders sie eben bedeutet, daß Gott selber aufbricht aus
der Peripherie ins Zentrum, daß er sich in die Mitte unseres Lebens begibt.
Die Aussage darüber, wer Jesus ist, das Dogma von ihm, dem [80] Gott und
Menschen zugleich, ist also nicht abseitige oder zweitrangige Spekulation und
Rechthaberei, sondern verdankendes Ernstnehmen dessen, wie weit Gott geht,
wie ganz uns Gott entgegengeht.
5.4 Die „Logik“ des Kreuzes
Daß das Kreuz in all seiner Rätselhaftigkeit, in seinem elementaren Widerspruch
zur Erwartung auch der Jünger angesichts der Botschaft Jesu vom kommenden
Gottesreich einer tieferen Logik Gottes entspricht, davon kündet die Schrift
allenthalben. Es „mußte“ so kommen.
Dieser Ausdruck, der auch bei Markus und Matthäus seinen Anhalt hat
(vgl. Mk 8, 31; Mt 16, 21), steht für Lukas in der Mitte. Glaubensgehorsam heißt,
sich hineingeben in das, was von Gott her so kommen muß, Glaubensverständnis
heißt, in dem noch so ungewohnten Gang der Dinge die planvolle und
zielstrebige Hand Gottes anerkennen (vgl. zum „Muß“ im Kontext des Kreuzes
bei Lukas vor allem 2, 49; 9, 22; 17, 25; 22, 37; 24, 7.26.44; Apg 17, 3). Dieses
Müssen bindet das Kreuzesgeschehen zurück an den heilwirkenden Willen des
Vaters und weist zugleich nach vorne, hin zur Herrlichkeit als der Folge der
Erniedrigung.
Eng verwandt und verwoben mit diesem „Muß“ ist ein anderes Motiv, dem
nachzugehen unseren Rahmen sprengte: Die „Schrift“, die Verheißung Gottes im
Alten Testament, muß eingelöst werden – und gerade das Kreuz steht in der
Linie ihrer Erfüllung (vgl. bes. die Matthäuspassion).
Achten wir einmal auf einige Verstehensmodelle neutestamentlicher Schriften,
die uns – über die beiden genannten Motive hinaus – in die Logik des Kreuzes,
genauer der Gottesherrschaft im Kreuz einführen.
[81] Von der Bedrängnis zur Hoffnung
Grundlegend erscheint die „umgekehrte Logik“ des christlichen Vollzugs, in die
uns Paulus im Römerbrief einweist (Röm 5, 1-5). Hier wird die Konsequenz aus
der Tat jener unbegreiflichen Liebe Gottes gezogen, daß er seinen Sohn für uns
Sünder hingibt (Röm 5, 6-11). Wenn er an uns so handelt und wenn dieses
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Handeln in uns selber wirksam wird durch den Geist, der in uns wohnt und in
dem diese Liebe Gottes uns erfüllt und durchdringt (5, 5b), so kann unser
eigenes Reagieren auf die Umstände nur in einer totalen Umkehrung der
„normalen“
Verhaltensmuster
bestehen.
Bedrängnis
kann
dann
nicht
Enttäuschung, Enttäuschung nicht Resignation, Resignation nicht Verzweiflung
bewirken. Die neue Logik führt genau in die andere Richtung: Aus Bedrängnis
wächst Geduld, aus Geduld Bewährung, aus Bewährung Hoffnung, eine Hoffnung,
die sich nicht enttäuschen, nicht falsifizieren läßt, weil eben ihr Grund die je
größere Liebe Gottes ist. Querschläge, Bedrängnisse, Enttäuschungen bauen
zwar vorschnelle Erwartungen ab, aber unter diesen Erwartungen tritt zutage,
was durchträgt: die Geduld, wörtlich übersetzt aus dem Griechischen das
„Darunterbleiben“, Bleiben unter dem Handeln Gottes, in seiner größeren und
mächtigeren, weiterführenden Nähe, die sich nicht in dieser oder jener Aktion,
sondern in einem haltenden und tragenden Dasein für uns und mit uns bewährt.
Und so wächst gerade auch unsererseits jene Bewährung in der Gelassenheit, die
nicht mehr auf Stöße und Anstöße reagiert, sondern sich in der Hoffnung
verankert, die keine Gründe mehr kennt, um so besser aber den Grund. Diese
selbe Logik ließe sich auch aus dem 8. Kapitel des Römerbriefs erheben, sie steht
auch
im
Hintergrund
des
1. Kapitels
des
2. Korintherbriefs,
des
großen
„Trostkapitels“ bei Paulus.
Ist diese Logik des christlichen, Christus nachfolgenden Leidens und Hoffens
nicht auch und zuerst die Logik des Kreuzes Christi selbst? Was Paulus im ersten
Kapitel des 1. Korintherbriefes über die Torheit und Schwäche des Kreuzes sagt,
in welchen sich Gottes Weisheit und Kraft durchsetzen und vollenden, spricht
jedenfalls [82] dafür. Das Kreuz ist der Skandal für jenen, der Erklärung und
Erfolg sucht. Darin daß Offenbarwerden, daß menschliches Nachdenken und auch
ein frommes Paktieren mit dem in meinem Erfolg seine Macht erweisenden Gott
das Dilemma menschlichen Lebens und menschlicher Geschichte nicht lösen
können. Wo Gott alles in allem werden, wo seine Herrschaft aufgehen, wo er
selber die aktive Mitte meines Lebens und der Geschichte werden soll, da bieten
sich geradezu das Unbegreifliche und Ohnmächtige an, damit in ihm Gott
sichtbar macht: er ist der allein Wissende und Mächtige. Und dies nicht in einer
kleinlichen Größe, die dem Menschen das Seine nehmen will, sondern in jener
liebenden Größe, die den Menschen dazu herausruft, sich und das will sagen sein
Wissen und Können und Erwarten zu lassen und so in die Größe des
schenkenden, liebenden Gottes hineinzuwachsen. Der im Kreuz Christi schwache
und törichte Gott ist der größere, göttlichere Gott.
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Integration
Brechen wir hier ab und schauen auf einen scheinbar ganz anderen Gedanken.
Indem alles anders kommt, als man es zunächst erwarten kann, indem Jesus von
den Anführern seines Volkes verworfen wird, gekreuzigt wird und nach seiner
Auferstehung zum Vater heimkehrt, erfüllt sich der göttliche Heilsplan: Heil für
alle, Mission der Heiden, Eintritt der Völker in die Fülle des in Christus
geschenkten Lebens. Dieses „Muß“, dieser Sinn des sich im Kreuz vollendenden
Schicksals der Botschaft und des Wirkens Jesu ist auf vielfältige Weise im Neuen
Testament bezeugt (vgl. Mk 13, 10; für andere Zeugnisse der synoptischen
Überlieferung Mt 8, 11f.; Lk 13, 28. 29; sodann Röm 9-11; Joh 10, 16; 11, 52;
12, 20-25; vor allem freilich die Stoßrichtung der Apg). Johannes sieht gerade im
Leiden Jesu die alle, auch die fremden und zerstreuten Söhne Gottes sammelnde
Tat des Gotteshirten und erklärt dies mit dem Gesetz des Weizenkorns, das in
die Erde fallen und sterben muß, um vielfache Frucht zu bringen.
Sammeln, vereinen, integrieren ist aber nicht nur eine Folge des [83] Schicksals
Jesu, die von Gott für sein Ziel genutzt und positiv in seinen Heilsplan
einbezogen wird. Es ist auch nicht nur eine Intention der Liebe Gottes und Jesu,
der sich dem grenzenlosen Heilsplan Gottes ausliefert und eben für alle sein
Leben hingibt. Es ist der Inhalt des Sterbens und aus dem Sterben neu
erwachsenden
Lebens
Jesu.
In
diese
Richtung
weist
die
Theologie
des
Epheserbriefes. Die Gemeinde aus Juden und Griechen, die neue Einheit, die
über alle Grenzen hinaus erwächst, ist für den Epheserbrief das Zeichen des von
Anfang an verborgenen und in Jesus sichtbar gewordenen Heilsplans. Er wird
Wirklichkeit am Kreuz, dort, wo Jesus die Scheidewand einreißt und allen den
neuen
Zugang
zum
Vater
eröffnet
und
somit
den
Zugang
zueinander
(vgl. Eph 2, 11-22; auch Kapitel 3 im ganzen). Vom Kreuz aus zieht der
Epheserbrief die Linie durch zur Himmelfahrt, zur Erhebung Christi als Haupt
seines ganzen Leibes, ja des ganzen Kosmos. In seiner Heimkehr zum Vater, von
wo aus er der Herr seines Leibes, der Kirche ist, wird sichtbar, daß in ihm das
Ganze, das All seine neue Einheit, seinen neuen Zusammenhang erhält
(Eph 1, 3-10; 1, 15-23; 4, 1-16; vgl. auch Kol 1, 15-21).
Alles ist durch Christi Leiden und Sterben von Gott angenommen, ausgehalten,
ausgelitten, in Gott hineingenommen und hat so seinen Ort, seine Einheit, seine
Integration in ihm gefunden. Hier bricht Herrschaft Gottes an.
So knüpft sich allerdings doch der Zusammenhang zwischen einer Logik des
Kreuzes, die Gott allein groß sein läßt und im Leiden die Größe Gottes einholt,
wiederholt, spiegelt, und einer Logik der Integration, die im Ausleiden und
Aushalten der gesamten Menschheitsgeschichte und Schöpfungswirklichkeit die
universale Einheit stiftet. Das erste ist, wenn es so ungewöhnlich formuliert
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werden darf, Logik zum Vater hin: Er allein soll groß sein, in ihm allein ruht der
Sinn und die Erfüllung. Das zweite ist entsprechend die Logik vom Vater her:
Sein alles vereinender, sammelnder, verbindender Wille wird wirksam, indem das
Ganze erlitten und so erlöst wird.
[84] Zusammenschau
Legen wir denselben Weg nochmals in eiligen Schritten zurück, nunmehr aus
dem Ansatz der Botschaft von der Gottesherrschaft, wie Jesus sie vor Ostern
verkündet hat, um aus ihrem inneren Gang das Kreuz und somit den Wechsel zur
österlichen Perspektive zu verstehen.
Gott rückt von der Peripherie ins Zentrum der Geschichte. Er, von dem allein
alles kommt, will sich uns nicht vorenthalten, sondern wir sollen ganz und offen
von ihm leben können. Zuendegehen der Zeit, Abschied, gar Tod sind vom
Ansatz her überwunden. Die Machttaten Jesu bekunden und bestätigen das im
Sinn der zeichenhaften Vorwegnahme. Und nun muß Jesus in den Tod, wird er
von Mißverständnis und Ablehnung in die Katastrophe, in die Auslieferung
getrieben. Warum dieser Weg?
Wenn Gott Gott ist, wenn er die einzige Quelle unseres Lebens ist, dann muß er
auch die einzige Quelle unseres eigenen Wollens und Erwartens werden. Von ihm
her leben heißt, nicht mehr von den eigenen Plänen her leben, von den eigenen
Maßstäben und Wünschen, wie ganzes, erfülltes Leben geht. Er allein hat recht.
Solange ich seinen Weg mit den Vorgaben meines Erwartens und Urteils
blockiere, ist er im innersten Punkt der Welt, in meinem Herzen, noch nicht ganz
Gott. Und solange die totale Übergabe an den Willen Gottes, an seine eigene
Herrschaft, nicht aus der Situation der äußersten Ferne dieser Welt und dieser
Geschichte zu Gott geschieht, ist das Äußerste der Geschichte noch nicht
integriert in die Herrschaft Gottes. Herrschaft Gottes geht dort auf, wo sie im
Innersten und im Äußersten aufgeht, in der totalen Hingabe des menschlichen
Herzens aus der Situation der Gottferne, des Abgrundes, des Todes. Jesu Ja zum
Willen des Vaters in der nicht abgewendeten Situation des Sterbens in
Verlassenheit und Elend ist so der Punkt des Einbruchs der Herrschaft Gottes.
In Jesus kommt Gott selbst dorthin, wo wir sind, kommt Gott an den von Gott
entferntesten Punkt der Schöpfung. Er trägt alle Last und alle Verlassenheit
dieser Welt. Er nimmt die ganze Geschichte [85] der Menschheit auf sich, er ruft
von den Enden der Erde und der Geschichte durch den Abgrund der Schuld und
des Todes hindurch sein „Abba, Vater!“. Das Gebet des 22. Psalms, der in den
Leidensgeschichten der Evangelien den Weg der Passion immer wieder begleitet
und den nach Markus und Matthäus Jesus als Schrei der Verlassenheit, der sich
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in Vertrauen wendet, dem Vater entgegenruft, ist sozusagen die Wegkarte der
anbrechenden Gottesherrschaft.
Im absoluten Gehorsam Jesu geht Gott in der Geschichte ganz als Gott auf, in
der Übernahme der gesamten Menschheitsgeschichte und Menschheitsschuld im
Sterben des menschgewordenen Sohnes Gottes geht Gott in der Geschichte auf
als der Gott des Ganzen. Und so ist die Tat des demütigsten Gehorsams
gegenüber dem Vater zugleich die Tat der größten Liebe sowohl des Sohnes zum
Vater wie des Vaters zum Sohn wie beider zur Menschheit. Der Sohn sagt zum
Vater in unserem Fleisch: „Nur du“. Der Vater schenkt dem Sohn, dem er alles
auflädt, alles. Er schenkt ihm, in seiner Menschheit den Anfang der neuen
Schöpfung zu vollbringen, und beide schenken uns jene Liebe, über die hinaus es
keine größere geben kann: die Liebe, die unsere ganze Last trägt, die Liebe, die
uns so aus der Ferne in die Nähe und Gemeinschaft mit Gott hineinläßt, die
Liebe, die sich Vater und Sohn gegenseitig schenken als Geist, damit wir in
dieser Liebe, die ausgegossen ist in unseren Herzen, im Vertrauen auf die
Erlösungstat Jesu Stück um Stück unser Leben und die Geschichte verwandeln
können.
Die Lesung des Kreuzesweges vom Anfang her ist zur Lesung des Kreuzesweges
vom Ende her geworden: im Herzen Jesu, der in seiner radikalen Auslieferung an
den Willen des Vaters und Annahme der Last aller Welt sich als der unendlich,
göttlich liebende, somit aber göttliche Sohn Gottes erweist.
[86] 5.5 Das Kreuz leben: wie geht das?
Von allem Anfang an wird das Kreuz als die radikalste Herausforderung an
unsere glaubende Annahme, aber auch als radikalste Herausforderung unserer
freien Übernahme des Weges Jesu verkündet. Im Kreuz wird offenbar, daß wir
unser Heil nicht selber vermögen, sondern es uns schenken lassen müssen.
Nirgendwo sind wir „kleiner“ als dort, wo unsere ganze Last uns abgenommen
wird und wir durch den zu Tode gequälten und in die Verlassenheit gespannten
Herrn unseres Glaubens dem konfrontiert werden, was wir von uns aus und ohne
Gott sind. Der Ruf zur Umkehr, aber auch zur dankbaren und gläubigen
Übergabe unseres Daseins an den, der uns bis zum äußersten geliebt hat, ist die
Predigt, die uns das Kreuz Christi hält. Dies ist der nächstliegende und
elementare
Kreuzweg
des
Glaubens:
der
Weg
vom
Leistenmüssen
zum
Beschenktwerden. Nicht wir haben zuerst geliebt, sondern er hat zuerst geliebt
(vgl. 1 Joh 4, 10.19).
Annehmen und Glauben lassen sich aber nicht trennen vom Mitvollzug, von der
Übernahme desselben Weges. Das ist uns schon beim ersten Blick auf die
Leidensweissagungen begegnet, und die Jüngerunterweisung greift dieses Motiv
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nochmals auf (vgl. Mt 10, 38; Lk 14, 27). Wie sehr das Kreuz den Rhythmus
unseres ganzen Lebens bestimmen will, zeigt der lukanische Zusatz, daß wir
unser Kreuz täglich ihm nachtragen sollen (vgl. Lk 9, 23). Auch Johannes schließt
an Jesu Wort vom Gesetz des Weizenkorns die Aufforderung an die Jünger an,
Jesu Weg zu teilen (vgl. Joh 12, 25f.). Das lukanische „Muß“ greift vom Leiden
Jesu herüber auf uns und unser Jüngerschicksal: Paulus soll erfahren, wieviel er
für den Namen Jesu leiden muß (Apg 9, 16), und es gehört zur Unterweisung an
alle Jünger: „Durch viele Drangsale müssen wir in das Reich Gottes eingehen“
(Apg 14, 22).
Es wäre jedoch zugleich zu wenig und zugleich zu schwer, wollten wir nur unser
Kreuz tragen, wie Jesus es getragen hat. Es ist mehr und zugleich leichter, es mit
ihm zu tragen, ihm selbst in unserem Kreuz zu begegnen, mit ihm in unserem
Kreuz zusammenzu- [87] wachsen. Die von uns im Kontext der Nachfolge bereits
erwähnte Paulusstelle aus dem Philipperbrief sagt uns hier das Entscheidende:
„Christus will ich erkennen und die Macht seiner Auferstehung und die
Gemeinschaft mit seinem Leiden; sein Tod soll mich prägen“ (Phil 3, 10).
Wörtlich übersetzt, sagt der letzte Ausdruck: „Gemeinschaft mit seinem Leiden,
indem ich seinem Tod gleichgestaltet werde.“
Wir dürfen, für unseren Vollzug, für das Gehen auf dem Weg des Glaubens, es
uns vor Augen halten: Überall, wo uns Dunkel, Frage, Abgrund, Schuld, eigene
oder fremde, Trennung, Abschied, Ferne von Gott begegnet, um uns oder in uns,
begegnet uns etwas, das Jesus in seinem Kreuz angenommen, mitgetragen,
integriert und verwandelt hat. Er hat diese Gestalt unseres Lebens und unserer
Geschichte sich angezogen, sie ist sein Kleid, mehr noch sein Antlitz. Dann aber
heißt konkret mit ihm leben, Nachfolge leben: ihn dort erkennen, wo er mir
begegnet, dort mit ihm leben, wo er mir begegnet. Die Kommunion mit dem
Gekreuzigten in unserem Alltag ist nicht eine sublime Mystik für besondere
Leute, sondern Ernstfall der Nachfolge hier und jetzt. Darin gerade der Ernstfall
des Erlöstseins. Wir begegnen dem, was er schon angenommen und verwandelt
hat, wir sehen ihn mit seinen verklärten Wunden. Vorurteilsloser Realismus, der
nichts zu verdrängen braucht, an nichts vorbeizusehen braucht, nichts zu
beschönigen braucht, letzte Sensibilität für alles, was schmerzt und was nicht
aufgeht,
und
dabei
zugleich
ganzes
Vertrauen,
ganze
Freiheit,
ganze
Gelassenheit – dies ist das Geschenk erlösten Lebens. Und wir können es nicht
anders uns schenken lassen als durch die ständige Bereitschaft, ihn in seinen
Leiden zu erkennen.
Genieren wir uns nicht, es in einigen kleinen Schritten anschaulich zu machen,
wie das geht, leben mit dem gekreuzigten, am Kreuz für uns verlassenen und
hingegebenen Herrn.
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a) Ihn in allem erkennen! Es kann nichts geben, was nicht er ist. Nichts, was
nicht er an sich genommen hat. Und so begegnet er uns im kleinsten Kopfweh
und in der größten Katastrophe, im scheinbar harmlosen Mißverständnis und im
folgenschweren Versagen, [88] im Verkehrsunfall und in den Folterungen und
Ungerechtigkeiten irgendwo in der Welt, und gewiß nicht zuletzt in dem, was in
seiner Kirche nicht nach ihm aussieht und nicht ihn anziehend macht. Nennen wir
ihn doch ruhig beim Namen, fragen wir ihn: Wie heißest du für mich heute?
Weichen wir nicht davor aus, sondern gehen wir auf das zu, was uns schmerzt –
wir gehen auf ihn zu.
b) Nicht ihn in Kauf nehmen, sondern auf ihn zugehen! Wenn es er ist, dann ist
er mein bester Freund, dann kann ich nirgendwo sicherer und ruhiger und
geborgener sein als bei ihm. Machen wir uns das Leben nicht unerträglich, indem
wir beständig vor dem Kreuz fliehen, dieses oder jenes Problem so überkleistern
und in die Rotation der Angst vor dem geraten, was kommt. Wer ihn liebt, der
wird seine Liebe erfahren. Aber Liebe berechnet nicht, sondern schenkt sich, geht
voll Vertrauen auf den zu, den sie liebt.
c) Keine halbherzige Ergebung, sondern das sofortige und ganze Ja! Oft erweckt
„Kreuzesliebe“ den Eindruck des Schiefen, Matten, Unvitalen. Dieser Eindruck hat
recht, wenn Kreuzesliebe die Selbstverschleierung der Resignation bedeutet,
wenn sie nur fromm verbrämt, daß wir nicht den Mut haben, klärend und
ändernd auf die Verhältnisse zuzugehen. Das sofortige und ganze Ja zum
gekreuzigten Herrn macht hingegen frei und setzt jene Kräfte frei, die wir
brauchen, um das zu verändern, was zu verändern ist, und das zu verwandeln,
was nicht zu verändern ist. Das Sofort und das Alles der Nachfolge wird aktuell,
wo mir das Kreuz, wo mir er am Kreuz des Augenblicks begegnet. Nachfolge wird
dadurch ganz groß und ganz frei und bewährt sich doch am Kleinsten und
Unscheinbarsten.
d) Nicht erst sehen, sondern erst lieben! Gerade wenn ich nicht sehe, nicht
verstehe, nicht die Lösung weiß, ist es er. Darauf zugehen, immer mit dem ernst
machen, was ich weiß – damit, daß stets das Wie des Vertrauens und der Liebe
gefordert ist –, dies ist der Weg ins Licht. „Meine Nacht kennt kein Dunkel!“
dieses Wort aus der Laurentiuslegende gilt für den, der die Augen nicht vor der
Nacht verschließt, sondern in ihr den erkennt, der für uns Nacht geworden ist
und so gerade das alles erleuchtende Licht.
[89] e) Im Ja zum Gekreuzigten, zu seiner Einsamkeit und Verlassenheit den
Durchbruch in die Gemeinschaft, ins Miteinander wagen! Wer sich nicht davor
fürchtet, auf den Gekreuzigten zuzugehen, ihn auch unter dem Namen des
Verlassenen, des Isolierten, des Unverstandenen zu erkennen, der ist es, der die
Mauer zu durchbrechen vermag, die uns voneinander trennt. Dein und mein
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unmitteilbar einsamstes Geheimnis, deine und meine Last, von der wir einander
nichts zu sagen und zu erklären vermögen, ist das, was uns immer schon
verbindet. Er hat deine und meine Last getragen. Er hat uns dort schon
miteinander eins gemacht, wo er einsam zwischen Himmel und Erde hing. Das Ja
zu ihm ist Ja zu dem, was uns eins macht, ist Weg zueinander.
Diese Schritte sind nicht fromme Übungen, sondern einfach die Anwendung der
Logik des Kreuzes, die Auslieferung an den Weg, der Jesu Botschaft von einer
Vision zur Wirklichkeit, zur Geschichte, zum Leben hat werden lassen. Kreuz ist
das, was nicht geht. Aber er ist den Weg des Kreuzes gegangen, ist durch das
Kreuz hindurchgegangen. Und zu ihm können wir gehen, jeden Augenblick.
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[90] 6. Auferstanden zum Vater – Auferstanden zu uns
6.1 Der doppelte Schock
In den Evangelien wird vor allem bei zwei Anlässen das Unverständnis der Jünger
hervorgehoben, oder umgekehrt: der Schock, den Jesu Weg und Verhalten ihnen
versetzt. Zum einen sprengt es ihre Fassungskraft, daß die Gottesherrschaft
nicht direkt kommt, sondern auf dem schrecklichen Umweg des Kreuzes. Von der
ersten Leidensankündigung bis zur Ratlosigkeit der Jünger am Ölberg, ja noch
weiter bis ins österliche Gespräch mit den Emmausjüngern reichen die
Zeugnisse. „Das sei ferne von dir!“ (Mt 16, 22). „Wir aber hatten gehofft …“
(Lk 24, 21).
Der andere Schock ist die Auferstehung. Daß der Tote, der zum Leben Erweckte,
daß er auferstanden ist, das läuft gegen alle Erwartung und Erfahrung; und die
Evangelien
stellen
uns
dies
plastisch
vor
Augen
(Mk 16, 8; Mt 28, 17; Lk 24, 11.31ff.36-43; Joh 20, 9.13-15.24-29).
Die auffällige Unterstreichung des Mißverstehens, des Zögerns, des Erschreckens
in beiden Fällen ist sozusagen „inszenierender“ Hinweis darauf, wie groß und wie
bedeutsam der Kontrast zwischen dem Handeln Gottes in der Heraufkunft seines
Reiches und unseren menschlichen Maßstäben ist. Es passiert eine doppelte
Umkehrung: Das Reich Gottes kommt ganz anders, als man es erwartet – es
kommt durch die Ohnmacht und Torheit des Kreuzes hindurch. Und die
Fortsetzung des Karfreitags läuft ganz anders als [91] erwartet: Den der Vater
weder vor dem Kreuz bewahrt noch vom Kreuz heruntergeholt hat, er wird zum
neuen Leben erweckt.
Dieser doppelte Schock gehört bis heute zum Weg des Glaubens. Seine eine
Grundentscheidung hat auch für uns diesen zweifachen Charakter: Glauben heißt
die Sicherheiten weggeben, die Erwartungen verkaufen, sich ausliefern ins
Unabsehbare, sich darauf einstellen, daß Gott uns dahin führt, wohin wir nicht
wollen und ahnen, sich einstellen aufs Kreuz – und glauben heißt zugleich Mut
haben zur neuen Sicherheit, zum neuen Grund und Boden, auf den Gott uns an
Ostern stellt, damit rechnen, daß jener, der uns über alles liebt, uns nahe ist,
heißt leben mit einem, der lebt.
Die Gelassenheit, in der wir leben mit Gott und in Gott, die Bereitschaft, Liebe zu
sein und nicht nur zu haben, das Bewußtsein, daß Jesus nachfolgen nicht nur
alles verlassen, sondern Gemeinschaft mit ihm haben heißt: dies alles ist uns
bereits begegnet in der vorösterlichen Botschaft. Es gehört zu ihr, aber es erhält
im Durchgang durch Kreuz und Auferstehung erst seinen letzten Grund, seine
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letzte Tiefe, jenen neuen, österlichen Ton, der unverwechselbar zum Christsein
gehört.
Die vorösterliche Botschaft Jesu von der herannahenden Gottesherrschaft und
die
österliche
Botschaft
von
Jesus
dem
Herrn
lassen
sich
nicht
auseinanderreißen, sie gehören zusammen und erklären sich gegenseitig. Wer
wissen will, was Herrschaft Gottes sagt, der muß sie aufs Kreuz hin und von
Ostern her lesen. Wer wissen will, was sagt: Jesus ist der Herr!, der muß im Licht
von Kreuz und Auferstehung das Evangelium lesen; denn der jetzt lebt, ist jener,
der einmal gelebt hat, damals in Jerusalem und Galiläa, der uns vom Vater
sprach, der Jünger sammelte, der Zeichen der Macht Gottes wirkte, der Kinder
segnete und sich über Zöllner und Sünder in Gottes Erbarmen beugte. Jesus
Christus nicht mehr „dem Fleische nach kennen“ (vgl. 2 Kor 5, 16) heißt nicht,
sich um Leben, Worte und Wirken Jesu von Nazareth nicht kümmern, sondern
heißt,
diese
vorösterliche
Wirklichkeit
verstehen
aus
dem
lebendigen
Zusammenhang mit dem österlichen Glauben. Dialektische Zerreißung, um nur
noch dem österlichen Herrn zu begegnen, wäre unö- [92] sterlich; die Reduktion
auf den bloß Vorösterlichen wäre nicht wahrhaft „jesuanisch“.
Was nun heißt, aus Ostern her mit dem leben, der gelebt hat und der jetzt, heute
lebt?
6.2 Die Einheit des Osterzeugnisses
Leben mit dem, der lebt – das bedeutet Unmittelbarkeit zu ihm, lebendige Nähe.
Es bedeutet aber ebenso Annahme eines Zeugnisses. Der jetzt lebt, mit dem wir
leben sollen, er ist ein für allemal in sein Leben hineingegangen durch den Tod.
Er hat, vom Vater auferweckt, sich Zeugen kundgetan, diese Zeugen haben sich
mit ihrem Wort, mit ihrem Leben und mit ihrem Blut für seine Auferweckung
eingesetzt, und auf dem Fundament ihres Zeugnisses steht christlicher Glaube.
Ehe wir also uns der Frage zuwenden, wie österlicher Glaube, wie Leben mit dem
lebendigen Herrn geht, wollen wir uns dem Zeugnis zuwenden, auf dem unser
Glaube beruht.
Und hier machen wir eine erstaunliche Entdeckung. So reich das Neue Testament
an unterschiedlichen Theologien ist, in denen sich die eine Botschaft verfaßt und
hineinsagt in die vielfältigen Verstehens- und Erfahrensweisen der Menschen, so
deutlich gibt es doch durch alle Schichten und Theologien hindurch eine
Grundbotschaft, die über die Vielfalt ihrer Interpretation hinausragt. Diese
Grundbotschaft heißt: Gott hat Jesus von den Toten erweckt.
Sprachlich wird diese Grundform der Botschaft durch einige wenige andere
Motive
ergänzt:
Auferstehen
(vgl.
Mk 8, 31; 9, 9f.31; 10, 34;
Lk 18, 33;
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24, 7.46; Joh 20, 9; Apg 10, 41; 17, 3; 1 Thess 4, 14; aktiv Apg 2, 24; 13, 33f.;
17, 31; dann das Hauptwort z. B. in Apg 1, 22; 2, 31; Röm 1, 4; 6, 5; Phil 3, 10;
1 Petr 1, 3; 3, 21); Erhöhung (vgl. Phil 2, 9; Joh 12, 32); Rechtfertigung und
Aufnahme (1 Tim 3, 16); schließlich Verherrlichung (breit bei Johannes). Doch
auch diese Modelle haben jene konkrete Nach- oder besser Neugeschichte im
Blick, in welche Jesus durch seinen Tod hinein [93] eingetreten ist und in der er
sich lebendig, begegnend, identisch, ganz er selbst, bezeugt hat. Die Einheit des
Osterglaubens, die Einheit des Glaubens daran, daß Jesus und nicht nur etwas
von ihm in die neue, endgültige, göttliche Ordnung des Lebens eingetreten ist,
muß als das gemeinsame und unerschütterliche Fundament allen christlichen
Glaubens von seiner ursprünglichen Bezeugung her anerkannt werden. Man
könnte formulieren, daß die Einheit des Neuen Testaments elementar die Einheit
des Glaubens an die Auferweckung Jesu ist.
Diese Einheit bekundet sich indessen nicht nur durch die Fülle jener Formeln, die
ausdrücklich
oder
mittelbar
das
Urzeugnis
und
die
Urüberzeugung
neutestamentlichen Glaubens wiedergeben. Nicht weniger eindrucksvoll ist es,
den Osterglauben als die durchgängige Perspektive zu sehen, unter der das
Gesamt neutestamentlichen Zeugnisses und seiner theologischen Ausformung
steht.
Die Erzählperspektive der Evangelien – wir sprachen im Zusammenhang auf die
Passion bereits davon – ist bestimmt durch Kreuz und Auferstehung. Rückt in der
Gliederung der Evangelien das Zulaufen auf die Passion in den Vordergrund, so in
der kompositorischen Form der einzelnen Geschichte eher das „Österliche“.
Sicherlich wird erzählt, was Jesus damals sagte und damals tat, aber es wird uns
erzählt von einem, der jetzt lebt, der jetzt seine Botschaft der Gemeinde und den
einzelnen Glaubenden weitersagt und der jetzt erbarmend, richtend, rettend in
unser Leben eintritt, wie er damals ins Leben des berufenen Jüngers, des
angenommenen Sünders, des zur Umkehr und Besinnung gerufenen Kritikers
oder
Selbstgerechten
eintrat.
Wie
sehr
Apostelgeschichte
und
Geheime
Offenbarung aus dem Blickwinkel von Ostern, aus der Gemeinschaft mit dem
erhöhten Herrn sprechen, liegt auf der Hand. Ebenso richten sich die Briefe des
Neuen Testamentes an Gemeinden, deren Achse und Mitte der in ihnen lebendige
Herr ist. Es gilt, mit ihm zu leben, auf ihn zu schauen, sich für sein Kommen zu
bereiten, das Zeugnis seiner Macht und Nähe zu geben. Dies ist das Interesse
der Briefe insgesamt.
An die Auferstehung wird unmittelbar erinnert in schon gepräg- [94] ten
Formeln, die als elementare Glaubensbekenntnisse erster Gemeinden den Briefen
bereits vorausgehen (um hierfür einige Beispiele zu nennen: 1 Kor 12, 3; 15, 3f.;
Röm 1, 3f.; Phil 2, 6-11; 1 Tim 3, 16; 1 Petr 2, 22-24).
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Der angedeutete Befund, der Osterglaube als die gemeinsame Basis und das
gemeinsame
Grundinteresse
des
neutestamentlichen
Zeugnisses
in
seiner
ganzen Breite, macht unsere Frage um so dringlicher: wie geht dieser österliche
Glaube, wie geht das Leben mit dem lebendigen Herrn?
6.3 Die Fülle des Osterzeugnisses
So einhellig die Auskunft des Osterzeugnisses ist: daß Jesus auferweckt ist, daß
er lebt, daß er der Herr ist, so vielfältig sind die Aspekte, die in dieser Einheit
umschlossen sind. Wir greifen jene heraus, die uns die neue „Zeitlichkeit“
österlichen Lebens und seine neue „Räumlichkeit“ erschließen. Sie messen dem
Gang unseres Glaubens seinen Raum und seine Zeit zu.
Die „Zeitlichkeit“ von Ostern
Wenden wir uns zunächst drei paulinischen Ostertexten zu, die unter einem je
verschiedenen Blickpunkt das spezifisch österliche Ineinander von Gegenwart,
Zukunft und Vergangenheit zur Sprache bringen. Im ersten Text (1 Kor 15) wird
der österliche Glaube als der Horizont christlichen Lebens überhaupt aufgerissen.
Im zweiten Text (Röm 6, 1-14) wird die Zeitlichkeit von Ostern als das in der
Taufe sakramental dem einzelnen eingestiftete Maß seiner Zeitlichkeit sichtbar.
Im dritten Text, der uns bereits vertraut ist (Phil 3, 10-14), wird diese
Zeitlichkeit unmittelbar im glaubenden Lebensvollzug anschaulich.
[95] 1 Korinther 15
Die Perspektive, unter der Paulus sein großes Osterkapitel 1 Kor 15 schreibt,
geht auf die Zukunft. Er wendet sich gegen Unklarheiten in der Gemeinde von
Korinth,
ob die Toten wirklich auferstehen werden. Auf knappe
Striche
konzentriert, geht seine Argumentation wie folgt: Die Mitte bildet die paradoxe
Formulierung, daß Christus nicht von den Toten auferweckt worden ist, wenn
nicht
Tote
auferweckt
werden,
wenn
also
nicht
wir
auferstehen
(Vers 15a und 16). Daß Christus von den Toten nicht auferweckt wurde, dies
aber kann nicht sein – denn für die Auferweckung Jesu kann Paulus sich
persönlich, zusammen mit einer Reihe von Zeugen, verbürgen. Ihm und ihnen ist
der Auferstandene erschienen (Vers 5-8). Durch dieses Gesehenhaben, durch die
Selbstbezeugung des Auferweckten vor Paulus und den anderen Urzeugen, erhält
das bereits fest geprägte überlieferte Osterbekenntnis, das die Glaubensformel
auch für die Gemeinde ist (Vers 3-5), seine Tragfähigkeit. Nur auf diesem
Fundament erklärt sich die Wirksamkeit des Apostels und hat sein Einsatz, hat
aber auch das Leben der Gemeinde aus dem Glauben seinen Sinn (vgl. die
Verse 9-11; 17-19; 30-32; 58).
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So ergibt sich folgende zeitliche Struktur: Ostern ist der Horizont unserer
Zukunft. Wir werden von den Toten erweckt werden, wir sind berufen zum
grenzenlosen, verherrlichten Leben mit Christus in der Herrschaft Gottes, dort wo
Gott „alles in allem“ sein wird (Vers 28). Grund dieser Zukunft ist etwas, das
bereits
geschehen
ist,
ein
Perfectum,
das
durch
die
bevollmächtigte
Zeugenschaft und den Glauben, der sich auf sie gründet, als Fundament für das
Leben der Gemeinde und
des
einzelnen Christen weiterwirkt:
eben die
Auferweckung Jesu Christi von den Toten.
Unsere
Geschichte
ist
umspannt
vom
Bogen,
der
anhebt
bei
diesem
unwiderruflich geschehenen Anfang und der sich schließt in der Vollendung der
Herrschaft Gottes am Ende. Sie ereignet sich schon jetzt als Herrschaft Christi.
Der Vater hat auferweckend den Sohn zum Herrn eingesetzt, und im Lauf
unserer Zeit wird ein Feind nach dem andern ihm zu Füßen gelegt, bis dann am
Ende der Tod ent- [96] machtet wird. Die fortwirkende Verherrlichung Christi
durch den Vater, die Einholung der Weltgeschichte in Tod und Auferstehung
Christi schlägt schließlich um in die endgültige Verherrlichung des Vaters durch
den Sohn, der sich und alles ihm in die Hände gibt (Verse 23-28).
Im Bogen dieser die gesamte Geschichte nach Christi Auferstehung umfassenden
Gegenwärtigkeit liegt der Zeitraum unseres Jetzt. In diesem Jetzt leben wir auf
Hoffnung hin, aber diese Hoffnung ist bereits mächtige, den Leib des Herrn
aufbauende, den Glauben vorantragende Hoffnung, wie das Wirken des Apostels
und der anderen Zeugen es erweist (vgl. Verse 8-11). Es ist das Jetzt der
angstfreien Gemeinschaft mit dem Kreuz Christi in der beständigen Bedrängnis
und ihrer beständigen Überwindung, im Verzicht auf ein bloß jetziges Haben- und
Genießenwollen (Verse 30-32). Es ist das Jetzt der besonnenen, nüchternen
Bereitschaft, die Zeit mit ihrer Vorläufigkeit, mit ihren Problemen, mit ihrer
Bedrängnis liebend und zuversichtlich zu bestehen (Verse 33f. und 56-58).
Dieses „Zeitschema“ fügt sich in das andere und füllt es aus, das uns in der
Botschaft Jesu von der nahegekommenen Gottesherrschaft begegnet. Sie ist in
Jesu Tod und Auferstehung angebrochen, ihre Vollendung steht noch aus. Die
Sicherheit, daß sie durch den Auferstandenen schon da ist, und die gleichzeitig
bleibende Spannung auf ihre Vollendung verwandeln unsere Gegenwart in
Zuversicht, Gelassenheit und jene Bereitschaft zum Kreuz, die schon in Ostern
verankert ist.
Römer 6, 1-14
Die österliche Zeit wird zu unserer Lebenszeit durch die Taufe. Dies dürfen wir an
der Tauftheologie des Paulus im Römerbrief (6, 1-14) ablesen. Jesus Christus ist
ein für allemal gestorben und auferstanden. Im Tod Jesu ist die Sünde
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ausgelitten, durch Jesu Ja zum Vater ist das Nein des Menschen zu Gott
ausgeheilt. Menschliches Leben ist sozusagen gegen die Macht der Sünde in Jesu
Tod
[97]
„immunisiert“.
Und
menschliches
Leben
ist
zugleich
in
der
Auferweckung Jesu in eine neue Ebene von Leben, in das Leben ein für allemal
mit Gott hineingehoben (vgl. die Verse 9-10). Diese neue Gegenwart steht nun
für uns bereit, sofern wir uns in sie hineingeben. Dies geschieht fundamental in
der Taufe. In ihr werden wir in den Tod Jesu hineingetaucht, um mit ihm ins
neue Leben hervorzugehen (vgl. Verse 3-8 und 11).
Freilich bleibt eine zweifache Spannung. Wir sind jetzt bereits, als Getaufte, im
neuen Leben, wir sind schon mit Christus auferstanden in sein neues Leben
hinein (Verse 4 und 13); doch die Vollgestalt auferstandenen Lebens steht noch
aus, wir sind noch zu ihr unterwegs: Auferstehung ist unsere Zukunft
(vgl. Verse 5 und 7). Die zweite Spannung: Wir haben den Weg ins neue Leben
bereits angetreten, wir sind bereits von Gott her in es hineingenommen durch die
Gemeinschaft mit Tod und Auferstehung Jesu in der Taufe (Verse 2-4; 6-8; 11).
Und doch ist dieser unwiderruflich gesetzte Anfang uns je neu aufgegeben, wir
müssen ihn je neu von uns her vollziehen, um seine Wirksamkeit zu entfalten
(Verse 12-14). Entsprechendes zeigt uns die Botschaft vom einbrechenden
Gottesreich: Die Herrschaft Gottes kommt uns zuvor und wir können sie nicht
aufhalten – aber sie fordert uns heraus, daß wir ihr Kommen tun, und in dieses
Kommen hinein umkehren, auf sie und darin auf Gott uns glaubend verlassen.
Das Perfectum der Auferstehung Christi wird in uns zur Gegenwart durch die
Taufe. Sie ist das Perfectum unserer Übereignung an Christus, diese Übereignung
muß aber in je neuer Gegenwart geschehen und hat die Vollendung, die
endgültige
Aufnahme
unserer
Lebensgestalt
in
die
Lebensgestalt
des
Auferstandenen noch als Zukunft vor sich.
Philipper 3, 10-14
Dieselbe Zeitfigur beschreibt der Vollzug unserer Nachfolge, wie ihn Paulus im
Philipperbrief (3, 10-14) zeichnet. Jesu Tod und seine Auferstehung sind der
Grund, auf den sich mein Leben im [98] Glauben stellt. Dieser eine, schon
gegebene Grund prägt meine Gegenwart, indem ich sie als Gemeinschaft mit den
Leiden Christi lebe und in die Gestalt des Gekreuzigten, mich je neu verlassend
und ihm mich übergebend, hineinwachse. Seine Auferstehung ist das Ziel, ihre
Offenbarung an mir steht noch aus. Aber gerade so entfaltet sie ihre Dynamik,
ihre Kraft. Ich weiß mich nämlich als ein Ergriffener: zwar habe ich das, wovon
ich ergriffen bin, noch nicht ergriffen, ich werde aber je neu aus mir
herausgeholt, lebe ich im „je weiter“ von Augenblick zu Augenblick, das lassend,
was hinter mir liegt, mich ausstreckend nach dem, was vor mir liegt. Das eine
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Perfectum von Kreuz und Auferstehung bestimmt nicht nur meine Zukunft, mein
auferstandenes Leben mit Christus, sondern auch meine Gegenwart, die zugleich
Bereitschaft zum Kreuz, ja Tragen des Kreuzes und dynamische Freiheit über alle
Vorläufigkeiten hinaus bedeutet.
