Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Bischof Dr. Dr. h.c. Markus Dröge, Gottesdienst auf dem Jahrestreffen der Gemeinschaft Evangelischer Zisterzienser-Erben, 26. April 2015, Klosterkirche Doberlug, Markus 12,28-34. Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen. I. Die evangelische Landeskirche von Bayern hat im Internet einen liturgischen Kalender veröffentlicht, der wie eine Jahresuhr das Kirchenjahr mit seinen Texten und Wochenliedern bildlich darstellt. Wenn man sich nun anschaut, wohin in der Perikopenordnung der „barmherzige Samariter“ und wohin „Maria und Martha“ gehören, dann stellt man fest, dass die Texte sich in dem Kreis der Uhr fast gegenüberliegen. Der barmherzige Samariter findet sich am 13. Sonntag nach Trinitatis. Maria und Martha gehört zum Sonntag Estomihi, dem Sonntag vor Beginn der Passionszeit. Was beim Evangelisten Lukas in der Bibel gleich aufeinanderfolgt, ist in der Perikopenordnung also ganz weit voneinander getrennt. Aber wie es bei sich gegenüberliegenden Polen so oft ist: sie sind mitunter Ausdruck ein und derselben Sache, wie zwei Seiten einer Medaille. In diesem Fall entfaltet sich zwischen den beiden Polen – die Liebe, als Nächstenliebe in der Geschichte des barmherzigen Samariters und als kontemplative Gottesliebe im Hören der Maria. In der frühen Kirche und bei Bernhard von Clairvaux waren Martha und Maria Sinnbild für die aktive und die kontemplative Seite des christlichen Glaubens. Glaube, der sich im Handeln ausdrückt oder im Hören auf Gottes Wort. Das gerät in der Geschichte von Maria und Martha scheinbar in Konflikt, als ob das eine besser wäre als das andere. Diese Geschichte wird oft so verstanden, als würde Jesus sagen: „Maria macht es richtig und Martha macht es falsch.“ Aber das steht da nicht. Nein, Maria hat das gute Teil erwählt, heißt es. Das „gute" nicht das „bessere". Deshalb ist es so wichtig, diese Geschichte in ihren Kontext 1 zu stellen. Und zwar sowohl nach vorne, wo im Kontext die Geschichte vom barmherzigen Samariter zu hören ist, aber auch nach hinten: Dort finden wir das Vater unser. - Beim barmherzigen Samariter geht es darum, in der Liebe einem anderen zum Nächsten zu werden - und entsprechend an ihm und für ihn zu handeln. - Beim Vater unser geht es um das Gebet, also gleichsam um die Liebe nach innen, die sich Gott zuwendet, gewissermaßen um die Innenseite des Glaubens. Beides hat das gleiche Gewicht, beides gehört zusammen. Es gibt kein besser oder schlechter zwischen Kontemplation und Aktion. Gottesliebe und Nächstenliebe – das unauflösliche Doppelgebot der Liebe steht immer wieder im Zentrum der Verkündigung Jesu. Ich lese den Predigttext aus Markus 12, die Verse 28-34. Und es trat zu ihm einer von den Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Und als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen? 29 Jesus aber antwortete ihm: Das höchste Gebot ist das: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, 30 und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften«. 31 Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3.Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese. 32 Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Meister, du hast wahrhaftig recht geredet! Er ist nur "einer," und ist kein anderer außer ihm; 33 und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer. 2 34 Als Jesus aber sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen. II. Ein Mensch, der es wissen will, begegnet uns. Ein Mensch der fragt: „Welches ist das höchste Gebot von allen?