Public Health Forum 2017; 25(3): 235–237 Julian Witte* und Wolfgang Greiner Frühe Arzneimittelnutzenbewertung – Rückblick und Ausblick Early benefit assessment in Germany – Review and outlook DOI 10.1515/pubhef-2017-0025 Zusammenfassung: Die Grundlagen der frühen Nutzenbewertung, die Beibehaltung eines freien Marktzuganges sowie eine nutzenbasierte Preisfindung haben sich sechs Jahre nach Einführung des AMNOG als tragfähig erwiesen. Nachdem in der Vergangenheit überwiegend technische Fragen zur Zusatznutzenbewertung und Preisbildung den politischen und wissenschaftlichen Diskurs bestimmt haben, rücken zunehmend versorgungspolitische Fragestellungen in den Mittelpunkt. Die Einführung eines Arztinformationssystems stellt nun eine bedeutende Weichenstellung für die Nutzenbewertung dar. Schlüsselwörter: AMNOG; AM-VSG; Arztinformationssystem; frühe Nutzenbewertung. Abstract: The legal framework for the early benefit assessment maintaining a free market access and value-based pricing have proven to be viable 6 years after the introduction of AMNOG. Having formerly placed emphasis on technical questions regarding the benefit assessment and pricing, the political and scientific discourse have increasingly focused on supply policy issues. The introduction of a medical information system is now a far-reaching decision. Keywords: AMNOG; AM-VSG; benefit assessment; physician information system. Rückblick Vor sechs Jahren begann mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) die frühe Nutzenbewertung *Korrespondenz: Julian Witte, M.Sc., Universität Bielefeld, Lehrstuhl für Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld, E-mail: [email protected] Prof. Dr. Wolfgang Greiner: Universität Bielefeld, Lehrstuhl für Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement neuer Arzneimittel in Deutschland. Ein nach arzneimittelrechtlicher Zulassung unregulierter Zugang zur GKVVersorgung sowie die Möglichkeit zur freien Preisbildung und Durchsetzung waren bis dahin zentrale Merkmale im Marktsegment patentgeschützter Arzneimittel. Die Grundlagen des AMNOG haben sich seitdem als tragfähig erwiesen. Dazu gehört beispielsweise, dass der Gesetzgeber auf eine sogenannte vierte Hürde verzichtet hat, neue Arzneimittel also auch weiterhin direkt nach Zulassung auf dem deutschen Markt erhältlich sind. Das entspricht den Erwartungen der GKV-Versicherten an ein leistungsfähiges Gesundheitswesen. Bis zum 30.06.2016 (nachfolgende Daten auf diesem Stand) haben 149 Wirkstoffe bzw. Wirkstoffkombinationen in 191 Verfahren die frühe Nutzenbewertung durchlaufen. Das darauf aufbauende AMNOG-Reporting sowie die sich anschließende AMNOG-bezogene Versorgungsforschung hat drei Schwerpunkte: Nutzenbewertungsergebnisse, Preisbildungsergebnisse und Marktentwicklung neuer Arzneimittel in der Versorgungspraxis [1]. Methodische und politische Diskussionen drehten sich bislang überwiegend um die unmittelbar verfahrensbezogenen Aspekte der Nutzenbewertung und Preisbildung. Nutzenbewertungsergebnisse: In 43% der bisherigen Verfahren (n = 83) konnte kein Zusatznutzen durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) festgestellt werden. In 34% der übrigen Verfahren (n = 65) lag ein Zusatznutzen im gesamten Anwendungsgebiet vor, in 23% (n = 43) lediglich in einer anwendungsrelevanten Teilpopulation. Diese Unterteilung ist für die sich anschließenden Preisverhandlungen relevant, da neue Arzneimittel ohne Zusatznutzen in bestehende Festbetragsgruppen überführt werden, oder, sollte keine entsprechende Festbetragsgruppe bestehen, auf dem Preisniveau der häufig generisch (und damit preisgünstig) verfügbaren zweckmäßigen