Um auch hier nochmals an der Zeitlichkeit der Gottesherrschaft anzuknüpfen:
Der ist schon da, der unsere Zukunft ist, und so haben wir in der Gegenwart und
ihrer Endlichkeit neue Zukunft. Das nimmt aber nicht die Endlichkeit unserer
Gegenwart hinweg, sondern verwandelt sie von innen her.
In unseren drei Paulustexten, und über sie hinaus, im Gesamt des Neuen
Testamentes, begegnet uns also eine neue, die „österliche“ Zeitlichkeit.
Das grundlegende Ereignis der Auferweckung hat Jesus ein für allemal als den
„treuen Zeugen“ bestätigt (Offb 1, 5). Er ist als der Herr und als der Sohn Gottes
in Macht beglaubigt und inthronisiert (vgl. Phil 2, 11; Röm 1, 4). Dieses Ereignis
geht weiter in Überlieferung und Zeugnis, die den Glauben und das Leben der
Gemeinden
zurückbinden
(vgl. 1 Kor 15, 3;
Lk 24, 48;
an
den
unwiderruflich
Apg 1, 8; 2, 32; 1, 22).
gesetzten
Die
Anfang
„perfektische“
Bedeutung von Auferstehung ist zugleich die des neuen Anfangs: im Glauben
gründen wir uns auf diesen Anfang, in der Taufe wachsen wir in ihn hinein, die
ganze Menschheit wird neue Menschheit von Jesus, der in der Auferstehung als
der neue Adam sich bewährt (vgl. 1 Kor 15, 22. 45). Darin aber ist Auferstehung
Quelle der Zukunft und Horizont unserer Zukunft. Auferstehung ist nicht nur für
Jesus [99] und an ihm geschehen, sondern wie er unseren Tod getragen hat, so
ist sein Leben jetzt unser zukünftiges Leben. Unser Leben ist mit ihm nun bereits
verborgen in Gott (vgl. Kol 3, 3f.). Unsere Gegenwart wird zulaufen auf die
Auferstehung, deren wir teilhaft zu werden hoffen. Im Zulaufen auf die
Auferstehung aber ist es zugleich Herkommen von ihr, beständige Verwandlung
unserer Gegenwart, die wir als Teilhabe am Kreuz Christi verstehen, in
Gelassenheit und Zuversicht, in Kraft des Zeugnisses, aus der Gemeinschaft mit
dem Auferstandenen her. Auferstehung bewährt sich so als die Eröffnung der
neuen Zeit, der Zeit der anbrechenden Gottesherrschaft.
Die „Räumlichkeit“ von Ostern
Haben wir nicht eine wichtige Zeitbestimmung der Auferstehung ausgelassen?
Die österliche Gegenwart des Herrn in uns ist nicht nur weiterwirkende
Vergangenheit und vorwegwirkende Zukunft. Das Neue Testament spricht
deutlich von der lebendigen Gegenwart des lebendigen Herrn unmittelbar jetzt,
und dies in einer doppelten Weise: Einmal ist er jetzt beim Vater, und wir haben
durch ihn den Zugang und die Verbindung zum Vater, wir steigen sozusagen
„nach oben“ über unsere begrenzte Gegenwart hinaus in die Gegenwart Gottes –
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und zum andern ist Jesus, der lebendige Herr, bei uns, er ist gegenwärtig mitten
unter denen, die an ihn glauben.
Ja, diese Ergänzung ist fällig, sie ist sogar die Spitze österlicher Botschaft und
österlichen Glaubens.
Wir wollen uns nun dieser Spitze der lebendigen Gegenwart dessen, der lebt,
nähern. Wir wollen es, indem wir die eigentümliche „Räumlichkeit“ der
Gegenwart des Auferstandenen entfalten. Stellen wir der Besinnung darauf einen
zusammenfassenden Text voran. Jesus sagt: „Nur noch kurze Zeit vergeht, und
die Welt sieht mich nicht mehr; aber ihr seht mich, weil ich lebe und weil auch
ihr leben werdet. An jenem Tag werdet ihr erkennen: Ich bin in meinem Vater,
ihr seid in mir, und ich bin in euch“ (Joh 14, 19f.).
Es ist ein österlicher Text. „Jener Tag“ ist der Ostertag. Wir kön- [100] nen –
kraft des Geistes, den der Auferstandene uns mitteilt und von dem in den Versen
zuvor die Rede war – ihn sehen, weil wir mit ihm verbunden sind im selben,
neuen, österlichen Leben. Dieses Sehen ist nicht ohne die Dunkelheit des
Glaubens, es ist für uns vermittelt durch jenes „Selig“, das der Auferstandene
denen zuerkennt, die nicht sehen und doch glauben (vgl. Joh 20, 29).
Doch im Zeugnis des Geistes eröffnet es sich: Er ist in uns, will sagen in unserem
Innern, aber genauso, ja zumal zwischen uns, in unserer Mitte. Doch er geht
nicht darin auf, erschöpft sich nicht darin, sein Leben in uns und zwischen uns zu
haben. Nein, der in uns und zwischen uns lebt, lebt bei seinem Vater. Nur weil
Jesus zum Vater hin auferstanden ist, ist es mehr als individuale oder auch
kollektive Subjektivität, daß er in uns, in seiner Kirche lebt. Und weil der, der in
unserer Mitte lebt, eben auch und zuerst beim Vater lebt, ist unsere Gegenwart
zuinnerst verwandelt: Er trägt auch uns in sich, er nimmt auch uns in jenes neue
Leben hinein, das sich nicht in dem erschöpft, was wir tun und erfahren. Jesu
Gegenwart bei uns ist zugleich Anfang und Unterpfand der Zukunft, ohne die
unsere Gegenwart keine erfüllte, keine wahrhaft erlöste wäre.
Der Kolosserbrief sagt es so: Christus unter euch, die Hoffnung auf Herrlichkeit
(vgl. Kol 1, 27). Dieser Brief zeigt uns zugleich die Verschränkung der doppelten
Räumlichkeit des Auferstandenen, seines Lebens beim Vater und unter uns. Weil
er unter uns lebt, weil er gegenwärtig ist hier, ist unser eigenes Leben geöffnet
über das Hier und Jetzt hinaus, in die Zukunft, in die Herrlichkeit, die uns
bevorsteht durch die Gemeinschaft mit dem Auferstandenen. Und umgekehrt,
indem er beim Vater ist, auf den sich die ganze Hoffnung unseres Lebens und die
ganze Wirklichkeit unseres Lebens konzentriert, ist unser Leben schon jetzt mit
ihm beim Vater, unsere Gegenwart ist verborgen im Raum unserer Zukunft – und
wenn der Herr in Herrlichkeit erscheinen wird, wenn diese unsere Zukunft in das
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Hier und Jetzt, in die Gegenwart durchbrechen wird, dann wird unsere
verborgene Gegenwart offenbar werden: „Ihr seid mit Christus auferweckt;
darum strebt nach dem, was im Himmel ist, wo Christus zur Rechten Gottes
sitzt. Richtet euren Sinn auf das [101] Himmlische und nicht auf das Irdische.
Denn ihr seid gestorben, und euer neues Leben ist mit Christus verborgen in
Gott. Wenn Christus, unser Leben, offenbar wird, dann werdet auch ihr mit ihm
offenbar werden in Herrlichkeit“ (Kol 3, 1-4).
Sind solche Zeugnisse aus dem Johannesevangelium und dem Kolosserbrief nicht
weitgetriebene Ausformungen des Osterglaubens, der elementar viel einfacher
und
„nüchterner“
geht?
Wir
haben
an
die
Grundformeln
österlichen
Bekenntnisses erinnert, die uns in den Apostelbriefen als ein ihnen vorgängiges,
bereits in den Gemeinden bekanntes Überlieferungsgut bezeugt sind und in
denen wir sozusagen das „Urgestein“ des verfaßten Glaubens überhaupt
berühren. Wenn wir diese Formeln auf ihren Inhalt und vor allem auf ihren Sitz
im Leben der Gemeinden hin prüfen, dann finden wir bestätigt: In ihnen spricht
sich dasselbe aus, was bei Johannes und im Kolosserbrief zur Sprache kommt.
Wir können diese Formeln auf zwei verschiedene Typen hin als „Grenzwerte“
einteilen. Im einen Typ sind die elementaren Heilstatsachen von Kreuz und
Auferweckung genannt, im anderen Typ ist eine Anrede, ein Titel Jesu, mit
Vorzug der Titel des Herrn, Inhalt oder doch Achse. Eine elementare Form des
ersten Typs ist uns bereits im Osterkapitel des 1. Korintherbriefs begegnet:
„Christus starb für unsere Sünden, wie es die Schriften gesagt haben, und wurde
begraben. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, wie es die Schriften gesagt
haben, und erschien dem Kephas, dann den Zwölf“ (1 Kor 15, 3-5). Die knappste
Form des anderen Typs: „Jesus ist der Herr!“ (1 Kor 12, 3). Beide Typen
berühren und durchdringen sich, erweitern sich z. T. zum Lied und Hymnus, wie
etwa im Philipperbrief (2, 6-11); hier ist die zweite Form von einer ausgefalteten
ersten umspannt. Beide Typen sind einander dicht zugeordnet; wo Jesus als der
Herr ausgesagt wird, da geht es um eine Verkündigung des Ostergeheimnisses.
Und wo die Heilstatsachen von Kreuz und Auferweckung ausgesagt werden, da
geht es um eine Begründung dessen, daß er der lebendige Herr ist.
Diese Formeln stammen aus der Versammlung der Gemeinde. Anderswo könnten
sie ja nicht zustande kommen als eben dort, wo [102] die Gemeinde beisammen
ist, um ihren Glauben zu feiern und auszusprechen. Der erste, der „aussagende“
Typ kann als Taufbekenntnis verwandt worden sein. Der zweite Typ, der
„anrufende“, ist als Zuruf der Gemeinde zu verstehen, in dem Jesus der Erhöhte
gefeiert,
gepriesen,
proklamiert
wird.
Und
er
wird
gefeiert,
gepriesen,
proklamiert, weil er da ist, weil er als der Gemeinde sich schenkend, als ihr nahe
erfahren wird. Solche Nähe, solche Gegenwart in der Gemeinde hat zumal in der
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Eucharistiefeier ihren lebendigen Ort, reicht aber über die sakramentale
Gegenwart hinaus. Die eucharistische Gegenwart ist dichteste Form der
Gegenwart bei seiner Gemeinde, aber seine Gegenwart erschöpft sich nicht in
der Eucharistie.
Die Formeln, die das Heilsgeschehen von Tod und Auferweckung nennen,
beschreiben die Linie des Aufstiegs. Die Formeln, die Jesus als den Herrn preisen,
artikulieren seinen Eintritt aus der Höhe, seinen Durchbruch aus dem Sein beim
Vater, sie beschreiben in diesem Sinne die absteigende Linie. Herr als Titel
Christi bezeichnet seine Erhöhung zu Gott und, aus dieser Erhöhung heraus,
seine
Nähe
zu
uns,
seine
wirkmächtige
Gegenwart.
Diese
wirkmächtige
Gegenwart aber ist nirgendwo vorgestellt als eine „Wirkungsgeschichte“ im
modernen Sinn, als ein Weiterwirken der Faktoren, die in der Predigt, im
Handeln,
Leben
und
Sterben
Jesu
zum
Vorschein
kamen
und
die
nun
weitergehen und sich zu einer neuen Weise seiner Gegenwart verdichten. Nicht
nur vom Weltbild bedingt, sondern von der inneren Richtung seines Lebens und
Sterbens her ist Jesu Weg der Weg zum Vater, der Weg der Hingabe, der durch
die Schranke des Todes durchbricht, bei ihm ankommt, in ihm sich für ganz und
immer festmacht, dort geborgen, dort erhoben ist. Und aus dieser Geborgenheit
und Erhobenheit beim Vater gewährt sich der Herr seiner Gemeinde, kommt er
ihr nah, tritt er in ihren Kreis.
Jesus
ist
auferstanden
zum
Vater
und
auferstanden
zu
uns.
Aber
die
Auferstehung zu uns läuft über den Vater, ist nicht nur bei der endgültigen
Wiederkunft, sondern auch im Jetzt der Gemeinde, der in seinem Namen
Versammelten, Geschenk aus der Höhe.
[103] Um die Herrschaft Gottes herbeizuführen, muß sich Jesus in den Tod
geben, rückt also scheinbar die Herrschaft Gottes ferne. Der „Umweg“ über den
Tod in die Herrlichkeit, dieser Umweg Jesu ist der Weg der Gottesherrschaft. Er
enthüllt sich an Ostern als doppeltes Ankommen: Ankommen beim Vater und
Ankommen bei uns. Dieses Ankommen aber läuft wiederum in derselben Kurve.
Der Weg des Opfers und Gehorsams ist Weg der Verherrlichung. Der Abschied
von uns hin zum Vater aber ist als solcher neuer Weg zu uns. Mit Johannes
gesehen: Es gibt kein Festhalten des Auferstandenen, wir müssen ihn aufsteigen
lassen zum Vater (vgl. Joh 20, 17). Indem wir aber den Herrn zum Vater gehen
„lassen“,
ereignet
sich
von
ihm
her
neues
Eintreffen,
neue
Ankunft
(vgl. Joh 14, 4-9 und 18-20; 14, 28; 16, 4b-28). Mit einem anderen Akzent:
Jesus geht hin, um uns eine Wohnung beim Vater zu bereiten (vgl. Joh 14, 2f.),
und er kommt zugleich, um in uns Wohnung zu nehmen (Joh 14, 23 und 15, 18).
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Das Motiv der Himmelfahrt, des Aufstiegs zum Vater und der Auferstehung sind
mannigfach miteinander verknüpft, werden zum Teil ineinander gesehen, zum
Teil
voneinander
abgehoben.
Doch
gehört
das
Motiv
als
solches
selbstverständlich und wesentlich zur elementaren Osterbotschaft hinzu. Eines
der
Grundmotive
hierbei:
Jesus
zur
Rechten
des
Vaters
(vgl. Apg 2, 33; 5, 31; 7, 55f.; Röm 8, 34; Eph 1, 20; Kol 3, 1; Hebr 1, 3; 8, 1;
10, 12; 12, 2; 1 Petr 3, 21f.). Andere Ausdrücke für denselben Sachverhalt sind
etwa
die
Aufnahme
Jesu
in
den
Himmel
(1 Tim 3, 16; Apg 1, 2.11.22;
Mk 16, 19), des Aufsteigens (vgl. Joh 20, 17; Röm 10, 6; Eph 4, 8ff.), der
Erhöhung (Phil 2, 9; Joh 3, 14; 8, 28; 12, 32 – bei Johannes sind in Erhöhung
freilich Kreuz und Verherrlichung zusammengeschaut).
Das Gehen zum Vater und Sein beim Vater ist verbunden mit der räumlichen
Vorstellung der „Höhe“, des „Himmels“. Dies ist weltbildlich bedingt, sagt aber in
solcher Weltbildlichkeit zugleich etwas für den Glauben Bedeutsames. Höhe,
Himmel bedeutet das, was überlegen ist, was zusammenfaßt, was dem Zugriff
entzieht, was aber von sich her die Möglichkeit der Nähe, des Eingriffs, der [104]
Übersicht, des Kommens offenhält, was die Tiefe umschließt und birgt. In der
Vorstellung vom Himmel fällt also nicht die Sprache der Botschaft hinter jenes
Maß zurück, das sie in der Botschaft vom anbrechenden Gottesreich, vom
Einbruch des Himmels in diese Erde, vom Aufsteigen Gottes ins Zentrum unseres
Lebens erreicht.
Eine solche Deutung des Aufstiegs Christi in die Verborgenheit Gottes wird durch
zweierlei ausgeschlossen.
Einmal dadurch daß Jesus beim Vater lebt, um für uns einzutreten – dies ist die
Sprengkraft der Theologie des Hebräerbriefs vom Christus dem Hohenpriester –
(vgl. bes. 4, 16; 5, 7-10; 7, 25): Hier ist einer wie wir, hier ist einer, der unser
Herz und Leben in sich trägt, beim Vater (vgl. auch Röm 8, 34). Die Barriere
zwischen oben und unten ist eingerissen, es gibt den freien Zugang zum
entzogenen Gott durch Jesus Christus (vgl. Röm 5, 2; Eph 2, 18; 3, 12).
Zum andern steht Jesu Aufstieg zum Vater deswegen nicht im Widerspruch zur
Botschaft vom Kommen Gottes, vom Kommen seiner Herrschaft in unsere Welt
und in unser Leben, weil der Herr, der in den Himmel geht, ja in sein Kommen
hineingeht. Seit er sich zur Rechten des Vaters setzt, ist er im Kommen. Dieses
Kommen ist gewiß das Endgültige, die Welt Vollendende, die Zukunft, die noch
aussteht. Es ist aber zugleich jenes beständige Kommen, das schon jetzt als
Unterpfand dieser Zukunft, als lebendige Hoffnung uns durchdringt. Wir sind
nicht alleingelassen, sondern der Herr bleibt.
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Version: Juni 2010
Das Matthäusevangelium mündet in die Verheißung Jesu, daß er bei uns bleiben
will alle Tage bis ans Ende (vgl. Mt 28, 20), und es hat in seiner Mitte die
Verheißung, daß der Herr dort bleibt, dort je neu da ist, wo wir in seinem Namen
uns versammeln. Und Paulus schreibt der Gemeinde von Korinth: „Fragt euch
selbst, ob ihr im Glauben seid, prüft euch selbst! Erfahrt ihr nicht an euch selbst,
daß Jesus Christus in euch ist?“ (2 Kor 13, 5). In dieselbe Richtung weist es,
wenn im 1. Korintherbrief der Sinn aller Geistesgaben darin gipfelt, daß jener
Fremde oder Ungläubige, der in die Gemeinde eintritt, erfahren können soll, daß
Gott in ihrer Mitte ist (vgl. 1 Kor 14, 25). Und wenn die Ostergeschichten, die in
den Evangelien von der Begegnung mit Jesus sprechen, mit Ausnahme der Er[105] zählung des Gesprächs Jesu mit Maria Magdalena, ausnahmslos von der
Begegnung Jesu mit mehreren, mit einem Kreis von Jüngern handeln, dann
klingt hier die Erfahrung der versammelten Gemeinde und der Gegenwart des
Herrn in ihrer Mitte an. Wir können umfassend sagen: Die Schriften des Neuen
Testamentes verfolgen als eines ihrer Hauptinteressen die Bereitung und
Bestärkung der Gemeinden, damit sie mit dem lebendigen Herrn in ihrer Mitte
leben können. Wenn sie mit ihm leben, dann geben sie der Welt das Zeugnis, das
ihrer Mission entspricht. Wenn sie mit ihm leben, dann lebt unter ihnen jene
Hoffnung,
die
sie
nicht
untergehen
läßt
in
den
Bedrängnissen
und
Enttäuschungen einer Geschichte, die nach ihrem äußeren Augenschein dem
widerspricht, was der Glaube sagt: Der Herr ist im Kommen, er ist dabei, seine
Herrschaft aufzurichten und zu vollenden.
Die „Räumlichkeit“ von Ostern ist so bestimmt durch die Achse: Der Herr beim
Vater – der Herr in unserer Mitte. Um diese Achse schwingt christlicher Glaube
und christliche Hoffnung. So hat christliches Leben seinen Halt und seine
Dynamik.
6.4 Gelebter Osterglaube
Die Auferstehung leben, das Ostergeheimnis leben, das heißt zum einen in der
neuen Ordnung der Auferstehung leben, das heißt zum anderen mit dem
Auferstandenen leben.
In der neuen Ordnung der Auferstehung leben ist nichts anderes als die
Einholung jenes neuen Anfangs von Gott her, den die Herrschaft Gottes uns
abfordert: Lebe nicht mehr von dir her, sondern von Gott her. Etwas freilich ist
neu daran durch Ostern. Wir haben nicht nur eine Anweisung, wie das geht, und
haben auch nicht nur ein Vorbild, das wir nachahmen können, Jesus. Wir haben
einen, der diesen neuen Anfang in uns und mit uns trägt, weil er uns selber nahe
ist, weil er in uns wirkt, weil wir auf ihn in uns und zwischen uns schauen dürfen.
Das scheinbar so fremde Bild vom neuen Men- [106] schen, den wir anziehen
Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch
Version: Juni 2010
sollen,
erscheint
auf
einmal
naheliegend
und
hilfreich
(vgl. Eph 4, 22-
24; Kol 3, 9-11 und 3, 1-17 insgesamt). Es gilt, einfach die Verhaltensmuster
liegenzulassen,
in
die
wir
von
unseren
Ängsten
und
Interessen
her
hineinzuschlüpfen geneigt sind, und „umzusteigen“ in die Mentalität dessen, der
sich bis zum äußersten hingegeben hat und der nun als unser Bruder neben uns,
mit uns, in uns lebt. Ihn anziehen als Lebensform: So geschieht jene neue
Schöpfung, jenes Neuwerden, von dem das Neue Testament immer wieder
spricht (vgl. 1 Kor 5, 7f.; Röm 6, 4; 2 Kor 5, 17; Gal 6, 15; Eph 2, 15).
Leben in der neuen Ordnung der Auferstehung, das führt von selbst zum
anderen, zum Leben mit dem Auferstandenen. Wir werden in einem weiteren
Gang unseres Nachdenkens die vielerlei Dimensionen dieses Lebens mit dem
Auferstandenen anvisieren. Hier, im unmittelbaren Zusammenhang mit dem
Ostergeheimnis selbst, wollen wir uns auf einen Aspekt konzentrieren. An ihm
hängt für die Lebendigkeit und Lebbarkeit des Osterglaubens heute wohl das
Entscheidende. Dieser Aspekt heißt: Leben mit dem lebendigen Herrn in unserer
Mitte.
„Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter
ihnen“ (Mt 18, 20) – das ist von der Komposition des Evangeliums her kein
österliches Wort. Und doch bereitet es jenes Leben der brüderlichen Gemeinde
aus der Gemeinschaft mit dem auferstandenen Herrn vor, der es Matthäus im
Gesamt seines Evangeliums geht.
Es gibt zu denken, daß das erwähnte Jesuswort bei Matthäus bei den
Kirchenvätern, vor allem zur Zeit der Verfolgung und auch im Entstehen
geistlicher Gemeinschaften immer wieder herangezogen wurde, daß es aber in
den offiziellen Dokumenten der Kirche zwischen dem 5. und 20. Jahrhundert
kaum mehr eine Rolle spielte. Einige Heilige und Ordensgründer haben es
nochmals bemüht, ansonsten ist es im Gesamtgut der Überlieferung bewahrt und
geschätzt, aber nicht eigens ans Licht gehoben worden. Das Zweite Vatikanische
Konzil und auch die persönliche Verkündigung von Papst Paul VI. haben hier eine
deutliche Wende gebracht, die z. T. [107] begleitet, z. T. vorbereitet wurde durch
geistliche Gemeinschaften, die dieses Wort neu in seiner vitalen Bedeutung
entdeckten.
Darin zeichnet sich eine kirchengeschichtlich bedenkenswerte Entwicklung ab.
Die Bedeutung der objektiven, institutionellen Wege und Gestalten des Wirkens
und der Gegenwart des Herrn bei seiner Kirche auf der einen Seite und die Pflege
der individuellen Haltung und Gesinnung auf der anderen haben in der
Geschichte das Besondere des genannten Jesuswortes bei Matthäus etwas in den
Schatten gerückt. Heute stehen wir in einer Situation, in welcher nicht nur dieser
oder
jener
Ausdruck
des
Institutionellen,
sondern
Institution
überhaupt,
Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch
Version: Juni 2010
Objektivität überhaupt in Frage gezogen wird. Zugleich wächst der Druck auf den
einzelnen, die Anforderung an ihn in einem solchen Maß, daß er sich durch den
Anspruch gelebten Christentums weithin überfordert fühlt. Er braucht Nähe, die
sich nicht im Idyll erschöpft, überschaubare Gemeinschaft, die sich nicht in sich
selbst verschließt. Er „braucht“ das lebendige Umgehen mit seinem Nächsten als
Umgehen mit dem lebendigen Herrn – er braucht den Herrn in der Mitte der in
seinem Namen Versammelten. Von hier aus wird er denselben Herrn auch in der
Objektivität und Universalität der Kirche und des Institutionellen, das zu ihr
gehört, entdecken.
Eine
Spiritualität,
die
beim
Herrn
in
der
Mitte
der
in
seinem
Namen
Versammelten anknüpft, die aber gerade aus diesem Impuls heraus eine
„kirchliche“ Spiritualität ist: das ist eine Forderung der gegenwärtigen Stunde.
Zuerst aber und vor allem ist dies eine Forderung des Osterglaubens, der nach
Leben drängt. Die Antwort auf die Frage, wie Leben aus dem Osterglauben geht,
weist von sich aus in dieselbe Richtung.
Skizzieren wir wiederum eine Folge kleiner, praktischer Schritte, die zum Leben
mit dem lebendigen Herrn in unserer Mitte hinführen.
a) Mich darauf einlassen, daß dieser Jesus lebt. Also nicht nur über ihn
reflektieren, nicht bloß von ihm für mein Leben Motive, Ratschläge, Energien
erwarten, sondern mit ihm leben wollen, mich darauf einstellen, daß er nicht ein
Vergangener und nicht eine Idee [108] und nicht ein in einer unzugänglichen
Ferne Eingeschlossener ist, sondern der Gegenwärtige.
b) Sein Wort als gegenwärtiges, an mich gerichtetes Wort ernstnehmen. Ich
nehme nur den ernst, mit dem ich rede, von dem ich mir etwas sagen lasse.
Wenn er lebt, dann sind seine Worte nicht Erinnerungen und nicht Anregungen,
sondern Herausforderungen, die Antwort verlangen. Wenn Jesus der Lebendige
ist, dann bekommt die Heilige Schrift einen anderen Stellenwert in meinem
Leben. Sie ist lebendiges Wort dessen, der lebt, Wort des Lebens als Wort für
mein Leben. Es geht nicht anders: ich muß mit seinem Wort Erfahrungen
machen.
c) Den und das ernstnehmen, was Jesus selber, der Lebende ernstnimmt. Und er
nimmt ernst, wofür er gelebt und gestorben ist – für das lebt er jetzt, in alle
Ewigkeit. Das heißt aber: er lebt für den Vater und er lebt für meinen Nächsten.
Mit ihm, aus seiner Perspektive, in seinem Ernst, in seinem Gehorsam den Willen
des Vaters im gegenwärtigen Augenblick tun wollen, und zugleich bereit sein,
den, der neben mir steht, den, der mir begegnet, genauso ernstzunehmen, wie
er ihn ernst nahm. Also: das Neue Gebot erhält seine neue Dringlichkeit in der
österlichen Situation.
Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch
Version: Juni 2010
d) Scheinbar nur eine Zwischenbemerkung: Wir wollen zugehen auf Jesus in
unserer Mitte, und bis jetzt ist nur von mir die Rede. Ja, deswegen nämlich, weil
ich bei mir anfangen muß, weil ich den Nächsten, der mit mir so leben will, daß
Jesus in der Mitte sein kann, nicht von mir aus herbeizwingen kann, sondern weil
ich nur auf ihn zuleben kann, bis er mir begegnet, bis der Herr ihn mir schickt.
Und aus noch einem Grund muß ich allein anfangen, und dies ist das Ende der
Zwischenbemerkung: Jesus ist durch den Tod, durch den ganz einsamen und
verlassenen Tod hineingegangen ins neue Leben, und das heißt auch: in die
österliche Gemeinschaft. Wie Paulus Gemeinschaft mit dem Auferstandenen darin
erstrebt, daß er sich prägen läßt durch Jesu Tod, so ist es auch mit uns.
Zwischen mir als dem „alten Menschen“ und dem Leben mit dem Auferstandenen
in der Mitte liegt Jesu Tod, und dieser sein Tod ist zu sterben je im
gegenwärtigen Augenblick, in der Auslieferung an das, [109] worin jetzt mir der
Gekreuzigte begegnet. Zugehen kann ich nur auf ihn, Ostern, Auferstehung muß
ich mir schenken lassen, je neu schenken lassen, auch wenn es mir schon
geschenkt ist.
e) Dann aber: Mut haben, aufeinander zuzugehen und es ausdrücklich zu
machen, daß wir mit dem Herrn in unserer Mitte leben wollen. Es wollen, das
heißt: er muß uns wichtiger werden als alles andere, sein Leben in unserer Mitte
muß uns mehr wert sein als eigene Interessen und Meinungen. Das erfordert
genau dieselben Stufen, die wir bislang durchschritten haben, aber nun als
Stufen aufeinander zu. Allerdings bin und bleibe ich der erste, der damit
anfangen muß, nur jener Weg führt zu ihm, bei dem ich bereit bin, jeweils den
ersten Schritt zu tun.
f) Nicht etwas voneinander und miteinander wollen, sondern ihn – und deshalb
den Herrn in der Mitte lieber haben als nur „meinen“ Jesus. Es geht nicht um die
Bestätigung oder bessere Durchsetzung meiner Ideen, sondern um jenes
Verlieren der bloß meinen, indem die seinen besser herauskommen können.
g) Das heißt aber auch: Ihn selber mehr lieben als unseren „Gruppenjesus“. Wir
müssen ihn uns schenken lassen von sich her, von seinem Wort her und auch, so
schmerzlich dies klingt: von seiner Kirche her. Jesus verlassen um Jesu willen,
das ist ein altes Wort in der Spiritualität caritativer Ordensgemeinschaften; wenn
Jesus im geringsten Bruder die Hilfe der Krankenschwester braucht, dann darf sie
sich nicht auf ihre Gebetspflicht zurückziehen. Dieses Wort wird noch härter,
wenn es heißt: „Meinen“, „unseren“ Jesus verlassen um Jesu in der Kirche willen.
Genau das war aber der Weg, wie bei allen großen geistlichen Aufbrüchen, bei
allen Gemeinschaft stiftenden Charismen in der Kirche der Herr zum Zuge kam.
Wo ein solches Leben mit dem Auferstandenen ansetzt, wo sich ein Netz von
vielen lebendigen Zellen bildet, die mitten in der Kirche leben und die sich
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füreinander und fürs Ganze der Kirche öffnen, da wird der lebendige und
allmächtige Herr in unserer Mitte ein anziehender Magnet. Und die Engel können
wieder den Ratlosen und Hilflosen, den Zweifelnden und Traurigen zurufen:
„Warum sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?“ (Lk 24, 5).
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[110] 7. Zwischen Jesu Gehen und Jesu Kommen
7.1 Zwielicht und Licht von Kirchengeschichte
Solange die Geschichte dauert, hört die österliche Zeit nie mehr auf. Solange die
Geschichte dauert, hört aber auch die Vorläufigkeit, das noch Vorösterliche nicht
auf – die ganze, endgültige Vollendung ist noch nicht vollendet. Wir müssen mit
dieser Spannung leben, müssen mit dem Kreuz leben, es neu je von Ostern her
verwandeln lassen und in Ostern verwandeln. Kirche ist nicht einfach Reich
Gottes. Und alles, was nicht Reich Gottes ist, muß noch verbrennen, muß noch
sterben. Wir können die Vorläufigkeit nicht in „prophetischer“ Ungeduld ins Feuer
werfen, wir dürfen uns aber auch nicht in ihr einrichten.
Jesus ist in dieser Zeit der Kirche, Jesus ist in dieser Kirche da, aber seine
Gegenwart ist Gegenwart zwischen einem Gegangensein und einem noch
ausstehenden, letzten, endgültigen Kommen. Zwischen diesem Gegangensein
und diesem Kommen steht Herrschaft Gottes in einer merkwürdigen Verhüllung.
Dennoch ist die Verhüllung Gestalt, in der sich der Herr wirkmächtig darreicht,
sie ist das erst Zeichenhafte an seinem Sakrament, das die Kirche ist.
Wie sollen wir in diesem Sakrament mit ihm kommunizieren, wie sollen wir in der
Kirche leben mit seiner ebenso österlichen wie noch vorläufigen und verborgenen
Gegenwart? Wie geht Glaube in der Zeit der Kirche, die zwischen Ostern,
Himmelfahrt und Pfingsten einerseits und der Wiederkunft Christi andererseits
dauert?
[111] 7.2 Zeit der Kirche: vier Entwürfe im Neuen Testament
Das gesamte Neue Testament artikuliert die Botschaft Jesu und die Botschaft von
Jesus im Licht und im Kontext der Kirche und ihrer Geschichte. Ebenso gilt
freilich die Umkehrung: Das ganze Neue Testament artikuliert Faktum, Leben
und Geschichte der Kirche im Licht und im Kontext Jesu, seiner Botschaft, der
Botschaft von ihm dem Christus. An Einzelheiten ist uns dies bereits aufgefallen.
Es geht den Evangelien nicht nur darum, was Jesus damals gesagt und getan
hat, sondern darum, wie heute Gemeinde aus seinem Wort leben kann und an
seinem Maß sich orientiert. Wenn Jesus dafür gelebt hat und dafür gestorben und
auferstanden ist, daß Menschen aus ihm und mit ihm leben, dann ist es nicht
eine historische Ungenauigkeit, sondern eine innere Konsequenz, wenn sein Wort
und sein Handeln so überliefert und „redigiert“ werden, daß daraus die Maßgabe,
freilich nur seine Maßgabe für die Christen, für die Kirche Profil erhält.
Es gibt über diesen allgemeinen Gesichtspunkt der Überlieferung und Redaktion
hinaus im Neuen Testament große Kompositionen und Entwürfe, die den Sinn
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von Kirche und Kirchengeschichte, die Gegenwart Jesu bei seiner Kirche und in
der Geschichte seiner Kirche zum Thema machen. Wir können hier nicht alle
diese Entwürfe vorstellen und können jene, auf die wir hinweisen, nur in einem
perspektivisch verkürzten Hinblick umreißen. Vorab sei nochmals an unsere
leitende Frage erinnert; sie lautet, für diese Thematik neu formuliert: Wie geht
Leben in der Kirche als Leben mit dem lebendigen Herrn?
Der Entwurf des Lukas
Zwei leitende Gesichtspunkte für Lukas sind in seinem Doppelwerk, dem
Evangelium und der Apostelgeschichte, der Heilige Geist und Jesus als der
Heiland der Welt, der Menschheit.
Die Logik, die das Leben Jesu und die Anfangsgeschichte der Kirche umspannt,
heißt: Es „muß“ zur Verwerfung Jesu durch die Re- [112] präsentanten Israels,
es muß zu seinem in liebendem Erbarmen getragenen Kreuzestod kommen,
damit sich so seine Arme über die ganze Menschheit ausbreiten und sein Heil zu
allen Völkern, bis an die Enden der Erde, gelangt.
Die Kraft, in welcher dieser Weg Jesu als Weg Gottes erfolgt und in welcher er
sich über das Lebenswerk Jesu hinaus in die Kirche fortsetzt, ist der Heilige
Geist. Aus ihm wird Jesus empfangen (Lk 1, 35), er wirkt auf mannigfache Weise
im Umfeld der Kindheitsgeschichte Jesu (vgl. Lk 1, 15.17.41.67; 2, 25ff.). Er ist
es, der nicht nur bei der Taufe am Jordan auf Jesus herabkommt (3, 22),
sondern ihn auch von dort wiederum weiterführt und dann in die Situation der
Versuchung hineingeleitet und schließlich von ihr hinweg zu seinem Wirken nach
Galiläa (4, 1a.b.14). Das erste Wort, im Lukasevangelium das Jesus in seinem
öffentlichen Wirken spricht, ist das Zitat aus Jesaja: „Der Geist des Herrn ruht
auf mir; denn er hat mich gesalbt“ (Lk 4, 18). In der lobpreisenden und
dankenden Hinwendung zum Vater, die Jesus als den Sohn und Offenbarer des
Vaters
ausweist,
stellt
Lukas
Jesus
vor
als
vom
Heiligen
Geist
erfüllt
(vgl. Lk 10, 21).
Derselbe Geist, in dem Jesus getauft wurde zu seinem Werk, wird auch die
Jünger taufen, damit sie für ihr Werk ausgerüstet sind (vgl. Apg 1, 5; Lk 24, 49).
Dieser Geist wird die Jünger zur Zeugenschaft befähigen, damit allen Völkern die
Bekehrung gepredigt und ihre Sünden vergeben werden (vgl. Lk 24, 47). Der
Geist wird die Enge der Frage sprengen, die noch beim Abschied vor der
Himmelfahrt die Jünger an den Herrn richten: „Herr, stellst du in dieser Zeit das
Reich für Israel wieder her?“ (Apg 1, 6). Er gibt scheinbar keine Antwort, sondern
verweist auf den Geist und verheißt ihnen, daß sie seine Zeugen sein werden in
Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde
(vgl. Apg 1, 8).
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Wie sehr vom Pfingstereignis an (Apg 2, 1-13), in dem sich für Lukas die
endzeitliche Vision des Propheten Joel einlöst (vgl. Apg 2, 16ff.), alle Schritte im
Bericht der Apostelgeschichte Schritte im Geist und auf Antrieb des Geistes sind,
braucht hier nicht weiter dargelegt zu werden. Statt daß Gottes Reich
unmittelbar anbricht, [113] kommt der Geist und läßt von innen her die Sendung
und die Geschichte Jesu zur Sendung und Geschichte der Kirche, in ihr aber zum
Heilsweg Gottes für die Völker, für die Menschheit werden. Durch seinen Geist ist
es der erhöhte Herr, der seiner Kirche nahe bleibt und in sie eingreift
(vgl. Apg 7, 55f.; 9, 1-19; 23, 11).
Wie nun geht die Geschichte Jesu, über ihn selbst hinaus, durch seinen Geist im
Zeugnis weiter? In der Apostelgeschichte zeichnet sich eine „Gangart“ ab, die
zwei aufeinander bezogene, je aufeinander folgende Schritte umfaßt: Sendung
und Gemeinschaft. Die Jünger sind versammelt, um den Geist zu erbitten und zu
empfangen (1, 12-14), und aus dem Geistereignis wächst sofort die erste
Missionspredigt des Petrus heraus (2, 14-36). Missionarisches Zeugnis wiederum
hat zur Folge das Wachstum der Gemeinde, deren Gemeinsamkeit selbst aufs
neue zum Zeugnis wird (z. B. 2, 41-47).
Weisen wir noch hin auf einige Züge im Leben der Kirche, wie es die
Apostelgeschichte
exemplarisch
herausstellt.
Predigt
ist
Zeugnis,
das
die
Grundtatsachen des Heils jeweils hineinspricht in die Situation der Hörer (vgl. die
Missionspredigten
des
Petrus
in
2, 14-36; 3, 11-26; 10, 34-43; 13, 16-
41; 17, 22-31). Von hohem Belang ist die Gemeinschaft zwischen den vom Herrn
gesetzten Verantwortlichen, wo es gilt, Entscheidungen über die Kirche zu treffen
(Matthiaswahl 1, 15-26; die Wahl der Sieben 6, 1-7; Apostelkonzil 15, 1-35).
Einheit ist aber nicht nur Einheit der Verantwortlichen bei Entscheidungen, in
welchen der Geist wirken soll, sondern ist Lebensform der Gemeinde überhaupt,
geistliche und auch materielle, bis hin zur Gütergemeinschaft (vgl. bes. 2, 43-47;
4, 23-37; 5, 12-16). Einheit und Gütergemeinschaft, das heißt auch Austausch
der Erfahrung, Teilhabe dessen, was in der ganzen Gemeinde geschieht, und
Teilhabe der einen Gemeinde am Leben der anderen (vgl. 4, 23; 11, 18.22;
11, 27-30; 12, 5; 14, 27; 15, 30-35; 20, 17-38; 21, 18-20).
Kennzeichnend für die „Missionstheologie“ der Apostelgeschichte ist nicht zuletzt
die innige Verbindung von missionarischem Erfolg und Leiden (vgl. z. B. 5, 31;
7, 54 und 8, 2; 9, 16; [114] 13, 51; 20, 23f.). Wo Verfolgung die Mission
behindert, da erweitert Gott ihren Radius, da öffnet er eine neue Tür (vgl. 8, 4;
11, 19.22ff. 27-30).
Schließlich: Sendung und Gemeinschaft erhalten unter dem Antrieb des Geistes
ihre gefügte Ordnung, Leben wird geregelt, Ämter werden eingerichtet, und in
beidem wird das Wirken des Herrn und seines Geistes, wird seine Nähe zur
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Kirche, wird sein Bleiben bei ihr angenommen und ernstgenommen (vgl. die
Matthiaswahl 1, 15-26, die Wahl der Sieben 6, 1-7, das Apostelkonzil 15, 1-35;
vgl. auch in der Abschiedsrede des Paulus in Milet die Erwählung von Vorstehern
bzw. Bischöfen, die der Heilige Geist eingesetzt hat, um die Kirche Gottes zu
weiden 20, 17-38).
Im Blick auf unsere leitende Frage läßt sich der Entwurf des Lukas so
zusammenfassen: Der Geist, der in Jesus wirkte, geht von ihm, dem erhöhten
Herrn, weiter auf die Zeugen, die er sendet. Gemeinschaft und Sendung werden
zum Grundrhythmus des Lebens und Wachsens von Kirche, der sie innerlich zur
Einheit zusammenbindet und äußerlich in immer neue Horizonte hinauswachsen
läßt. Der Geist sorgt für das Gerüst jener Strukturen, durch die der Ursprung
weiterwirkt in der Geschichte. Derselbe Geist wird wirksam in der Gemeinschaft
des Glaubens und der Liebe innerhalb der einzelnen Gemeinde und über sie
hinaus. Er erweist sich schließlich in der leidenden Schicksalsgemeinschaft mit
dem Herrn und Hirten der Kirche.
Der Entwurf des Matthäus
Neues Israel, gelebt in brüderlicher Gemeinde – so könnte man einen Grundzug
des
Kirchenbildes
umschreiben,
das
uns
Matthäus
einläßlich
in
seinem
Evangelium vorstellt. Es fällt auf, wie sehr er das Sprechen und Wirken Jesu auf
die Kirche hin liest, und so ist es theologisch zu rechtfertigen, aus einigen
Grundzügen seiner Aussage über brüderliche Gemeinde eine Antwort auf unsere
„österliche“ Frage zu erheben: Wie können wir in der Kirche mit dem lebendigen
Herrn leben?
[115] Wir wiesen schon darauf hin: Die letzten Worte seines Evangeliums sind
Auftrag und Verheißung: „Mir ist alle Macht im Himmel und auf der Erde
gegeben. Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen
Jüngern, tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen
Geistes und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Und ich bin
bei euch alle Tage bis zur Vollendung der Welt“ (Mt 28, 18-20).
Was Jesus in der Vollmacht des Vaters gesagt und gewirkt hat, das vertraut er
als der Auferstandene den elf Jüngern an. Jesu Vollmacht ist ganze und
grenzenlose Vollmacht. Und diese Vollmacht, in der er die Herrschaft des Vaters
angesagt und durch Zeichen beglaubigt hat, in der er Menschen in seine
Nachfolge gerufen und zu Jüngern gemacht hat, in der er den endgültigen Willen
Gottes, die neue und vollkommene Gerechtigkeit verkündet und ermöglicht hat,
soll gerade jetzt weiterwirken, da er als der Auferstandene in dieser seiner
Vollmacht vom Vater bestätigt ist. Die Jünger sind es, die nach außen hin
handeln. Aber er handelt und wirkt in ihnen, er ist bei ihnen alle Tage bis ans
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Ende der Welt. Das Matthäusevangelium schließt nicht mit einem Wort des
Abschieds, sondern mit der Zusicherung des Bleibens. Vom Abschied, von der
Distanz ist hier nicht die Rede. Dieses Bleiben, diese Nähe, diese Gegenwart
prägen auch das gesamte Evangelium. Der Bericht über das, was Jesus
vorösterlich sagte, fließt immer wieder über in die erläuternde Anmerkung, die
daraus die Anwendung für das Leben der Gemeinde zieht Es ist derselbe Herr,
der damals sprach und der heute bleibt.
Besonders deutlich wird dies durch die Entsprechung von Ende und Mitte des
Matthäusevangeliums. Wir haben über letztere schon gehandelt, haben die
österliche Bedeutung des Wortes schon ans Licht gehoben: „Wo zwei oder drei…“
(Mt 18, 20).
Sieben Hinweise sollen die Sicht der brüderlichen Gemeinde und des Bleibens
Jesu bei ihr nach Matthäus entfalten.
a) Die Bergpredigt spricht vordergründig nicht von der Kirche. Und doch enthält
sie das Grundgesetz der brüderlichen Gemeinde. Die zu ihr gehören, sollen die
neue Lebensart, wie die acht Seligkeiten sie vorstellen, sollen die neue
Gerechtigkeit,
die
vollkommener
[116]
ist
als
jene
der
Pharisäer
und
Schriftgelehrten, exemplarisch darlegen und so – wir erinnern uns – Salz der
Erde und Licht der Welt sein (vgl. Mt 5, 13-16). Die Weise, wie man miteinander
umgeht, verzichtend auf Vorteil, vergebend, nicht vor Gott hinzutreten wagend,
solange man mit dem Bruder nicht ausgesöhnt ist, die Weise auch, wie man
betet und auf die Äußerlichkeit bloßer Formen verzichtet: das hat höchste
Bedeutung für den „anderen Stil“ der brüderlichen Gemeinde.
b)
Die
zweite
große
Jesus-Rede
Aussendungsrede (9, 35-11, 1),
nimmt
des
in
der
Matthäusevangeliums,
Situation
des
Anfangs
die
die
nachösterliche vorweg: jetzt, nach Ostern, ist erst recht Ernte, jetzt ist es erst
recht notwendig, daß der Herr Arbeiter aussendet (vgl. 9, 37). Die Zwölf, die das
Evangelium hier vorstellt, werden sowohl in ihre Vollmacht eingewiesen wie auch
in die Lebensform der Nachfolge, die diese Vollmacht beglaubigt. Es geht um die
Treue zur Sendung in Schlichtheit und Armut. Es geht um den Mut zum
furchtlosen Bekenntnis, auch wenn Verfolgungen kommen. Es geht um die
Bereitschaft, um der Nachfolge willen Trennung und Kreuz auf sich zu nehmen.
Und schließlich wird, der Sache nach, jenes „Wie“ der Sendung eingeführt, an
dem die Vollmacht in der Kirche hängt. Der Vater hat den Sohn gesandt, und wer
den Sohn aufnimmt, nimmt den Vater auf. Genauso gilt: Jesus sendet die
Apostel, und wer sie aufnimmt, der nimmt ihn auf (vgl. 10, 40; zum Wie
vgl. Joh 20, 21). Mit einem Wort: Sendung wird als Weitergeben der Vollmacht
des Sendenden erklärt, der Gesandte aber wird zurückgebunden an das Maß der
Hingabe, der Opferbereitschaft des Herrn der Sendung.
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c) Bei Matthäus wird das von Markus und Lukas nur knapp überlieferte PetrusBekenntnis, das der ersten Leidensweissagung voraufgeht, auf bedeutungsvolle
Weise erweitert (vgl. Mt 16, 13-20 gegenüber Mk 8, 27-30 und Lk 9, 18-21).
Nicht nur das Bekenntnis ist breiter und tiefer gefaßt, sondern ihm folgt auch die
Antwort Jesu, die den Namen und das Amt des Petrus erklärt und darin wichtige
Aussagen über die Kirche macht. Nur hier (außer in der Bemerkung von
Mt 18, 17) ist in den Evangelien das Wort Kirche [117] ausdrücklich genannt.
Nicht bloß die Verankerung der Kirche in Petrus, sondern auch zwei andere Züge
sind für die Auffassung des Matthäusevangeliums von Kirche äußerst bedeutsam.
Einmal die Verheißung, daß Kirche nicht untergehen wird. Wie der Herr bei ihr
bleibt, so wird sie ihrerseits bleiben, solange die Geschichte dauert. Ihr Bestand
ist dem Gesetz des Vergebens in das neue Niveau der Gottesherrschaft hinein
enthoben. Und zum anderen überträgt ihr Jesus Vollmacht, an die sich Gott
selber bindet: was Petrus auf Erden bindet und löst, das soll im Himmel
gebunden und gelöst sein – eine Zusage, die hernach (vgl. 18, 18) auf die Zwölf
insgesamt ausgedehnt wird.
Kirche wird hier auf schockierende Weise ins Menschliche hineinverwoben: der
schwache Mensch Petrus als der Fels, der sie trägt – Menschen anvertraute
Vollmacht, die im Himmel gilt, so daß man versucht ist zu sagen, „wie auf Erden
so im Himmel“. Und zugleich wird Kirche ebenso schockierend emporgehoben in
die
neue,
bleibende
unüberwindlich
bleiben,
Ordnung
sie
wird
der
Gottesherrschaft.
durch
die
Zusage
Sie
des
wird
selber
Herrn
in
die
Matthäus
ist
die
geheimnisvolle Gleichung zwischen Himmel und Erde einbezogen.
d)
Der
zentrale
Text
über
brüderliche
Gemeinde
bei
„Gemeinderede“ (18, 1-35). In der brüderlichen Gemeinde ist der Kleinste der
Größte. In die Gottesherrschaft kann nur der hineinkommen, der nicht sich
selber und seine Größe mitbringt, sondern so vom Nullpunkt aus anfängt wie das
Kind (vgl. Verse 1-5). Dann aber hat der Kleinste und Schwächste in der
Gemeinde das größte Recht. Jeder in der Gemeinde trägt Verantwortung für ihn,
keiner darf ihm Anstoß geben (Verse 6-11).
Das erfordert eine Umkehrung unserer herkömmlichen „Prioritäten“. Wer hundert
Schafe hat und eines hat sich verlaufen, der geht dem hundertsten nach und läßt
die neunundneunzig in den Bergen zurück. So denkt der Vater in seiner Sorge
um den Kleinsten, so soll die Gemeinde denken (Vers 12-14).
Dem entspricht die Bemühung um Versöhnung, wo es Spannung und Verfehlung
gibt. Was in der Stille abzumachen ist, soll nicht ins Gerede gezogen werden.
Allerdings braucht es auch die ordnende [118] Funktion und Vollmacht der
Gemeinde – sie muß anerkannt bleiben. In ihr findet, gerade um der Versöhnung
willen, auch die Vollmacht des Bindens und Lösens ihren Platz (Vers 15-18).
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Wie auf Erden, so im Himmel. Dies erhält eine weitere Bestätigung: Worum wir
auf Erden einmütig bitten, das wird der Vater im Himmel tun. Und der Grund
solcher „Gleichung“ zwischen Himmel und Erde scheint auf: Jesus, der Herr, ist
nicht nur zur Rechten des Vaters, sondern er ist lebendig in der Mitte seiner
Gemeinde, dann wenn wir wahrhaft in seinem Namen, in seinem Geist
miteinander eins sind (Verse 19-20). Der Himmel kann auf Erden sein, wenn der
von sich her bei seiner Kirche bleibende Herr auch von ihr her, von uns her zum
Zuge kommen, im konkreten Miteinander dasein und wirken kann.
Der souveräne Neuanfang Gottes, unser Leben nicht aus dem Hergebrachten und
Mitgebrachten, sondern aus seiner grundlosen Huld, kommt am deutlichsten zum
Durchbruch in der Vergebung. Deshalb schließt das Kapitel mit der Ermahnung
zum unbegrenzten Vergeben unter den Brüdern, die das Gleichnis vom
unbarmherzigen Gläubiger unterstreicht. Ein letztes Mal wird der Himmel an die
Erde gebunden. Nur in dem Ausmaß, wie wir Vergebung gegenseitig leben, kann
der Wille des Vaters im Himmel, uns zu vergeben, wirksam werden (Verse 2135).
Der Vorrang des Kleinsten, der „Grundvertrag“ der grenzenlosen gegenseitigen
Vergebung,
Vollmacht
als
Dienst
an
dieser
Ordnung
der
Versöhnung,
gemeinsames Gebet, das seine Erhörung in sich trägt, weil der Herr in unserer
Mitte lebt und mit uns betet: dies ist der Spannungsbogen des Kapitels, in dem
Kirche so groß und so demütig uns in den Blick tritt, wie wohl nirgendwo sonst
im Neuen Testament.
e) Vor der Rede über die Endzeit, in der letzten Woche Jesu in Jerusalem,
überliefert Matthäus die scharfen Herrenworte des 23. Kapitels gegen die
Schriftgelehrten und Pharisäer. Sie brandmarken eine Haltung, die der Evangelist
wohl auch in der jungen Kirche als Gefahr heraufkommen sieht. Jedenfalls sollen
sich das Verhalten der Jünger und somit die Ordnung der Gemeinde abheben von
Äu- [119] ßerlichkeit, Unehrlichkeit und Ehrsucht, die es schwer wenn nicht
unmöglich machen, sich der Gottesherrschaft zu öffnen.
Wir sollen uns nicht Rabbi nennen lassen, weil nur einer unser Meister ist, wir
alle aber Brüder sind; wir sollen auf Erden niemand unseren Vater nennen, weil
wir nur einen Vater haben, den im Himmel; wir sollen uns nicht Lehrer nennen
lassen, weil nur einer unser Lehrer ist: Christus – der größte unter uns soll unser
Diener sein (vgl. 23, 8-11).
Noch einmal also dieser Kontrast: Das Matthäusevangelium setzt die Vollmacht in
der Kirche ganz hoch an, sieht den Herrn selbst in ihr wirksam und rückt so
Kirche und Reich Gottes nahe aneinander. Und doch – sollten wir nicht besser
sagen: gerade darum? – wendet sich dasselbe Evangelium so scharf gegen jede
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Selbstherrlichkeit, jede Verwechselbarkeit mit irdischem Machtgebaren. Wo sich
Vollmacht im Herrn gründet, da ist sie doppelt verpflichtet, auf den Herrn hin
durchsichtig zu sein. Dies heißt aber durchsichtig zu sein auf seine Demut, seine
Schlichtheit, auf seine Bereitschaft zu vergeben und sich zu erbarmen.
f) Da es in der brüderlichen Gemeinde um den Herrn, um das Leben mit ihm
geht, darf in unserem Zusammenhang auch die Rede Jesu vom Maßstab beim
Jüngsten Gericht erwähnt werden. Was wir dem geringsten der Brüder getan
oder nicht getan haben, das haben wir dem Herrn getan oder nicht getan
(vgl. Mt 25, 40 und 45). Nicht nur in jenen, die der Herr sendet, sollen wir ihn
aufnehmen und erkennen, sondern gerade auch in jenen, bei denen es nur allzu
nahe liegt, ihn zu übersehen: bei denen, die am Rande stehen. Nur einen
„Meister“ nennen, ihn aber im Geringsten der Brüder erkennen und im
Geringsten auf den Herrn zugehen: das ist das Lebensgesetz nicht nur für den
einzelnen Christen, sondern im Sinne des Matthäusevangeliums auch für die
Gemeinde, für die Kirche.
g)
Kehren
wir
nochmals
zum
Sendungsauftrag
Jesu
am
Ende
des
Matthäusevangeliums zurück. Kirche lebt bei Matthäus gewiß zumal in der
brüderlichen Gemeinde. Aber sie schließt sich nicht in ihr, sondern öffnet sich –
der Missionsauftrag gehört zum Grundvollzug der Kirche: „Geht zu allen Völkern
und macht alle Menschen [120] zu meinen Jüngern.“ Und Kirche lebt bei
Matthäus zwar vom persönlichen Vollzug der Jüngerschaft, die Maß nimmt an
Jesu Beispiel. Aber nichts desto weniger lebt Kirche auch aus dem Sakrament:
„Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“
(vgl. Mt 28, 19). Zum ganzen Bild des Matthäusevangeliums von der Kirche
gehört auch der Zug des Missionarischen und Sakramentalen.
Den Herrn in der Kirche sehen, ihm in allen Richtungen begegnen, ihm das Leben
der Gemeinde beständig offenhalten, mit ihm, dem gegenwärtigen Herrn, leben –
das ist das Konzept des Matthäusevangeliums von der Kirche.
Der Entwurf des Paulus
Paulus entfaltet das Thema Kirche in einer kaum zu erschöpfenden Vielfalt Wir
weisen nur auf zwei sich eng berührende Ansätze hin: auf das Geheimnis der
Kirche nach dem Epheserbrief und auf die paulinische Redeweise vom Leib
Christi.
Auf
die
Bedeutung
von
Kirche
im
Epheserbrief
sind
wir
bereits
im
Zusammenhang mit der Heilsbedeutung des Kreuzes zu sprechen gekommen.
Erinnern wir uns einiger wichtiger Momente: Gottes Heilsplan ist es, nicht nur
das eine Volk, in dem er seinen Namen in der Welt bekannt machte, Israel,
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sondern alle Völker in die erfüllende Gemeinschaft mit sich selbst zu führen.
Dieser Heilsplan wird erfüllt in Jesus Christus. Er ist die Verbindung des
Menschen vertikal zu Gott, indem er das, was den Menschen von Gott trennt, die
Schuld, in seinem Kreuz überwindet. Er ist – durch die umfassende, nicht auf
Israel eingeschränkte Heilsbedeutung seines Todes, in welchem er alle Schuld
der Welt ausleidet – zugleich in der horizontalen Richtung der „Friede“, der aus
dem Getrennten eine neue Einheit bildet (vgl. Eph 3 insgesamt und 2, 11-22).
Dieser Heilsplan wird offenbar in der Kirche, die Juden und Heiden zu einer
neuen
Einheit
zusammenfaßt.
Jesus
Christus,
Zielpunkt
der
Schöpfung
(vgl. Eph 1, 10), ist auch der „Schlußstein“ der Kirche (Eph 2, 20). Als Ziel ist er
zugleich das alles einende Prinzip, Haupt des [121] Leibes (Eph 4, 15), der in
den verschiedenen Diensten und Gaben des Herrn zusammenwächst, die dem
Einzelnen fürs Ganze verliehen sind. Somit wird Kirche zum Raum, in dem Gott
und Gottes Heil in der Welt lebendig sind (vgl. Eph 2, 20-22), ja zum lebendigen
Christus selbst. Er hält sich, sein Geheimnis, in seinem Leib, der Kirche, in die
Geschichte hinein (Eph 4, 7-16).
Zwei Konsequenzen sind zu beachten. Einmal prägt das Verhältnis der Kirche zu
Christus auch das Leben des einzelnen Christen. Christus gibt sich hin für die
Kirche in einer Liebe ohne Grenzen (vgl. Eph 5, 2), er erlöst die Menschen in die
Kirche hinein und bildet sie als seinen Leib, teilt sich ihr mit und ist so in ihr
anwesend und durch sie anwesend in der Welt. Die Kirche verdankt sich ganz
und gar Christus, lebt aus ihm, für ihn und hat ihre Freiheit und ihren Eigenstand
gerade in der totalen Hinordnung auf ihn allein.
Dies wird im Verhältnis des Mannes zur Frau und der Frau zum Manne
geheimnisvoll
abgebildet
(22-32).
Was
zunächst
aussehen
kann
wie
Ideologisierung einer Überordnung des Mannes über die Frau und umgekehrt
einer Unterordnung der Frau unter den Mann mit der einzigen „Überhöhung“
durch das Gebot der Liebe, das ist im Grunde „Revolution von innen“. Was Herrsein heißt, wird allein im Dienst Christi, in seiner Entäußerung sichtbar, denen
sich die Kirche verdankt. Was Einordnung und Unterordnung bedeutet, ist
innerlich von Grund auf umgewendet, indem es Hinorientierung auf Jesus
Christus wird.
Auf entsprechende Weise werden auch die anderen Beziehungen unter den
Menschen in der Gemeinde neu und alle diese Beziehungen heißen: leben auf
Jesus Christus hin, leben mit ihm, leben auf das unbedingte Recht und die
unbedingte Macht seiner befreienden Liebe hin (vgl. 5, 21-6, 9). Die Kirche leben
heißt im Epheserbrief mit Christus leben, auf ihn hinleben – und dies in allen
Beziehungen unseres Daseins und unserer Welt.
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Zum anderen bleibt noch hinzuweisen auf die Bedeutung, die dem Aposteldienst
des Paulus für die Kirche zukommt. Er ist in der Perspektive des Epheser- und
auch des Kolosserbriefes der beson- [122] dere Anwalt dieses Geheimnisses:
Gott in Jesus, Heil für alle Menschen, und Kirche Zeichen und Ort dieses
universalen Heils. Sein Dienst in der Kirche ist Dienst für die Kirche, und dieser
Dienst verlangt von ihm dasselbe, was Jesus einsetzte, um Kirche zu gründen
und zu bilden: das Leiden (vgl. besonders Eph 3, 1-13; 4, 1; Kol 1, 24-29).
Das Stichwort „Leib Christi“ ist bereits gefallen. In ihm verdichtet sich
paulinisches Denken über die Kirche zur Antwort auf die Frage: Wie die Kirche
leben und in der Kirche mit dem erhöhten Herrn leben?
Die Rede vom Leib Christi gehört nicht nur organisch in den Zusammenhang des
Epheser-
und
Kol 1, 18.24),
Kolosserbriefs
sondern
ursprünglicheren,
ebenso
des
(vgl. Eph 1, 23; 4 insgesamt; 5, 23.30;
zentral
Römer-
auch
und
in
den
anderen,
Korintherbriefs
noch
(Röm 12, 4-8;
1 Kor 12 insgesamt). In beiden Briefen läßt ein verwandter Anlaß den Apostel
das
Bild
vom
Leib
„enthusiastischen“
Daseinsweise
Christi
Frühzeit
fasziniert.
für
die
des
Kirche
Glaubens.
Mitunter
einführen.
Das
gefährdet
Wir
leben
Andersartige
das
Streben
der
in
der
neuen
nach
dem
Ungewöhnlichen die Einheit, Gelassenheit und Klarheit jenes Zeugnisses, in dem
der Unterschied des Geistes Jesu und seiner Botschaft von den unruhigen
Geistern sichtbar wird, die sich selbst und ihre eschatologische Ungeduld feiern.
Man ist erinnert an das 4. Kapitel des 1. Johannesbriefs, wo eine Marke der
Unterscheidung der Geister heißt: klares Bekenntnis zu Jesus als dem im Fleisch
gekommenen Sohn Gottes und Mut, die Liebe zu tun, an die solcher Glaube
glaubt (1 Joh 4, 1.6.7-16). Man ist ebenfalls erinnert an den Philipperbrief, wo
Paulus die Gesinnung Jesu der Gemeinde als Maß ihres Verhaltens vorstellt:
Demut, Gehorsam, Entäußerung. Diese Haltung, die Jesus dem Vater gegenüber
lebt, soll jeden dem Nächsten gegenüber beseelen, damit Gemeinde die Stätte
sei, an der Jesus Christus „durchkommt“ in dieser Geschichte (vgl. Phil 2, 1-11).
Im
Römer-
und
1. Korintherbrief
nun
läuft
folgende
Denkbewegung
im
Hintergrund der Texte über die Kirche als den Leib Christi: Wer ja sagt zur
unbegrenzten Liebe Christi, der sagt auch ja zu sei- [123] nen eigenen Grenzen.
Nicht nur zu den Grenzen seiner persönlichen Begabung und Eigenart, sondern
auch zu den Grenzen der Gabe, die er empfangen hat, um darin seinen Glauben
zu leben und zu bezeugen. Wir haben alle den einen Geist empfangen, in dem
wir bekennen können: Jesus ist der Herr! Sicher ist dieser Geist und ist das, was
er mitteilt, so überwältigend groß, daß jeder sich ganz dafür einzusetzen hat.
Aber dem einen gelingt der Rat, dem anderen die praktische Hilfe, dem dritten
die geistliche und geistige Durchdringung der geglaubten Botschaft. Der eine
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Geist ist jeweils da in einer bestimmten Ausprägung, wie er sich nach außen hin
umzusetzen und zu bezeugen vermag.
Das ist aber nicht Schwäche, sondern „Stärke“, will sagen Berufung, die einem
besonderen Plan Gottes entspricht. Durch seine besondere Gabe hat jeder etwas
für die anderen, fürs Ganze. Wenn wir vom Herrn und seinem Geist leben wollen,
dann müssen wir voneinander, von Zeugnis und Dienst leben, die der einzelne
dem anderen erweisen vermag.
Man kann auch vom Ganzen der Gemeinde her denken und muß dann sagen: sie
braucht
unterschiedliche
Dienste
und
Gaben,
braucht
ein
Geflecht
von
verschiedenen Funktionen. Wäre jeder für sich allein schon das Ganze, dann
wäre er selbstgenügsam in sich abgeschlossen, der Grundimpuls des „Für“, der
doch das Leben und Sterben Jesu prägt und der das Kennzeichen seines Geistes
ist, drohte verloren zu gehen, könnte sich nicht mehr spiegeln in unserem
persönlichen Leben und im Leben der Gemeinde. Nur seiner eigenen Eingebung,
nur seinem eigenen Drang und Wunsch entlangleben heißt nicht auf Jesus hin
leben, der nicht für sich, sondern für die anderen gelebt hat. Wir dürfen in der
Begrenzung
unserer
eigenen
Gabe
und
unserer
eigenen
Funktion
das
schlechterdings Unbegrenzte, Göttliche, dürfen in ihnen jenes Eigenste und
Unverwechselbare leben, das Christus in die Welt gebracht hat: das Für, die
Liebe. Sowohl die Reflexion des 1. Korintherbriefs über die unterschiedlichen
Gnadengaben wie auch die Ermahnung des Römerbriefs über den Sinn
unterschiedlicher Dienste münden jeweils in die Betonung der Liebe als des
Einen, das über allem steht und in al- [124] lem zur Geltung kommen muß
(vgl. Röm 12, 9f.9-21 insgesamt; 13, 8-10; 1 Kor 12, 31 und 13 insgesamt).
Nur der lebt für Christus, der für die anderen, fürs Ganze lebt. Nur der lebt von
Jesus Christus, der auch von der Gnade der anderen, der vom Ganzen und im
Ganzen lebt. Nur der hat die ganze Liebe Christi, der sich mit seinem begrenzten
Dienst und seiner begrenzten Gabe bescheidet, aber auch jeden begrenzten
Dienst und jede begrenzte Gabe und jedes andere Glied des Ganzen ohne
Einschränkung annimmt. Nur dann kommt Jesus Christus selbst zur Geltung und
Darstellung in der Kirche und in der Gemeinde, wenn Kirche und Gemeinde das
geordnete
Zueinander
und
Miteinander
vieler
Gaben
und
Dienste
sind,
zusammengehalten vom einen Wort Christi durch die eine Liebe, die das Zeichen
des einen Geistes ist.
Im
Anbruch
der
Gottesherrschaft
ist
das
Ganze,
Endgültige
bereits
hereingekommen in unser Leben, aber wir können dieses Ganze und Endgültige
nur leben und wir leben es sogar in gesteigertem Maß, wenn unsere eigene
Begrenzung, unsere eigene Endlichkeit für uns selbst zur Gabe und zum
Geschenk werden: In solcher Begrenztheit und Endlichkeit können wir das
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göttliche Für leben, können wir jenen neuen Zusammenhang und jene neue
Einheit leben, in der sichtbar wird, daß wahrhaft Gottes Leben in uns lebt, daß
Jesus Christus und sein Geheimnis in uns und zwischen uns sich Raum schafft
und kundgibt für diese Welt.
Wie ernst es Paulus ist mit dem Weiterwirken und Weiterleben Christi durch die
Kirche in der Welt, läßt sich daran ablesen, daß die Kirche ihm nicht nur der Leib
Christi, sondern Christus selber ist (vgl. 1 Kor 12, 12).
In einem anderen Umfeld nennt der 1. Korintherbrief auch jenen Grund und jene
Kraft, die aus uns vielen den einen Leib Christi, den einen Christus wirkt: die
Eucharistie. In ihr schenkt sich der Herr uns, um in uns mächtiger zu sein als wir
selbst. Durch sie lebt der Eine in den vielen, der in jedem einzelnen wichtiger und
größer ist als nur er selbst und seine Unterschiedenheit von dem anderen: „Ist
der Kelch des Segens, über den wir den Segen sprechen, nicht Teilhabe am Blut
Christi? Ist das Brot, das wir brechen, nicht Teilhabe [125] am Leib Christi? Ein
Brot ist es. Darum sind wir viele ein Leib; denn wir alle haben teil an dem einen
Brot“ (1 Kor 10, 16f.).
Der Leib Christi hat ein einziges Haupt, Kirche hat einen einzigen Herrn: Christus.
In der Kirche gibt es zwar die Unterscheidung der vielen Dienste, Gaben und
Funktionen, aber es gibt die umfassende, je größere Einheit miteinander.
Lebensform der Kirche ist das Für-sein und Inne-sein des einen im anderen,
durch das sich Christi Sein für uns und Sein in uns darstellt und vollendet. Von
dieser Aussage darf kein Abstrich gemacht werden – und doch legen Römer- und
1. Korintherbrief es uns nahe, noch auf einen anderen Aspekt innerhalb
derselben Kirchentheologie des Paulus hinzuweisen. Paulus schärft der Gemeinde
ein, daß sie der Leib Christi ist, daß keiner sich über den anderen erheben, keiner
sich vom anderen absondern soll – und er tut es kraft der Autorität, die er sich
als dem Apostel gegeben weiß. Er tritt der Gemeinde gegenüber, spricht zu ihr
im Namen, im Auftrag, in der Vollmacht des Herrn. Er bringt vom Herrn her das
ein, was ihm als unverfügbarer Grund und Auftrag übergeben ist. Sicherlich,
Paulus setzt alles ein, um in der Gemeinschaft, im Austausch des Glaubens
seinen Auftrag und seine Gabe einzubringen. Er tut dies aber nur, wenn er sich
nicht davor zurückzieht, dort, wo es sein muß, auch die Stelle des Gegenüber zur
Gemeinde einzunehmen, um in ihr die Offenheit für den einzigen Herrn und das
einzige Haupt vollmächtig zu gewährleisten.
Das apostolische Amt – und die Kirche hat von ihren Anfängen her dies auch für
seine von ihm verschiedene und doch mit ihm verbundene Nachfolge in Anspruch
genommen – steht in der Kirche, aber es leitet sich nicht aus der Kirche ab,
sondern wächst von Jesus Christus her durch seine besondere Gabe und
Sendung in die Kirche hinein. Daß Jesus Christus das einzige Haupt der Kirche
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und der einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen ist, bleibt in der Kirche
lebendig durch dieses bevollmächtigte Amt, das man bezeichnen darf als
„Sakrament der Vermittlung der einzigen Mittlerschaft Christi“. Dies erfordert von
denen,
die
das
Gegenübersein
Amt
zur
innehaben,
Gemeinde
ebenso
wie
einen
eine
unbequemen
demütige,
sich
Mut
zum
entäußernde
Durchsichtigkeit für den einzi- [126] gen Herrn und das einzige Haupt und darin
ein
dienendes
und
brüderliches
Innesein
in
der
Gemeinschaft,
einen
unkomplizierten Austausch des Glaubens und Lebens mit allen, ein achtsames
Hören und Ernstnehmen der anderen Gaben und Dienste, mit denen der Herr
durch seinen Geist den Leib der Kirche ausgestattet hat.
Mit einem Wort: In dem Maße, wie auch geistliches Amt sich als Liebe, nichts als
Liebe versteht und vollzieht, bringt es die unverfügbare Vorgabe der Liebe Christi
in die Kirche ein und lebt mit allen und unter allen die eine, nahtlose
Gemeinschaft des Schenkens und Beschenktwerdens. Nochmals anders gesagt:
Struktur der Sendung und charismatische Struktur sind kein Entweder-Oder und
sind auch keine auseinander liegenden Hälften oder Bestandstücke, sie sind die
beiden Aspekte der einen Struktur jener Liebe, die sich unverfügbar von Gott her
schenkt, in der alle alles ihm und alles einander verdanken und schenken.
Der Entwurf des Johannes
Es scheint klar und verhältnismäßig schnell abgemacht zu sein: Das Wesen von
Kirche ist nach Johannes gegenseitige Liebe. Solche Liebe hat die Dimensionen:
Bleiben
im
Wort
(vgl. Joh 15, 7; 1 Joh 2, 14.24);
Bleiben
in
Jesu
Gebot
(vgl. Joh 15, 9-12); Bleiben in der sakramentalen Gemeinschaft mit Jesus
(vgl. Joh 6, 27.56); Bleiben in der Gemeinschaft miteinander (vgl. Joh 17, 11f.).
Das Leben von Kirche ist vor allem nach innen gerichtet, in ihr soll jene Liebe,
die Jesus in die Welt gebracht hat, soll seine Einheit mit dem Vater lebendig – so
aber soll sie die Welt anziehen, Magnet werden nach außen, missionarische Kraft
entfalten (vgl. Joh 13, 35; 17, 20-23).
Solche Zusammenfassung ist zweifellos zutreffend. Kirche heißt bei Johannes:
Bleiben im Herrn, Bleiben des Herrn bei den Seinen kraft seines Geistes in der
gegenseitigen Liebe und Einheit und durch solches Bleiben immer tieferes und
weiteres Durchdringen der Welt. Das Wort für Bleiben heißt im Griechischen auch
Wohnen, die Bleibe ist die Wohnung. Der scheinbar so statische Charakter der
Worte Bleiben, Wohnen erschließt indessen eine eigentüm- [127] liche Dynamik
und Dramatik in der Kirchentheologie des Johannes, und darauf wollen wir noch
einen
Blick
werfen.
Man
könnte,
in
zugespitzter
Formulierung,
das
Johannesevangelium als eine Geschichte vom mehrfachen „Wohnungswechsel“
interpretieren.
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Das „Vorspiel“: Von allem Anfang an wohnt das Wort bei Gott, der Sohn am
Herzen des Vaters. Nun – und damit beginnt die Geschichte – kommt der Sohn in
die Welt, nimmt Fleisch an, schlägt sein Zelt unter uns auf (vgl. Joh 1, 1f.
und 18; 1, 14). Er wohnt bei uns, damit wir Menschen ihn in uns wohnen lassen
und durch ihn beim Vater Wohnung nehmen. Dies beginnt damit, daß Jesus
Jünger um sich sammelt. Das erste Wort, das die Jünger an ihn richten, heißt
nun: „Rabbi – das heißt übersetzt: Lehrer –, wo wohnst Du?“ (vgl. Joh 1, 38). Er
lädt ein, dort zu sein, wo er ist, er gibt teil an seiner Erfahrung mit dem Vater.
Ja, er ist das Haus Gottes in dieser Welt, seine Wohnung. Seinen Tod deutet er
als Einreißen des Tempels Gottes, den er in drei Tagen wieder aufbauen wird
(vgl. Joh 2, 19-22). Seinen einzigartigen Anspruch begründet Jesus damit, daß er
von oben kommt, daß er allein weiß, wovon er spricht, wenn er von Gott und
vom Göttlichen spricht (vgl. Joh 3, 11.31-36). Das begrenzte Wohnen Gottes in
diesem oder jenem Tempel wird durch Jesus überholt, Jesus eröffnet den neuen
Raum des Wohnens Gottes, den Raum der Anbetung im Geist und in der
Wahrheit (vgl. Joh 4, 19-24).
Das ist der Anstoß, den Jesus mit seinem Anspruch erregt: er will in uns bleiben
und wir sollen in ihm bleiben, indem wir ihn als Brot des Lebens in uns einlassen,
ihn, sein Fleisch und Blut, essen und trinken (vgl. Joh 6, 56). Dies ist so
schockierend, daß viele sich von Jesus trennen. Wahre Jüngerschaft aber
entscheidet sich hier. Petrus spricht im Namen der Zwölf: „Herr, wohin sollen wir
gehen? Du allein hast Worte ewigen Lebens!“ (Joh 6, 68), und so bleiben sie bei
ihm. Und nur wer bei ihm, beim Sohn bleibt, bleibt überhaupt – der Knecht hat
keine Bleibe im Haus des Vaters (vgl. Joh 8, 35).
Darum geht es: daß das Wort Jesu, daß sein Gebot, daß seine Liebe in die
Menschen eintritt. Wenn dies geschieht, kann er und [128] kann mit ihm der
Vater in uns kommen, Wohnung in uns nehmen (vgl. Joh 14, 23).
Doch nun bereitet sich, Schritt um Schritt, jenes vor, wodurch Jesus sich das
Verständnis beim Volk und auch bei den Jüngern zu verwirken droht. Er sagt: Ich
gehe fort, ich werde von der Erde erhöht. Die Antwort der Menge: Das kann nicht
sein, denn der Messias bleibt für immer bei uns; ein Messias, der wieder
fortgeht, ist keiner (vgl. Joh 12, 32-36). In der Stunde des Abschieds knüpft
Jesus erneut an dieser Stelle an. Er sagt zu den Jüngern, daß er fortgeht und ruft
so die große Betroffenheit und Ratlosigkeit hervor (vgl. Joh 13, 31-36). Er führt
aber zugleich aus dieser Ratlosigkeit heraus. Denn zum einen sagt er, wohin er
geht: er geht zum Vater, um uns dort Wohnung zu bereiten (vgl. Joh 14, 1f.),
und er wird kommen, um uns zum Vater heimzuholen (vgl. 14, 3). Er ist der
Weg, weil in ihm der Vater schon da ist und weil in ihm wir schon beim Vater
sind (vgl. Joh 14, 4-11 und 20). Zum anderen aber schenkt er uns, in seinem
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Gehen zum Vater zugleich zu uns kommend, seinen Geist und macht uns zu
seiner Wohnung (vgl. Joh 14, 18-23).
Hier nun ist alles das eingeholt, was wir einleitend über das Kirchenbild des
Johannes gesagt haben. Kirche sein heißt, wir haben unseren Ort nicht hier,
sondern wir haben ihn mit Jesus im Vater. Kirche ist notwendig „weltfremd“, weil
in der Welt kein Bleiben ist, weil nur der Ort, wo er ist, Leben ist. Dies bedeutet
beständige Bedrängnis in der Welt (vgl. Joh 15, 18-25; 16, 1-4.20-22), es
bedeutet zugleich einen von außen nicht erreichbaren, aber auch nicht
zerstörbaren Frieden (vgl. Joh 14, 27; 16, 33). In solcher „Weltfremdheit“ ist
Kirche freilich ebenso „weltoffen“ – denn an ihr liegt es, durch ihre Einheit, durch
die gegenseitige Liebe der Welt jene Alternative anzubieten, an der sie inne wird:
Hier ist wahrhaftes Leben, hier ist wahrhaft Gott (vgl. Joh 13, 34f.; 17, 21-23).
Die erstaunte Frage des Apostels, warum Jesus sich den Seinen und nicht der
Welt offenbaren will, wird von Jesus scheinbar übergangen, indem er darauf
verweist:
wer
an
seinem
Wort
festhält,
bei
dem
wird
er
wohnen
(vgl. Joh 14, 22f.). Im Grunde liegt hier doch die tiefste Antwort: Ort der
Offenbarung Gottes an die Welt ist jene Gemein- [129] schaft, in deren Mitte der
Herr wohnt. Solches „Bleiben“ in ihm, in seiner Liebe, so daß er in uns bleiben
kann, ist der Weg, wie Kirche geht, weitergeht, hinausgeht in die Welt.
7.3 Jesus in der Kirche finden, in Jesus zur Kirche finden
Es macht betroffen, welche Fülle sich uns aufschließt, wenn wir Neues Testament
daraufhin lesen, wie in ihm Kirche begegnet, Kirche als Weg und Ort der
Begegnung mit Jesus, als Weg und Ort seines Wirkens in der Welt. Was wir
zusammenfaßten, nochmals zusammenzufassen, wäre müßig. Nur eines soll noch
geschehen: Wir wollen ein paar wichtige Begegnungspunkte mit dem Herrn in
seiner Kirche notieren. Vielleicht fällt es uns so leichter, diese Punkte nicht zu
überfahren im Alltag mit all seiner Weltlichkeit und vielleicht auch mit all seiner
Kirchlichkeit.
a) Fangen wir mit etwas Erstaunlichem an: Jesus in mir begegnen. Durch den
Glauben, durch die Taufe, durch die Eucharistie, durch seine Gnade, durch die
Gabe des Geistes, die er mir verliehen hat, ist er in mir wirksam, wohnt er in mir.
Ich soll in mir auf seine Stimme hören. Ja, auf seine Stimme. Nicht an den
Heiligen Geist appellierend, den ich empfangen habe, meine eigenen Meinungen
selbstbewußter und unbesorgter vertreten, sondern umgekehrt vor meinem
Reden und Tun auf die mir geschenkte Nähe des Herrn achten, in ihrem inneren
Licht die Dinge, die Erfahrungen, die Meinungen – gerade auch die eigenen –
überprüfen. Wenn ich nicht dem Herrn und seinem Geist in mir Raum lasse, dann
kann er an einer Stelle der Kirche weniger deutlich und weniger kraftvoll wirken.
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Wie Kirche lebt und ist hängt davon ab, wieviel Raum ich Christus in mir gebe.
Und wenn ich ihn verloren habe oder zu verlieren drohe: warum schlage ich nicht
so schnell wie möglich den Weg ein, ihn zurückholen?
b) Jesus in jedem Bruder begegnen. Was wir dem Geringsten der Brüder getan
haben, das haben wir ihm getan. Dieses Wort gilt [130] nicht allein für jene, die
lebendige Glieder an seinem Leib sind, in denen er ungehindert wirken und
sprechen kann. Die gegenseitige Liebe, deren Zeugniskraft bei Johannes im
Vordergrund steht, drängt von innen her zur Universalität, sie will Liebe zu allen
werden (vgl. 1 Thess 3, 12; 1 Kor 9, 19-22). Kirche leben heißt jene Liebe, die
Gott in Jesus zu allen hat, nach innen und nach außen sichtbar machen, ihr Ort,
ihre Gegenwart sein. Und darum eben auch: jeden mit den Augen Gottes sehen,
der in jedem seinen Sohn sieht, weil an jedem das Blut seines Sohnes hängt.
c) Jesus in seinem Wort finden. Immer wieder stoßen wir auf dieses selbe: im
Wort Jesu und im Wort von ihm mit ihm selber leben. Wenn uns die Kirche in der
Liturgie das Evangelium verkündet, dann sagt sie uns in unsere eigenen
Lebenssituationen den gegenwärtigen, erhöhten Herrn zu. Kirche will der Leib
dieses Wortes, die Inkarnation dieses Wortes, die „Lesbarkeit“ und Verständigkeit
dieses Wortes für die Menschen heute sein. Sie kann es nur werden, wenn wir
mit diesem Wort leben. Ist es nicht so mit der Lebendigkeit der Kirche in allen
Jahrhunderten gegangen? Menschen haben sich dem Wort geöffnet und haben
dadurch eine neue Perspektive, eine neue Bahn von Nachfolge erschlossen, und
auf dieser Bahn hat das Wort neu hineingefunden in die verschiedenen Kulturen
und Erfahrungshorizonte der Menschheit. So wie ein Glied dem anderen seinen
Dienst, seine Gabe schenkt im Fürsein aller für alle, so schenken wir auch
einander und darin der Welt das gelebte Wort. Und wenn wir den Eindruck
haben, in der Vermittlung durch die Kirche werde das Wort mehr verdeckt als
verständlich gemacht, dann liegt es an uns, hindurchzuhören auf ihn, nicht zu
leben mit etwas von ihm, sondern mit ihm selbst in seinem Wort – und nur im
Kontakt von ihm in uns zu ihm in seinem Wort wird die Gestalt des Lebens und
der Verkündigung in der Kirche, die Gestalt der Kirche selber transparent werden
für ihn.
d) Jesus im Sakrament finden. Jesus hat sich ganz gegeben – und daß diese
Gabe ankommt, daß sie nicht verschlungen wird von der Ohnmacht des
Menschen gegenüber der Zeit, ist Zeichen der anbrechenden Gottesherrschaft.
Sakrament heißt: was Gott uns in Je- [131] sus zuwendet, das kommt bei uns
an. Es kommt an über unser Vermögen, über unsere Offenheit, über unsere
Würdigkeit hinaus. Aber der Überschuß des Sakramentes wird eben nur in dem
Ausmaß wirksam, als wir uns diesem Überschuß hinhalten, ihn in uns aufgehen
lassen. Und so heißt es, ihn selber suchen in allen seinen Sakramenten, ihn als
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den, der sie und sich in ihnen schenkt. Er tut es am dichtesten in der Eucharistie,
die wahrhaft die Herzmitte des Lebens der Kirche ist.
Es
ist
gut,
daß
wir
aus
der
Engführung
einer
bloß
individuellen
Kommunionfrömmigkeit herausgekommen sind und hingefunden haben zu der
Fülle der Eucharistie. Es ist gut, daß wir uns selbst, die Kirche als lebendige
Gemeinschaft, als lebendigen Leib des Herrn in ihr finden. Aber es wäre fatal,
wenn Eucharistie nur die Feier unserer selbst würde und wir vergäßen, daß sie
nur deswegen uns eint, zum einen Leib werden läßt, weil in ihr sich uns der Herr
selbst, unmittelbar und ganz gibt. Er nimmt uns hinein in seine Hingabe an den
Vater, in ihr sind wir schon dort „angekommen“, wohin wir doch noch unterwegs
sind. In ihr ist aber auch er angekommen bei uns, ist seine österliche
Wirklichkeit, sein auferstandenes, unsterbliches Leben angekommen in unserer
Sterblichkeit und Vergänglichkeit. Ostern ist der Schnittpunkt der Ordnungen: In
unserer Welt des Vergehens, des Abschieds, des Sterbens ist der Auferstandene,
der Anfang der neuen Schöpfung, des neuen Kosmos da. In ihr ist der da,
welcher das innerste Geheimnis meines und deines und jeden Lebens ist. Und so
geschieht hier jene Einheit, die wir aus uns nie machen und erreichen können.