Vergleichstherapie erstattet werden. Ein nur in Teilanwendungsgebieten vorliegender Zusatznutzen führt wiederum dazu, dass aufgrund der Preisaufschlagslogik für einen Zusatznutzen bzw. der Vergleichspreislogik bei nicht belegtem Zusatznutzen ein Mischpreis Unauthenticated Download Date | 11/2/17 10:33 PM 236 Witte und Greiner: Frühe Arzneimittelnutzenbewertung – Rückblick und Ausblick vereinbart werden muss, welcher die zum Zeitpunkt der Nutzenbewertung geschätzte Häufigkeit von Patienten in den jeweiligen Teilanwendungsgebieten im Preis widerspiegelt. Zu beachten ist, dass es sich bei der frühen Nutzenbewertung jeweils um eine zeitpunktabhängige Betrachtung der verfügbaren Evidenz handelt. Im Zeitverlauf können sich andere Bewertungsgrundlagen (z.B. ein sich verändernder Therapiestandard oder neue Studienevidenz) und damit ggf. andere Bewertungsergebnisse ergeben. Preisbildungsergebnisse: Für 70% (n = 103) aller neuen Wirkstoffe konnte bis Ende 2016 erfolgreich ein Erstattungsbetrag vereinbart werden. Vier Wirkstoffe ohne belegten Zusatznutzen wurden in eine Festbetragsgruppe überführt. Zur Preisfindung der übrigen Wirkstoffe ohne Zusatznutzen musste überproportional häufig die AMNOG-Schiedsstelle aufgerufen werden. Dabei galt auch im Jahr 2016: Auf eine Schiedsstellenentscheidung folgt sehr häufig die Marktrücknahme. Von den bis zum 30.06.2016 nutzenbewerteten Wirkstoffen sind 27 nicht mehr in Deutschland verfügbar. Für 14 dieser Wirkstoffe wurde zuvor die Schiedsstelle aufgerufen. Der durchschnittliche Nutzenbewertungsrabatt von dem vom Hersteller frei festgelegten Listenpreis beträgt 20,7%. Die größten Abweichungen von diesem Durchschnittswert zeigen Wirkstoffe zur Behandlung neurologischer Erkrankungen (41%). In der Verfahrenspraxis ist der Erstattungsbetrag eines neuen Arzneimittels jedoch ein Aufschlag auf die Jahrestherapiekosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie („Bottom-Up-Prinzip“). Ausgenommen davon sind aufgrund der fehlenden Vergleichstherapie Orphan Drugs (bis zur Überschreitung einer Umsatzschwelle in Höhe von 50 Millionen Euro). Der durchschnittliche Aufschlag auf die Jahrestherapiekosten der Vergleichstherapie beträgt bislang ca. 180%, d.h. neue Wirkstoffe kosten im Durchschnitt fast dreimal so viel wie ihre therapeutischen Vorgänger. Insbesondere neue Onkologika verzeichnen überdurchschnittlich hohe Preisaufschläge (ca. +300%). Der Preisaufschlag zur Vergleichstherapie wird tendenziell vom Ausmaß des Zusatznutzens mitbestimmt [1]. Ausblick Nutzenbewertung und Preisbildung sind heute weitestgehend etabliert, obgleich es in Detailfragen (mit mehr oder weniger großer Tragweite) noch Dissens gibt. Inzwischen kommen jedoch zunehmend versorgungspolitische Themen auf die Agenda. Mit dem im April in Kraft getretenen Arzneimittel-Versorgungsstärkungsgesetz (AM-VSG) baut der Gesetzgeber nun auf den früheren Reformen des Arzneimittelmarktes auf. AMNOG-bezogene Schwerpunkte des Gesetzes liegen in kleineren Änderungen des Nutzenbewertungs- und Preisbildungsprozesses [2]. Nach Abschluss der letzten parlamentarischen Beratung hat sich der Gesetzgeber im März 2017 jedoch dazu entschieden, mit der geplanten Umsatzschwelle im ersten Vertriebsjahr sowie der Vertraulichkeit des verhandelten Erstattungsbetrages zwei zentrale Bestandteile des Gesetzesentwurfes wieder zu streichen. Als zentrale Neuerung bleibt damit nur noch das sog. Arztinformationssystem. Die Ergebnisse der Nutzenbewertung sollen zukünftig so aufbereitet und zur Verfügung gestellt werden, dass die im Rahmen der Nutzenbewertung gewonnenen Informationen im Verordnungsvorgang über die Praxissoftware