Wir werden sein einer Leib. Mit dem ich in der Eucharistie verbunden bin, mit
dem vereint mich ein Band des Friedens, das nicht von dieser Welt ist. So
miteinander Leib des Herrn werdend, werden auch wir Brot für die Welt,
Eucharistie für die anderen. Wir werden auf jenen österlichen Weg der Passion
geschickt, deren Gewinn Verlust, deren Gewinn und Verlust aber heißen: sich
geben, wie er sich gegeben hat.
e) Jesus im Amt seiner Kirche finden. Wie ihn der Vater gesandt hat, so hat er
Menschen gesandt. Wer seine Gesandten hört, der hört ihn (vgl. Lk 10, 16). Er
selbst will bei seiner Kirche bleiben, und [132] dazu gehört auch, daß er die
Zeugen seiner Auferstehung sendet und sie ihre Sendung, seine Sendung, in
seinem Namen weitergeben. Die großen Heiligen haben es immer gewußt, und
ihr Wissen war alles eher als bequem für die „betroffenen“ Päpste, Bischöfe und
Priester: Der Herr selber ist da, spricht, handelt in denen, die er sendet. Wer
nicht erschrickt vor solcher Nähe des Herrn, die er durch seine Gesandten in die
Kirche hineingibt, der verkennt den Ernst der Inkarnation. Wer sich auf seiner
eigenen
Sendung
in
behäbiger
Sicherheit
ausruht,
hat
sie
ebensowenig
verstanden. Sendung kann den, der sie trägt, im Grunde nur klein und demütig
machen. Sie will ihn auch dafür öffnen, überall und gerade im Unscheinbarsten
und Geringsten auf den Geist des Herrn und auf seine Stimme zu hören.
Ausweichen vor der Sendung ist genauso verkehrt wie Verbrämen des eigenen
Willens mit der Sendung, in welcher sich der Herr uns ausliefert.
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f) Und noch einmal: Jesus finden in unserer Mitte. Wo Christen beieinander sind,
da soll er in der Mitte sein können. Wo wir miteinander sprechen, miteinander
beten, miteinander planen und agieren, da ist Raum, in dem Jesus leben, dasein,
sich der Welt bezeugen will. Mit dem Wort des hl. Bonaventura gesagt: „Wo zwei
oder drei in seinem Namen versammelt sind, da ist Kirche.“
Glaube geht, Leben mit der Kirche geht in dem Maße, in dem wir an diesen
„Kontaktstellen“ auf den Herrn zugehen. Wir haben in unseren Hinweisen auf
mehr gedeutet als nur auf das, was wir unmittelbar aus den Grundentwürfen des
Neuen Testamentes erheben konnten. Die theologische Vermittlung wäre eine
weiterreichende Aufgabe über den Rahmen dieser unserer Besinnung hinaus. Die
„Logik“ der neutestamentlichen Grundentwürfe führt den, der sich auf sie einläßt,
indessen bereits unmittelbar zu den von uns bezeichneten Kontaktstellen hin –
und erschließt noch weitere Perspektiven. Wer etwa die Spannweite von Kirche
nach dem Matthäusevangelium ermißt, der wird einen neuen Zugang auch zu
etwas wie der Stellung des Papstes innerhalb der katholischen Dogmatik finden.
Diese Stellung wird ihm nicht mehr Rechthaberei, sondern Chance [133]
bedeuten, radikaler, unmittelbarer mit dem Herrn in seiner Kirche zu leben.
Freilich, er wird erkennen, daß dieselbe Dynamik, die hierhin führt, zum Herrn im
Geringsten der Brüder, im Unscheinbarsten und Entferntesten, in dem hindrängt,
der am meisten „am Rande“ steht.
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[134] 8. Der Heilige Geist
8.1 Zugang: verschiedene Dimensionen von Geist
Eingangs
hatten
wir
uns
überlegt,
ob
wir
bei
der
Botschaft
von
der
Gottesherrschaft oder beim österlichen Bekenntnis zum erhöhten Herrn anfangen
sollen. Eine dritte, näherliegende, aber zugleich verborgenere Möglichkeit hatten
wir nicht ausdrücklich in die Erwägung einbezogen. Eine näherliegende – denn
jene Unmittelbarkeit zum Vater, die uns durch Jesus, durch seine Ansage des
Gottesreiches erschlossen ist, und jene Nähe zum österlichen Jesus, die ihn als
den Herrn weiß, haben eine und dieselbe Voraussetzung. „Abba, Vater!“ rufen wir
im Geist, den wir empfangen haben (vgl. Röm 8, 15; Gal 4, 6). Und „Herr ist
Jesus!“ kann niemand rufen außer im Heiligen Geist (vgl. 1 Kor 12, 3). Im Geist
werden der Vater und der Sohn so Thema, daß sie an sich selber aufgehen. Im
Geist gehen wir uns allererst so auf, wie wir vor Gott und durch ihn sind. Der
Geist selbst aber wird nur schwerlich zum Thema. Man spricht nicht vom Licht, in
dem man sieht, sondern von dem, was man im Lichte sieht.
So ist es ein wenig geblieben auch durch die Geschichte der Kirche und der
Theologie hin. Allerdings, dies muß man hinzu sagen, steht doch mehr in den
Schriften des Neuen Testamentes vom Heiligen Geist, als es zunächst vielleicht
den Anschein hat. Und auch die große Theologie, zumal der Väter wie auch jene
etwa des Bonaventura im Mittelalter sagt mehr vom Geist, als wir in unserem
gängigen Bewußtsein präsent haben.
[135] Wie geht Glauben? Die erste, vielleicht treffendste und umfassendste
Antwort auf diese Frage hieße jedenfalls: Glauben geht im Heiligen Geist. Hier
wird gesagt, daß nicht wir es können, daß es nicht von unserer Kraft aus geht,
daß es aber, wenn nicht aus unserem Vermögen, so doch durchaus mit uns, ja
mit unserer Freiheit in unserem Eigensten, geht.
Zugänge zu „Geist“
Darin sind wir schon in einen Zugang vorgestoßen, der uns verstehen hilft, von
welch eigentümlicher Art das ist, von dem wir reden, wenn wir vom Geist reden.
Von Geist freilich in dem Sinn, wie die Schrift von Geist, Heiligem Geist spricht,
nicht im Sinne von Intellekt oder Vernunft oder Gegensatz zur Materie. Wenn
einen der Geist überkommt, wenn einer im Geiste spricht, wenn einer einen
bestimmten Geist hat, dann wirkt in ihm etwas, das nicht nur er selbst ist. Und
es wirkt gerade in dem, was am meisten „sein“ ist: in seinem Sprechen, Sehen,
Wollen, seiner Spontaneität, seinem Verhalten zu den anderen, zur Welt, zu sich
selbst. Es ist, als ob in die Quelle, die er selber ist, eine tiefere Quelle sich
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einspeiste. Es ist, als ob in dem Licht, das er ausstrahlte, ein anderes Licht
durchstrahlte, ein Licht, das er nicht von einer äußerlich sichtbaren Lichtquelle
her empfing und dann widerspiegelte, sondern das sein eigenes Lichtsein
durchwirkt. Aus dir spricht und wirkt mehr als nur du! So wirkt auf uns jemand,
der von einem Geist erfüllt – oder auch besessen ist.
Dies sind die beiden Möglichkeiten – oder sollten wir nicht besser gleich drei mit
in Betracht ziehen? Es gibt die Erfahrung: Hier ist einer überfremdet, hier spricht
er nicht mehr so, wie er eigentlich ist, hier ist etwas in ihn hineingefahren und
hat ihn übermächtigt, was quersteht zu ihm selbst. Dieser Zwiespalt oder diese
Besetztheit, in einem nicht schon theologischen durchgeklärten Sinne gesagt:
„Besessenheit“ von einem anderen Geist wäre die eine, die negative, ja
schreckliche, weil die Freiheit zerstörende oder zumindest entfremdende Spielart.
Die
andere
ist
jene
der
Begeisterung,
des
Enthusias-
[136]
mus,
der
Entflammtheit: Eine Idee, eine Gesinnung, ein Einsatz bricht aus einem
Menschen hervor, größer als er selbst, das, was wir von ihm gewohnt sind,
sprengend, ihn sozusagen über sich selbst hinaus hebend – aber eben ihn, so
daß von einem anderen Niveau aus doch er selber es ist, der sich da äußert.
Anders gewendet: Was diesen Menschen entflammt, erfüllt, begeistert, ist zwar
mehr als nur seine Leistung, aber es ist Steigerung, Entbindung eigener Kräfte
und nicht ihre Minderung oder Hemmung.
Und nun das dritte: In einem Menschen wirkt der Ursprung, der Anfang, der
schlechterdings mächtiger ist als er, größer, aber auch früher als er. Jener
Ursprung, von dem her er selber erst ist. Er, das Geschöpf, dieser endliche
Mensch, sagt und tut Dinge, die nicht aus dem Vorrat seiner Endlichkeit möglich
sind. Er wird Organ und Werkzeug göttlichen Wirkens. Wiederum ist er gerade
nicht sich selbst entfremdet, ganz im Gegenteil. Er kann überdehnt, überfordert,
bis zum äußersten beansprucht sein – aber er findet in dem, was ihn erfüllt und
treibt und in Anspruch nimmt, eine neue, wenn auch nicht immer bequeme
Identität. Geist ist hier die Kraft, durch die Gott seine Ursprünglichkeit in einen
Menschen überspringen läßt, damit er Worte und Taten nicht nur im Auftrag
Gottes vollbringt, sondern solche, in denen Gott selber spricht und wirkt in der
Geschichte. Hierbei sind freilich verschiedene Ziele und ihnen entsprechend
verschiedene Weisen von Geistmitteilung zu unterscheiden – „funktionale“, die
einen Menschen von Gott her zu einem geschichtlichen Auftrag befähigen,
„personale“, die ihn selber in seinem persönlichen Verhältnis zu Gott, in dem,
was er selber ist, betreffen. Sehr oft sind beide miteinander verbunden – eine
Entfaltung der Typen muß hier unterbleiben.
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Dimensionen von Geist
Eine andere Unterscheidung hingegen ist in unserem Kontext wichtig. Geist
bedeutet, so wie wir es bisher sahen, allgemein andere Ursprünglichkeit, die sich
in menschlicher Ursprünglichkeit durchsetzt. Wenn wir auch soeben diese
Redeweise von jener anderen ab- [137] gehoben haben, die Geist von etwas wie
Stoff, Materie abgrenzt, so spielt doch eine verwandte Gegenüberstellung ins
Neue Testament hinein: im Wortpaar Fleisch und Geist (vgl. z. B. Joh 3, 6;
6, 63ff.; Röm 6-8; 2 Kor 5, 16; Gal 5, 17). Die Stoßrichtung der Aussage ist hier
nicht eine Zweiteilung der Welt, bei welcher das Materielle minderwertig, das
Geistige hochwertig, Gott zugeordnet erscheint. Es geht eher wiederum um
verschiedene
Ursprungsbereiche,
hier
des
Handelns
und
Verhaltens
des
Menschen. „Fleisch“ meint jenen Ursprungsbereich, in dem Interessen und
Wünsche wie die nach Geltung, nach Genuß, nach Macht beheimatet sind, die
also grundsätzlich vom Ich ausgehen und sich in ihm erschöpfen. „Geist“ meint
hingegen den Ursprungsbereich Gottes, in dem sich zwar die Interessen und
Sehnsüchte des Menschen erfüllen, aber nicht auf das Ich allein bezogen,
sondern in jener Offenheit fürs Ganze, in jeher Offenheit zumal fürs Höchste,
Gott. An Stelle der isolierenden Selbstbeziehung tritt die Beziehung zu Gott und
die Beziehung Gottes zu allen in die Mitte.
Es ist nun kein bloß äußerer Umstand, daß Geist Gottes als Ursprungsmacht
Gottes im Menschen und Geist als „andere Ordnung“ göttlichen Lebens und
göttlicher
Ursprünglichkeit
sich
im
Neuen
Testament
durchdringen.
Die
Ursprünglichkeit Gottes ist eben anders, ist eben nicht nur Selbstbezogenheit,
sondern sich mitteilende, sich verschenkende Freiheit. Im Geiste leben heißt in
der anderen Lebensart Gottes leben. Das aber gelingt nur, wenn wir aus Gottes
Ursprung leben. Beide Bedeutungen der Rede von Geist fallen hier zusammen.
8.2 Anlässe neutestamentlichen Sprechens vom Geist
Wir können zumindest fünf Anlässe hervorheben, die unmittelbar im Neuen
Testament zur ausdrücklichen Rede vom Geist drängen.
Zunächst ist es die Neuheit des Denkens und Lebens, die der Christ in seinem
Christsein erfährt. Er unterscheidet sich in seinen Reaktionsweisen nicht nur von
den anderen, sondern auch von sich [138] selbst, von seinem Denken und Leben
zuvor. Man kann abgekürzt sagen: Jener neue Anfang, den die Herrschaft Gottes
schenkt und fordert, gibt sich uns im Heiligen Geist zu erfahren, Heiliger Geist
wäre in diesem Sinn die Wirksamkeit der Gottesherrschaft in uns, das heißt aber
die Wirksamkeit Gottes in uns. Wenn Gott aufbricht vom bloßen Horizont ins
Zentrum nicht nur des Lebens, sondern auch unseres eigenen Herzens, wenn
Gott sich uns mitteilt, dann waltet hier eben Heiliger Geist. Gott als Ursprung
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unserer eigenen neuen Ursprünglichkeit, Gottes Ursprungsraum als unser
Lebensraum in der Gemeinde – dies ist das Feld, in dem Heiliger Geist zur
Sprache
kommt
(vgl. z. B. Röm 5, 5; besonders Kap. 8 insgesamt; 14, 17;
Gal 5, 5-25).
Ein zweiter Anlaß ist die Notwendigkeit, die Geister zu scheiden. Das Zeugnis von
Jesus dem Christus ist nicht das einzige und es ist nicht in allen seinen Gestalten
ursprünglich und echt. Im Umfeld von Gemeinde meldet sich vielerlei an
Ansprüchen, Erleuchtungen, Heilslehren. Die Unterscheidung der Botschaft
gegenüber
anderen,
ähnlich
klingenden
Botschaften
oder
gegenüber
Entstellungen der Botschaft im Innern der Gemeinde braucht Kriterien des
Geistes Gottes (vgl. besonders 1 Joh 4, 1-6; auch 1 Tess 5, 19 21; Gal 3, 1-5;
1 Kor 12, 3; 2 Kor 11, 4).
Aber auch – dritter Anlaß – die echten Wirkungen und Gaben des Geistes können
Anlaß zu einer Verkehrung werden. Man kann sie höher schätzen als den Geist
selbst, der sie gibt, sich in sie verlieben, statt ihn zu lieben und aus seiner Liebe
zu handeln. Charismatische Unordnung, charismatische Eigenbrödelei, das
fordert die klare Entscheidung heraus, was wahrhaft des Geistes ist. Die Kapitel
12-14 des 1. Korintherbriefs gelten diesem Thema. Nicht die Wirkungen des
Geistes sind der Maßstab für das Leben im Geist, sondern die Früchte des Geistes
(vgl. auch nochmals Gal 5, 13 bis 25).
Ein vierter Anlaß ist die Erfahrung des vollmächtigen, von Gott erfüllten
Sprechens und Handelns Jesu. Immer wieder wird Jesu Auftreten in den drei
ersten Evangelien und der Apostelgeschichte aus seinem Erfülltsein vom Heiligen
Geist her interpretiert. Den be- [139] sonderen Stellenwert dieser Deutung des
Wirkens Jesu bei Lukas haben wir bereits berührt. Aber auch in den anderen
Evangelien (vgl. z. B. Mt 3, 11; Mk 1, 8; Mk 1, 10; Mt 4, 1; Mk 1, 12; Mt 10, 20;
Mk 13, 11; Mt 12, 18.28.31f.; Mk 3, 29) nimmt bei der Darstellung des Lebens
und Wirkens Jesu die Rede vom Heiligen Geist eine bedeutsame Position ein. Wir
können hier nicht in die Untersuchung eintreten, inwieweit hier ursprüngliches
Traditionsgut vorliegt und inwieweit die theologische Deutung durch die
Evangelisten „ältere“ Worte reicher befrachtet. Jesus spricht aus dem Geist –
Gottes Ursprünglichkeit waltet in ihm auf eine besondere Weise: dies ist
Grundaussage der Evangelien. Johannes macht in seinem Evangelium eine
Aussage, die nicht nur sein Verständnis Jesu, sondern – wir dürfen dies vom
Ganzen, vom Ende her sagen – auch das der ersten drei Evangelien
zusammenfaßt: „Der, den Gott gesandt hat, redet die Worte Gottes; denn
unbegrenzt gibt er den Geist. Der Vater liebt den Sohn und hat alles in seine
Hand gegeben“ (Joh 3, 34f.). Die Zuverlässigkeit der Zeugenschaft Jesu für den
Vater, der unbedingte Rang seiner Botschaft, die Gottes neue Zeit, Gottes
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Herrschaft ansagt, ist darin begründet: die Geistmitteilung des Vaters an Jesus
ist nicht mehr nur eine begrenzte, wie bei den Propheten, für diese oder jene
Botschaft, für diesen oder jenen Auftrag, sondern Gottes Geist in seiner ganzen,
göttlichen Fülle wirkt in Jesus, und so vollzieht er den letzten, totalen,
universalen Auftrag Gottes, die Ansage seiner Herrschaft, den Anbruch seines
Heils.
Sowohl
die
Empfängnis
Jesu
vom
Heiligen
Geist
(vgl. Lk 1, 35;
Mt 1, 18.20) als auch die Herabkunft des Geistes auf Jesus bei der Taufe im
Jordan
(vgl. Mk 1, 10; Mt 3, 16; Lk 3, 22; Joh 1, 32f.)
Verknüpfung
zwischen
Jesu
Wirken
und
dem
und
die
thematische
Wirken
des
Geistes
im
Lukasevangelium laufen auf diese Deutung zu: Gottes Geist ist in Jesus nicht nur
wie in einem Propheten, sondern in schlechthin erfüllender, überbietender und
unüberbietbarer Weise da.
Ein letzter Anlaß dazu, daß im Neuen Testament vom Heiligen Geist die Rede ist,
steht
im
Hintergrund
der
beiden
im
Neuen
Testament
ausgeführten
heilsgeschichtlichen Geisttheologien bei Lu- [140] kas und Johannes. Bereits
Gesagtes erlaubt die Beschränkung auf einen Hinweis. Jesus geht fort, aber er ist
auf neue Weise da. Und nicht nur er ist da, sondern auch seine Sendung geht
weiter. Dasselbe, woraus er lebte, bewegt die Jünger, dieselbe Sendung, die ihn
trieb, treibt auch sie, dieselbe Kraft und derselbe Ursprung, aus denen er
schöpfte, stehen ihnen, stehen uns, der Kirche zur Verfügung. Die neue, andere
Gegenwart Jesu und die Entsprechung zwischen seiner Sendung und seinem Sein
einerseits und unserem, der Zeugen, der Kirche Sein und Sendung andererseits
lassen nach dem Dritten, Verbindenden fragen. Und hier heißt eben die Auskunft
bei Lukas und Johannes: Der Geist, der in Jesus wirkte, ist die Quelle der
Verbindung mit Jesus, seiner Nähe (dies besonders bei Johannes) und seiner
Sendung
(bei
Lukas
Pfingstereignisses
wie
bei
Johannes).
(vgl. Apg 2, 1-13)
bzw.
Dies
der
ist
die
Bedeutung
österlichen
des
Geistsendung
(vgl. Joh 20, 19-23).
Fassen wir zusammen: Wir stehen in einem neuen Leben, in einem Leben aus
Gottes Ursprungsmacht – das ist christlicher Glaube und christlicher Vollzug. Wir
haben das, was wir als Wirklichkeit und Anspruch von Jesus her glauben und
erfahren, zu unterscheiden von anderen Ansprüchen und Deutungen. Wir dürfen
uns nicht an die Gaben und Wirkmöglichkeiten verlieren und hängen, die uns aus
der Verbindung mit Jesus Christus geschenkt sind, und dürfen uns vor allem
nicht aus der inneren Einheit in seinem Namen heraussprengen lassen durch die
Fixierung auf je unseren Weg. Dies sind die praktischen Anlässe, aus denen bei
der Ermahnung der Gemeinde in den Apostelbriefen jenes Worin und Woraus zur
Sprache kommt, das unsere gläubige Existenz prägt. Dieses unser Worin und
Woraus haben wir von Jesus empfangen, er, der erhöhte Herr, hat uns seinen
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Geist gesandt, damit wir seine, des Sohnes Sendung, weitertragen in die Welt.
Der Geist macht uns zum lebendigen Christus für diese Welt. Wie er in der Kraft
dieses Geistes aus dem Vater gelebt und gewirkt hat, so lebt und wirkt er weiter
in der Kirche durch seinen Geist, den er uns verliehen hat. In ihm wohnt der
Geist ohne Grenze und Maß – wir haben diesen Geist ohne Grenze und Maß nicht
in der Gabe, wie wir sie in uns haben, sondern durch die [141] Verbindung, die
diese Gabe uns mit ihm, dem Herrn der Kirche, vermittelt.
Wir verstehen nun auch, weshalb im Johannesevangelium Jesus sagt, es sei gut,
daß er von uns geht, weil sonst der Geist nicht kommen könne (vgl. Joh 16, 7).
Oder, wie ein anderes Schriftwort denselben Sachverhalt ausdrückt: Es gab noch
nicht den Geist, weil Jesus noch nicht verherrlicht war (vgl. Joh 7, 39). Seine
Stelle in der Geschichte einnehmen – das hat zur Voraussetzung, daß seine
Stelle in der Geschichte „frei“ ist, daß er selbst diese Stelle nicht durch sich,
sondern durch uns einnehmen will. Darin wird der tiefste Sinn des Heimgangs
Jesu zum Vater sichtbar. Seine Liebe, die uns alles mitteilt, will uns auch
mitteilen, daß wir „er“ sind für die Welt. Wir können aber nur er sein, wenn wir
ihm bedingungslos in uns Raum lassen, wenn wir uns dem Geist öffnen. Tun wir
es, dann erfahren wir in unserer Existenz jenes wiederum johanneische Paradox:
Getrennt von Jesus können wir nichts tun (vgl. Joh 15, 5) – wer an ihn glaubt,
aus dem werden selbst Ströme lebendigen Wassers hervorbrechen, er wird zur
Quelle (vgl. Joh 7, 38), wir werden aus seinem Geist dieselben Werke wie er
vollbringen und noch größere als er (vgl. Joh 14, 12). Das größere Werk: Jesu
Hineinwachsen durch unsere Liebe in die Welt, das Wachstum seines Leibes.
8.3 Was ist das, wer ist das: der Geist?
Gottes Geist in uns, dasselbe in uns, was Jesus erfüllt, woraus er lebt und wirkt
und sich hingibt, so sehr, daß wir selbst Christi Leben teilen und seine Stelle für
die Welt einnehmen: Was ist dieser Heilige Geist?
Im Römerbrief lesen wir: „Wer den Geist Christi nicht hat, der gehört nicht zu
ihm“ (Röm 8, 9), und: „Alle, die sich vom Geist Gottes führen lassen, sind Söhne
Gottes. Denn ihr habt nicht den Geist empfangen, der euch wieder zu Knechten
macht, so daß ihr euch fürchten müßtet, sondern ihr habt den Geist empfangen,
der euch zu Söhnen macht, den Geist, in dem wir rufen: Abba, Vater! [142] Der
Geist selber bezeugt unserem Geist, daß wir Kinder Gottes sind“ (Röm 8, 14-16).
Daß wir durch den Geist des Sohnes Söhne sind und nicht mehr den
entfremdenden
Gewalten
der
Weltzeit
unterstehen,
daß
wir,
über
die
Unterschiede unserer Herkunft und Tradition hinweg, im einen Geist durch Jesus
Christus den freien Zugang zum Vater haben, daß der Geist Anfang unseres
Erbes, also der Vollendung unserer Sohnschaft ist, sind andere Aussagen, die
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denselben Sachverhalt in unterschiedlichem Zusammenhang bei Paulus im Auge
haben (vgl. Gal 4, 1-7; Eph 2, 18; 2 Kor 1, 22).
Im Heiligen Geist rufen wir also: Abba, Vater! Der Geist gibt uns Zeugnis, daß
wir Söhne Gottes sind. Im Geist gehören wir zu Christus und erkennen wir, daß
wir zu Christus gehören. Im Geist – so dürfen wir aus einem anderen
paulinischen Zusammenhang hinzufügen – allein erkennen wir auch Jesus als den
erhöhten Herrn (vgl. 1 Kor 12, 3). Dies entspricht dem uns schon bekannten
Geistzeugnis, wie es bei Johannes formuliert ist: Wir erkennen, daß Jesus im
Vater ist, wir in ihm sind und er in uns ist. Der Geist bezeugt also den Vater und
den Sohn und uns als zu beiden gehörig. Das „Bezeugen“ des Geistes ist freilich
im Blick auf uns schöpferische Kraft. Denn der Geist macht uns zugleich zu
Söhnen, er gibt uns zugleich, als Gottes Gabe, den Anfang des Sohneserbes, das
uns mit Jesus zuerkannt ist.
Für Paulus ist der Geist aber nicht nur Gottes Kraft, die nach außen wirkt. Er ist
wirksam in Gott selbst. Er ist jener, der die Tiefen der Gottheit kennt. Nur er
ermißt Gott von innen, so wie unser Geist, hier verstanden als unser Wissen um
uns, das Innerste in uns, uns selbst ermessen und verstehen kann. Als Geist, der
Gott
kennt,
ist
er
letzte,
keiner
weiteren
mehr
unterworfene
Instanz
(vgl. 1 Kor 2, 14f.).
Der Geist, der Gott von innen erkennt, ist für Paulus Geist des Vaters und des
Sohnes. „Ihr aber seid nicht vom Fleisch, sondern vom Geist bestimmt, da ja der
Geist Gottes in euch wohnt. Wer den Geist Christi nicht hat, der gehört nicht zu
ihm. Wenn Christus in euch ist, dann ist der Leib tot für die Sünde, der Geist
aber schafft [143] Leben aufgrund der Gerechtigkeit. Wenn der Geist dessen, der
Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, dann wird er, der Christus
Jesus von den Toten auferweckt hat, durch seinen Geist, der in euch wohnt, auch
euren sterblichen Leib lebendig machen“ (Röm 8, 9-11). Geist wird hier also in
einem Atemzug als der Geist Christi und als der Geist dessen bestimmt, der
Christus von den Toten auferweckt hat. Es ist der eine Geist, der in beiden lebt
und wirkt, im Vater wie im Sohn. Er bezeugt zugleich, daß der Vater im Sohn und
der Sohn im Vater ist. Dieser gemeinsame Geist unterscheidet sich von jenem
gemeinsamen
Liebender
Bewußtsein
ineinander
der
insofern,
Liebe,
als
des
der
gegenseitigen
Geist
Gottes
Inneseins
selber
zweier
mitteilender,
bezeugender, wirkender Ursprung ist.
Wenn – um auf Matthäus und Lukas zu blicken – niemand weiß, wer der Sohn
ist, nur der Vater, und niemand weiß, wer der Vater ist, nur der Sohn und der,
dem es der Sohn offenbaren will (vgl. Lk 10, 22 und Mt 11, 27), dann gibt es
etwas, was in beiden das Sich-kennen beider in göttlicher Ausschließlichkeit
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kennt, weiß, bezeugt. Und gerade dies Gott ganz Umfassende, Durchdringende,
Vater und Sohn Erfüllende und Verbindende ist, nach allem, der Geist.
Könnte man indessen nicht auf die Vermutung kommen, Geist bedeute einfach
eine göttliche Kraft, die im Vater und im Sohn wirkt, und wie dies mit Liebe und
Glück, mit Weisheit und Tod ist, so habe man auch diese Kraft Gottes sinnbildlich
zur Person hochstilisiert – und später glaubte man dann eben an ihre
Personalität?
Außer dem verbindlich in der Kirche entfalteten Glaubensbewußtsein als solchem
sprechen innere Gründe gegen diese Meinung. Der Geist des Vaters in Jesus –
der Geist des Vaters und Jesu in uns: hier handelt es sich um eine göttliche
Selbstmitteilung, in der er etwas von sich in Jesus und in uns hineingibt. Etwas
von sich? Erinnern wir uns an die Aussage bei Johannes, daß Gott den Geist ohne
Maß in Jesus hineinlegt. Eine unangemessene, totale Selbstmitteilung Gottes
aber – das kann nichts anderes sein als Gott selbst. Denn Gott hat gar keine
andere „ganze Kraft“ seiner selbst [144] als sich selbst, es gibt in ihm keine
andere Totalität als ihn, Gott selbst.
Bei Johannes tritt der Geist aus dem möglichen Verständnis einer anfänglichen
Gabe, die nur gegeben ist und nicht auch selber gebend ist, vollends heraus: Der
Geist redet nicht von sich aus, sondern er redet, was er hört Er verherrlicht
Jesus; er nimmt von dem, was sein ist, um es uns zu verkünden. Von dem, was
sein ist, das meint: von dem, was des Vaters ist, weil alles, was des Vaters ist,
auch dem Sohn gehört (vgl. Joh 16, 13-15). Der Geist steht also von sich aus im
Verhältnis zum Vater und Sohn. Als beide innigst verbindend, ist er zugleich
beiden gegenüber.
Könnte es aber nicht problematisch sein, uns ausschließlich auf diese Aussage
des Johannesevangeliums zu stützen, die so in früheren Schichten der Schrift
nicht formuliert ist? Genau diese johanneische Aussage ist die geradlinige
Fortführung und Ausformulierung dessen, was die Aussagen über den Geist in
Jesus bei Paulus und in den ersten drei Evangelien anzielen: die qualitativ
verschiedene, schlechterdings unüberholbare Weise, wie Gott in Jesus wirkt, wie
er seine Vollmacht, seine Gegenwart, seine Herrschaft, sich selbst ihm
anvertraut.
Ein Gegenmodell gegen Geist als ein personales Drittes im einen Gott wäre der
Gedanke: Der Sohn ist durch die grenzenlose Selbstmitteilung des Vaters, durch
seinen Geist, verstanden als liebendes Ja des Vaters zum Menschen Jesus, der
Sohn – und dieses Ja, dieser Geist, aus dem er lebt, gibt Jesus in uns hinein, wir
werden so mit ihm zu Söhnen. Die Gegenfrage: Hätte dann Gott wirklich sich
gegeben, indem er Jesus für uns dahingibt? Wäre die Hingabe eines Sohn
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gewordenen Menschen für die anderen Menschen jene „größte Liebe“, in der Gott
sich selbst hineingibt in unser Leben und Sterben – oder wäre Jesus nicht doch
nur der ins Eigene Gottes von außen hineingenommene Andere, dem Gott unsere
Last auflädt? Jene äußerste Liebe Gottes, wie sie uns nicht erst Johannes
(vgl. Joh 3, 16), sondern auch Paulus bezeugt (vgl. Röm 8, 32; 5, 6-10), wäre in
einer bloßen Geist-Christologie unterboten (wogegen auch 2 Kor 3, 17 nicht ins
Feld geführt werden kann, wo Geist Lebensraum und Daseinsweise des erhöhten
Herrn bedeutet. „Geschichtliche“, nicht personale Identität von Sohn und Geist
sind bei dieser Stelle im Blick). Der Geist ist nicht nur die Gabe des Vaters an
den Menschen Jesus, den er so zum Sohn machte, wie wir durch den Geist Söhne
Gottes werden. Jesus ist der Sohn, der das Menschsein annimmt, ja der Mensch
wird – Gott selbst gibt sich in ihm. Und Vater und Sohn geben, jeder sich dem
anderen gebend, einander den einen Geist, der genauso ursprünglich und
ursprunghaft, personhaft, zu Gott selbst gehört, in die göttliche Gemeinschaft
von Vater und Sohn hineingehört. Auch das entgegengesetzte Deutungsmodell
ist also auszuschließen: Geist als „anderer Name“ für den Sohn. Jesus gibt sich
uns hin – aber er gibt nicht nur sich weiter, sondern zugleich das, was er dem
Vater und der Vater ihm schenkt, die eine, gemeinsame Gabe, die sie einander
schenken: den Geist als Drittes. Diese Gabe ist aber kein bloßes Etwas, sie ist
lebendiger, wirkender Ursprung, der uns den Vater im Sohn, den Sohn im Vater
bezeugt.
Jesu Menschsein ist von diesem Geist durchdrungen, erfüllt, ja, gebildet – und
diesen seinen Geist gibt der Sohn, sich gebend, uns dahin, damit wir die Kraft
und Tiefe seines göttlichen Lebens in uns haben, damit wir im Geiste Söhne
Gottes seien. Wir sind es, aber sind es im bleibenden Unterschied zum einzigen
Sohn, unser anderer, geschöpflicher Ursprung wird in der göttlichen communio
nicht ausgelöscht. Gott ist aber so der Gott der lebendigen Beziehung, der Gott,
der in sich selbst Miteinander, Gemeinschaft ist. Die Linien des Neuen
Testamentes laufen, zusammengelesen, auf diese Botschaft vom dreifaltigen
Leben Gottes hin. Wer im Geist unser eigenes Verhältnis zu Vater und Sohn
bedenkt, der findet diesen personhaften Heiligen Geist als den Schlüssel und als
die Achse des Geheimnisses Gottes und des Geheimnisses unserer Berufung.
[146] 8.4 Den Geist verstehen – im Geiste Gott verstehen
Wer wir sind, haben wir an den elementaren Zeugnissen im Römerbrief und
Galaterbrief abgelesen (vgl. Röm 8, 15f.; Gal 4, 6f.; vgl. auch 1 Joh 3, 1): Wir
sind durch den Geist des Sohnes selbst Söhne, Kinder Gottes. Jesus ist der Sohn
und hat den Geist des Vaters in Fülle – indem er seinen Geist uns mitteilt,
erhalten wir Gemeinschaft mit ihm in dem, was er ist. Wir haben eben denselben
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Vater wie der einzige Sohn und können ihn als Vater im Geist anreden – und wir
können im Geist erkennen, daß in Jesus der Sohn selbst unser Menschenbruder
geworden ist und können des weiteren erkennen, daß er im Geist seine Sendung
uns mitteilt, daß er, der in uns lebt, durch uns leben will in der Welt.
Er gibt sich, indem er seinen Sohn für uns hingibt – er gibt sich, indem der Sohn
uns seinen Geist sendet. Und indem uns der Geist Gottes Beziehung zu uns und
unsere Beziehung zu Gott zeigt, zeigt er uns eben das Geheimnis Gottes selbst.
Dieses Geheimnis Gottes steht nicht unerschlossen hinter seiner Hingabe, Gott
hat sich keinen Privatraum für sein Innenleben vorbehalten, an dem er uns
keinen Anteil gäbe. Sicher hebt der Anteil, den Gott uns durch seinen Geist an
sich selber gibt, nicht unsere Geschöpflichkeit auf. Sicher bleibt unsere Weise, zu
sehen und zu sagen, an Gott teilzuhaben, durch unsere Geschöpflichkeit
begrenzt und bestimmt. Aber in dieser unserer Begrenzung haben wir doch Anteil
am ganzen Leben Gottes. Wir dürfen wissen: Gott hat uns wahrhaft nichts von
sich selbst vorenthalten. In dieser sich verschenkenden Beziehung zu uns geht er
auf als jener, der in sich selber Sich-Verschenken, gegenseitige Liebe ist. Es gibt
keinen Punkt, an dem Gott nur einsames Prinzip, verschlossenes Ich wäre. Von
allem Anfang an ist der Vater im Sohn und der Sohn im Vater – und eben dies ist
da in jenem personhaften Heiligen Geist, der als beider eine Gabe von ihnen
ausgeht und der sie als diese personhafte Liebe gegenseitig mit sich selbst
beschenkt. Hier schließt sich das göttliche Leben in sich selbst – und hier öffnet
es sich zugleich über sich hinaus. Durch den Heiligen [147] Geist vermag Gott
sich
auch
dem
Höchsten
seiner
Schöpfung,
der
geschöpflichen
Freiheit,
mitzuteilen.
Die „Revolution“ des Gottesbildes, die durch den Glauben an den personhaften
Heiligen Geist und damit durch den Glauben an den dreieinigen Gott in der
Menschheitsgeschichte eingesetzt hat, ist kaum zu ermessen. Sie hat sogar
unser eigenes, christliches Bewußtsein noch nicht bis zum tiefsten Grund
durchdrungen. Daß Gott ganz und gar Mitteilung, sich verströmendes Leben, daß
er in sich geschlossene Seligkeit als lautere gegenseitige Hingabe ist, das dreht
nicht
nur
das
menschliche
Bild
von
Gott
um;
es
betrifft
auch
unser
Selbstverständnis, unser Verständnis der Welt. Sein und Leben können auch für
uns nur noch heißen: füreinander und miteinander sein.
Dasein heißt in Beziehung treten. Ganz gewiß in Beziehung mit Gott, in
Beziehung mit der Quelle, ohne die wir nichts sind. Aber diese Beziehung zur
Quelle muß gelebt werden in der gegenseitigen Beziehung, im Geben und
Schenken. Nur in diesem Rhythmus, in dem wir uns scheinbar verlieren,
gewinnen wir uns selbst. Wie das Licht, das seine Strahlen nicht aussendet,
erstickt und wie die Quelle, der kein Wasser mehr entsprudelt, in sich versiegt,
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so ist es mit uns selbst und mit allem. Füreinander, für das andere und die
anderen sind wir erschaffen und finden uns in solcher Hingabe erst selber. Nicht
im Sinne eines einsamen Heroismus, sondern im Sinn jener Liebe, die den ersten
Schritt je wagen muß, um den ersten Schritt zu finden und zu entbinden, der
vom Gegenüber geschieht und uns beschenkt. Vergehen und Vergänglichkeit
werden offen als jener Rhythmus des Seins, der seinen Sinn, das Geben, auch
dort noch durchsetzt, wo wir uns ihm selbstherrlich verweigern – und zugleich als
die neue Chance, uns bis zum tiefsten hin zu verschenken.
Entdecken wir nicht hier erst, was wahrhaft Herrschaft Gottes heißt, Sich-Geben
Gottes in unsere Welt hinein, in unser Dasein? Verstehen wir nicht, weshalb die
tiefste Mitteilung und das tiefste Geschenk des göttlichen Lebens an uns im
Kreuz geschieht? Gott steigt ein in den Rhythmus unseres Vergehens, um dieses
Vergehen von innen her in reine Gabe zu verwandeln. Der Sohn Gottes gibt
[148] sich selbst, gibt den Geist, der sein menschliches Dasein ausfüllt, in die
Hände des Vaters weg (vgl. Joh 19, 30) – und so wird der Geist frei, um uns
mitgeteilt zu werden in der österlichen und pfingstlichen Sendung.
Die „Schlüsselstellung“ im Aufgang des dreifaltigen Geheimnisses Gottes und im
neuen Verständnis des Menschen und der Schöpfung nimmt der Heilige Geist ein.
Nur in ihm erschließt sich uns die neue Lebensart Gottes, jene andere Logik des
göttlichen Lebens selber. In der einen, gemeinsamen personhaften Liebe, die
Vater und Sohn einander schenken, vollendet und öffnet sich Gottes Geheimnis
für uns.
8.5 Leben aus dem Geist – Leben in Gottes dreifaltiger Einheit
Was geschieht, wenn wir uns dem Geist öffnen, wenn wir seine Vorgabe
übersetzen in den Gang unserer Freiheit, unseres Lebens?
Das Erste: Wir sind in Christus. Sein Leben wird unser Leben, wir bekennen nicht
nur, daß er der Herr ist, und rufen nicht nur den Vater in seinem Vertrauen und
seinem Freimut an; wir werden mit Christus „lebendiges und heiliges Opfer“,
„das Gott wohlgefällt“ (Röm 12, 1). Der Geist Gottes ist es, von dem wir uns
führen und treiben lassen, und so bewähren wir uns als Söhne Gottes
(vgl. Röm 8, 14).
Leben in Christus, Sein wie er sind aber keine bloß innerliche und keine bloß
individuelle Angelegenheit – so sehr ich als ich selbst, ich im Einmal meines
Lebens davon betroffen bin. Wenn das Leben aus dem Geist als Leben im Leibe
Christi und dieses Leben im Leibe Christi als Dienst eines Gliedes am anderen
und
am
Ganzen
von
Paulus
dargestellt
besonders 4-13; Eph 2, 18; 4, 1-13),
so
werden
hebt
(vgl. 1 Kor 12 insgesamt,
dies
den
unlöslichen
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Zusammenhang zwischen unserem Leben in Christus und unserem Leben in
gegenseitiger Einheit ans Licht.
Besonders eindrucksvoll geschieht dies ebenfalls in einem Text, der ausdrücklich
vom Heiligen Geist nicht spricht. Er entfaltet jedoch exemplarisch, was Leben aus
dem Geist meint. Es ist jene Er- [149] mahnung des Paulus zur gegenseitigen
Liebe, zum gegenseitigen Dienen, zur gegenseitigen Höherschätzung in der
Gemeinde im Philipperbrief. Er begründet sie mit der Gesinnung Jesu, der sich
dem Vater gehorsam hingibt und von ihm erhöht wird (vgl. Phil 2, 1-11). Die
gegenseitige Verherrlichung von Vater und Sohn wird zum Maß dessen, wie wir
uns zueinander verhalten sollen.
Von hier aus ist es nur noch ein Schritt hinüber zu jener abschließenden,
wiederum
den
Geist
deutlich
voraussetzenden,
aber
nicht
mehr
eigens
nennenden – Erhellung des christlichen Lebens in Jesu hohepriesterlichem Gebet.
Die gegenseitige Einheit von Vater und Sohn, ihre absolute Gütergemeinschaft
(vgl. Joh 17, 10), ihre Hinordnung zueinander in der Verherrlichung des Vaters
durch den Sohn und des Sohnes durch den Vater: dies ist Modell, Anstoß und
Ziel der Gemeinschaft zwischen den Jüngern im Namen Jesu und der Einheit aller
Glaubenden zum Zeugnis für die Welt (vgl. Joh 17, 11.21-23). Wie der Vater im
Sohn ist und der Sohn im Vater, so sollen sie in den Vater und den Sohn
hineingenommen sein – und gerade dadurch ist Christus in ihnen, wie der Vater
in ihm ist. In der Hinordnung auf Vater und Sohn im einen Geist sollen sie das
Spiegelbild der Einheit von Vater und Sohn in diesem Geiste sein.
Solche Einheit erfordert zweierlei – beides aber ist im Vollzug dasselbe. Zunächst
einfach die Hinorientierung auf Vater und Sohn, das Bleiben in ihnen, will sagen
jene Verbindung mit Jesus, dem wahren Weinstock, in Sakrament und Wort und
gegenseitiger Liebe, die in jedem einzelnen und zwischen allen das eine und
einzige Leben Gottes aufgehen läßt und bezeugt. Das Zweite, das im Ersten aber
bereits enthalten und die Marke der Echtheit und Glaubwürdigkeit für dieses
Erste ist: gegenseitige Einheit miteinander, Maßnahme an der Lebensbewegung
zwischen Vater und Sohn im Leben miteinander, Hören aufeinander, Haben
miteinander, Dienen füreinander.
Nehmen wir nochmals das zweite Kapitel aus dem Philipperbrief hinzu: Wie der
Vater den Sohn verherrlicht und wie der Sohn gehorsam sich ganz und gar, bis
zum Tod, an den Willen des Vaters hingibt, so soll auch zwischen uns das
„dreifaltige Rollenspiel“ In- [150] halt unseres Lebens sein. Das eine Leben
Gottes leben wir, indem wir uns in dieses „Spiel“ hineingeben. Wie der Vater
ganz und gar den Sohn aufgehen läßt aus sich, alles von sich selbst in ihn
hineingibt und sich in ihm gibt, so sollen wir all unser Handeln, all unsere
Aktivität, all unsere Initiative und Vollmacht in diese hingebende Liebe
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verwandeln. Und wie der Sohn sich vernehmendes, sich verdankendes Wort des
Vaters ist, wie er reiner Ausdruck des Vaters ist und darin ihn, seinen Auftrag,
seine Liebe weitergibt, sein Werk vollbringt, so soll unser Hören, Dienen und
Empfangen Ausdruck des Nächsten sein, der jeweils der Sprechende, Handelnde,
Bestimmende ist. Freilich wird es nicht selten auch unsere Aufgabe sein, jene
vermittelnde und verbindende, jene im Verborgenen die Einheit gewährende und
Atmosphäre stiftende Rolle des Geistes zu übernehmen, durch den das
Miteinander aufgehen, der Zusammenklang aller gelingen kann. Eigentlich haben
wir nie etwas anderes zu tun als die Rolle zu erkennen und zu übernehmen, die
es je jetzt im Sinne des dreifaltigen Lebens zu spielen gibt. Und so gerade wird
unser Leben, wird unser Miteinander Ausdruck der göttlichen Einheit sein. Wo
gibt
es
eine
kühnere
Alternative
zu
isolierendem
Individualismus
und
einebnendem Kollektivismus? Alle eins wie Vater und Sohn, damit die Welt
glaube.
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[151] 9. Maria
9.1 Der Weg Mariens – der Weg des Glaubens
Es verhält sich ähnlich wie mit dem Heiligen Geist: Er steht am Anfang des
Glaubens, er steht am Anfang des Kommens Jesu, aber gerade deshalb tritt er
erst verhältnismäßig spät aus dem selbstverständlichen Dasein hervor und wird
zum Thema. So auch Maria in den neutestamentlichen Schriften. Wie könnte es
anders sein, da Jesu menschliches Leben selbst Frohe Botschaft ist, als daß seine
Mutter mit zur Sprache kommt, wo von ihm gesprochen wird? Aber es ist ebenso
„logisch“, daß diese menschliche Schale, die ihn birgt und darreicht und
weitergibt, hinter dem zurücktritt, was sie umfaßt. Das Negativ, die Hohlform, so
dürfen wir im nachhinein sagen, muß sich zurücknehmen, ja sie muß auf gewisse
Weise zerbrechen, damit die Gestalt, das Positiv, von dem sie selbst geprägt ist
und das zugleich sie ihrerseits prägt, hervortritt und ans Licht kommt. Wenn es
dann aber darum geht, daß im Geiste wir selbst die von Christus geprägte
Hohlform werden, die wiederum ihn Gestalt werden läßt, hervortreten läßt in der
Geschichte, dann wird Maria neu aktuell. So wie sie sich dem Geist zur Verfügung
stellte, so wie sie im Glauben Jesus annahm und zur Welt brachte, so geht auch
unser Glaube, so geht auch unser Zeugnis. Die innere „Logik“ des Zurücktretens
und Hervortretens Mariens in der Geschichte des Glaubens treibt uns dazu,
nunmehr an Maria abzulesen, wie Glaube geht.
[152] Außer ihr gibt es noch jene andere Gestalt, die Hinweis, Zeugnis, Fanal für
den kommenden Herrn ist: Johannes. Er tritt früher ans Licht des Interesses, er
tritt aber auch früher zurück. „Jener muß wachsen, ich aber abnehmen“
(vgl. Joh 3, 30) – das faßt sein Zeugnis in einem Wort zusammen. Weil dieses
Zeugnis in der Öffentlichkeit erfolgte, weil so Unterscheidung fällig wurde, um
Verwechslungen auszuschließen, wurde Johannes schon sehr früh in der Predigt
von Jesus thematisch. Maria hingegen war Hintergrund und konnte daher länger
im
Hintergrund
bleiben.
Doch
genau
deshalb,
weil
ihr
ganzes
Dasein
Hintergrund-sein für Jesus bedeutete, müssen wir sie ans Licht heben, wenn wir
unseren Glauben, unsere Existenz im Heiligen Geiste verstehen wollen.
9.2 Maria in der Perspektive der Schrift
Wer
in
Mittelmeerländern
auf
einem
Berghang
im
kniehohen
Gesträuch
umherwandert, der findet eine merkwürdige Art von Wegen. Man weiß nicht
genau, hat sie sich durch den Gang der Hirten und Tiere im Gelände ergeben –
oder bietet sich das Ineinander und Auseinander von Gewächs und Gestein
sozusagen von selbst an. Nun, eines hängt am anderen. Der gebahnte Pfad ist
„Antwort“ auf die Gestalt der Natur, auf das Gewordene. Und das Gehen knüpft
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umgekehrt die gangbaren Stellen zusammen zum Weg, macht Unwegsames
gangbar.
Wer die Heilige Schrift auf Maria hin durchsieht, dem mag es ähnlich ergehen. Er
findet einzelne Stellen über Maria, aber sie fügen sich zusammen zu Figuren
eines Weges, der eine deutliche Gestalt beschreibt. Haben jene sie bewußt
gezeichnet, die ihnen vorliegende Traditionen zusammenfügten? Oder schenkt
diese Gestalt sich wie von selbst, ohne kompositorische Absicht, einfach aus dem
inneren Zusammenhang der Botschaft? Beides spielt wohl ineinander. Aber die
Gestalt, die im glaubenden Mitgehen sich in und zwischen den verschiedenen
Schichten und Schriften des Neuen Testamentes ergibt, „stimmt“, sie steht in
sich.
[153] Bei Lukas: Maria und der Geist
Am Anfang des Lukasevangeliums und am Anfang des anderen lukanischen
Werkes, der Apostelgeschichte, begegnet uns Maria. Und sie begegnet dort, wo
vom Heiligen Geist die Rede ist, wo aus dem Heiligen Geist neuer Anfang
geschieht. Im Evangelium ist dieser Anfang das Kommen Jesu, in der
Apostelgeschichte das Werden der Kirche (vgl. Lk 1, 1-2, 53; Apg 1, 12-14).
Voraussetzung für das Kommen Jesu ist die Offenheit eines Menschen, sich von
seinen Plänen zu lösen, sich dem Willen Gottes zu öffnen und so Raum zu geben,
daß der Heilige Geist in ihm den neuen, unerhörten Anfang wirken kann.
Entstehen und Wachsen der Kirche haben zur Voraussetzung, daß Menschen sich
betend versammeln, um in Treue zum Auftrag des erhöhten Herrn seinen Geist
zu erflehen, ihn zu erwarten, bis er kommt und sie zum Zeugnis befähigt. Das
erste Mal ist es Maria allein, die sich dem Willen Gottes zur Verfügung stellt und
Werkzeug des Geistes wird. Zum zweiten Mal ist es die Gemeinschaft der Jünger
um Maria, die Mutter Jesu.
Die Herrschaft Gottes rückt nahe – das hat bei Lukas die Färbung: der Geist
wirkt in Jesus und durch Jesus. Aber der Geistmitteilung zu Anfang des Wirkens
Jesu geht jene andere, begründende und tragende voraus, der Jesus seine
menschliche Existenz aus Maria der Jungfrau verdankt. Er ist von allem Anfang
an der im Geist und aus dem Geist Kommende. Sein Kommen „braucht“ aber
nicht nur den Geist, sondern es braucht auch den Menschen, der sich vorgängig
dem Geist öffnet. Dieser Mensch ist Maria. Bei Matthäus wird nicht weniger
eindrucksvoll, durch die Verknüpfung mit der Ahnenreihe Jesu, seine doppelte
Ursprünglichkeit aus Gottes Geist und aus der Menschheitsgeschichte dargetan,
die auf Maria als die jungfräuliche Mutter Jesu zuläuft (vgl. Mt 1, 1-25). Das
Moment des vorgängigen Glaubens, der vorgängigen Bereitschaft tritt bei Lukas
nachdrücklicher ans Licht.
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Sicher ist auch der Glaube Mariens antwortender Glaube, dem der Anruf und die
Botschaft von Gott her vorausgeht. Doch es ist das Besondere des lukanisch
verstandenen Glaubens, daß er Wag- [154] nis, Aufbruch des Menschen bedeutet
als Bedingung, damit Gottes neuer Anfang geschehen kann. Der Glaube Mariens
ist verwandt mit dem Glauben des Petrus, der auf Jesu Wort hin die scheinbar
sinnlose Fahrt auf den See wagt (vgl. Lk 5, 5). Gottes erster Schritt und des
Menschen erster Schritt rufen sich und tragen sich gegenseitig, so sehr alles
allein an Gottes erstem Schritt liegt. Das bleibt bei Lukas durchaus; denn der
„erste
Schritt“
des
Glaubens
ist
Schritt
des
Gehorsams,
dienender,
empfangender Schritt.
Solcher Glaube Mariens, solche zuvorkommende Empfänglichkeit und dienende,
gehorsame Angewiesenheit auf Gottes Gabe ist auch die Voraussetzung für
Pfingsten und somit für das Wachstum von Kirche. Bedingungslose Offenheit als
menschliche Bedingung für den Geist und für das, was er wirkt: das ist Maria.
Sie wird hier Sinnbild, aber nicht abstraktes, sondern lebendiges, konkretes
Sinnbild. Wir sollen vollkommen sein wie und – das Wort dafür ist dasselbe – weil
der Vater im Himmel vollkommen ist. Wir sollen lieben, wie Jesus geliebt hat und
weil er uns geliebt hat. Wir dürfen die Übertragung wagen: Christlicher Glaube ist
Glaube, wie Maria geglaubt hat, aber auch weil Maria geglaubt hat. Das Urbild
wird zur Ursache nicht hochstilisiert, sondern es ist Ursache. So entspricht es der
Ordnung der Menschwerdung, der Ordnung der Herrschaft Gottes, in welcher der
entzogene Gott nicht bloß Maßstab bleibt, sondern eingreift und eintritt in den
Lauf der Geschichte.
Bei Johannes: Maria und die Stunde – Maria und die anderen
Im Johannesevangelium begegnet uns Maria an zwei Stellen: am Anfang des
Wirkens Jesu, bei seinem ersten Zeichen, der Hochzeit zu Kana (vgl. Joh 2, 1-12)
und am Ende dieses Wirkens, unter dem Kreuz (Joh 19, 25-27). Dort, wo Jesus
sein Wirken beginnt und im Zeichen seinen Sinn vorwegnimmt, ist Maria dabei.
Fürbittend, die Sorge um die anderen im Vertrauen an ihren Sohn herantragend,
scheinbar abgewiesen, weil er nicht aus menschlicher Rücksicht, sondern allein
gemäß der Stunde handelt, die ihm der Vater gesetzt [155] hat. Aber vom Vater
her geht in Jesu Wirken die Bitte seiner Mutter in Erfüllung, indem er das Wunder
der göttlichen Fülle wirkt. Und wiederum ist sie dabei, wenn ihr Sohn sein Wirken
vollendet, wiederum weggewiesen vom Sohn, aber in weiterweisender Liebe, die
den Jünger ihr und sie ihm anvertraut. Beide Male geht der Weg Jesu über Maria
hinaus – aber mit Maria. Sie, ihr Glaube werden mitgenommen in die
Lebensbewegung Jesu, die weiterführt zum Vater, aber auch hinein in den Kreis
der Jünger, hinein in die Kirche.
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Wie bei den beiden lukanischen Stellen, so wollen wir auch hier nicht die
theologische Grenze und die theologische Fülle dieser Aussagen genau umreißen,
sondern an ihnen den Weg und den Gang des Glaubens anschauen, den die
neutestamentliche Tradition an Maria, der Mutter Jesu, anschaut. Dann aber
zeigt sich uns: Glaube geht, indem er über sich, über seine Erwartungen und
Horizonte hinausgeht und damit hineingeht in die doppelte Bewegung des Lebens
Jesu, hin zum Vater, hin zu den anderen. In diese Richtung deuten beide
marianischen Stellen des Johannesevangeliums. Auch die Bittende bei der
Hochzeit zu Kana bittet nicht für sich, sondern für die anderen, wie hernach sie
an den anderen als ihren Sohn weiterverschenkt wird. Und wie bei der Hochzeit
zu Kana Maria ihre Wünsche und Erwartungen an der Stunde begrenzen und
bemessen muß, die der Vater Jesus bestimmt hat, so erst recht dann, wenn
Jesus in dieser Stunde innesteht. Die Trennung von ihm, die Gott ihr auferlegt,
wird zur neuen Verbindung mit ihm in seinen Jüngern, in seiner Kirche. Auch dies
ist nicht nur menschliche Geste Jesu, sondern Maria geht hier seinen Weg mit, da
er nicht nur im Vater sein wird, sondern vom Vater her in denen, die an ihn
glauben (vgl. nochmals Joh 14, 20).
Maria und die neue Ordnung der Gottesherrschaft
Wenden wir uns einer Reihe von Worten der Schrift zu, die Mariens Stellung in
der neuen Ordnung der Gottesherrschaft betreffen. Es handelt sich ausschließlich
um – unmittelbar gelesen – kritische Worte gegenüber Maria. Vom Zeugnis über
Maria als die Begna- [156] dete und Glaubende werden sie mittelbar freilich in
ein neues Licht gerückt.
Die drei ersten Evangelien berichten die Begebenheit, wie die Mutter und die
Verwandten Jesu ihn sprechen wollen, er aber, statt sie zu empfangen, auf seine
Jünger hinweist und sie als seine wahren Verwandten bezeichnet. Wer den Willen
seines Vaters im Himmel tut, oder, nach Lukas, wer das Wort Gottes hört und
befolgt, der ist ihm nicht nur Bruder und Schwester, sondern auch: Mutter
(vgl. Mk 3, 31-35; Mt 12, 46-50; Lk 8, 19-21). Die einzige „Unmittelbarkeit“, die
einzige „Verwandtschaft“, die in der neuen Ordnung der Gottesherrschaft zählt,
ist jene aus dem Willen und Wort des Vaters. Die Verbindung über den Vater ist
die direkteste, die es gibt. Wer aus ihm lebt, wer ihm glaubt, wer seine neue
Ordnung zur Ordnung seines Lebens werden läßt, der steht Jesus näher als alle,
die ihm bloß menschlich nahestehen. Wenn hier von Bruder, Schwester und
Mutter
die
Rede
ist,
so
meint
dies
zunächst
wohl
ganz
allgemein:
Verwandtschaft. Es ist aber doch wohl erlaubt, die Linie geistlich durchzuziehen
daraufhin, daß es auch eine Art glaubender Mutterschaft mit der Mutter Jesu
gibt, wenn wir das Wort Gottes, den Willen Gottes in uns austragen und Gestalt
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werden lassen. Paulus nennt die Galater seine Kinder, für die er von neuem
Geburtswehen erleidet, bis Christus in ihnen Gestalt gewinnt (vgl. Gal 4, 19).
Hier kommt unabhängig von unserem Evangelienwort diese Wirklichkeit zur
Sprache.
Umgekehrt ist Maria jene, die aus dem Glauben Mutter Jesu geworden ist und
aus diesem Glauben ihn bis in seinen Tod und bis in unser neues Leben, ins neue
Leben der Kirche hinein begleitet. Und so ist ihre Mutterschaft, auch ihre
„natürliche“, schon eine Wirklichkeit der neuen Ordnung der Gottesherrschaft.
Diesen
Rang
der
Mutterschaft
Mariens
heben
die
weiterreichende
Glaubensaussage des Matthäus- und Lukasevangeliums über Jesu Herkunft ans
Licht.
Das Wort über die Mutter Jesu und seine Verwandten ist zugleich Wort an sie.
Denn sie sollen nicht aus einem selbstverständlichen Gefühl des natürlichen
Vorrechtes
auf
Jesus
leben,
sondern
mit
ihm
den
neuen
Weg
der
Gottesherrschaft gehen, der auch den Sohn und [157] Verwandten nur noch aus
der Perspektive des Vaters her kennt. So geschieht Trennung, aber in ihr wird die
alte Nähe neu, tiefer, bleibend begründet. Im Glauben ist mir jeder, was er ist,
ist mir alles, was es ist, vom neuen Anfang, von der einzig tragenden
Wirklichkeit, von Gott her, der in das Zentrum aller Beziehungen rückt. In dieser
Bewegung zerschneidet er die Beziehungen und stiftet sie neu.
In dieselbe Richtung deutet die bei Lukas überlieferte Seligpreisung der Mutter
Jesu. Eine Frau ist von Jesu Wort und Wirken so betroffen, daß sie den Sohn in
jener preist, deren Sohn er ist (vgl. Lk 11, 27f.). Jesus greift diese zunächst
bloß-menschliche Reaktion auf und rückt sie in die neue Dimension: Selig, die
das Wort Gottes hören und es befolgen! Die Frau braucht nicht nur aus
bewundernder Distanz auf die große andere Frau zu blicken, die das Glück hat,
einen solchen Sohn ihr eigen zu nennen. Sie erhält im Hören und Tun des Wortes
Gottes Anteil am Vorzug der Mutter Jesu.
Wie in der Geschichte vom reichen Jüngling nach Markus (vgl. Mk 10, 17f.), so
dreht Jesus auch hier die Perspektive um. Nicht menschliche Bewunderung für
Jesus wird umgedreht, sondern Entscheidung für Gott und seine Herrschaft.
Darin bekommt jedoch – in unserem Falle indirekt – die ursprüngliche
Begeisterung ihr neues Recht: Der Mutter Jesu darf in der Tat gelten, vor allen
und über alle die Seligpreisung jener gelten, die Gottes Wort hören und tun. Und
zugleich eröffnet sich Mariens Geheimnis für die jetzt vom Wort Gottes im Wort
Jesu Betroffenen: Sie erhalten selbst Anteil am Glauben, an der Fruchtbarkeit, an
der Gnade Mariens.
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Im selben Kontext ist an zwei Worte aus der Kindheitsgeschichte nach Lukas zu
erinnern. Einmal an die Weissagung des greisen Simeon, die der Mutter die
Teilhabe am Messiasleiden ihres Sohnes ankündigt (vgl. Lk 2, 35). Zum anderen
an jenen schmerzlich-abgründigen Dialog zwischen Mutter und Sohn, als
der 12jährige Jesus
drei
Tage
in
Jerusalem
zurückbleibt
und
im
Tempel
wiedergefunden wird: „Kind, warum hast Du uns das getan?“ – „Wußtet ihr nicht,
daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist?“ Gerade als die Verwundete
und von der Berufung ihres Sohnes Überforderte, die nicht mit dem spontanen
Verstehen, sondern mit dem geduldi- [158] gen Mitleiden in ihn hineinwächst, ist
Maria noch einmal und tiefer greifend dasselbe, was sie in ihrem anfänglichen
Glaubensgehorsam wurde: Negativ, Hohlform des menschgewordenen Wortes.
Maria und das Wort
Eine letzte Gruppe von Evangelientexten, auf die wir hier einen Blick werfen
wollen, bezieht sich auf das Verhältnis Mariens zum Wort. Diese Texte stehen in
keinem
literarischen
Zusammenhang
miteinander,
doch
lassen
sie
einen
geistlichen Grundzug der Gestalt Mariens hervortreten, der sich an jenen des
Glaubensgehorsams, der dienenden Bereitschaft, des Raumgebens für den Willen
Gottes dicht anschließt.
„Mir geschehe nach Deinem Wort“ (Lk 1, 38) – dieses entscheidende Wort
Mariens gibt den Grundton an. Er klingt wieder auf, wenn es von Maria heißt, daß
sie alle diese Begebenheiten (das griechische Grundwort hat beide Bedeutungen:
Worte und Begebenheiten), will sagen: all das Bedeutungsvolle, das über Jesus
gesagt wurde und mit ihm in seiner Geburt geschah, in ihrem Herzen erwog und
bewahrte (vgl. Lk 2, 19; vgl. auch 2, 51). In ganz anderem Kontext steht das
Wort Mariens an die Diener bei der Hochzeit zu Kana: „Was er euch sagt, das
tut!“
(Joh 2, 5).
Auch
wo
Jesus
ihr
etwas
zumutet,
auch
wo
das
Glaubensverstehen den Glaubensgehorsam nicht augenblicklich einlösen und
einholen kann, bleibt Maria die Hörende und jene, die andere zum Hören auf
Gottes Wort, auf Jesu Weisung hinführt. Ihr Leben ist ein Leben auf das sich in
Jesus, seinem Wirken, seinem Schicksal enthüllende Wort Gottes hin.
Wir erinnern uns daran: Nach Lukas nennt Jesus die seine wahren Verwandten,
die das Wort Gottes hören und es befolgen, und die Seligpreisung seiner Mutter
durch die Frau aus dem Volk wird von Jesus mit genau demselben Ausdruck
beantwortet: „Selig, die das Wort Gottes hören und es befolgen!“ (vgl. Lk 8, 21;
siehe Lk 11, 28). So ist Mariens Grundhaltung und die des Jüngers überhaupt
eine und dieselbe: Gottes Wort annehmen, in sich austragen, [159] in sich Leben
und Gestalt werden lassen. Das Wort ist Fleisch geworden aus Maria der
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Jungfrau, und dies ist nicht nur ein „biographisches“ Faktum, sondern es ist auch
der Lebensvollzug Mariens.
Wie eine Zusammenfassung mag das Gespräch erscheinen, das nach Lukas Maria
und ihre Base Elisabeth bei ihrer Begegnung miteinander im Heiligen Geist
führen. Elisabeth preist Maria selig, weil sie geglaubt hat, daß in Erfüllung gehen
wird, was ihr vom Herrn gesagt worden ist (vgl. Lk 1, 45). Die Antwort Mariens,
das Magnificat, sagt ihr eigenes Leben, aber sagt es mit lauter Worten der
alttestamentlichen Überlieferung. Maria sagt sich selbst aus, indem sie Gottes
Wort sagt. Ihr eigenes Geheimnis ist kein anderes als das des Wortes Gottes, das
– unterstreichen wir es noch einmal – in ihr, in ihrem Leben Raum und Gestalt
gewinnt. Zuvorkommender, tragender, Gott den Ansatzpunkt seines Wirkens in
der menschlichen Geschichte eröffnender Glaube – Mitgehen mit dem Willen
Gottes über die Grenzen des eigenen Interesses und Verstehens hinaus in reiner
Verfügbarkeit und Werkzeuglichkeit, somit gerade Mittun seines Heilswerkens für
die anderen – Treue auch im Glaubensdunkel, in dem tiefste Gemeinschaft mit
dem Kreuz und seiner Fruchtbarkeit erwächst – Einholung des Wortes Gottes,
Wiederholung durch das Leben, Fleischwerdung im eigenen Leben: das ist
Nachfolge,
abgelesen
an
Maria.
Es
ist
Nachfolge,
die
aber
nicht
nur
hinterdreinläuft, sondern die zugleich den Weg bereitet, die das anfänglich und
konstitutiv tut, was Kirche insgesamt tut im Heiligen Geist, indem sie Jesus
Gestalt gewinnen läßt im Miteinander. Die apokalyptische Frau ist die Kirche der
Endzeit – aber sie ist es nach dem Urbild Mariens (vgl. Offb 12, 1-6).
9.3 Maria in der Perspektive der Kirche
Die Kirche hat Maria als Urbild und Vorbild des Glaubens verstanden, und die
Grundmerkmale des Glaubens sind in den großen Mariendogmen zum gültigen
Bild und zur prägenden Form verdichtet. Aber diese Dogmen und die kirchliche
Marienfrömmigkeit insge- [160] samt bedeuteten nie nur eine Selbstreflektion
des Glaubens, sondern lebendige Beziehung zu einem Menschen, der gelebt hat
und
lebt
Wir
dürfen
an
Maria
anschauen,
wie
wenig
sich
Jesus,
der
menschgewordene Sohn Gottes, von der Geschichte der Menschheit, von der
Gemeinschaft der Heiligen trennen läßt. Und so dürfen wir unsere österliche
Formel auch auf Maria übertragen: Unser Christsein heißt leben mit der, die lebt.
Solches Leben mit ihr hat kein „Eigenleben“, sondern kommt allein vom Leben
mit ihm, der lebt, führt aber auch aus einer inneren Dynamik zum Leben mit
ihm, der lebt. In jener, aus der das Wort Fleisch angenommen hat, hat auch
unser Glaube Fleisch angenommen. So wirkt in Maria der Anstoß fort, ja steigert
sich in ihr der Anstoß, daß Gott in Jesus die Geschichte und das Leben des
Menschen umgedreht hat, indem er sich total mit dieser Geschichte und diesem
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Leben eingelassen hat. Doch wer sich diesen Anstoß erspart, der droht der
Herausforderung des Glaubens und seiner befreienden Kraft auszuweichen. Gibt
es nicht zu denken, daß Maria, daß Kirche als Institution, besonders die
Gegenwart Jesu im Amt der Kirche, daß schließlich die Sakramente jene drei
Punkte sind, an denen wir nur zu leicht den Anstoß der Menschwerdung
zurückzudrängen versucht sind? Geschieht aber nicht gerade an diesen Punkten
die
erregende
Übersetzung
des
Christusgeheimnisses
in
die
menschliche
Geschichte hinein? Der Herr selber handelt unter endlichen, geschichtlichen
Zeichen – Anstoß des Sakramentes. Der Herr selbst verschenkt sich, indem er
Menschen schenkt und sendet, die in seinem Namen und seiner Vollmachten
sprechen und handeln – Anstoß von Amt und Sendung in der Kirche. Der Herr
selbst handelt unmittelbar mit seiner aus dem Nichts erschaffenden, mit seiner
begnadenden und auferweckenden Macht an einem Menschen, an jenem
Menschen, der Werkzeug für die Fleischwerdung des Wortes ist – Anstoß
Mariens. Es ist dreimal der Anstoß der in Jesus gekommen und in Jesus an uns
weitergeschenkten Nähe Gottes.
Die Kirche preist Maria als die unbefleckt Empfangene, will sagen als den
Menschen, in dem von Anfang an und ohne die Trübungen und Brechungen
unserer gefallenen Freiheit Gott, seine Gnade, [161] sein Sich-Schenken, alles
hat wirken können, was er wollte. Die Kirche glaubt weiter Maria als die
jungfräuliche Mutter des Herrn, die sich, die ihre Leibhaftigkeit ganz einbrachte in
die Fleischwerdung des Wortes – aber so, daß sie sich und ihr leibhaftiges Dasein
rein und allein dem wirkenden, schaffenden Gott dargebracht hat. Die Kirche
glaubt Maria als die „Gottgebärerin“, als jene, die nicht nur einem begnadeten,
von Gott erfüllten Menschen, sondern wahrhaft dem Sohn Gottes aus der Kraft
des in ihr wirkenden Geistes Gottes menschliches Leben geschenkt hat.
Schließlich glaubt die Kirche Maria als die mit Leib und Seele, als die in ihrer
ganzen menschlichen Existenz aus dem Tod in die Vollendung, in die Herrlichkeit
Aufgenommene. Geht es hier nur um ein paar „Ehrentitel“ für Maria, um ein paar
theologische Spezialitäten, an denen für unser Glaubenszeugnis letztlich nichts
hängt? Oder können wir hier die Nähe, die Wirksamkeit, die geschichtliche
Konkretheit
des
Wirkens
Gottes
anschauen?
Lesen
wir
die
kirchlichen
Glaubensaussagen über Maria einmal im Licht der biblischen Ansage der
Gottesherrschaft, die uns den Einstieg in unsere Frage eröffnete: Glauben, wie
geht das?
Wir erinnern uns der elementaren Sätze Jesu nach Markus: „Erfüllt ist die Zeit
und nahegekommen ist die Herrschaft Gottes. Kehret um und glaubet an das
Evangelium!“ (Mk 1, 15). Der Anfang von seiten des Menschen ist die Umkehr,
ist die Aufgabe des eigenen Anfanges, der Sprung in den Anfang Gottes hinein.
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Die Umdrehung des Menschen ist verlangt, ein Denken, das nicht nur die Pläne
und Möglichkeiten des Ich zur Voraussetzung hat, sondern Gott, den neuen
Anfang, den er schenkt. Nirgendwo können wir solche Umkehr menschlicher
Existenz tiefer anschauen als in Maria, der unbefleckt Empfangenen. In ihr hat
Gott mit seiner Bereitschaft, selber der neue Anfang zu sein, bis in die äußerste
Konsequenz hinein ernst gemacht. Maria, reiner Mensch, bloßer Mensch, Mensch
aus der Geschichte der Schuld und ihrer Last hervorgegangen, aber dem Anfang
Gottes so total überantwortet, daß nichts anderes in ihrem Menschsein
hervortritt als seine Mitteilung, als seine Gabe. Diese Gabe kommt ihr, kommt
ihrem Handeln und Antworten zuvor – [162] und löst sich doch in ihrer
Glaubensantwort ganz ein, entspricht ihr.
Wir sind nicht „Immaculata“, wir sind im nachhinein in Jesu Tod und
Auferstehung getauft und der immer neuen Umkehr und Versöhnung bedürftig.
Aber in solcher Umkehr geschieht das Entsprechende: Hineinnahme in Gottes
neuen Anfang, jene neue Ursprünglichkeit und Reinheit, die wir aus uns nicht zu
erreichen vermögen, die uns so neu mit uns selbst überrascht, wie unser eigenes
Dasein uns mit uns selbst überrascht, da wir geschaffen sind und uns nicht selber
machen können. Umkehr in die neue Schöpfung, und darin Gemeinschaft mit
einer, in der diese neue Schöpfung, die Umkehr der Geschichte in Gottes neuen
Anfang sichtbar ist – das ist der Weg auch unseres Glaubens.
Ja, auch für Maria ist der Weg, der aus dieser Umkehrung ihrer Existenz folgt und
der sie einlöst, der Glaube. Und ihr Glaube wird Gestalt in ihrer jungfräulichen
Mutterschaft. Mit dieser tritt sie in die Geschichte alttestamentlichen Glaubens
ein und wächst über diese Geschichte zugleich hinaus. Im Alten Testament heißt
Glaube in immer neuer Abwandlung: die Zukunft, die wir nicht aus uns
vermögen, uns schenken lassen von Gott allein, uns selbst dabei aber einlassen
auf sein Geschenk. Und das wiederum heißt, sich einlassen auf Gottes
Verheißung, auf den Weg, auf den diese Verheißung uns über unser eigenes
Vermögen und über unser eigenes Erfahren und Sehen hinaus ruft. Der Glaube
des Abraham, der aufbricht ins Unbekannte (vgl. Gen 12, 1-9), der aus dem
erstorbenen Schoß Sarahs den Sohn der Verheißung erwartet (vgl. Gen 17, 1522; 18, 1-15); die Geburt des Simson (Richter 13, 1-25), den der Engel der
unfruchtbaren Frau verheißt, der Glaube der Hannah, die den Samuel empfängt
(vgl. 1 Sam 1, 1-20) – sie weisen in die Richtung, die bis zum äußersten
ausgeschritten wird im Glauben Mariens und in ihrer jungfräulichen Mutterschaft.
In ihr „dehnt“ Gott nicht nur die Möglichkeiten des Menschen über ihr eigenes
Maß hinaus, sondern er erschafft aus Unmöglichkeit neue Möglichkeit, er setzt
beim Nullpunkt an. Und der Glaube Mariens tut diesen ersten Schritt, diesen
schöpferischen An- [163] fang Gottes mit. Gott nimmt in Maria den Menschen in
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Anspruch, um unser Menschsein mit uns zu teilen und anzunehmen, um von sich
aus und zugleich von uns aus Mensch zu werden. Der Glaube Mariens, ihre
jungfräuliche Mutterschaft, ist der Höhepunkt schöpferischer Aktivität des
Geschöpfes, und dieser Höhepunkt ist zugleich eben „Nullpunkt“, reines SichÜberlassen, reines Sich-Beschenkenlassen.
Und wiederum laufen in dieser Spitze die Linien unseres Glaubens und Lebens
zusammen, oder besser: diese Spitze entfaltet sich in den Linien unseres
Glaubens und Lebens. Bei allem Unterschied unserer Berufung zur einmaligen
Berufung Mariens gilt doch auch für uns: Produktiver Glaube ist immer
jungfräulicher Glaube, Glaube, daß Gott mit unserem Nichts-Haben und NichtsSein etwas, ja alles anfangen kann, etwas, ja alles wirken kann. In der Tat ist
der Schritt des Glaubens in der Geschichte der Kirche immer wieder und heute
im besonderen der Schritt dieses „jungfräulichen“ Glaubens, der sich beileibe
nicht in äußerer Jungfräulichkeit erschöpft, der aber im Mut zur buchstäblichen
Jungfräulichkeit und im Verständnis für solche Jungfräulichkeit eine wichtige
Erkennungsmarke hat.
Umkehren und an das Evangelium glauben, dazu ruft uns die Botschaft Jesu, weil
sie uns das Ereignis der Ereignisse zuzurufen weiß: das Nahekommen der
Herrschaft Gottes. Und Gottes Herrschaft kommt uns nahe, indem eben Gott
aufbricht vom Jenseits unseres Erfahrungshorizontes und einbricht in ihn, Mitte
unserer Welt werdend. Was Jesus ansagt, das aber ist er bereits. Er ist der nahe,
der mit uns lebende Gott, der alles von Gott einbringt und alles vom Menschen
annimmt. Der einzige Sohn Gottes, Fleisch annehmend aus Maria der Jungfrau,
das heißt aus der Perspektive Mariens: Maria ist die „Gottesgebärerin“.
Zweifellos ist dies die Mitte der Mitte ihres Geheimnisses. Und doch ist es keine
einsame Mitte. Auch hier dürfen wir in Maria unsere eigene Berufung anschauen,
auch hier bahnt sie den Weg des Glaubens, den wir zu gehen haben. Denn unser
Glaube läßt sich nicht trennen von jenem bezeugenden und Leben zeugenden
Ge- [164] horsam Mariens, der nicht weniger als Gott selbst empfängt,
weitergibt und verschenkt. Wenn Paulus in Geburtswehen liegt, damit Jesus
Christus in den galatischen Christen Gestalt gewinne, dann ist der springende
Punkt aller Seelsorge berührt, und nicht nur der Seelsorge jener, die dafür eine
eigene Weihe und Sendung haben. Die Sorge des Christen um seinen Nächsten
ist Sorge darum, daß Jesus in ihm erkannt und erkennbar wird, daß Jesus in ihm
Lebensraum gewinnt, Gestalt gewinnt. Unser Wort und unser Leben sollen Jesus
selbst zum Zuge kommen lassen, einbringen, vermitteln. Unser Glaube ist der
Weg der Herrschaft Gottes, ist der Weg dessen, was wir aus uns und was auch
unser Glaube aus uns nicht vermag.
Quelle: www.klaus-hemmerle.de ● © Bistum Aachen ● Nur für den privaten Gebrauch
Version: Juni 2010
Unser Markusvers leitet die Anzeige der Gottesherrschaft ein mit dem Sätzchen:
„Erfüllt ist die Zeit!“ Die Zeit ist deshalb erfüllte Zeit, weil grundsätzlich jetzt das
Auseinander von Verheißung und Erfüllung überwunden ist. Die Zeit wird – wir
sahen es an Jesu Kreuzestod – bis in die tiefste Tiefe ihrer Endlichkeit hinein
ausgelitten. Der Schmerz der Endlichkeit wird nicht wegoperiert. Aber die
Endlichkeit selbst wird zur Schale der Erfüllung. Der Karfreitag wird zur Schale
von Ostern, und Ostern bricht aus dem Karfreitag hervor. Daß dies nicht der
einmalige Sonderfall im Geschick des Heilsbringers ist, sondern Verkündigung
dessen, was auch mit uns geschehen wird, Anfangen einer neuen Zeit, eben der
erfüllten Zeit, die unsere leere und gespannte Zeit bereits jetzt umfängt, das
dürfen wir wiederum mit dem Glauben der Kirche ablesen an Maria. Sie ist die
„Assumpta“, die schon jetzt ganz in die Herrlichkeit Gottes Hineingenommene.
Das Ende, die Vollendung ist in ihrem Schicksal schon eingetroffen und betrifft
darin unser eigenes Schicksal, das noch in der Spanne zwischen Anfang und
Vollendung steht. In der Assumpta erhält auch für uns das österliche Wort eine
neue Dimension: „Ihr seid in Christus auf erweckt; darum strebt nach dem, was
im Himmel ist, wo Christus zur Rechten Gottes sitzt. Richtet euren Sinn auf das
Himmlische und nicht auf das Irdische. Denn ihr seid gestorben, und euer neues
Leben ist mit Christus verborgen in Gott. Wenn Christus, unser Leben, offenbar
wird, dann werdet auch ihr mit ihm offenbar werden in Herrlichkeit“ (Kol 3, 1-4).
[165] Wir erleben die Erfüllung in der Verborgenheit, und diese Verborgenheit
macht uns je neu mit Maria zur Schale, die den Herrn empfängt und birgt und
weiterreicht, zum Hintergrund, den er erfüllen, auf dem er Kontur gewinnen, auf
dem er hervortreten kann für die Welt. Weil wir mit ihm verborgen sind, kann er
in uns und aus uns aufleuchten. Darin faßt sich das marianische Geheimnis
unseres eigenen Glaubens und seines Weges durch die Welt zusammen.
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[166] 10. Die Welt
10.1 Gottesbild – Weltbild
Daß sich im Gottesbild etwas wandelt, wenn das Weltbild sich wandelt, das
versteht sich beinahe von selbst. Wie wir Gott sehen, was wir von ihm sagen,
das hängt zusammen mit den Erfahrungen, die wir machen, mit dem Leben, das
wir erleben, mit dem Gang der Welt, in den wir mit unseren Erwartungen und
Befürchtungen eingespannt sind. Natürlich bedeutet das eine perspektivische
Verkürzung unseres Gottesbildes – eine solche gehört sogar notwendig zu
unserem Gottesbild hinzu, weil wir eben endliche, geschaffene Wesen sind. Die
weltbildliche Verengung unseres Gottesbildes ist aber nicht nur ein Defizit. Daß
Gott überhaupt in den begrenzten Blickwinkel unseres Weltbildes eintreten kann,
ist ein Zeichen seiner Größe, und daß wir die Spuren unserer Armseligkeit und
Endlichkeit mitbringen, wenn wir vor Gott hintreten und auf ihn blicken, das läßt
ihn für uns lebendiger und näher werden. Nur wenn er „mein“ Gott, „unser“ Gott
ist, nur wenn er meine endliche und geschichtliche Situation betrifft, erfahre ich
die Wucht seiner unendlichen Bedeutsamkeit.
Weniger geläufig ist die Umkehrung unseres Satzes: Wenn das Gottesbild sich
wandelt, dann wandelt sich auch das Weltbild. Es wäre verlockend, diese
Umkehrung durch mancherlei Beispiele aus dem Gang des philosophischen und
religiösen Denkens der Menschheit zu belegen. Doch stoßen wir unmittelbar vor
zum Ra- [167] dikalfall: Das neue Gottesbild in Jesu Botschaft von der
herannahenden Gottesherrschaft bedingt auch ein neues Weltbild. Wenn die
Sonne heraufkommt über den Horizont und unseren Sichtraum unmittelbar anund ausleuchtet, dann verwandelt sich alles. Wenn Gott nicht mehr nur die
entzogene Quelle unserer Zukunft jenseits des Horizontes ist, sondern Zentrum
unseres Lebens und unserer Geschichte werden will, dann wird die Welt neu.
Wir stehen freilich noch in jenem zwielichtigen Zwischenraum: der Anfang der
Gottesherrschaft ist eindeutig und unwiderruflich in Jesus Christus gesetzt – die
Vollendung steht noch aus. Das Neue der neuen Schöpfung ist nicht allen Augen,
sondern nur dem Glauben sichtbar. Aber weil Glaubende ihren Glauben leben,
tritt es doch in die allen erfahrbare Welt ein, so wie sie jetzt ist. Denn glaubend
gehen wir anders heran an die Welt, im Glauben bedeuten uns ihre Glücksfälle
und Enttäuschungen, ihr Licht und ihre Schatten etwas anderes – und die Weise,
wie wir hoffend und liebend durch diese Welt gehen, wie wir sie „lassen“ und uns
ihr zuwenden, fordert unsere Mitmenschen heraus und wirkt hinein in unser
gemeinsam mit allen zu bestehendes Geschick. Christlicher Weltdienst soll Gottes
Liebe zu dieser Welt und soll die Vorläufigkeit dieser Welt, soll die weltbejahende
und weltübersteigende Kraft unserer Hoffnung bezeugen. Christlicher Weltdienst
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soll ganz einfach Gottes Liebe mittun, das Werk seiner Hände soll uns angelegen
sein, wie den Kindern des Künstlers das Werk ihres Vaters angelegen ist. Und
was Menschen mit Gottes Welt anfangen, soll uns angelegen sein, so wie
Geschwistern angelegen ist, was Geschwister mit dem gemeinsamen Erbe
anfangen – und zwar nicht nur um ihres Anteils willen, sondern um des Erbes
selber und um der Geschwister willen.
Doch kehren wir uns unmittelbar unserem Thema zu: Wie verändert das neue
Gottesbild Jesu das Weltbild? Wie geht, in der Sicht unseres Glaubens, diese Welt
und wie geht der Glaube in ihr?