einfacher und schneller zugänglich sind und den Arzt bei der Therapieentscheidung unterstützen können. Diese Neuordnung ist auch Ergebnis der bisherigen Begleitforschung des AMNOG, bei der immer wieder auf die mangelnde Wirkung der Bewertungen auf die Versorgungspraxis hingewiesen worden ist. Versorgungspraxis: Ein potenzieller Einfluss der Nutzenbewertung auf die Marktdurchdringung neuer Arzneimittel lässt sich aus verschiedenen Perspektiven und über unterschiedliche Ergebnismaße abbilden. Beispielsweise werden die tatsächlichen Verordnungsmengen der neuen Arzneimittel in Relation zum maximal zu erwartenden Verbrauch (Verordnungsvolumen bei Behandlung aller prävalenten Fälle) betrachtet. Im Ergebnis wird dabei bislang sowohl eine Unter- [3] als auch Überversorgung [4] mit neuen Arzneimitteln diskutiert. Evident ist jedoch, dass das Ausmaß des Zusatznutzens bislang keinen beobachtbaren Einfluss auf die Marktentwicklung neuer Arzneimittel hat. Der Wunsch nach einer Integration der Nutzenbewertungsergebnisse in die Praxisinformationssysteme ist deshalb bei allen Beteiligten gleichermaßen vorhanden. Gleichwohl sind Zweckrichtung und praktische Ausgestaltung der Informationen höchst umstritten [5]. Über die genaue Ausgestaltung dieses Informationssystems macht der Gesetzgeber keine Vorgaben, sondern überlässt die konkrete Ausgestaltung mit erheblichem Gestaltungsspielraum dem Bundesministerium für Gesundheit. Um ein in der Praxis nutzbares Informationssystem aufzubauen, erscheint es deshalb sinnvoll, die Implementierung mit einer wissenschaftlich begleiteten Pilotierung und Evaluierung einzuleiten. Unauthenticated Download Date | 11/2/17 10:33 PM Witte und Greiner: Frühe Arzneimittelnutzenbewertung – Rückblick und Ausblick 237 Autorenerklärung Autorenbeteiligung: Alle Autoren tragen Verantwortung für den gesamten Inhalt dieses Artikels und haben der Einreichung des Manuskripts zugestimmt. Finanzierung: Die Autoren erklären, dass sie keine finanzielle Förderung erhalten haben. Interessenkonflikt: Die Autoren erklären, dass kein wirtschaftlicher oder persönlicher Interessenkonflikt vorliegt. Ethisches Statement: Für die Forschungsarbeit wurden weder von Menschen noch von Tieren Primärdaten erhoben. Author Declaration Author contributions: All authors have accepted responsibility for the entire content of this submitted manuscript and approved submission. Funding: Authors state no funding involved. Conflict of interest: Authors state no conflict of interest. Ethical statement: Primary data for human nor for animals were not collected for this research work. Literatur 1. Greiner W, Witte J. AMNOG-Report 2017. Heidelberg: Medhochzwei-Verlag, 2017. 2. Bundesministerium für Gesundheit. Bundestag verabschiedet Gesetz zur Stärkung der Arzneimittelversorgung. Pressemitteilung vom 09.03.2017, aufrufbar unter https://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/ pressemitteilungen/2017/1-quartal/amvsg.html. 3. Berkemeier F, Höer A. AMNOG-Reporting. In: Häussler B, Höer A, de Millas C, Hrsg. Arzneimittel-Atlas 2016. Der Arzneimittelverbrauch in der GKV. Berlin. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 2016:89–116. 4. Haas A, Tebinka-Olbrich A, Kleinert JM, Rózynska C. Konzeptpapier: Nutzenorientierte Erstattung. Stand: 28.04.2016. Berlin: GKV-Spitzenverband, 2016. 5. Staeck F. Arztinformation im Kreuzfeuer der Kritik. Ärzte Zeitung online vom 14.12.2016, abrufbar unter http://www.aerztezeitung. de/politik_gesellschaft/arzneimittelpolitik/nutzenbewertung/ article/926088/amnog-arztinformation-kreuzfeuer-kritik. html?sh=5&h=1965102841. Unauthenticated Download Date | 11/2/17 10:33 PM