[168] 10.2 Der Boden: alttestamentlicher Schöpfungsglaube
Wir erinnern uns: Jesus holt den Anfang ein, den Gott in der Schöpfung gesetzt
hat. Er setzt neu an, wo Gott zum ersten Mal angesetzt hat. Der Gott, der
Himmel und Erde geschaffen hat, der Gott, dem Himmel und Erde gehören,
ergreift seine Herrschaft, er tritt aus der Distanz heraus und bricht ein in diese
Welt. Er, der Gott über der Schöpfung, will der Gott in der Schöpfung werden,
der Gott über Himmel und Erde will der Gott sein, dessen Wille wie im Himmel so
auf Erden geschieht.
Damit stellt sich Jesus ausdrücklich auf den Boden des alttestamentlichen
Weltbildes oder – was dasselbe sagt – des alttestamentlichen Bildes vom
Schöpfergott.
In unserem Jahrhundert hat der jüdische Religionsphilosoph Franz Rosenzweig
eindringlich auf das bleibend Neue und auch heute noch provokatorisch Andere
biblischen Gottes-, Menschen- und Weltbildes hingewiesen. Gott, Welt und
Mensch werden nicht ineinander aufgelöst, sondern stehen in gegenseitiger
Beziehung zueinander. Das Grundwort dieser Beziehung heißt „und“. Sowohl
abendländische Philosophien wie auch Totalentwürfe verschiedener Religionen
haben die drei Größen Gott, Welt und Mensch immer wieder auf verschiedene
Weise ineinander aufgelöst. Entweder blieb als einzige Wirklichkeit der Mensch
übrig, Gott und Welt wurden zu seinem Produkt, zu seiner Projektion, zumindest
zu „Funktionen“ des Menschen, die ihren Sinn und Zusammenhang und ihre
Realität allein von Gnaden des Menschen haben. Oder – in materialistischer
Weltsicht – der Mensch wurde selbst zum Produkt von Welt und Gott zur
weiteren Potenzierung dieses Produktes. Die Wirklichkeit, von der her alles zu
verstehen, zu gestalten und zu steuern ist, wäre hier eben die Welt, der Stoff,
die Verhältnisse, das Milieu, die im Menschen zum Bewußtsein kommen – und
dieses Bewußtsein feiert sich dann, sich von seiner realen Basis lösend, in der
Gottesidee. Oder aber Gott wird zum einzig Wirklichen, einzig Seienden, und
zwar dergestalt, daß Mensch und Welt nicht nur Produkte Gottes, sondern
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Masken, Erscheinungsformen Gottes, [169] Durchgangsphasen Gottes auf
seinem Weg zu sich selbst oder Endphasen auf dem Weg seiner Entäußerung von
sich selbst sind.
Damit sollen keine fertigen Formeln für die so reich differenzierten Gottes-, Weltund Menschenbilder der Geschichte menschlichen Denkens und Lebens geliefert
werden.
Wohl
aber
werden
Richtungen
markiert,
von
denen
sich
das
alttestamentliche Wirklichkeitsverständnis deutlich absetzt. Gott ist nicht die Welt
und nicht der Mensch. Aber Gott ist – schaffend, sich offenbarend, seine
erlösende Liebe zuwendend – auf Welt und Mensch bezogen. Er steht vor und
über und zugleich zu Welt und Mensch. So ist aber auch der Mensch an sich
selber freigegeben, wenngleich oder besser: indem seine Freiheit hinorientiert ist
auf Gott und zugewandt zur Welt. Die Welt wiederum ist der von Gott
geschaffene und dem Menschen zugewiesene Raum, in dem der Mensch sich
bewähren und den er gestalten soll, in dem er sich jedoch nicht verlieren darf;
denn die Welt ist zwar für ihn, er aber nicht nur für diese Welt, sondern für Gott
erschaffen.
Herrschaft Gottes, Gott in allem, der neue Anfang, den Jesus bringt, dies setzt
Gott, Welt und Mensch in eine neue Beziehung zueinander: Gott bricht auf in
diese Welt, ja er wird Mensch. Und doch ist die neue Beziehung nicht ein
Aufgehen dieser drei Größen ineinander, das sie verschlänge. Herrschaft Gottes
bedeutet nicht den Selbstverlust Gottes in Mensch und Welt oder den
Selbstverlust von Mensch und Welt in Gott. Die innigste Einheit, die der Liebe,
wahrt die Pole, die miteinander in eins gesetzt werden. Nicht Vermischung von
Gott, Welt und Mensch, sondern Freigabe von Welt und Mensch in der
grenzenlosen Gemeinschaft der Liebe, das ist der neue Ton des Neuen
Testamentes, durch den das Alte und sein Weltbild nicht außer Kraft gesetzt sind.
Machen wir auf einige Züge aufmerksam, die in diesem Weltbild eingefaltet und
für unser glaubendes Weltverhalten von besonderem Belang sind.
[170] Der eine Gott Himmels und der Erde
Der Gott, der sich von Mensch und Welt abhebt, ist der eine Gott. Er hebt sich
auch von jenen Formen der Religiosität ab, die viele Götter kennen. Es ist
naheliegend, daß die Religiosität der Menschheit das Göttliche je dort verehrte,
Gestalt werden ließ, wo es im Lebensraum des Menschen diesen betraf und rief.
Aus den vielen Begegnungen mit dem Göttlichen, aus den vielen Berührungen
des Göttlichen gewann dieses seine vielfältigen Gesichter und Gestalten, das
Heilige wurde in vielen „Göttern“ verehrt. Die Übermächtigung des Menschen in
seinem Leben, in seiner Alltagserfahrung, zumal in seiner Schöpfungs- und
Naturerfahrung sind auch der Mutterboden, aus dem viele Zeugnisse der Religion
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Israels erwachsen. Aber mit zielsicherer Geradlinigkeit hebt sich der Glaube
Israels aus derlei Verklammerungen empor, wird er zum Glauben an den einen
Gott, der, in der Welt sich zeigend, über ihr steht. Als der eine Gott, der dem
Menschen vielfältig nahe ist, wird er mehr und mehr zum Gott des Weges, zum
Gott der Geschichte. Menschliche Verehrung kann ihn nicht festhalten, indem sie
ihn in diese Welt hineinbannt, sondern sie begegnet den Spuren seiner Führung
und geht im Vertrauen auf ihn, der verheißt, fordert, schenkt, führt, rettet, auf
sein Wort hin, den Weg durch diese Welt. Sie wird Raum der Beziehung zu Gott,
aber nicht Grund dieser Beziehung. Glaube bewährt sich in dieser Welt und
gestaltet sie so.
Der Schöpfer und die Schöpfung aus dem Nichts
Konsequent,
daß
diese
Welt
nicht
ein
von
Gott
auf
irgendeine
Weise
vorgefundener Raum, nicht eine Vorgabe an den nachträglich sie gestaltenden
Gott ist; konsequent, daß sie nicht Endprodukt eines innergöttlichen Kampfes
oder Prozesses ist, wie dieser Gott nicht Produkt eines Weltprozesses, einer
Entwicklung ist. Nein, dieser Gott hat Himmel und Erde geschaffen – und, wie
sich in der Reflexion des Grundansatzes immer deutlicher herausschält, aus dem
Nichts geschaffen. Gott ruft – und die Welt entsteht. Die Eigen- [171] ständigkeit
der Welt ist Eigenständigkeit ganz und gar von Gottes Gnaden, ganz und gar
ohne
eigene
Voraussetzung.
Dualismus
ist
von
der
inneren
Logik
alttestamentlichen Gottesglaubens her umso mehr ausgeschlossen, je tiefer
dieser Glaube sich selbst erfaßt und reflektiert. Die Welt, die sich Gott allein
verdankt, ist indessen nicht weniger, sondern mehr eigenständige Welt. Sie
stammt nicht von sich selbst, aus einem undeutlichen und unbewußten Urgrund
und wäre dann hernach von Gott überformt worden, von einem Gott, der ihr erst
so sein ihr zutiefst fremdes Lebensgesetz aufprägte. Vielmehr ist diese Welt
„gemeinte“, „gewollte“, von Grund auf sich selbst gegönnte, überlassene,
freigegebene Welt. Sie muß sich auf Gott beziehen, ihm entsprechen – aber in
solcher Beziehung und Entsprechung hat sie ihren eigenen Glanz und ihren
eigenen Wert.
Glanz und Wert, gewiß. Und doch ist sie „entzauberte“ Welt. Die Schauer und
Schrecken des Heiligen wohnen auch in der Welt, die das Alte Testament kennt.
Aber eine Verfallenheit an diese Schauer und Schrecken gibt es im Glauben an
Jahwe, den Bundes- und Schöpfergott Israels, nicht. Sonne und Mond, Himmel
und Naturgewalten sind nicht die Rivalen des Gottes, der alles dies gemacht,
geordnet und dem Menschen hingestellt hat, daß er sich dessen bediene.
Nüchterne Freiheit, mit dieser Welt umzugehen, wächst aus der Treue, die jeden
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Augenblick auf die Hand des Herrn schaut und die Dinge so gebraucht, wie er sie
uns in unsere Hand hineingelegt.
Der Mensch – Gottes Bild
Indem der Mensch diese Welt Gott verdankt und im Blick auf Gott gestaltet,
bewahrt er seine eigene, seine menschliche Eigenständigkeit. Er ist Bild Gottes –
gerade indem er die Herrscherlichkeit Gottes über diese Welt ausübt, ausübt
aber in der dauernden Maßnahme an Gott, im Bund mit ihm. Auch und zumal
beim Menschen gehören Abhängigkeit von Gott und Eigenstand aufs innigste
zusammen.
Die Welt, die ihr Geschick im Umgang des Menschen mit ihr und in der Führung
und Fügung des Gottes hat, der sie dem Menschen [172] übergibt, ist nicht nur
Natur; sie ist Natur und Geschichte, Natur in Geschichte. Der Schöpfungsbericht
gehört
in
die
Vorgeschichte
Schöpfungsberichtes
des
Gen 1 und 2
Bundes
im
hinein
gesamten
(vgl.
die
Stellung
der
Komposition
des
der
5 Bücher Mose). Besonders eindrucksvoll sehen wir dies etwa am Lobpreis der
Größe und Barmherzigkeit Gottes, wie sie Psalm 136 uns darbietet: Gottes
Großtaten sind zugleich jene der Schöpfung und die Taten der Führung in der
Geschichte Israels. Welt ist Welt in jener Geschichte, die sie mit dem Menschen
auf Gott hin und von Gott her hat. Welt ist der Raum, der sich öffnet für das Heil
des Menschen, indem er sich öffnet für die Herrschaft Gottes.
10.3 Die Welt – überholt in die Gottesherrschaft
Die alttestamentliche Botschaft von der Welt als Schöpfung ist das Fundament,
auf dem die Botschaft Jesu und des ganzen Neuen Testamentes aufbaut. Und
doch sind die Aussagen des Neuen Testamentes über die Welt vielfältig und
spannungsreich.
Um sie theologisch aufzuarbeiten, wäre es notwendig, ihre unterschiedlichen
Perspektiven, aber auch ihre zeitgeschichtlichen Hintergründe anzuleuchten. Erst
so ließen sich ihre jeweilige Färbung, ihr jeweiliger Zusammenhang, aber auch
die jeweilige Haltung oder Ideologie erkennen, von denen sich die einzelne
Aussage oder Aussagereihe absetzt. In der Weise, wie mannigfaltige Einflüsse
verarbeitet werden, wie sie übernommen, aber in der Übernahme umgewendet
oder wie sie nicht übernommen und in der Absetzung dennoch wirksam werden,
spiegelte sich jene stille, aber gewaltige Gedankenarbeit wieder, die im Rahmen
der neutestamentlichen Schriften geleistet wird: Verwandlung von Gedanken,
Traditionen, Erwartungen durch die Begegnung mit dem Evangelium, mit Jesus
Christus.
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Wir können uns hier nur auf ein recht abgekürztes Verfahren einlassen. Vom
Blickwinkel der Gottesherrschaft her gelingt es, durch [173] die scheinbar
unzusammenhängenden Aussagepunkte eine Linie, eine Wegbahn ziehen, die
insgesamt zeigt, wie im Sinne des Evangeliums der Weg des Glaubens durch
diese Welt geht.
Die Welt – das Vorletzte
Zur Botschaft Jesu vom heranbrechenden Gottesreich gehört elementar die
Mahnung, sich zu lösen von der Sorge dieser Zeit und dieser Welt (vgl. Mk 4, 19;
Mt 13, 22). Es nützt nichts, die ganze Welt zu gewinnen, aber an der eigenen
Seele Schaden zu leiden (vgl. Mk 8, 36; Mt 16, 26; Lk 9, 25). Klugsein in dieser
Welt, Weisheit dieser Welt, Geltung dieser Welt, Erfolg dieser Welt, Maßstäbe
dieser Welt sind nicht mehr das Entscheidende (vgl. z. B. Lk 12, 30; 16, 8;
20, 34; 1 Kor 1, 20ff.; 3, 19; Gal 6, 14; Jak 4, 4).
Die Welt und ihre Zeit (vgl. die beiden Ausdrücke für Welt im Neuen Testament,
den räumlichen Weltbegriff, „kosmos“, und den zeitlichen: „aion“) nehmen ihren
Gang im Zusammenwirken und Gegeneinanderwirken unterschiedlicher Faktoren.
Die Welt, das ist nicht nur der von Gott dem Menschen eingeräumte,
zugeordnete Raum, den er sich gestaltend und genießend nutzbar macht, um
über ihn zu herrschen (vgl. Gen 1, 26.28). Zur Welt gehört es, so wie sie ist, daß
der Mensch sich seiner Zukunft, seines Lebens in der Schöpfung und aus ihren
Vorräten nicht von sich her sicher sein kann. Er vermag – immer wieder
begegnet uns dies – seine Zukunft nicht aus sich selbst, sondern empfängt sie
aus der ihm entzogenen Quelle aller Zeit. Und er empfängt nicht „Zeit an sich“,
sondern Lebensmöglichkeiten, die im Zusammenwirken aller Kräfte und Mächte
in der Schöpfung ihm zuwachsen, im Zusammenwirken dieser Kräfte und Mächte
ihm aber auch unversehens entzogen werden können. Das Zusammenspiel aller
dieser Kräfte und Mächte und ihr Zusammenspiel mit dem Menschen, mit seinem
kennenden, vorsehenden Ordnen, Verändern, Genießen und vor allem mit dem
Zusammenwirken der Menschen miteinander – dies ist das Geschäft dieser Welt.
Seine Faktoren freilich sind umfangen von jenem Faktor, der kein einzelner
dieser Faktoren und auch [174] nicht ihre Summe und ihr Inbegriff ist: von
jenem, an dem alles liegt und zumal der je nächste Augenblick.
Er, die Quelle der Zukunft, er, über aller Zeit und Welt, bricht nun auf und ein in
diese Welt- und Zeit-Herrschaft Gottes. Die Faktoren, die menschliches Kennen
und Können ermißt und bemißt, sind nicht alles, und auch die Ungewißheit, die
aus dem Gesamt aller Faktoren herausspringt, ist nicht das Letzte. Welt
insgesamt wird zum Vorletzten, wenn jener seine Macht in dieser Welt antritt, an
dem der Anfang, der Bestand und das Ende dieser Welt liegen. Weder die
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lähmende Sorge davor, daß der Mensch seine Zukunft nicht gestalten kann, noch
die vorwitzige Sicherheit, die immer mehr und am Ende alles in der Hand zu
haben wähnt, haben mehr ihr Recht. Sie sind überholt, sie sind selbst „gestrige“
Haltungen geworden gegenüber jener Armut im Geist, die sich alles schenken
läßt und die sich selbst verschenkt.
„Vergangene“ Welt
Die Welt ist das Vorletzte. Nur wer über die Welt hinaus auf den Herrn schaut,
nur wer die Zeichen seines Kommens gewahrt und sich auf sein Kommen, das
Kommen seiner Herrschaft einläßt, hat die Welt ganz im Blick. Die Welt als das
„vorletzte“ ist vergehende Welt (vgl. 1 Kor 7, 31; 1 Joh 2, 17).
Vergehen ist der Rhythmus der Zeit und damit der Rhythmus dieser Welt.
Diesem Vergehen wird in der Botschaft vom Anbruch der Gottesherrschaft das
Kommen,
die
von
Gott
eröffnete
Zukunft
ohne
Maß
und
ohne
Ende
entgegengesetzt.
So entsteht eine merkwürdig gespannte Situation. Die Welt – will sagen die
Menschen, die so leben, als ob diese Welt und die in ihr feststellbaren
Strebungen und Wirkmächte alles wären – glaubt, ihren Anfang von einem
anderen, von Gott, hinter sich gebracht zu haben. Es scheint, als ob die Welt ihr
Geschick aus sich selbst gestalten könne, ihre Zukunft aus sich selber habe.
Genau diese Welt aber, die sich loskettet von ihrer Vergangenheit, von der
Herkunft aus der Hand des Schöpfers, der sie sich verdankt, ist jedoch nicht
[175] nur vergehende, sondern im Grunde bereits „vergangene“ Welt. Denn mit
ihrer Sorge, ihrem Optimismus, ihrer Geschäftigkeit, ihrer Verzweiflung blendet
sie das Licht der frohen Botschaft ab, die uns sagt: Die Zeit ist erfüllt, das
Vergehen ist vergangen in die neue Zukunft, in die Zuwendung Gottes, der uns
sich und mit sich alles schenkt.
Jener, der aus dieser neuen Zukunft Gottes lebt, ist augenfällig ein „Armer“.
Einer, der mit dem Geschäft dieser Welt nicht mithalten kann, einer, der sich um
seine sicheren Anteile an der Zukunft bringt. Er ist der Tor, der alles verlassen
hat und dem nichts anderes bleibt, als Augenblick für Augenblick um das Brot für
den jeweiligen Tag zu bitten (vgl. Mt 6, 11; Lk 11, 3). Doch solche Armut im
Geist weiß sich selbst der Zukunft ohne Ende sicher – und gerade deshalb hat sie
nicht notwendig, sich um mehr als um dieses Brot für heute zu sorgen. Sie
erfährt zwar die Bedrängnis und die Verfolgung – aber zugleich wird dem, der
alles verlassen hat, schon jetzt das Hundertfältige in neuer Köstlichkeit, in der
Köstlichkeit des unverdienten Geschenkes, zuteil (vgl. Mk 10, 29f.).
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„Böse“ Welt
Welt, die sich in ihr eigenes Vergangensein hinein verbohrt und an ihm festhält,
wird zur „bösen“ Welt. Dieser Ausdruck selbst ist nicht neutestamentlich, hat
aber im Neuen Testament seinen Hintergrund. Welt, in diesem Sinn verstanden,
kann den Geist nicht empfangen, weil sie ihn nicht sieht und nicht kennt
(vgl. Joh 14, 17). Es ist jene Welt, aus der die geboren sind, die Gott nicht lieben
und sich seiner Heilsbotschaft nicht öffnen (vgl. 1 Joh 2, 15-17). Es ist jene Welt,
für die Jesus nicht bitten kann, daß sie gerettet werde, weil sie eben in sich
selbst Widerspruch dazu ist, sich retten zu lassen. Es ist jene Welt, die sich
weigert, in die Lebens- und Liebesbewegung Jesu einzutreten, außerhalb derer
es keine Gemeinschaft mit dem Gott geben kann, der selber die Liebe ist
(vgl. Joh 17, 9). Es ist jene Welt, welche die haßt, die lieben und damit das
Konzept der Selbstbehauptung durcheinanderbringen (vgl. Joh 15, 18-25).
[176] Genau besehen richten sich die Aussagen gegen die Welt jedoch nicht
gegen die Menschen, die „Welt“ sind – sie sollen ja aufgerüttelt, zur
Entscheidung gerufen werden; es soll ihnen vor Augen gestellt werden, daß sie
nicht zu retten sind, wenn sie Welt bleiben, wenn sie in der Ordnung der
Selbstbehauptung verharren. Und ebenso wenig wird durch dieses Wort Gottes
gute Schöpfung schlechtgemacht, auf ein böses Prinzip, auf einen Gegengott
zurückgeführt, der die Wirklichkeit spaltete. Nein, alles stammt von Gott, und
aus seiner Hand ist alles gut. Aber herausgebrochen aus der Hinordnung auf
Gott, zum unbedingten Wert gesetzt, zum Letzten erkoren oder zum Ersten
gemacht, verstellt das Geschaffene den Schöpfer, der in ihm durchscheinen und
aufscheinen will. Und in solcher Entfremdung und Verkehrung entwickelt sich in
ihm der Sog einer widergöttlichen, wenn auch ewig zweiten und nachträglichen
Ordnung, eben der des Bösen.
Die Schöpfung ist gut. Sie gründet im Ja Gottes. Er kann nur von sich mitteilen,
er kann nur seine Spur und sein Bild ins Geschaffene hineinlegen. So bewährt
das Geschaffene sein Gutsein, indem es sich Gott verdankt, indem es von Gott
her und auf ihn zu ist. Das Ja und Gut des Geschöpfes zu sich selbst kann nur als
Ja und Gut des Geschöpfes zum Schöpfer gelingen. Das Ja zu mir ist ein Ja, das
ich über mich hinaus, von mir weg zu Gott hin zu sagen habe, damit es mich
selber ganz erreicht und umfängt. In der geschaffenen Freiheit hat die Schöpfung
ihren Höhepunkt, aber auch ihre äußerste Gefährdung. Denn die geschaffene
Freiheit kann sich in Gegensatz zu ihrer geschöpflichen Grundstruktur setzen, sie
kann ihr Ja und Gut ganz auf sich selbst zurückbiegen, sich selbst als Letztes und
Höchstes, als Anfang und Ziel behaupten.
Es soll hier weder eine Lehre von Gut und Böse noch gar eine dogmatische Lehre
von den reinen Geistern, den guten und den böse gewordenen, dargeboten
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werden. Nur eine Zwischenfrage sei gestellt: Warum soll der Mensch das einzige
Wesen sein, in dem das Ja und Gut der Schöpfung zum Schöpfer vollzogen wird?
Gibt es nicht die Erfahrung, daß die Schöpfung Lobgesang ist, Lobgesang, der
größer und umfassender ist als jener, den wir zu vollbringen [177] vermögen?
Stimmen wir nicht, wenn wir zu lobpreisen und der Schöpfung uns zu freuen
anheben, schon ein in einen Lobgesang der Schöpfung, der uns umfängt? Ist der
Lobgesang des Menschen geringer, wenn er mitsingt mit den Engeln?
Und können wir nicht erahnen, wie schrecklich es ist, wenn jene Wesen, die zum
reinen Ja und Gut, zur reinen Erkenntnis und Anerkenntnis Gottes, des Woher
und Wohin der Schöpfung erschaffen sind, ihr „Ja und Gut“ nur noch zu sich
selber sagen? Kann der reine Aufstieg des Lobpreises nicht umschlagen zu
Selbstgenuß und Selbstbehauptung? Und was nicht mehr aufsteigt zum Schöpfer,
das stürzt bodenlos und grenzenlos in sich selbst hinein, wird darin schrecklich,
mitreißend, versucherisch. Bekommen nicht auf solchem Hintergrund auch die
Schuld des Adam und der Gehorsam Jesu im Widerspruch zur Macht des
Versuchers neue Kontur?
Hat es also nicht doch etwas mit dem Gang des Glaubens zu tun, wenn wir uns
gerufen wissen, mitzugehen mit dem Lobpreis der Engel und gegen den Rausch,
die Faszination, die Verführung des bösen Engels anzugehen, mit Jesus, im
Vertrauen auf ihn, getragen von seinem rettenden Gehorsam?
Noch einmal: Die Welt ist und bleibt als Gottes Schöpfung gut. Noch in ihrer
Verkehrung durch das Nein der geschöpflichen Freiheit zu Gott spiegelt sie
Gottes Größe und Güte. Ja, nur aus dieser Spiegelung Gottes rührt die
anziehende und mitreißende Mächtigkeit des Bösen, welches das verkehrte Gute
ist. Doch so sehr das Böse das verkehrte Gute ist, so sehr ist es auch das
verkehrte Gute. Die Warnung vor solcher Verkehrung, die Offenlegung der
Gefahr und des Unheils solcher Verkehrung gehören zur frohen Botschaft.
Verdecktes Unheil ist nicht Heil, sondern nur um so gefährlicheres Unheil. Die
Rede vom Bösen in der Welt, von dem, was in der Welt vom Bösen besetzt,
verkehrt, gefährdet ist, schmälert nicht die Verkündigung vom guten Gott und
von seiner Herrschaft. Er bleibt der Stärkere und erweist sich in Jesus als der
Stärkere.
[178] Überwundene Welt
„Habt Mut, ich habe die Welt überwunden“ (Joh 16, 33)! „Das ist der Sieg, der
die
Welt
überwindet:
unser
Glaube“
(1 Joh 5, 4).
„Welt“
ist
in
diesen
johanneischen Aussagen doppelt zu verstehen. Einmal ist sie das Näherliegende,
das dem Menschen die raschere und bequemere Erfüllung verspricht als jener
Gott, der die ganze Entscheidung, die Umkehr, das Loslassen der Gabe um des
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Gebers willen fordert. Zum andern ist sie die Welt, in der und an der wir je neu
zu leiden haben, die uns immer neu Abschied, Schmerz, Unsicherheit aufbürdet.
Welt ist unausweichlich unser Lebensraum, aber auch unser Leidensraum.
Diese Welt ist nun in Jesus Christus für den, der sich glaubend ihm überläßt,
überwunden.
Der
Gehorsam
Jesu
setzt
das
Gegenbild
gegen
alle
Weltverfallenheit, und er ist mehr als nur ein Vorbild. Er ist der Weg, der durch
die Welt hindurchführt, hin zum Vater. In Jesus finden wir zugleich den
Weggenossen, der uns geleitet und trägt. In seinen heilsmächtigen Zeichen und
Wundern hat Jesus gezeigt, daß Gott stärker ist als diese Welt und daß er
entschlossen ist, die Endlichkeit und Vergänglichkeit in ihr zu überwinden. Das
Zweideutige, Vorletzte, Schmerzliche an ihr ist nicht Gottes letztes Wort. Vor
allem aber hat Jesus diese Welt ausgelitten. Es gibt nichts in ihr, was er in seiner
liebenden Solidarität mit uns nicht mitgetragen und in seinem Mitleiden mit uns
„ausgestanden“ hätte. Innerlich ist die Welt überwunden, weil sie geheilt ist –
und sie ist geheilt, weil alles in ihr durchlitten und so in Liebe verwandelt ist. Der
Atem der Selbstbehauptung ist kürzer als der Atem der Liebe, die alles aushält
und im Aushalten verwandelt. Dieser Atem ist der Atem des Geistes, den Jesus
sterbend hingibt und der ihn und mit ihm uns auferweckt in die neue Schöpfung
hinein.
Geliebte Welt
Eine Klammer gibt es zwischen der neuen und der alten Welt: dieselbe Kraft,
welche die Welt überwindet, ist auch die Kraft, welche [179] die Welt neu schafft
– die Liebe. Die Welt ist geliebte Welt. Aus Liebe ist sie geschaffen. Aus Liebe ist
sie in ihrem Fall ausgehalten von Gott und aufgehalten von Gott. Aus Liebe ist sie
ausgelitten im Leiden Jesu und ist sie neu geworden in der Ordnung der
Auferweckung. In dieser Liebe ist sie schon jetzt uns, denen, die an Gottes Liebe
glauben, geschenkt.
An dem Punkt, an dem die Hinfälligkeit, ja Verfallenheit dieser Welt demaskiert
wird am Kreuz, wird sie offenbar als die geliebte. Denn „so sehr hat Gott die Welt
geliebt, daß er seinen einzigen Sohn für sie dahingab“ (Joh 3, 16).
Gottes Liebe ist in Jesus da, sie überwindet die Welt, und in ihr, im Glauben an
den, der uns geliebt hat, überwinden wir mit ihm die Welt (vgl. Röm 8, 37-39).
Wir sind die Geliebten dieser unendlichen Liebe Gottes, der seinen eigenen Sohn
nicht geschont hat. Und wie sollte diese Liebe uns nicht mit dem Sohn auch alles,
die ganze Welt schenken (vgl. Röm 8, 32). Welt ist Geschenk für uns –
Schöpfung aber ist insgesamt geliebt, und der in uns wirkende Geist ist nur
Anfang und Zeichen jener Erneuerung, zu welcher der ganze Kosmos gerufen ist
(vgl. Röm 8, 18-25).
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Geeinte Welt
Die Liebe Gottes in Jesus Christus ist das neue Vorzeichen vor der ganzen Welt,
vor allem – was in dieser Welt geschieht. Gottesherrschaft ist keine bloß
„regionale“ Wirklichkeit, sondern eine allumfassende. Sicher, sie wird erst in uns,
den Glaubenden, in unserer Geduld und Hoffnung, in unserer neuen Freiheit von
der Welt und zur Welt sichtbar – aber wie in den Wundern und Zeichen Jesu der
Wille zum Heil der ganzen Welt sich anzeigte, so jetzt in uns, in dem, was
unserem Glauben und Hoffen jetzt geschenkt wird.
In Jesus Christus ist die ganze Schöpfung geeint, zusammengefaßt, mit einem
Haupt versehen, „rekapituliert“ (vgl. Eph 1, 10; auch Kol 1, 15-20). Und diese
neue Einheit der Welt in ihm wird dargestellt durch den Leib Christi mitten in der
Welt, durch die Kirche. Indem in ihr die verschiedenen Menschheitstraditionen,
indem [180] in ihr Juden und Griechen zur Einheit zusammengefaßt sind, wird
ihre kosmische Bedeutung in der Geschichte bereits anfangshaft Gestalt
(vgl. Eph 2, 11-22 in Verbindung mit dem 3. Kapitel und mit 1, 22; ferner
Kol 1, 13-20).
In diesem Licht läßt sich auch die „Haustafel“ des Epheserbriefs (vgl. Eph 5, 216, 9) neu lesen. Die Herrschafts- und Kommunikationsverhältnisse, die diese
Welt prägen, müssen durch die Liebe Christi von innen her verwandelt werden.
Autorität und Gehorsam werden nicht ineinander aufgelöst, nicht nivelliert, und
doch werden beide dasselbe: ihr Geheimnis ist das sich schenkender Liebe. Sie
gewährt ebenso Unterscheidung wie Gleichheit in der umfassenden Einheit. Im
Wie unseres neuen Lebens fängt das Wie der neuen Schöpfung zeichenhaft
bereits an.
10.4 Neues Weltverhältnis
In Jesus Christus sind wir wieder eingesetzt in die grundsätzliche Überordnung
des Menschen über seine Welt – die Elemente dieser Welt, an die wir versklavt
waren, haben keine Gewalt mehr über uns, weil wir Zwang und Angst zu
überwinden vermögen in dem, der uns aus aller Verfallenheit „freigeliebt“ hat
(vgl. Gal 4, 1-7). Darin ist uns die Welt neu geschenkt. Wir sind in eine neue
Freiheit nicht nur von der Welt, sondern auch zur Welt hinein erlöst. Die Welt
vermag uns wieder das zu sein, was sie von ihrem Ursprung ist: Gottes gute
Schöpfung.
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Frei zur Welt
Sofern wir in Jesu Verhältnis der ganzen Hingabe, der bedingungslosen Einheit
mit dem Vater eingehen, sofern wir also Christi sind, wie Christus Gottes ist, gilt:
„Alles ist euer“ (1 Kor 3, 21).
Wir treten in Jesu Freiheit zur Welt ein. Jesus, frei, den Aussätzigen zu berühren,
dem heidnischen Hauptmann den Besuch anzubieten (vgl. Mt 8, 1-13), am
Sabbat Ähren abzureißen, ja einen Ge- [181] lähmten zu heilen (vgl. Mk 2, 233, 6), mit den Zöllnern und Sündern zu essen (vgl. Mk 2, 13-17), unbefangen
der
Sünderin
zu
begegnen
und
Frauen
in
seinem
Gefolge
zu
dulden
(vgl. Lk 7, 36-8, 3): dies wird in den Evangelien nicht als liberaler Protest gegen
engstirnigen Konservativismus dargestellt, sondern als die neue Situation, die
Jesu Verhältnis zu den Realitäten und deswegen auch zu dem Gesetz bestimmt,
welches das Verhältnis zu diesen Realitäten regelt. Die Gefahren dieser Welt sind
gebannt, ihre Trennungen überwunden. Hoffnung und Zuversicht für alle und
dadurch neue Nähe des Menschen zu allen und allem fließen aus Gottes
erbarmender Nähe, die in Jesus angesagt und angebrochen ist. Solche Freiheit
steht nicht im Widerspruch zur Behutsamkeit, mit der Jesus vor dem warnt, was
wahrhaft Ärgernis und Versuchung zu Unglauben und Untreue gegenüber Gott
bedeutet
(vgl. Mt 5, 29.30; 18, 8f.; 18, 6).
Ja,
solche
Vorsicht
und
solche
Freiheit gehen Hand in Hand. Selbstgerechte Sorglosigkeit, die nicht auf den
Herrn, sondern auf eigene Leistung vertraut, öffnet den Menschen jenen dunklen
Mächten, die grundsätzlich in Jesus entmachtet sind (vgl. Mt 12, 43-45).
Auf dem Hintergrund der Freiheit Jesu muß auch die Freiheit der jungen
Gemeinde zur Mahlgemeinschaft mit den Heiden verstanden werden, wie die
Apostelgeschichte sie in der Begegnung des Petrus mit dem heidnischen
Hauptmann Kornelius ansagt (vgl. Apg 10, 9-48). Genauso die Ausführungen des
Paulus über die Freiheit und Rücksicht beim Genuß von Götzenopferfleisch
(vgl. Röm 14 und 1 Kor 8). Wenn Christus der Herr aller Mächte und Gewalten
ist, wenn in ihm die Liebe Gottes über alles andere gesiegt hat (vgl. Röm 8, 3539), dann haben Gesetzhaftes, Angsthaftes, Rücksicht auf nur Vorletztes
(vgl. Gal 4 und 5; Kol 2, 8-23) im christlichen Leben eigentlich keinen Platz
mehr. Wohl aber Rücksicht auf den Bruder, auf den Schwächeren.
[182] Frei in der Welt über die Welt hinaus
Die Freiheit des Christen zur Welt ist zugleich Gelassenheit. Gelassenheit in
Gestalt jener Sorglosigkeit, die uns immer wieder als Grundzug der Predigt Jesu
begegnet (vgl. Mt 6, 19-34; Lk 12, 22-32).
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Solche Sorglosigkeit, in der wir die Welt lassen, um sie uns schenken zu lassen,
hat eine noch weiterreichende Konsequenz im christlichen Weltverhalten. Auch
wenn wir alles lassen, kommen wir nicht umhin, die Welt zu gebrauchen. Und wir
sollen sie gebrauchen, ist doch alles unser! Dennoch muß sich christlicher
Gebrauch der Welt von dem Gebrauch der Welt durch jene unterscheiden, denen
die Dinge das schlechterdings Notwendige und die Zukunft das ungewisse
Resultat ihrer eigenen Sorge sind. Wir aber gehen dem kommenden Herrn
entgegen, und gleichviel wie lange diese Geschichte dauert, die Zeit bis zu seiner
Ankunft ist kurz, er steht immer unmittelbar vor der Tür und klopft an
(vgl. Offb 3, 20). Daher steht all unser Gebrauch unter dem Vorzeichen des „als
ob nicht“: „Denn ich sage euch, Brüder: Die Zeit ist kurz. In Zukunft möge, wer
eine Frau hat, so sein, als habe er keine, wer weint, als weine er nicht, wer sich
freut, als freue er sich nicht, wer kauft, als sei er nicht Eigentümer geworden,
wer sich die Welt zunutze macht, als nutze er sie nicht; denn die Gestalt dieser
Welt vergeht. Ich wünsche aber, ihr wäret ohne Sorgen“ (1 Kor 7, 29-31).
Jene Haltung, die ihren radikalen Ausdruck in dem gewinnt, was wir das Leben
nach den evangelischen Räten nennen, ist immer und ist für jeden Christen
fällig: haben, was wir haben, und gebrauchen, was wir gebrauchen, im Blick auf
den nahen, in unser Leben eintretenden Herrn. Alles wird sein Geschenk und
Geschenk an ihn. So gerade nicht wertlos, sondern um so kostbarer – in jener
Kostbarkeit, die nur Beschenkte und Verschenkende erfahren, nicht aber solche,
die angsthaft um ihren Besitz kreisen.
Um es in einem Bild auszudrücken: Die Welt ist das Zimmer, in das der Herr
eintritt. Wir dürfen und sollen alle Sorge haben, daß es in diesem Zimmer schön
und gastlich und in Ordnung ist. Aber es [183] wäre töricht, vor lauter Sorge
darum den Gast zu übersehen, uns auf die Einrichtungsgegenstände statt auf
den Gast zu konzentrieren. Ihm soll nichts fehlen, aber er soll mehr sein als das
Objekt für die Objekte, die wir ihm vorstellen und anbieten. Das gilt es auch zu
berücksichtigen bei unserem Verhalten zum Nächsten, zum Bruder in Not, in dem
der Herr selbst von uns erkannt sein will.
Glaubensmacht und Kreuzesnachfolge
Die Gegenwart der neuen Schöpfung und ihre Zukunft sind in unserem Verhältnis
zur Welt eigentümlich verschränkt. Schon jetzt ist alles unser, schon jetzt gibt es
nicht mehr Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Mann und Frau, sondern wir
sind „einer“ in Christus Jesus, sind in ihm neue Schöpfung – und das allein zählt
(vgl. Gal 3, 28; 6, 15). Und doch sind auch wir noch in jenem sehnsüchtigen
Harren auf die Vollgestalt der Erlösung, haben teil am Seufzen der Kreatur
(vgl. Röm 8, 9-25).
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Zumal Paulus erfährt immer wieder diese Spannung in sich selbst: die
Sehnsucht, daß das Vorläufige endet und er in das ganze und bleibende Leben
bei Christus und mit ihm eintritt, und die Bereitschaft, hier und jetzt die
Gemeinschaft mit Jesu Leiden geduldig durchzuhalten und so der Botschaft zum
Zuge zu verhelfen, durchdringen sich. Das macht die Dramatik und Spannung
seines apostolischen Dienstes aus (vgl. z. B. 2 Kor 4, 8-6.10; Phil 1, 12-26).
Dieselbe paradoxe Gleichzeitigkeit des Endgültigen mit dem Vorläufigen, der
Glaubensmacht
mit
der
Kreuzesnachfolge
zeichnet
indessen
auch
unsere
Situation, zeichnet die Situation des Glaubenden, solange diese Weltzeit währt.
Uns ist die Macht gegeben, zu bitten – und wir werden empfangen (vgl. Mt 7, 711; Lk 11, 9-13). Unser Glaube kann Berge versetzen, dem, der glaubt, ist alles
möglich (vgl. Mk 11, 24; 9, 23). Das Hundertfältige kommt nicht erst später,
sondern schon jetzt auf den zu, der alles um Jesu willen verläßt (vgl. Mk 10, 30).
Und doch ist uns die Bedrängnis, die Ohnmacht, die Schicksalsgemeinschaft mit
Jesus
vorausgesagt,
das
täg-
[184]
liche
Kreuztragen
aufgegeben
(vgl. z. B. Mt 10, 17-26; 24, 9; Mk 13, 9-12; Lk 21, 1219; Mk 8, 34; Mt 16, 24; Lk 9, 23).
Solche Spannung bedeutet aber keineswegs Spaltung. Denn sowohl die sieghafte
Macht über die Welt wie die Teilhabe am Leidensgeschick Jesu sind Ausdruck
einer und derselben Liebe, jener Liebe, der schon alles geschenkt ist und die
zugleich sich ganz verschenkt. Alles ist uns geschenkt, alles ist uns zum
Verschenken gegeben, an den Herrn und an die anderen – dies, letztlich dies ist
die Formel christlichen Weltverhaltens.
10.5 Das neue Weltmodell
Wir müssen noch einen Schritt weiter. Die Welt steht nicht nur in einem neuen
Licht, wir sind nicht nur in ein neues Verhältnis gewiesen zu der Welt, die es gibt
– als Glaubende fangen wir an, Welt neu zu gestalten, damit es neue Welt gebe.
Nicht daß wir die Welt vollenden können. Dies liegt in den Händen Gottes allein,
dies wird geschehen, wann der Herr wiederkommt. Aber schon jetzt erleiden wir
nicht nur die alte Welt und empfangen nicht nur die neue, sondern gestalten
Welt, zeichenhaft, anfanghaft, aber eben doch als Zeugnis, das geschichtlich
wirken soll.
Welt haben füreinander
Es mag entlegen erscheinen, und doch trifft es den Kern. Jesus sagt in seinem
Abschiedsgebet zum Vater: „Alles meine ist dein und alles deine ist mein“
(Joh 17, 10). Im Grunde ist dies die neue Position der Welt, wie sie uns im
Kommen Jesu aufgeht: Die Welt ist das Geschenk des Vaters an den Sohn und
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des Sohnes an den Vater. Der Vater gibt den Sohn hin für die Welt und schenkt
ihm die Welt, alles ist ihm gegeben. Und der Sohn legt alles in die Hände des
Vaters zurück, hat nichts außer im Vater und vom Vater her. In dieser Beziehung
von
Vater
und
Sohn
stehen
wir
mittendrinnen.
Wir
sind
in
sie
[185]
hineingenommen, unser Leben wird Gabe; was wir haben, wird Gabe.
Es ist so nur konsequent, daß die Gemeinschaft der Güter, daß Sorgen
füreinander und Teilen miteinander den Rhythmus des Lebens in der jungen
Gemeinde bestimmt (vgl. Apg 2, 43-47; 4, 32-35). Paulus greift dieses selbe
Motiv bei seiner Sammlung für die Gemeinde in Jerusalem auf: Großzügiges,
angstfreies Schenken im Vertrauen darauf, daß der lebendig und nahe ist, der
uns alles schenken wird, was wir brauchen – dies heißt gelebter, vollzogener,
welthaft gewordener Glaube (vgl. 2 Kor 8 und 9). Das neue Gemeindemodell soll
das neue Weltmodell werden. So fatal es ist, wenn man bei „Kirche“ immer an
den Sammelhut des Pfarrers zu denken Anlaß hat, so sehr spiegelt sich in solcher
Verzerrung doch ein elementarer Grundzug unseres Glaubens: er muß sich
bewähren in der Weise, wie wir füreinander und für alle geben, leben, da sind.
Christen müssen jene sein, die im Umgang mit den Gütern der Welt die neue und
doch ursprüngliche „Ontologie“ des Welthaften beglaubigen: Alles ist Gabe, alles
ist zum Verschenken und Sich-Verschenken da, noch das Vergehen ist Spur und
Chance des Weitergehens, indem eines dem anderen Raum macht, eines das
andere nährt und trägt.
Einssein miteinander
Alles füreinander haben, die Welt als das Füreinander der Menschen und der
Dinge – dies läuft hinaus auf jenes Einssein miteinander, das in der Communio
Sanctorum als Ziel der Menschheit und der Welt aufleuchtet. Im universalen
Frieden aller mit allen, in der Liebe, in welcher alle das dreifaltige Leben spiegeln,
wird auch die Einheit und Fülle der Welt vollendet sein. Solche Einheit ist der
Gegensatz zur summierten Einsamkeit der Individuen und zur Nivellierung der
einzelnen in der Masse. Es ist Einheit in jener Liebe, die alle verbindet und in der
Verbindung doch die Unterscheidung wahrt. Nur aus solcher Einheit kann es auch
in der Welt, in ihren Gütern, in ihren Kulturen gelingen, Verschiedenheit nicht
auszu- [186] löschen und doch umfassende Kommunikation zu ermöglichen.
Entschiedene Schritte dahin sind zumal heute fällig, wenn unsere Welt nicht
zerbrechen oder in sich selbst zerfließen soll. Gelebte Einheit der Menschen
miteinander nach dem Maß Christi ist nicht nur für die Zukunft der Menschheit,
sondern auch für die Zukunft der Schöpfung lebensnotwendig.
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Eucharistie
Gott gibt sich, die Menschen geben sich, die Welt gibt sich – dies wird
anschaubar, dies wird Wirklichkeit schon jetzt in der Eucharistie. Hingabe und
Dank und Lobgesang an den Vater, Heimkehr zum Vater – Gabe aneinander,
Einswerden miteinander – Weitergabe an alle, Austeilung an alle, bis alle eins
sind: dieser Gang und diese Dimensionen der Eucharistie sind Geheimnis und
Weg einer erlösten, erneuerten Welt.
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[187] 11. Die Letzten Dinge
Die Zeit ist erfüllt – eine andere Zeit nach dieser erfüllten gibt es nicht mehr. Die
Herrschaft Gottes ist im Kommen – sie ist das letzte Wort der Geschichte, durch
kein anderes mehr zu überholen. Das Endgültige und das Ende – diese
Dimensionen sind notwendig mit der Botschaft Jesu verknüpft. Und es ist nicht
minder von innerer Konsequenz, wenn das Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn
sich verbindet mit dem Bewußtsein, daß er der Wiederkommende ist, derjenige,
der eingesetzt ist zum Richter und Vollender der Welt.
Das Ende hat angefangen, weil das Endgültige angebrochen ist. Das Ende steht
noch aus, weil das Kommen der Gottesherrschaft noch nicht vollendet ist. In
unserem jetzigen Zustand die Endgültigkeit und das angebrochene Ende
anzuschauen – in unserem jetzigen Zustand auf das ausstehende Ende
hinzuschauen: beides gehört zum Weg des Glaubens. Daß in Jesus Christus Gott
sich für mich, für die Menschheit, für die Welt entschieden hat, überholt zwar
unsere letzte Unsicherheit und Angst vor dem Ende; es erspart uns aber nicht,
uns für diese Entscheidung Gottes zu uns je neu zu entscheiden, Gottes
Entscheidung für uns in unserem Leben aus dem Glauben einzuholen. Und dazu
braucht es den nüchternen Blick auf unser Ende, auf das, was noch offensteht,
auf das, was von unserem Ja zu Gottes Ja noch abhängt für uns und für die Welt.
Das Kapitel von den Letzten Dingen, die Eschatologie, gehört unabdingbar zur
christlichen Botschaft. Und die Frage, wie auf diese Letzten Dinge zuleben,
gehört wesenhaft zur Frage, wie Glauben geht. Das be- [188] zeugt die Predigt
Jesu, das bezeugen die Schriften des Neuen Testamentes insgesamt.
Wir wollen indessen einmal auf andere Weise als bislang ansetzen. Wir gehen
nicht von den vielfältigen Aussagen der Bibel über die Letzten Dinge aus,
sondern vom Gesamt unseres Glaubens und unserer geschöpflich-endlichen
Situation auf sie zu.
11.1 Grundlegung: Gottes und des Menschen „Letzte Dinge“
Ist es nicht absurd, von Gottes „Letzten Dingen“ zu sprechen? Die Rede von
Letzten Dingen hat doch wohl nur einen Sinn im Blick auf endliche und
vergängliche Wesen. So plausibel dies klingt, so wenig wollen wir uns unbesehen
damit zufrieden geben.
Gottes „Letzte Dinge“?
Dafür haben wir zwei Gründe. Einmal sind die Letzten Dinge des Menschen mehr
als bloße Folge einer Endlichkeit, die entweder zu einem bösen oder zu einem
guten Ende führt durch eine richtende oder rettende Maßnahme Gottes. In der
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christlichen Botschaft von den Letzten Dingen spielt Gott selbst und spielt die
Gottebenbildlichkeit des Menschen inwendiger und grundlegender mit. Zum
anderen unterläuft uns nur zu leicht ein falsches Verständnis von göttlicher
Unendlichkeit. Um es banal zu sagen, wir stellen uns die Unendlichkeit Gottes vor
nach dem Bild einer Geraden ohne Anfang und ohne Ende. Aber ist sie wirklich
nur so? Ist sie wirklich nur ein Weglaufen von sich und nicht auch ein Zulaufen,
hat Gott nicht in sich selbst sein Auf-zu?
Ja, Gott ist unendlich. Aber seine Lebensbewegung hat ein Ziel. Er ist ganz und
gar Aufbruch, ohne Grenze. Aber dieser Aufbruch ist zugleich ein Zugehen, ist
zugleich Ankunft. Gott kommt bei sich selber an, ist schon ewig bei sich selber
angekommen – aber diese Ankunft bei sich ist nicht eine Rückkunft auf eine
absolute Einsam- [189] keit, sondern Ankunft bei sich selbst als Ankunft beim
Du. Reine „Selbstlosigkeit“ und reiner Selbstbesitz schließen in Gott einander
nicht aus, sondern sind in ihm dasselbe. Weil der Vater aufbricht zum Sohn und
der Sohn sich zuwendet zum Vater und weil beide einander die Frucht der einen
und selben Liebe schenken, ihr eines, ganzes Ineinandersein, deswegen braucht
Gott nicht über sich hinaus. Er wird nicht über sich hinausgetrieben, um sich in
etwas anderem zu finden und zu verwirklichen.
Und zugleich kann Gott doch über sich hinaus. Er kann frei anderes seinlassen,
die Schöpfung. Ja er kann sich selbst seiner Schöpfung frei mitteilen, ihr an
seinem göttlichen Leben Anteil geben. Gott hat in sich sich selbst zum Ziel – in
Gott hat jede göttliche Person ihr göttliches Du zum Ziel – Gott ist so gerade frei,
über sich selbst hinauszugehen, seiner Liebe ein Ziel zu schaffen, dem er sich zu
schenken vermag, ohne sich selbst, seine reine Vollendung in sich selbst zu
schmälern oder zu gefährden. Freiheit über sich hinaus als Freiheit zu sich selbst,
diese göttliche Freiheit ist begründet in seinem göttlichen Leben, das reine
Selbstmitteilung, reines Weggehen von sich und Zugehen auf sich ist.
Gottes „Letzte Dinge“? In diesem Sinn also doch: ja; denn er ist sich der Erste
und der Letzte, er begegnet sich in sich selbst, sein Aufbruch zu sich ist Aufbruch
in die vollkommene, ebenso in sich geschlossene wie über sich hinaus offene
dreifaltige Gemeinschaft.
Des Menschen „Letzte Dinge“
Und in der Tat, das ist die Grundlage auch für die Letzten Dinge des Menschen,
dies ist der Anfang und das höchste Ziel jeglicher Eschatologie.
Wiederum aus zwei Gründen. Einmal weil der Mensch auf Gott zu geschaffen ist.
Gott selbst setzt seine Herrschaft der Schöpfung zum Ziel, er selbst will dem
Menschen zum „Letzten“ werden, zu jenem Licht und jenem Heil, in denen
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Mensch und Welt ewig leben. Gottes sich liebend mitteilender Selbstbesitz:
daraufhin hat uns Gott geschaffen, dazu hat er uns berufen.
[190] Und das andere: Der Mensch ist erschaffen zum Ebenbild Gottes. Auch wir
sind stets im Aufbruch über uns hinaus, auch wir gehen mit jedem Blick, mit
jedem Gedanken, mit jedem Streben weiter, von uns weg – aber wir sind dabei
immer auch uns selbst zugewandt, es geht uns um uns selbst, wir haben ein
unendliches Interesse an uns selbst. Wir können gar nicht anders leben als so. Es
„muß“ uns um uns, um unsere Erfüllung, um unseren Sinn, den Sinn des Ganzen
gehen – Interesse am Sinn des Ganzen und am Sinn unseres eigenen Lebens
lassen sich nicht voneinander scheiden –.
Doch wenn wir nur auf uns zurückkämen, blieben wir in jener erschreckenden
Einsamkeit, die sich gerade nicht erfüllte. Ich bin so zu mir erschaffen, daß ich
erschaffen bin für mein Anderes, für mein Du. Zuhöchst und zuletzt fürs
unendliche, göttliche Du. Aber darin bin ich auch dem geschöpflichen Du
erschlossen. Ich kann mich ihm schenken. Nur wenn der Mensch bereit ist,
zuzugehen auf Gott und auf seinen Nächsten, findet er sich selbst. Gottes
Bereitschaft, sich dem Menschen mitzuteilen und zu verschenken, „kann“ nur
Erfüllung des Menschen werden, wenn der Mensch als freier Partner Gottes sich
beschenken läßt. Das aber heißt: wenn er sich auf den Lebensrhythmus Gottes
einläßt. Und das wiederum heißt: wenn er aufbricht auf Gott und auf den
Nächsten zu, wenn er die Zielrichtung zu sich selbst versteht als Zielrichtung zum
Anderen. So, nur so ist er, was er ist: Gottes Ebenbild. Dies gilt im Ansatz, weil
der Mensch Mensch ist und als solcher offen für Gott. Es gilt umso mehr, weil der
Mensch von Gott berufen ist zum gnadenhaften Anteil an seinem göttlichen,
dreifaltigen Leben.
Die Gottesherrschaft ist dem Menschen nur Erfüllung und nicht Gericht, wenn er
Gott sein Alles sein läßt. Weil Gott auf den Menschen zukommt, weil Gott dem
Menschen sich mitteilt, findet menschliches Dasein Erfüllung. Wenn der Mensch
aber sich von Gott und von den anderen abwendet, denen dieser Gott sich doch
mit ihm zugleich zuwendet, dann tritt die Zuwendung Gottes zum Menschen in
Konflikt mit dem Streben seines Ich. Das Beseligende wird zur Unseligkeit.
Hier wird der fundamentale Unterschied zwischen dem Men- [191] schen und
Gott sichtbar. Der Mensch ist nach Gottes Bild geschaffen. Aber gerade darum
muß er sich an Gott als seinem Maßstab und seinem Urbild orientieren. Wenn er
seine Freiheit nicht nach dem Bild Gottes gebraucht, wenn er ihr ein anderes Ziel
und eine andere Richtung gibt als die Richtung auf Gott und die Richtung Gottes
selbst, dann bleibt seine Freiheit, dann bleibt er selbst im Widerspruch zu sich
selbst. Daß der Mensch Gottes Ebenbild ist, verschärft die Situation seiner
Geschöpflichkeit. Gott ist und bleibt der Erste, der Mensch der Zweite.
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Indem aber der Mensch daran Anstoß nimmt und probiert, sich selbst der Erste
zu sein, „zu sein wie Gott“, ist er gerade nicht wie Gott. Der Mensch, der keine
anderen „Letzten Dinge“ haben will als sich selbst, stößt an seine eigene
Endlichkeit – sie wird ihm zum bitteren Ende. Und genau an diesem Punkt setzt
sich, wenn auch für ihn negativ, seine Gottesbildlichkeit nochmals durch.
Der Mensch, der sich Gott und dem Anderen nicht öffnet, stößt an Gott und an
den Anderen. Menschliche Freiheit kommt nicht umhin, Gott und den Anderen als
ihr Ziel zu erfahren. Nur daß gegen die Weigerung der Freiheit eben Ziel sich als
Ende erweist, und im Vorblick muß gesagt werden: als endloses Ende.
Menschliche Freiheit verliert ihren unendlichen, aufs Unendliche ausgerichteten
Charakter nicht.
11.2 Erschließung der Eschatologie: drei Grunderfahrungen
für die Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft einen
Als wir
Hintergrund in unserer eigenen Erfahrung suchten, kamen wir auf unser
Verhältnis zur Zeit zu sprechen. Wir nahmen Zeit einfach so, wie wir sie im
Rhythmus unseres Lebens vorfinden. Wir fragten jedoch nicht nach den
Voraussetzungen, weshalb wir Zeit so und nicht anders erleben. Vom Gesamt der
christlichen Botschaft her müssen wir sagen: Menschliche Zeiterfahrung ist
Erfahrung aufgrund des konkreten heilsgeschichtlichen Zustandes des Men[192] schen, ist Erfahrung des gefallenen Menschen mit seiner noch unerlösten
Zeit, zumindest mit seiner Zeit, deren Erlösung noch nicht offenbar und vollendet
ist.
Um die Letzten Dinge und ihre Bedeutung für unseren Weg des Glaubens zu
verstehen, kehren wir nochmals in diese Zeiterfahrung zurück. Wir versuchen
zum einen, unsere Zeiterfahrung als die Selbsterfahrung des gefallenen
Menschen zu interpretieren; wir blicken zum anderen auf die schärfste
Zuspitzung unserer Endlichkeitserfahrung: auf die Todeserfahrung. Sodann
bemühen
wir
uns,
die
spezifisch
christliche
Perspektive
zu
gewinnen:
Verwandlung unserer Erfahrung durch Jesus Christus und den Glauben an ihn.
Die Zeit des gefallenen Menschen
Es sind zwei „harmlos“ erscheinende Feststellungen: Die Zeit geht immer weiter,
kennt keinen Halt – die Zeit geht nur tropfenweise weiter, wir haben nicht in der
Hand,
daß
sie
weitergeht
und
müssen
sie
Augenblick
für
Augenblick
entgegennehmen. Beide Feststellungen hängen unmittelbar mit der Verfassung
unseres endlichen Daseins zusammen. Wir haben unser Dasein uns nicht selber
gegeben, es geht aus einem anderen Ursprung als nur aus uns her weiter. Wir
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können uns keinen Augenblick selber geben, sondern sind auf jene Quelle der
Zukunft angewiesen, die nicht wir selber sind.
An den genannten Tatbeständen hängt aber eine eigentümliche menschliche Not:
die Not des Streß und die Not der Angst. Daß es immer weitergeht, wir nie
rasten, nie aussteigen können, sondern unseren Vorrat an Zeit ständig
verbrauchen und verringern, zugleich keine „Konsumverweigerung“ der Zeit
vermögen, daß wir für jeden Augenblick uns zur Verantwortung gerufen wissen,
weil an jedem Augenblick für uns hängt, wie es weitergeht: dies ist die eine
Belastung unserer Zeitsituation – der Streß. Und die andere: daß wir eben nie
wissen können, wie es weitergeht und ob es weitergeht, daß alle Sicherungen
und Planungen Rechnungen sind, die ohne den großen Wirt aller Zeit gemacht
werden – die Angst.
In „glücklichen“ Augenblicken vergessen wir beides. Die Zeit [193] vergeht wie
im Fluge und scheint zugleich stehenzubleiben. Es scheint ein Verweilen in der
Zeit zu geben, das sich nicht ums Nachher zu kümmern braucht und das dieses
Nachher nicht unter Druck zu leisten braucht. Doch sobald der Gedanke an die
Endlichkeit solchen Glückes einbricht, sobald die Möglichkeit am Horizont
erscheint, es könne auch anders werden, kehrt die genannte Not wieder: Wir
müssen mitschwimmen und weiterschwimmen in einem Strom, dessen Quelle wir
nicht regulieren können, sind drinnen in einem Gefälle und in einer Schnelligkeit,
die über uns kommen und uns mitreißen – wir können nur leben von den
Tropfen, die aus einer Quelle uns zurinnen, aus der nie mehr als je dieser eine
Tropfen uns sicher ist. Warum gibt sie nicht mehr auf einmal? Wird sie und
wielange wird sie dieses „Einmal“ uns überhaupt geben?
Diese „Zeitnot“ des Menschen hat mit seinem Verhältnis zur Quelle aller Zeit, zu
Gott, zu tun; damit daß es dem Menschen zur Last, geworden ist, der Zweite und
nicht der Erste zu sein, damit, daß er nicht jenes unmittelbare und ungebrochene
Vertrauen zu Gott hat. Sicher, der Mensch kann auch unabhängig vom Glauben
an Jesus Christus geschöpfliche Bescheidung üben, er kann demütig es
annehmen, daß er nur der Zweite ist. Er kann sich ergeben und vertrauen, daß
das, was als Geschick über ihn kommt, nicht Unrecht ist, das ihm angetan wird,
ja daß dahinter eine fügende und sinnverleihende Hand waltet. Aber gibt es nicht
so etwas wie eine negative Vorentscheidung, in welcher der Mensch innesteht
und der er eine solche positive Haltung je erst abringen muß? Eine negative
Vorentscheidung, die nicht er in einem persönlichen Handeln getroffen hat,
sondern die sein persönliches Geschick umspannt? Ist er nicht hineingeboren in
die Angst vor dem Weitermüssen und in die andere, daß es einmal nicht mehr
weitergeht? Deutet nicht manches, vielleicht Verborgenes und doch Wichtiges
darauf hin, daß so etwas wie ein Bruch durch die menschliche Zeit und ihre
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Geschichte hindurchscheint? Zittert nicht doch ein von unserer Freiheit nicht
einfach wegzuarbeitendes Nein des Menschen zu seiner Gottbildlichkeit nach? Ein
Nein, in dem der Mensch sich davor zurückzog, aufs Du des lebendigen Gottes
und aufs Du des Nächsten hin sein [194] eignes Ich und seine Erfüllung zu
suchen? Wirkt nicht jenes mißverstandene „Seinwollen wie Gott“ in dem nach,
was uns nunmehr in Streß und Angst der Zeit hineintreibt?
Unsere
endliche
anerkennen
und
Freiheit
uns
ist
gerade
doppeldeutig.
dadurch
Wir
über
können
sie
ihre
erheben
Endlichkeit
zu
unserer
Gottebenbildlichkeit. So können wir die „Unerträglichkeit“ menschlichen Daseins
zumindest abfangen, können uns sozusagen verbünden mit dem, was wir von
unserem Ursprung her sind. Oder aber wir können ein Nein sagen zu dieser
unserer Endlichkeit, ein Nein zu jener Gottbildlichkeit, die uns prägt, im
vermeintlichen, mißverstandenen Seinwollen wie Gott. Hier steigert sich die
Unerträglichkeit des Daseins.
Der Prozeß der Entscheidung ist nie abgeschlossen, sie muß je neu getroffen
werden, vom Christen wie vom Nichtchristen. Wenn wir aber hineinschauen in
die Geschichte insgesamt, in die Weise, wie der Mensch sich vorfindet in seiner
Zeit, dann vermeinen wir eine Übermacht, zumindest einen Überhang des
negativen Vorentscheides wahrzunehmen. Dem steht freilich eine andere
Übermacht entgegen. Die Zeit, die in ihrem unaufhaltsamen und doch nur je
augenblicksweisen Weitergehen uns bedrängt, ist und bleibt nicht nur der
Rhythmus des Vergehens, sondern auch der Rhythmus einer elementaren
Hoffnung. Nicht wir können diese Hoffnung einlösen, aber es gibt so etwas wie
den Vorblick auf das, was uns hoffen heißt. In der Zeitlichkeit unserer Zeit, so
wie wir sie erfahren, scheinen Gericht und Gnade – in einem vorläufigen, noch
recht allgemeinen Sinn – sich gegenseitig zu durchdringen.
In der Sprache und nach der Auskunft christlichen Glaubens: Der Mensch ist ein
gefallener Mensch, und der Sündenfall des Anfangs wirkt nach, indem die
Menschheit je unter dem Gesetz der Erbsünde bleibt. Dieses Gesetz der Erbsünde
ist zwar in Jesus Christus überwunden, aber nicht einfachhin außer Kraft gesetzt.
Sofern der Mensch nur vom Menschen kommt und stammt, sofern er nur aus der
inneren Kraft der Geschichte heraus in sie hineinwächst, steht er unter dem
Gesetz der Erbsünde. Allein der neue Anfang, das Geborenwerden von oben, die
Umkehrung in jenen neuen Beginn, den [195] Gott in seiner Herrschaft und
Gnade schenkt, entreißt ihn diesem Gesetz.
Und so bleibt der Mensch eben auch seiner Endlichkeit als einer realen Macht
verhaftet. Er erfährt seine eigene Unfähigkeit, dem Weitergehen der Zeit zu
entkommen. Auch wer sich selbst abschneidet vom Weitergang der Zeit, wer sich
die Zukunft selber nimmt, wer sich das Leben nimmt, entrinnt nicht der Zukunft,
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er tut den entscheidenden Schritt des Weiter ja gerade doch. Er erfährt zugleich
seine Ohnmacht, sich selbst die Zukunft zu geben, ja des Weitergehens der
Zukunft überhaupt gewiß zu sein. Auch der Glaubende, auch der in der Taufe von
oben Geborene bleibt in dieser Geschichte des Vergehens, in diesem Leben zum
Tode hin. Sicher, das neue Leben wirkt in ihm, er lebt aus dem Leben Gottes – er
lebt aus ihm aber sein sterbliches und sterbendes Leben. Und wie er, mit jedem
anderen zusammen, die Annahme seiner Zeitlichkeit jeden Augenblick noch
einmal vollbringen muß, so auch seinen Glauben, so auch sein Ja zum neuen
Anfang von oben. Heil und Glaube sind nichts „Automatisches“, sie sind der
immer neue Anspruch an unsere Freiheit. Die Hilfe: Wir haben diesen Anspruch
zu erfüllen in der je bleibenden Gemeinschaft des uns nahen Herrn, der sich für
uns entschieden hat.
Doch mit der Endlichkeit und dem Zuende-Gehen ist auch jenes Andere bleibend
verbunden: Solange die Zeit nicht zuende ist, ist es nicht aus, und solange es
nicht aus ist, greift die Zeit aus nach dem, der sie dem Ende entreißt, der sie
gewährt und der ihr den Sabbat, die Ruhe gewähren kann, die nicht Stillstand,
sondern Erfüllung ist. Als zeitliche Wesen, genauer als Wesen dieser Zeit unserer
Vergänglichkeit und unseres Vergehens sind wir erlösungsbedürftige, aber auch
erlösungsfähige Wesen.
Die Vorgabe des Falles, die Vorgabe der Zuversicht, die Herausforderung zur je
neuen
Entscheidung,
Erlösungsfähigkeit
und
Erlösungsbedürftigkeit
–
dies
umschreibt das Feld, in dem wir die Botschaft von den Letzten Dingen
vernehmen und verstehen.
Vielleicht kann ein etwas drastisches Bild uns das Eigentümliche der Zeit des
gefallenen Menschen vor Augen stellen. Auch im Para- [196] dies blieb der
Mensch ein Wesen, das sich die Vollendung nicht geben, sondern sie nur von
Gott empfangen konnte. Der auf sich selbst zurückgedrehte Mensch, der in sich
selbst verliebte Mensch, der Mensch, welcher der Versuchung der endlichen
Freiheit zur Selbstherrlichkeit erlegen ist, hatte Gott, das erfüllende Gegenüber,
das Ziel und Woraufzu seines Lebens als „Stopschild“, als „rote Ampel“
mißverstanden. Der Drang und die Leidenschaft seines Ausgriffs, seines
Lebenwollens, seines Sich-vollendenwollens wollten weiter. Er stellte sich die
Ampel selbst auf grün, er überfuhr die rote Ampel. Und nun, in der durch seinen
Fall verursachten anderen Zeit, in der nicht mehr paradiesischen Zeit, hat er die
Folgen zu tragen. Alle Ampeln stehen ihm auf grün, er „kann“ immer weiter, aber
er kann nie anhalten: der Streß des Weitermüssens.
Er muß immer weiter, aber er sieht nicht weiter. Er ist auf sich selbst gestellt. Im
Weitermüssen, in der Unaufhaltsamkeit seines Mitmüssens mit dem Gang der
Zeit ist er zugleich bedroht von der Angst, daß die Straße unversehens vor ihm
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abbricht, daß es nicht weitergeht. Er muß weitergehen – aber es muß nicht
weitergehen: die gegenseitige Steigerung von Streß und Angst. Nur die
umgekehrte, die erfüllte, die neue Zeit, die geschenkte Zeit der Gottesherrschaft,
die Zeit des Gottes, der all seine Zeit dem Menschen schenkt und ihn lehrt, ihn
befähigt, sich selbst und seine Zeit zu schenken: nur sie kann ihm Erlösung
bringen.
Grunderfahrung des Todes
Nirgendwo spitzt sich die Erfahrung von Vergänglichkeit und Vergehen mehr zu
als angesichts des Todes. Im Tod ist es handgreiflich, daß aus der Endlichkeit für
den Menschen Ende wird. Es gibt für ihn „Letzte Dinge“. Schauen wir in
dreifacher Perspektive auf die Grunderfahrung des Todes.
a) Tod von innen: Erschöpfung, Auslaufen. – Zunächst sehen wir: Der Tod
kommt immer von innen. Der Mensch hat nur einen begrenzten Vorrat ihm
übergebener Daseins- und Lebensmöglichkeiten. Diese erschöpfen sich, laufen
aus. Sie sind einfach so, [197] daß es einmal nicht weitergeht. Dies ist auch
dann der Fall, wenn der Mensch gewaltsam, durch Einwirkung von außen, stirbt.
Er stirbt nur deswegen, weil sein Organismus, weil sein Leben, weil seine
Selbstregeneration nicht weiterlaufen, zum Stillstand kommen. Die Einwirkung
von außen, die seinen Tod hervorruft, bringt darin den inneren Lebensprozeß zu
Ende. Er, der bislang je weiterging und sich erneuerte, hört nun auf. Der Mensch
ist sterblich, das heißt: er, seine Kraft, seine Lebensmöglichkeiten sind auf Dauer
schwächer und geringer als das, was sie in Anspruch nimmt, was auf sie
zukommt. Der Mensch vermag nicht von sich, von innen, von dem her, was er an
Kräften in sich trägt oder sich assimiliert, eine Zukunft ohne Grenze und Ende.
Sein Leben ist, aus der inneren Dynamik, aus der es nie ausrinnen kann, die
Spannung aufs je Mehr und je Weiter, aber nicht die Kraft zum je Mehr und je
Weiter; der wollende, fragende Ausgriff des Lebens geht weiter als seine innere
Kraft.
Was könnte diese innere Not, was könnte dieses Mißverhältnis wenden? Nur die
Kraft des göttlichen Ursprungs, die sich dem Menschen mitteilt, nur Gottes Leben
im sterblichen Leben des Menschen.
b) Tod von außen: Übermächtigung. – Mit demselben Recht, mit dem wir sagten,
daß der Tod je von innen kommt, müssen wir aber auch das andere sagen: Der
Tod kommt je von außen. Immer ist er Abbruch, immer ist er Schnitt, auch dann,
wenn er durch den allmählich sich dem Ende zuneigenden Prozeß des Lebens
vorbereitet
und
greifbar
nahegerückt
ist.
Sterben
ist
nicht
ein
Immer-
schwächerwerden, nicht ein Immer-kränkerwerden. Er ist der Sprung vom Noch
zum Nicht. Dieses Nicht ist der Abbruch, ist der Stoß, der das Leben trifft, der
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den Menschen trifft, der stirbt. Insofern liegt der Tod nicht in der Linie des
Lebens, sondern er durchkreuzt sie. Sicher wirkt dieser Tod voraus, nicht nur in
der Angst und Sorge des Menschen, sondern in jenen Bedrohungen, Abschieden
und „Abbrüchen“, die das ganze Leben durchziehen. Aber ist nicht doch ein
qualitativer Sprung zwischen den vielen Toden, die wir im Vorhinein sterben, und
jenem einen Tod, der einmal und für immer [198] kommt? Daß man den Tod
personifiziert hat, daß man ihn den Schnitter Tod genannt hat, das hat man im
Ernst wohl immer als bloße Allegorie verstanden. Aber solche Allegorie
verkörpert doch die Wucht der zerstörerischen, einbrechenden, fremden, von
außen allgewaltig wirkenden Macht des Todes.
c) Tod als Trennung. – Eine weitere elementare Dimension des Todes: er
bedeutet Trennung. Dies im doppelten Sinn. Einmal trennt er mich unmittelbar
aus meiner Welt heraus. Er ist Abschied. Ich kann meine Bindungen und
Verbindungen im Tod nicht mitnehmen, und meine Bindungen und Verbindungen
können mich aus dem Tod nicht herausnehmen. Der Tod ist nur einmal. Aber
auch ich bin nur einmal. Und ich bin ganz in diesem Einmal. Es ist der Ernstfall
schlechthin, daß ich sterben muß, mit allem, was zu mir gehört, in diesen Tod
eintreten muß.
Aber da ist auch noch jene andere Seite: Tod ist Trennung, die durch mein
Innerstes hindurchfährt. Sagen wir es so klassisch und altmodisch: er ist
Trennung von Seele und Leib. Lange war das die leitende Aussage über den Tod.
Man hat sie in letzter Zeit oft als Verharmlosung verstanden. Nur Trennung?
Kann ich den Tod vernachlässigen, weil mein „besseres Selbst“ ja doch
unzerstörbar ist? Bin ich nicht ganz und elementar, einfach durch die Tatsache
des Todes, in Frage gestellt? Eine Trennung von Seele und Leib, die uns dazu
berechtigte, den Tod nicht „ganz so schlimm“ zu betrachten, wäre in der Tat ein
Mißverständnis der unendlichen Wucht des Sterbens. Aber es könnte ja auch das
Gegenteil der Fall sein. Es könnte ja auch der Fall sein, daß ein Sterben, in
welchem der Aspekt der Trennung sehr ernstgenommen wird, ein noch ernsteres
Sterben wäre.
Erinnern wir uns an jenes schlaue Gedankenspiel des Epikur, das nicht sticht:
Der Tod ist gar nicht; denn wenn ich bin, ist der Tod nicht, und wenn der Tod ist,
bin ich nicht, also ist der Tod nicht. Solange ich lebe, ist der Tod nicht da –
warum mich also aufregen seinetwegen? Und wenn er da ist, dann bin ich ja
nicht mehr da – warum dann noch mich aufregen, wenn ich es überhaupt nicht
mehr kann?
[199] Eines jedenfalls ist klar: Wenn der Mensch im Tod nicht nur verschwindet,
wenn im Tod so etwas wie Trennung von Leib und Seele geschieht, dann ist die
Nichtigkeit dieses Gedankenspiels nachgerade gefährlich. Sicher, dies ist kein
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Beweis für die Unsterblichkeit der Seele. Der innerste Grund, weshalb die
angeführte antike Denkfigur nur eine verschleierte Ausflucht ist, liegt auf der
Hand: Der Mensch als Wesen, das weitersieht, das aufs Ganze sieht, hat mit
seiner Angst und Hoffnung, mit seiner Verantwortung und seinem Interesse
schon je über den Tod hinausgesehen – und gerade deswegen trifft ihn der Tod,
trifft er ihn total. Der Mensch ist Wesen, das aufs Ganze schaut und das
deswegen von seinem Ende ganz betroffen ist.
Doch weil der Mensch das Wesen des Ganzen ist, weil er schon je über alle seine
Grenzen hinaus gegangen ist, ist etwas in ihm, macht ihn etwas zu ihm selbst,
was größer ist als sein Ende. Er ist größer als er selbst – und dieses Größersein
wird in ihm zur endlichen, konkreten Gestalt. Er ist die Spannung zwischen
unendlicher Größe, sagen wir es ruhig: zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit.
Und um dessentwillen ist er nicht weniger, sondern mehr endlich; denn er allein
ermißt unter den Wesen dieser Welt seine Endlichkeit. In diese Spannung hinein,
die der Mensch ist, aber trifft trennend der Tod. Im Ende, welches die
Gestaltwerdung, das Werk, den Raum, den „Leib“ des Menschen vernichtet,
bleibt gerade dieses: die Verantwortung des Menschen für seine Gestalt, für sein
Leben, für das, was in seinem Leib zur Gestalt geworden ist. Unsterblichkeit der
Seele heißt nicht, daß der Mensch dem Kerker des Leibes entrinnen und in die
Sphäre des besseren Selbst entschweben könnte, sondern daß er als der total
Getroffene und Betroffene in seinem Sterben stehenbleibt, im Gegenüber
stehenbleibt zu dem, der ihm Sinn und Leben und Menschsein gegeben hat. Der
Tod wird so zum absoluten Ernstfall jener Zeitlichkeit, die wir angeschaut haben:
weiter müssen, nicht weiter können. Darin aber ist er zugleich verantwortliches
und doch hoffendes Angewiesensein auf den, der die Quelle des Lebens und der
Zukunft ist.
Tod als Trennung von Seele und Leib, das ist Marke für das noch [200]
schwerere Gewicht des Todes. In ihm kommt eine ganze Verantwortlichkeit auf
mich zu, eine Verantwortlichkeit fürs Ganze. Tod als Trennung von Seele und
Leib, das ist Marke aber
auch der Hoffnung, die zugleich mit meiner
Verantwortung über den Tod hinausgreift, die hinlangt zu dem entzogenen
Anderen.
Allerdings wird auch ein anderes deutlich: Unsterblichkeit der Seele, auch wenn
sie erlöst wird in ein Mitleben mit Gott, ist noch nicht die Erlösung des ganzen
Menschen. Auferweckung des ganzen Menschen, Auferstehung des Fleisches
gehört dazu. Dort, wo ich ganz Welt werde, dort wo ich ganz Übersetzung bin in
diesen Stoff, dort wo in dieser Welt ich selbst Gestalt werde und durch mich das
Unendliche Gestalt wird, dort erst, in meinem Leib bin ich ganz zu mir eingeholt.
Und so wäre eine bloß individuelle Unsterblichkeit der Seele aufgrund meines
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individuellen Todes nicht jene ganze Erlösung, auf die ich angelegt bin – selbst
wenn mir in meiner persönlichen Gottesschau nichts fehlt und ich die Fülle
dessen, was erfüllt, genieße. Das Erfüllende wäre da, aber ich, der zu Erfüllende
wäre nicht ganz da, wäre nicht als jener da, als der ich jetzt lebe, als der ich jetzt
geschaffen und gerufen bin.
So also geht der Tod: Der Tod ist die Erschöpfung der eigenen Kraft – der Tod ist
das Fremde, das in mich einbricht und mich mir nimmt – der Tod ist der Stoß,
der mich in meiner Mitte trifft und mich in meiner Mitte trennt. Der Tod ist der
absolute Ernstfall meiner Endlichkeit. Und dies gerade, weil er der absolute
Ernstfall
meiner
Unendlichkeit
ist.
Meine
Freiheit
greift
aus
nach
dem
Unendlichen, meine Verantwortung ist unendlich. Aber ich erfahre, daß meine
Kraft und mein Vermögen nur endlich sind, ich erfahre, daß ich ausgeliefert bin
an das, was stärker ist als ich, ich erfahre, daß ich nicht aus mir selber ganz und
in mir selber eins mit mir bin. Doch derselbe unendliche Ausgriff meiner Freiheit,
der mich erst dazu befähigt, meine Endlichkeit zu ermessen und an meinem Ende
unendlich zu leiden, ist auch das Organ meiner Hoffnung, die über das Ende
hinaus fragt, ohne über das Ende hinaus aus sich selbst etwas zu vermögen.
Die Frage über mein Ende hinaus bleibt doppelte Angst: Angst [201] einmal
deshalb, weil ich jenseits des Todes überhaupt nichts mehr, nicht einmal mehr
diesen einen Augenblick, der mir je gegeben ist, selber vermag. Angst zum
anderen deshalb, weil im Tod die Verantwortung meiner Freiheit für sich selbst,
die unendliche Verantwortung für mein endliches Dasein nicht ausgelöscht,
sondern wie in einem Brennpunkt zusammengefaßt ist. Wenn ich über meinen
Tod hinausschaue, wieso soll ich da nicht in meinem Tod für mich selber
einstehen müssen? Mit der Frage über mein Ende hinaus ist aber nicht nur die
doppelte Angst, es ist damit auch die Hoffnung verbunden, jene naturale, ihrer
selbst unsichere und doch mein Leben leitende und haltende Hoffnung, die sich
auf den richtet, von dem her und auf den zu meine Freiheit allein frei ist. Kann
nicht er diese Freiheit, kann nicht er ihren Ausgriff über das Ende hinaus
auffangen, halten, kann nicht er die leere, ausgestreckte Hand meines Daseins
erfüllen?
Es ist merkwürdig. Der Tod, der mich total bedroht, der Tod, der – christlich
gesehen – die äußerste Konsequenz aus meiner Freiheit ist, die ich an mich
selbst gerissen habe, um von mir aus ganz frei, so wie Gott, zu sein, dieser Tod,
der meine Position gegen Gott dokumentiert und vollstreckt, ist der neue
Berührungspunkt mit Gott. Er ist jener Punkt, an dem ich meine ursprüngliche
Verfassung und Bestimmung wieder erreiche, in der ich meine geschöpfliche
Freiheit von neuem erfahre: Freiheit als Freiheit von her und auf-zu.
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Verwandlung durch Jesus Christus
Wer glaubt, der bleibt in seiner eigenen Endlichkeit, der bleibt sterblich, dem
bleibt die Not des Sterbens. In der Sprache des 1. Korintherbriefes: Der Tod wird
als letzter Feind dem auferweckten Herrn unter die Füße gelegt werden
(vgl. 1 Kor 15, 26). Solange die Geschichte dauert, herrscht also noch das
Gesetz des Sterbens – und doch ist der Sieg des Todes gebrochen und hat der
Tod seinen Stachel verloren, seit Jesus Christus auferstanden ist. Weil er
auferstanden ist, in dem unser Leben, unser ewiges Leben verankert und
zugesagt ist, deshalb ist schon jetzt der Tod verwandelt.
[202] Wie sieht diese Verwandlung des Todes aus? Grundgelegt ist sie darin, daß
Jesus Christus, der Sohn Gottes, selbst unser sterbliches Fleisch annimmt, selbst
sterblich wird wie wir. Er nimmt seinen Tod und damit unseren Tod an. Der neue
Adam setzt den Anfang der neuen Menschheit nicht neben die „alte“ Menschheit,
sondern heilt und wendet ihr Geschick von innen, indem er es, indem er den Tod
annimmt und austrägt. Dieser Tod ist gehorsamer Tod, Tod in die Hände des
Vaters hinein und Tod für uns, um unseres Heiles willen. Das Verstummen des
Todes wird also zum Für-Wort. In seinem für uns angenommenen und
getragenen Tod, im Votum des Sohnes für den Willen des Vaters gerade auch
dort, wo dieser Wille fremd und unbegreiflich erscheint, ist menschliche Freiheit
grundsätzlich wiederhergestellt und eingesetzt. Wir erhalten die „Letzten Dinge“
zurück, die uns frei machen, den Vater, zu dem wir Zugang haben in Jesus
Christus, und den Nächsten, mit dem wir versöhnt sind in der einen, allen
geltenden Liebe des Herrn. Die doppelte Scheidewand, die uns von Gott trennt
und die uns voneinander trennt, ist eingerissen im Tod Christi (vgl. Eph 2, 1418).
Wir schauen im Sterben Jesu und in dem neuen, erweckten Leben, in das es sich
österlich verwandelt, Gottes doppelte Zielrichtung und des Menschen doppelte
Zielrichtung an: Gott ist dreifaltiges Sich-Verschenken, Gott ist Offenheit über
sich selbst hinaus, frei sein anderes sein zu lassen, zu lieben, sich ihm zu
schenken – der Mensch ist Freiheit von Gott für Gott und darin Freiheit zu seinem
Nächsten, zu seiner Welt.
Hier begegnet uns der tiefste Sinn, warum mit dem Tod Jesu und mit seiner
Auferstehung die Epoche des Vergehens und der Endlichkeit und des Abschieds
nicht zu Ende ist. In Jesu Tod und Auferstehung ist auch noch dieses Vergehen,
dieses Sterben, dieser Abschied verwandelt in den Vollzug des zugleich göttlichen
und menschlichen Lebens, in den Vollzug des Geschenks. Wir können die
Schmerzen unserer Endlichkeit als Geschenk der Hingabe leben, können das, was
uns beengt, und was uns die Freiheit zu nehmen scheint, in die Tat der größten
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Freiheit, können es in liebende Hingabe verwandeln durch den, der uns zuerst
und der uns gerade so geliebt hat.
[203] 11.3 Die vielen Letzten Dinge und das Eine Letzte
Eschatologie, theologische Lehre von den Letzten Dingen setzt hier an, setzt an
bei der Verwandlung von Ende und Endlichkeit durch das Geschenk der größten
Liebe Gottes, durch die Verwandlung unserer Endlichkeit und unseres Endes in
der Todeshingabe Jesu und in seinem neuen Leben, das Anfang unseres Lebens
ist. Von hier aus, von dem Punkt aus, an dem die Herrschaft Gottes durchbricht
in unsere Endlichkeit und sie von innen her ereilt, heilt und neu werden läßt, hat
christlicher Glaube seine Zukunft zu lesen, von hier aus geht Glaube auf die
Zukunft, auf das Ende unseres Lebens und auf das erfüllte Leben ohne Ende zu.
Die Letzten Dinge: Sein beim Vater,
Gemeinschaft der Heiligen, Leben im Geist
Unmittelbar aus Kreuz und Auferstehung her gibt es für den Christen eigentlich
nur drei Letzte Dinge.
Jesus ist für uns zum Vater gegangen, mit ihm ist unser Leben verborgen beim
Vater,
verborgen
in
Gott
(vgl. Kol 3, 3).
Für
uns
ist
Jesus
zum
Vater
heimgekehrt, um uns dort, im Hause des Vaters, die bleibende Wohnung zu
bereiten (vgl. Joh 14, 2-4). Dort, wo Jesus ist, beim Vater, dort ist das Letzte,
auf das wir zugehen; unsere letzte, endgültige Daseinsstation heißt, kraft der
christlichen Hoffnung, Sein beim Vater. So wenigstens, wenn wir auf dem Weg
bleiben, der uns eröffnet ist und auf den wir in Taufe und Glaube mitgenommen
sind, Jesus Christus, welcher der Weg ist (vgl. Joh 14, 6).
Doch mit dem Vater sind uns jene mitgeschenkt, die zum selben Leben, zum
selben Bleiben beim Vater berufen sind, jene, für welche Jesus Christus
gestorben ist. Die Brüder, die Welt, die Menschheit sind uns geschenkt. Unser
Leben und Sterben ist nicht nur ein Hindurchgehen durch die Welt, ein
Vorbeigehen an den Menschen, ein Abschiednehmen von Menschen und Welt,
sondern Leben und Sterben sind Zugehen auf die Menschen und die Welt. Zu den
Letz- [204] ten Dingen gehört entscheidend die Communio Sanctorum, die
Gemeinschaft der Heiligen hinzu. Wir werden nicht in privater Seligkeit nur Gott
anschauen, sondern wir werden mit Jesus zu Tische sitzen im Reich des Vaters
und so miteinander. Eucharistiegemeinschaft ist Vorwegnahme des himmlischen
Hochzeitsmahles, der bleibenden Gemeinschaft mit den Erlösten. Und diese
Gemeinschaft fängt schon jetzt an nicht nur hier auf Erden, sondern im
bleibenden Kontakt mit denen, die uns im Zeichen des Glaubens vorangegangen
sind und bei Gott leben (vgl. Mt 22, 32).
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Ein drittes Mal müssen wir ansetzen, um aus dem Blickwinkel von Ostern die
Letzten Dinge beim Namen zu nennen. Die Letzten Dinge werden nicht nur
später einmal sein. Nein, das Letzte ist schon gültig und ganz Gegenwart in einer
anderen Dimension, in der des Heiligen Geistes. Gott hat sein Innerstes schon
jetzt in unser Herz hineingegeben, wir leben schon jetzt im Innenraum Gottes, in
jener ganzen und unendlichen Liebe, die den Vater und den Sohn miteinander
verbindet, weil wir im Heiligen Geist schon jetzt „Abba, lieber Vater“ rufen
dürfen, weil wir schon jetzt im Heiligen Geist Vater und Sohn bei uns zu Gast
haben dürfen (vgl. Röm 8, 15; Gal 4, 6; Joh 14, 23).
Die Letzten Dinge und die Liebe
In diesen drei Letzten Dingen – Sein beim Vater, Gemeinschaft der Heiligen, Sein
im Geist – haben wir alles, haben wir das Ganze, was uns bevorsteht, das Ganze,
was am Ende kommen wird. Aber dieses Ganze hat noch eine andere Seite.
Gottes Heilswille ist ungetrübt, Gottes Liebe ist ohne Schatten. Aber diese Liebe
„geht“ anders, als wir von uns aus ihren Gang vorzustellen geneigt sind. Gottes
Liebe als Liebe zu verstehen, erfordert von uns eine beständig neue Umkehr –
eine Umkehrung der Vorstellungen, die nicht weniger radikal ist als jene, die
Jesus seinen Jüngern zumutete, da er ihnen sagte, daß Gottes Herrschaft kommt
durch seinen Tod, durch sein Kreuz hindurch.
Gottes Liebe kommt durch unseren Tod hindurch, kommt in un- [205] seren Tod.
Angesichts so vieler tragischer Trennungen und Schicksale, so vieler Ängste und
Unsicherheiten sind wir immer wieder versucht zu fragen: Ist das wirklich
notwendig? Hätte Gott es nicht anders machen können? Warum ist durch Jesu
Tod und Auferstehung nicht unser Sterben abgeschafft worden? Aber dreht Gott
jemals das Rad zurück? Er schafft das, was einmal in der Geschichte gekommen
ist, nicht ab. Er dreht das Rad weiter. Und so ist es die Gangart seiner Liebe, daß
er die Welt, die einmal unter das Gesetz von Vergehen und Sterben geriet, nicht
wieder zurückholt in den paradiesischen Zustand, sondern daß er in Sterben und
Auferstehung Jesu einen Schritt nach vorne tut. Der Tod bleibt, solange diese
Weltzeit bleibt, aber der Tod wird verwandelt. Er wird Gemeinschaft mit dem
Sterben Christi. Er wird unsere Chance, der größten Liebe, die es gibt und die
sich für uns gegeben hat, Antwort zu geben. Nur in einer solchen Antwort holen
wir uns selbst, holen wir die Erfahrung der Endlichkeit, Gefallenheit und
Verfallenheit ein. Nur so wird Liebe Gottes nicht als eine Lösung von oben auf
unsere ungelösten Probleme „aufgepfropft“, sondern werden sie von innen her
eingeholt und verwandelt.
Christliches Sterben ist durch solche Verwandlung nicht einfachhin „schönes
Sterben“ geworden. Sicherlich, es gibt bewegende Zeugnisse dessen, wie sehr
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der Tod sichtbare Gestalt und eindringliches Zeichen von Glaube, Hoffnung und
Liebe zu werden vermag. Aber es gibt auch das Andere, das Sterben Glaubender
in Verlassenheit und Unsicherheit und Angst, die uns nur an den Todesschrei
Jesu am Kreuz, nur an seinen Ruf erinnern können: „Gott, mein Gott, warum
hast du mich verlassen?“ Was in Jesus, in seinem Schicksal geschehen ist, das
will auch im Schicksal jener geschehen und sichtbar werden, die seinen Weg
mitgehen: Heimholung der Ferne, Ausfüllung der Abgründe, Durchschreiten des
dichtesten Dunkels als Weg zum Vater. Alles christliche Sterben ist berufen, Jesu
Sterben gleichgestaltet zu werden, Anteil an seinem Weg zu sein, Ort der
Begegnung mit der größten Liebe und zugleich Antwort auf diese größte Liebe.
Auch wo der Christ nicht für sich oder für andere erfahrbar in seinem Sterben
das
Sterben
Jesu
mitzuvoll-
[206]
ziehen
vermag,
ist
dieses
Sterben
eingebunden in die Schicksalsgemeinschaft mit Jesus, ist es hineingetaucht in
Jesu Tod. Das, was von solchem christlichen Sterben nach außen dringt, mag
Widerhall der Erlöstheit unseres Todes durch Jesus oder Widerhall jener Todesnot
sein, die er aus Liebe zu uns zu der seinen machte: so oder so ist es
hineingenommen in Jesu Sterben und Auferstehung.
Dieser Vorrang und dieses Übergewicht des Todes Jesu in unserem Sterben ist
der größte Trost und die größte Hoffnung, die wir auf Erden haben. Wohin wir
unterwegs sind, wir sind zum Weg Jesu unterwegs, und er selbst wird uns auf
seinem Weg geleiten.
Und doch ist dieses Bewußtsein alles eher als eine „Versicherung“, alles eher als
ein „Automatismus“. Dies ist der zweite, aufs erste befremdliche, unseren
Glauben herausfordernde Zug der Liebe Gottes. Sie ist nicht nur eine Liebe, die
dem Geliebten nichts erspart – Gott hat das Rad des Todes nicht zurückgedreht–,
sondern sie ist auch Liebe, die uns die freie Antwort nicht erspart. Ja, so ist
wahre Liebe. Sie nimmt den ernst, dem sie gilt, sie setzt frei, aber sie fordert die
Freiheit, die sie freisetzt, auch heraus, nimmt sie in Anspruch. Auch wenn die
Liebe nichts erwartet und keine Ansprüche stellt, sie selber ist ein Anspruch an
den, dem sie gilt. Anderenfalls würde dieser ja zu ihrem bloßen Objekt, er würde
bestenfalls Konsument, nie aber Partner. Liebe ist immer gefährlich. Sogar für
Gott. Sicher, er kann nicht aufhören, Gott zu sein, Vater und Sohn und Geist
können sich nie untreu werden. Aber weil Gott Liebe ist, kann er sich selbst für
uns, für seine Schöpfung aufs Spiel setzen, Gottes Sohn kann unser Bruder
werden, kann unseren Tod sterben, kann sich verwunden lassen von unserer
Liebe und in dieser Verwundung liebend unsere eigene Gottferne auskosten. Für
uns ist Gottes Liebe gefährlich, weil sie uns alles schenkt, weil ihr Geschenk aber
nur bei dem ankommen kann, der es annimmt, der sich ihm öffnet.
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Im Tod erwartet uns so Gottes unendliche Liebe – doch die Begegnung mit der
unendlichen Liebe ist unser Gericht. Nicht daß Gott kleinlich Versagen,
Verfehlungen, Verdienste aufrechnen wollte, aber wir bringen uns einfach mit vor
diese Liebe, so wie wir [207] sind. Sicherlich, es wäre nicht gut, vorwitzig sich
auszumalen, wie das ist, wenn man im Tod vor Gott hintritt. Wir sollen es ihm
überlassen, und wir können es getrost dem überlassen, der uns bis zum
Äußersten geliebt hat. Ein Heiliger formulierte es einmal so: Wenn ich die Wahl
hätte, in meinem Tod vor meine eigene Mutter hintreten zu müssen, um
gerichtet zu werden, oder vor Jesus Christus, so würde ich ohne Zögern Jesus
Christus als Richter vorziehen.
Und doch ist es nicht eine glaubensschwache Ängstlichkeit, wenn wir vor dem
Augenblick der Begegnung mit der größten Liebe erzittern. Wir werden von der
Liebe, weil sie Liebe ist, in unsere Wahrheit gestellt. Bei der Liebe kann es
letztlich nur die Liebe aushalten. Nur der Liebe kann die Liebe das größte Glück
bringen. Das was nicht Liebe ist an uns, muß verbrennen, muß sich in Liebe
verwandeln.
Geht es uns nicht schon so bei der Begegnung mit einem Menschen, dem wir
vielleicht nicht immer gerecht geworden sind, über den wir diesen oder jenen
Verdacht, dieses oder jenes Urteil hegten? Nun treten wir vor ihn hin, und wir
finden lautere Liebe vor, lauteres Verstehen, auch wenn er alles von uns weiß.
Dann schmerzt es uns umso mehr, daß wir ihm nicht gerecht geworden sind. Die
Freude, nun doch von ihm angenommen zu werden und unbefangen mit ihm
sprechen zu dürfen, muß durch diesen Schmerz hindurch, in dem das uns selber
auf der Seele brennt und von der Seele wegbrennt, was wir gegen ihn
unaufgearbeitet in uns tragen.
Läßt sich nicht so das „Fegfeuer“ verstehen? Das, was bislang noch an Nein zur
Liebe Gottes in uns lebte, aber auch die Wunden, die ein einmal gesprochenes
Nein in unserer Seele zurückläßt, das, was noch nicht ausgefüllt und umgeformt
ist vom Ja zur Liebe, das ist angesichts der unendlichen Liebe da als Schmerz,
der den Prozeß der Umwandlung in die Liebe begleitet.
Aber dürfen wir das andere Schreckliche ausschließen? Kann es nicht auch jenes
Nein zur Liebe Gottes in uns geben, das sich selbst festhält, verhärtet, abschirmt
gegen diese Liebe Gottes? Hölle kennt kein anderes Feuer als das der Liebe
Gottes. Aber wo Gottes Liebe auftrifft auf unser Nein, da wird diese Begegnung
zur Spannung, [208] und diese Spannung ist deswegen das „Letzte“ für den
Menschen, weil Gottes Liebe das Letzte ist. Wer selbstsicher sagte: Ich bin ja
offen für die Liebe, ich wehre mich nicht gegen sie – hat der die Liebe
verstanden? Wir können nur von der Hoffnung leben, daß in uns seine Liebe
stärker sein möge als alle unsere Selbstherrlichkeit, Verschlossenheit, Enge und
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auf sich selbst fixierte Schwäche. Aber solches Vertrauen macht gerade keine
Rechnung, es ist ganz anderer Art als jene Sicherheit, die sich auf sich selbst
verläßt – und so gerade nicht mehr Antwort auf die Liebe ist. Gottes Liebe hat
mich schon gerettet – aber bis zur letzten Stunde bleibt es mir aufgetragen, daß
ich mich ihr ganz anvertrauen, ihr antworte, mich von ihr wahrhaft retten lasse.
Gib
mir,
daß
ich
mich
von
dir
retten
lasse!
Gib
mir,
daß
nie
jene
Selbstherrlichkeit und nie jene Feigheit und nie jene Bequemlichkeit in mir die
Oberhand gewinnen, die den Prozeß deiner Liebe in mir zum Erlahmen bringen,
den Prozeß, in dem ich in das verwandelt werde, was du bist, in reine Liebe!
Gottes Herrschaft ist die Herrschaft der reinen und ganzen Liebe. Das, was in
Einklang steht mit dieser Liebe, wird Seligkeit, Erfüllung, Heil in sich erfahren.
Alles in mir, was nicht Liebe ist, muß verbrennen. Das ist das einzig Notwendige,
was geschehen muß – und es muß sofort geschehen, Augenblick für Augenblick
geschehen. Ein solches Leben für den „Himmel“ ist die stärkste Kraft, um auch
diese Erde zu verwandeln, um schon jetzt aus den Verhältnissen dieser Erde und
dieser Gesellschaft ein Zeichen für Gottes anbrechendes Heil werden zu lassen.
Wer in sich und um sich herum alles in Liebe verwandelt, wer also aufs Letzte
zulebt, dem können kein Leid und keine Not auf Erden, dem können kein Mensch
und keine Ungerechtigkeit zwischen den Menschen, dem können keine Aufgabe,
keine Krise und keine Chance im Hier und Jetzt gleichgültig sein. Himmel und
Erde sind in der Ordnung des anbrechenden Gottesreiches, in der Ordnung einer
Eschatologie der Liebe unlösbar miteinander verbunden.
Die Liebe macht alles neu. Die Liebe sieht aber auch alles neu. Sie leidet unter
der Tragik der Endlichkeit, die uns nicht nur in der [209] menschlichen
Geschichte, sondern auch in der Schöpfung begegnet: Einer lebt vom anderen,
eines verzehrt das andere, eines geht auf über dem Untergang des anderen. Ist
nicht selbst solche Tragik verschleiertes „Für“ und somit der vorläufige, endliche,
ja entstellte und verfremdete Lebensrhythmus der Liebe, von dem wir eingangs
sprachen? Endlichkeit als Hinleben auf ein anderes und somit christlich als
Spiegel des göttlichen Lebens, das Leben füreinander, Hingabe aneinander ist?
Daß der neue Himmel nicht nur die Privatkabine einer individuellen Seligkeit ist,
sondern der Raum jener umfassenden Gemeinschaft, in der Sein mit Gott Sein
miteinander und Sein füreinander bedeuten, Communio Sanctorum, war uns
schon aufgegangen. Nun aber sehen wir des weiteren: Zum neuen Himmel
gehört auch die neue Erde hinzu, die verwandelte Schöpfung, die jetzt noch in
Geburtswehen liegt (vgl. Röm 8, 18-25).
Zur Auferstehung des Fleisches, zur Erlösung unseres Leibes gehört die Erlösung
der Schöpfung – wie auch immer – dazu. Das Wie können wir getrost der Liebe
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überlassen, die alles und gerade auch die Dinge, den Stoff, das Leben als Gabe
und somit als Spur auf dem göttlichen Weg der Liebe erschaffen hat.
So gehen wir zu aufs Einmal der Vollendung von Welt und Geschichte, der
Gleichzeitigkeit des All im einen Letzten, was es gibt, in der Gemeinschaft der
einen, unendlichen, dreifaltigen Liebe, die Gott selber ist, der Gott, der sich uns
gibt.
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[210] 12. Nachfrage: Glauben, wie geht das?
Auch lesen, auch mitdenken ist ein Weg. Und jene Besinnung, die einen Text
zum Lesen entstehen lassen, ist Weg. Den, der einen Weg hinter sich hat, fragt
man: Wie ist es gegangen?
Die Sorge des Schreibenden und die des Lesenden beim Weg dieses Buches sind
wohl dieselbe: Ist es deutlicher geworden, ist es näher gerückt, ist es
„gangbarer“ geworden, wie Glaube geht? Oder hat der Weg des Glaubens sich
aufs neue verstellt in eine Fülle von Überlegungen und Beobachtungen hinein?
Oder muß einer gar sagen: Wenn Glaube so geht, dann ist er nichts für mich,
dann kann ich ihn nicht mitgehen? Und wenn das so ist, woran liegt es dann?
Törichtes Unterfangen, diese Fragen allgemeingültig auflösen und beantworten
zu wollen! Und doch tut die Nachfrage not. Sie ist Sache des einzelnen, Sache
derer, die vielleicht miteinander im Mitdenken und Mitleben die Begehbarkeit des
angebotenen Weges erprobt oder sich selbst einen gangbaren Weg im Dialog mit
diesem Angebot erschlossen haben.
Was hier vonseiten des Anbietenden noch geschehen kann, ist ein dreifaches:
einmal die methodische Rechenschaft darüber, wie er den Weg zu weisen
versuchte; zum andern die persönliche Rechenschaft, was dieser Weg ihm selbst
bedeutet; schließlich die inhaltliche Rechenschaft, die den weitgezogenen Weg in
wenigen Linien auf einer „Landkarte mit großem Maßstab“ zusammenfaßt.
[211] 12.1 Methodische Rechenschaft
Unser Versuch, die Botschaft Jesu Christi und die Botschaft von Jesus Christus
als einen Weg zu verstehen, hat uns von der Ansage der Gottesherrschaft in der
Predigt Jesu bis hin zu den Letzten Dingen geführt. Wir haben also einen Weg in
der Zeit zurückgelegt. Sicher, wir haben da oder dort eingehalten und
umgeblickt, so daß uns Früheres später und Späteres früher auffiel. Der
Grundrhythmus blieb indessen jener zeithafte des Weges Jesu und des Weges
der Kirche durch die Welt zum Ende hin.
Dieser Zeitbezug ist nicht zufällig, nicht beliebig. Denn wir sind ausgegangen
vom Erfülltsein der Zeit, das Jesu Botschaft ausruft. Das „Schon“ und „Nochnicht“ der Gottesherrschaft bestimmte unseren Gang und unsere Sicht. Damit ist
das entscheidende Wort gefallen, jenes, das den führenden Gesichtspunkt des
Ganzen bestimmt: Gottesherrschaft. Wenn die Herrschaft Gottes anbricht, dann
verändert sie die Gangart unseres Lebens und der Geschichte; denn Herrschaft
Gottes bedeutet die neue Gangart Gottes, in welcher er auf uns zukommt, in
unser Leben einbricht, auf neue und unerhörte Weise unser Gott wird.
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Herrschaft Gottes, das ist keineswegs das einzige Interpretationsmodell des
Neuen und Einmaligen, was Jesus bringt. In der Schrift selbst begegnen uns
andere Deutemöglichkeiten. Und Herrschaft Gottes ist durch die auslegenden
Striche, in denen wir ihren Inhalt zu erschließen suchten, keineswegs umfassend
und erschöpfend entfaltet. Wohl aber scheint es möglich, die grundlegenden
Aussagen der Schrift unmittelbar über die Herrschaft Gottes wie auch den
Zusammenhang dieses Verstehensmodells mit wichtigen anderen, die das Neue
Testament anbietet, einsichtig zu machen. Was bestimmt und beherrscht den
Menschen? Woraus lebt er? Was blockiert seine Freiheit oder setzt sie frei? Was
nimmt ihm seine Zeit aus der Hand oder gibt sie ihm in die Hand? Was erschließt
oder entzieht ihm und der Menschheit die Zukunft? Das sind Fragen, an denen
wir nicht vorbeikommen, wenn wir den Weg suchen, wie Glaube heute geht. Auf
sie ist Antwort gefordert, auf sie wird Ant- [212] wort gegeben, frappierende,
befremdende und doch er-lösende Antwort in der Botschaft von der Herrschaft
Gottes.
Von der Seite der Botschaft selbst her gesagt: Wir legten Herrschaft Gottes so
aus, daß wir die andere Gangart, die andere Bewegung des Lebens Gottes und
unseres Lebens mit Gott von der Initiative und Vorgabe Gottes her in den Blick
bekamen. Dieses Vorgehen eröffnete sodann etwas Überraschendes: Andere
Seh- und Denkweisen innerhalb des Neuen Testamentes zielen auf ein selbes
Verstehen Gottes und ein selbes Gehen unseres eigenen Weges ab, es ergibt sich
eine merkwürdige Übereinstimmung unterschiedlicher „Theologien“ im Neuen
Testament. In diesem Sinn versuchten wir die Aussagen verschiedener Schichten
neutestamentlicher Theologie parallel zueinander zu lesen.
Sicherlich ist die hierbei angewandte Weise, mit den Texten der Heiligen Schrift
umzugehen, von mancherlei Seiten her befragbar. Ziel und Art dieses Buches
verboten eine breit angelegte Rechtfertigung exegetischer Art im einzelnen und
auch eine Rückkoppelung an die exegetische Fachliteratur. Das Neue Testament
wurde
weder
dogmatische
einflächig
Aussagen
als
noch
Ansammlung
als
gleichartiger
kritisch-historisch
Belegstellen
für
aufzubereitendes
Nebeneinander religionsgeschichtlicher Quellen für die Erforschung der Worte
und Taten Jesu und ihrer Rezeption durch die junge Kirche betrachtet. Vielmehr
galt das Neue Testament uns als Buch der Kirche, das einen geistgewirkten
Prozeß des Zeugnisses von Jesus, seinem Werk und seiner Botschaft verbindlich
in die Kirche hinein weitergibt. Die Texte wurden von ihrem Wohin, sie wurden
als Schritte auf Glauben und Leben aus dem Glauben hin gelesen. Die Analyse
des Woraus, des Bezugsrahmens und Kontextes, der Schichtung und vielfältigen
Geschichte, die „hinter“ ihnen steht, erforderte weitere und andere methodische
Bemühungen, die hier keineswegs als unwichtig abgetan, die hier aber auch nicht
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geleistet werden sollten. Wort Gottes, sich zusprechend im menschlichen Wort
aus Glauben auf Glauben hin, dies könnte eine Formel für das von uns zugrunde
gelegte Verständnis der Schrift sein.
So fügten sich uns „vordogmatische“ Unmittelbarkeit der [213] Schrift, kirchliche
Tradition, dogmatische Reflexion und geistliche Weisung fürs Leben aus dem
Glauben zu einer Einheit des Weges, wobei Weg gerade das nicht in glatter
Identifizierung an dieselbe Stelle schiebt, was er in seinem Gang miteinander
verbindet.
Was soll diese methodische Bemerkung? Was hat sie mit der uns bewegenden
Frage zu tun, wie Glauben geht? Vielleicht darf es einfältig so ausgedrückt
werden: Schau, wie dein eigenes Sehen und Gehen, wie du selbst und deine
Sicht Gottes und der Welt sich verändern, wenn du dich glaubend auf das
einläßt, was als Gottes Botschaft, als sein Weg zu dir im Evangelium angeboten
wird! Dann kannst du entdecken, wie Gott, Welt und Mensch sie selbst bleiben
und dir doch neu werden im selben Weggeschehen. Dann wirst du erkennen, wie
verschiedene Schichten und Perspektiven der Schrift sich ineinander spiegeln und
bei aller Verschiedenheit zusammengehören. Dann wirst du die Verbindung
zwischen Evangelium, Kirche, und persönlichem Lebensvollzug entdecken.
12.2 Persönliche Rechenschaft
Ein solcher Zusammenhang kann aber nicht nur vom einen Pol her entfaltet
werden, er muß auch in der umgekehrten Richtung gehen. Sicher hat die
Botschaft den Vorrang, sicher ist der Anfang Gottes auf uns zu jener Anfang, der
im Glauben, im Leben aus dem Glauben unserem eigenen Anfangen vorausgeht
und es trägt. Der Anfang Gottes kommt aber nur im menschlichen Zeugnis auf
uns zu, er wird nur dort als Anfang Gottes sichtbar, wo jemand bereits
antwortend auf Gott zu anfängt, sich, sein Glauben, sein Leben dem Anfang
Gottes einräumt. Daß Gott in der Botschaft des Evangeliums, daß Gott im Weg
der Kirche auf den Menschen zugeht, das wird erst glaubhaft, das rückt erst in
den Horizont des Menschen, indem Glaubende ihren Glauben, ihr Leben aus dem
Glauben, ihren Ansatz, antwortend auf Gott zuzugehen, offenlegen.
In der Tat erwuchs so auch die Besinnung, die sich in diesem Buch verfaßt.
Leitend war der Hinblick auf die Schrift, auf die Botschaft. [214] Vom Wort
Gottes aus sollte sichtbar werden, wie Glaube geht. Doch in solches Wegblicken
von sich auf die Botschaft zu nimmt der Glaubende notwendig sein Glauben, sein
Leben, sich selbst mit. Er rechtfertigt, begründet, korrigiert, vertieft seinen
eigenen Weg am Weg Gottes, er trifft auf diesen Weg Gottes nur als einer, der
selbst einen Weg geht, seinen Weg geht.
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So gehört zur Rechenschaft über den vorgelegten Gedankengang auch etwas wie
die persönliche Rückfrage dessen, der ihn vorlegt, an sich selbst: Geht Glaube
auch für dich so, wie du ihn anderen sagst? Wie bringst du deinen eigenen Weg
mit ein in jenen Weg, auf den du andere einlädst? Im Gang der Besinnung zielten
mancherlei Hinweise bereits auf das Leben des einzelnen und auf das Leben
miteinander aus dem Glauben. Am Ende sollen diese Hinweise noch einmal
miteinander verbunden und knapp zusammengefaßt werden. Es geschieht in
einer Reihe von Fragen, die der Schreiber aus seinem Tag und Alltag in den Tag
und Alltag des Lesers hineingibt.
– Glaube ich, daß Gott wirklicher, wichtiger und wirksamer ist als alles andere,
als meine Erfahrungen, Vorstellungen, Wünsche und Ängste, als meine
Meinungen und die Meinungen anderer, als das, was man gemeinhin die
Realitäten nennt? Wenn Gottes Herrschaft herangekommen ist, wenn Gott in
Jesus Christus sich hineinbegibt in mein Leben und meine Welt, dann bleibt
mir keine andere Antwort als die: ihn meinen Gott sein zu lassen, gegen allen
anderen Anschein ihm Recht, Rang und Macht über mein Leben und meine
Welt einzuräumen, mich und alles unter der Prämisse Gottes zu sehen, mein
Bewußtsein und seine Maßstäbe auf diesen Gott hin umzuorientieren,
umzukehren.
– Glaube ich daran, daß dieser Gott Liebe ist? Löse ich in meinem Verhältnis zu
ihm dieses elementare Credo ein: Wir haben geglaubt an die Liebe!
(1 Joh 4, 16)? Glaube ich daran, daß die Liebe mehr recht hat und daß sie
mehr Macht hat? Glaube ich daran, daß auch das, was nicht aufgeht, daß auch
das, was ich nicht verstehend auflösen und in eine heile Welt hinein
harmonisieren kann, von Gott her zutiefst nichts anderes ist als Liebe? Auch
dann, wenn ich nicht [215] sehe, wie und warum? Löse ich immer wieder die
Inseln der Angst, die sich in dieses Vertrauen einnisten wollen, in gelassene,
wartende, lautere Hingabe auf?
– Lebe ich in Gottes neuer Zeit? Lebe ich im gegenwärtigen Augenblick? Oder
weiche ich ihm und damit dem Blick des lebendigen Gottes aus in eine
Vergangenheit, von der ich mich nicht löse, oder in eine Zukunft, die es erst in
meinen Phantasien, Ängsten, Erwartungen, Plänen gibt?
– Bin ich in lauterer Gesinnung bereit, lieber als alles andere Gottes Willen zu
tun? Oder rede ich mich darauf hinaus, daß man so genau diesen Willen
Gottes nicht kennen könne, und verstecke mich dann hinter meine eigenen
Vorsichten und Rücksichten? Daß Gott mein Gott ist und daß ich mit diesem
Gott lebendig lebe, entscheidet sich doch daran, daß ich will, was dieser Gott
will. Und wenn einmal das Was des Willens Gottes undeutlich wäre, immer
deutlich
ist
sein
Wie:
er
will
von
mir
vorbehaltloses
Vertrauen
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und
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– „Auf dein Wort hin“ (Lk 5, 5): Ist dies auch die Formel für mein Leben und
mein Tun? Es gibt sicher verschiedene Wege, um das eigene Leben mit dem
Wort Gottes zu durchdringen und aus ihm zu gestalten. Daß es aber Fleisch
werden will in unserem Alltag, daß es uns lebendiges, gegenwärtiges Wort sein
will, daß es uns hier und jetzt gelten und betreffen will, das gehört
unabdingbar zu unserer Situation hinzu, zur Situation der Nachfolge im
Zeitalter der anbrechenden Gottesherrschaft. Der Versuch, gemeinsame
Erfahrungen im Alltag mit dem Wort Gottes zu machen und diese Erfahrungen
auszutauschen, ist nicht die einzige, aber eine besondere wirkmächtige und
vielfältig bewährte Möglichkeit des Lebens aus dem Wort.
– [216] Schaue ich und stoße ich durch die vielen Aufgaben und Situationen
immer wieder hindurch zur Mitte dessen, was Jesus will: auf „sein“ Gebot
(vgl. Joh 15, 12), aufs „Neue Gebot“ (vgl. Joh 13, 34)? Lieben, wie er geliebt
hat – das fordert mir die Frage ab: Bin ich bereit, das Ja mitzusagen und
mitzutun, das Jesus mit seinem Blut zu meinem Nächsten hat? Bin ich bereit,
den je jetzt fälligen „Blutstropfen“ für ihn zu vergießen? Für den, der jetzt
meine Zeit, meine Aufmerksamkeit, meinen Rat, mein Geld, meinen Blick,
meine klare, vielleicht auch nicht für ihn und mich bequeme Entscheidung
braucht?
– Stoße ich durch in den Erfahrungen des Negativen zur Begegnung mit dem,
der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat (vgl. Gal 2, 20)? Mache ich
ernst damit, daß ich keinem Schmerz, keiner Schuld, keinem Warum, keiner
Tragik – in mir, bei meinem Nächsten, in der Welt – begegnen kann, ohne ihm
zu begegnen, der dies alles zu seiner Last gemacht, ausgelitten und so von
sich her in Liebe verwandelt hat? Bin auch ich bereit, dies alles zu verwandeln,
indem ich mein Ja und Du zu ihm, dem für mich und für die Welt
Gekreuzigten, sage? Lebe ich in der Flucht vor ihm oder im Mut, liebend jeden
Tag neu auf ihn zuzugehen? Solches Zugehen ist die tiefste Kraft, das
veränderliche Negative zu verändern und das unveränderliche Negative zu
verwandeln.
– Bin ich bereit, im Blick auf ihn auch mich und meine Situation anzunehmen,
meine Problematik und vielleicht Unerträglichkeit für mich selbst? Lebe ich
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– Lebe ich mit dem, der lebt? Bleibe ich an mir, an den Umständen, an meinen
Vorbehalten oder schlechten Erfahrungen, am Äußeren der Kirche hängen –
oder dringe ich durch, bis ich ihm begegne, bis ich ihn finde, der sich hier mir
gibt: im Bruder und in mir selbst, in dem Wort, das er mir sagt, in dem
Sakrament, das er mir reicht und in dem er sich und seine Liebe mir reicht, in
denen, die in seinem Namen der Kirche und so auch mir etwas und ihn selber
sa-
[217]
gen
und
bringen?
Starre
ich
auf
meine
Angst
vor
dem
unbeweglichen Stein – oder sehe ich, daß er weggewälzt ist, daß die
Begegnung mit ihm mir freigegeben ist, daß er lebt?
– Wo immer ich mit anderen zusammen bin, zu sprechen und zu tun habe, ist
Raum, in welchem der lebendige Herr gegenwärtig, in welchem er mitten
unter uns dasein will. Tue ich wenigstens das Meine dazu, um ihm den Weg zu
bereiten? Gehe ich so auf ihn und aus seinem Geist auf die anderen zu, daß
die Voraussetzungen wachsen können, damit er seine Gegenwart schenken
kann? Habe ich diese Leidenschaft für ihn, für die Welt, für die Gesellschaft,
für die Kirche, die weiß: Leben, ganzes Leben ist, wo er unter uns lebt?
– Ist mir der Jesus im anderen und der Jesus in unserer Mitte wichtiger als
„mein“ Jesus? Bin ich nur in mein Charisma, in meine Einsicht, in meine
Probleme verliebt – oder gehe ich auf ihn im andern, auf ihn in unserer Mitte
zu? Bin ich in der Mitte oder ist er es, wo ich mit anderen zusammenbin?
– Bin ich auch dann, wenn ich allein bin, Ausdruck von Jesus, der inmitten seiner
Kirche lebt? Bin ich auch dann bereit, aus dem Licht des Herrn in der Mitte
jener, die an ihn glauben, mein Leben und meine Aufgaben zu sehen,
anzunehmen, zu tun? Der Herr kann nur die Mitte meines Lebens und meines
Denkens sein, wenn er mir Mitte gemeinsamen Glaubens und Lebens, wenn er
mir der eine Herr in der Mitte der vielen ist.
– Habe ich die Leidenschaft, daß alle eins seien (vgl. Joh 17, 21-23)? Bin ich der
Diener der Einheit dort, wo ich bin, in meiner Familie, in meinem Wohn- und
Lebensraum, in meinem Arbeitsfeld, unter meinen Freunden? Und bin ich
zugleich jeweils offen, über den eigenen Kreis hinauszuschauen und Türen zu
öffnen, Gräben zu überspringen, Risse zu heilen? Und wenn ich die Einheit
suche: ist sie für mich nur ein Kompromiß, der den Konflikt verhütet oder
zukleistert – oder weiß ich, daß Jesus dort Einheit stiftete, wo er die Spannung
und Spaltung zwischen Gott und Menschen und zwischen Mensch und
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– [218] Bin ich – diese Frage mag eigentümlich klingen – für die anderen Maria?
Bin ich so leer von mir, so offen über mich hinaus, daß mich Gott für sich
beanspruchen und so für andere in Dienst nehmen kann? Maria ist der Weg,
ihr Schweigen, ihr Hintergrundsein, ihr Sichgeben und Allesgeben, damit Jesus
geboren werden kann. Was in Bethlehem geschah und was an Pfingsten neu
geschah, ist auch unsere Aufgabe: Der Herr will geboren werden, er will in die
Mitte kommen, er will durch seinen Geist neue Einheit und neue Offenheit
stiften. Das Werkzeug dafür heißt Maria. Maria als geschichtliche Gestalt und
als unsere Lebensgestalt.
– Wie sehe ich meine Rolle, wenn ich mit dem Nächsten zu tun habe, im
Sprechen und Zuhören, im Dienen und Leiten, im Versöhnen, Vermitteln und
Inspirieren? Wenn christliches Leben Leben aus Gott, Leben nach dem Maß
Gottes bedeutet, wenn der Herr uns erbittet, daß wir eins seien, wie Vater und
Sohn eins sind im einen Geist, dann muß Gottes dreifaltiges Leben seine
Rückwirkung haben auf unser alltägliches Verhalten zueinander, (vgl. Phil 2, 111). Nur wenn wir uns selber mitgeben, wo wir zu sagen, zu handeln, zu
geben haben; nur wenn wir selbst Wort und Ausdruck des andern werden, wo
wir zu hören, zu dienen, zu helfen haben; nur wenn wir uns zurücknehmen ins
vermittelnde und inspirierende Dasein für …, kommt dieses göttliche Leben,
kommt unser Auftrag zur Geltung, Einheit zu stiften, göttliches Einssein
weiterzutragen in der Welt.
– Wie im Himmel so auf Erden: Haben wir den Mut, über den Bereich der bloß
spirituellen Haltung vorzustoßen, um unseren Dienst in Welt und Gesellschaft
mit dem Geist des Evangeliums zu durchdringen? Werden unser Haben und
Nichthaben, unser Geben und unser Leisten; wird unser Umgang mit der Not
in der Welt; werden unser Einsatz und unsere Erholung, unser Bauen,
Wohnen, Genießen; werden unsere Bildung und unsere Kommunikation
Ausdruck, Zeichen dessen, was Gott uns gegeben hat, indem er sich uns
gegeben hat? Ausdruck und Zeichen dessen, worauf wir hoffen, wenn wir auf
die Vollendung der Herrschaft Gottes hoffen?
– Wo schließlich liegt unser Ziel? Kann man uns anmerken, [219] daß wir nur
ein Höchstes und Letztes kennen, jene Liebe, an die wir glauben, jene Liebe,
die nicht nur Gottes erstes, sondern auch Gottes letztes Wort zu uns und zur
Welt ist? Verbrennen wir in uns alles, was nicht Liebe ist, verwandeln wir um
uns alles, damit es Ausdruck der Liebe sei? Können jene, die uns, unsere Liebe
und unser Einssein sehen, daran glauben, daß Gottes Herrschaft nahe
herangekommen, daß Gott die Liebe ist und daß die Liebe mehr recht hat?
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Die Fülle, aber auch der Anspruch solcher Fragen können uns nicht nur
ermutigen. Sie können uns auch in die Krise stürzen: Geht das wirklich? Jeder,
der sich auf diesen Weg einläßt, wird durch die notvolle Erfahrung mit seiner
eigenen Armseligkeit hindurchmüssen. Es genügt auch nicht, an jene Frage der
Jünger zu erinnern „Wer kann da noch gerettet werden?“ und an Jesu Antwort,
daß bei Menschen dies unmöglich sei, nicht aber bei Gott (vgl. Mk 10, 26f.). Es
ist wichtig und hilfreich, hier vor allem auf das eine zu verweisen: Nicht vieles,
nicht Unübersehbares ist gefordert, sondern immer nur das eine: Leben im je
gegenwärtigen Augenblick. Den je fälligen einen Schritt tun im Glauben an die
Liebe und im Versuch zu lieben, das ist das Ganze.
Und zudem: entdecken wir hier nicht jene Einfachheit, die nicht vereinfacht? Jene
Klarheit, die nicht um die Dimension der Tiefe verkürzt? Gott Gott sein lassen,
Gott Liebe sein lassen, seine Liebe auch im Kreuz verstehen, seiner Liebe mit
Liebe antworten, im Blick auf jeden und jedes, so die göttliche Einheit aufdecken
und Gestalt werden lassen in unserem Leben und schließlich ihm, seiner Liebe
die Vollendung überlassen. Sicher, das ist eine provozierend kühne Alternative zu
dem, wie „gängigerweise“ das Leben geht. Doch es ist die Alternative des
Glaubens, die Alternative Gottes. Der einzige Weg, damit diese Alternative
gelingt: Er in uns, wir in ihm, jeden Augenblick aufs neue. Und wo etwas von
dieser Alternative durchscheint in den verworrenen Wegen unseres Lebens und
unserer Welt, da erkennen wir: Ja, das ist Leben, das ist Weg und Wahrheit, das
ist Er!
[220] 12.3 Inhaltliche Rechenschaft
Meinen Weg gehen heißt, ihn meinen Weg gehen lassen, seinen Weg in meinem
mitgehen. Die Schritte, die mir aufgetragen sind, daß ich sie im Glauben tue,
sind dieselben, die ich an seinem Weg ablese. Mein glaubendes Tun ist
gegründet, getragen und umfangen von dem, was Gott an mir getan hat, was er
für mich getan hat und was er, der Gott für mich, ist. In der persönlichen
Rechenschaft über den zurückgelegten Weg ist die inhaltliche mit eingeschlossen.
Ziehen wir die Grundlinie noch einmal nach. Fragten wir, im Blick auf den
Vollzug, das zum Glauben herausgeforderte Ich, so wenden wir uns jetzt um und
schauen auf ihn, auf Gott selbst, der seinen Weg auf uns zu und mit uns geht.
Wer ist er uns, als wer ist er uns aufgegangen?
– Gott, der aus seiner Verborgenheit aufsteigt in die Mitte unserer Welt und
unseres Lebens, indem er niedersteigt, sich einläßt in die Mitte unserer Welt
und unseres Lebens.
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– Gott, der uns aus der Vielfalt der Wege, auf denen wir ihm entgegengehen und
auf denen wir ihm entgehen, hinwegruft auf den einen, konkreten Weg, den er
selbst auf uns zugegangen ist: Jesus Christus. Gott, der auf seinem Weg uns
offenbart, daß er nur eines für uns und von uns will: die Liebe, die er schenkt
und die er ist.
– Gott, der das Ungöttliche und Widergöttliche nicht in einem Akt seiner
größeren Macht verdrängt und vernichtet, sondern der es ausleidet im Leiden
seines Sohnes und so als der Gott in allem über alles aufgeht, alles
verwandelnd, alles integrierend, in allem uns begegnend.
– Gott, der im Leiden und Sterben seines Sohnes sich selbst bis zum äußersten
gibt, Gott, der uns seinen Sohn und seinen Geist gibt und der uns darin zu
erkennen gibt, wer und was er ist: dreifaltiges Sich-Geben.
– Gott, der Trennung in Verbindung, Spaltung in Einheit, Tod in Leben
verwandelt in der Auferweckung des gekreuzigten [221] Herrn. Gott, der
menschliches Mitsein mit uns ist: durch Jesus inmitten seiner Kirche, durch
Jesus in unserer Mitte.
– Gott, der die menschliche Geschichte mit uns geht in bleibendem Weggeleit,
Gott, der berührbar ist in Jesus: durch das Wort, durch das Sakrament, durch
das Amt, durch den Bruder, durch sein Wohnen in mir und mitten unter uns.
– Gott, der uns hinaussendet in die Welt und uns sammelt zur Einheit seines
Lebens in seinem Geist.
– Gott, der in diesem Geist sein Leben wiederholen will in uns, zwischen uns,
durch uns in der Welt.
– Gott, der geboren werden will von uns, indem wir, leer von uns selbst, ihn
empfangen und weiterschenken, das Wort in uns Fleisch werden lassend wie
Maria.
– Gott, der uns und alles vollenden wird in der ewigen Gemeinschaft mit ihm, im
ewigen Leben mit ihm, der die Liebe ist.
Wiederum kann es uns vorkommen, als ob wir erdrückt würden von einer Fülle
der Aussagen. Und doch ist in dieser Fülle im Grunde nur eines uns gesagt: Gott
ist Gott und Gott ist Liebe. Er liebt uns mit einer Liebe, über die hinaus keine
größere gedacht werden kann, indem er sich selbst uns gibt, seinen Sohn uns
gebend bis zum Äußersten, bis zum Tod, seinen Geist uns gebend bis ins
Innerste, damit er in uns lebe. Und er will von uns nichts anderes als diese Liebe,
wie er selbst uns geliebt hat. Darin aber wächst in uns und zwischen uns das
Mitleben seines dreifaltigen Lebens: Einheit, wie der Vater und der Sohn im einen
Geist eins sind. Nicht wir können dies erreichen und vollenden, sondern er in
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uns. Auf dieses Ziel, auf seine vollkommene Liebe als unsere vollkommene
Erfüllung und die Erfüllung aller Geschichte gehen wir zu.
Ein letztes Mal: Glauben, wie geht das? Glaube geht nicht, wir vermögen ihn
nicht. Aber Gott geht auf uns zu und geht mit uns – und wenn wir seinem Weg
uns öffnen, dann werden wir entdecken: Es ist unser Weg. Sein mit Gott und
Sein in Gott, das ist nicht nur Weg christlichen Glaubens; es ist der Weg, wie
unsere Sehnsucht, wie unser Leben, wie unser Menschsein geht.
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