“ Ein Mensch vor 2000 Jahren, der genauso gut heute leben könnte. Woran glaubt ihr eigentlich? Was macht den christlichen Glauben aus? Ganz grundlegende Fragen müssen wir auch heute als Kirche und als Glaubensgemeinschaften beantworten können. Denn die Traditionen des christlichen Glaubens werden nicht mehr selbstverständlich von Generation zu Generation in den Familien weitergetragen. (Und wer weiß, ob das problemlos überhaupt jemals der Fall war.) Menschen kommen heute und fragen uns: Was ist dir am Wichtigsten im Leben? Ohne was kannst du nicht leben? Können wir darauf antworten, mit Worten und wichtiger noch: mit unserem Leben? Haben wir Antworten, die auch Menschen verstehen, die nicht schon vorgeprägt sind und denen der Glaube an Jesus Christus ganz fremd ist? Als evangelische Zisterzienser-Erben nehmen Sie, die Sie hier in Doberlug Ihr Jahrestreffen abhalten, Menschen mit hinein in einen Suchprozess des Glaubens, der sich diesen Fragen stellt. Menschen werden oft zunächst einmal äußerlich angesprochen und auf die Glaubenstraditionen aufmerksam durch die eindrucksvollen Gebäude, wie zum Beispiel die alten Zisterzienserklöster. Diese Räume und die Orte wirken. Dieses Zistertzenserkloster „Dobrilugk“, wie es früher hieß, zum Beispiel. Es war einst das geistliche und wirtschaftliche Zentrum der Region. Und noch heute beherrscht die Klosterkirche St. Marien das seit dem 17. Jahrhundert gewachsene Stadtbild. Es ist ein Geschenk, dass wir historische Orte wie diese Klosterkirche haben. Orte, an denen über Jahrhunderte die Versöhnungsbotschaft des Evangeliums gepredigt und gelebt wurde. Orte geistlichen Lebens, an denen Menschen 3 ihr Herz öffnen, den Geist Gottes spüren und ihre Sorgen in Mut verwandeln können. Solche Orte sind und bleiben geistlich geprägt in einer Gesellschaft, die sich mehrheitlich als säkular versteht. Diese Erfahrung machen wir auch mit den Dorf- und Stadtkirchen in der Weite unserer Kirche in Berlin und Brandenburg und der schlesischen Oberlausitz immer wieder. Menschen werden berührt von der geistlichen Qualität eines Raumes. Hier entstehen die Fragen, die existentiell sind. Wo komme ich her, was ist der Sinn meines Lebens, wo gehe ich hin? Die alten Fragen, die in der Tradition des Zisterzienserordens nicht metaphysisch und abstrakt, sondern konkret beantwortet werden: Wir kommen aus der Liebe Gottes; wir sind da, um zu lieben; und wir kehren in die Liebe Gottes zurück. Die Liebe ist die Antwort! Liebe, die nicht bei sich selbst bleibt, so wie Gott nicht bei sich selbst geblieben ist, sondern sich dem Nächsten zuwendet. So abgegriffen dieses Wort „Liebe“ manchmal wirkt, so trivial es manchmal in bestimmten Kontexten erscheint, so wirksam ist die Liebe in unserem Leben. Liebe ist anschlussfähig. Menschen verstehen dieses Wort. Und es bietet die Chance, von diesem Wort aus auch in die Tiefen des Glaubens zu schauen. III. Gott ist die Liebe. Ohne Zweifel ist das eine der großen, zentralen Aussagen des gesamten Neuen Testaments. Die Liebe verbindet uns als Christen über alle Grenzen der Kirchen und Konfessionen hinweg. Die Nächstenliebe, die von der Auferstehung Christi ausgegangen ist, hat die Welt bewegt. „Gott ist die Liebe“: Enthalten ist in dieser Aussage ein Programm zur Veränderung der Welt und in gleicher Weise zur Reform der Kirche. Eine Welt steht vor Augen, die nicht mehr auf die Furcht bauen muss. Das wäre eine andere und 4 ohne Zweifel: eine bessere Welt. Und eine Kirche steht vor Augen, in der allein die Liebe regiert. Das wäre auch eine andere Kirche. Als evangelische Kirche gehört der Veränderungswille und auch die Reform der eigenen Kirche zum Wesenszug unseres Glaubensverständnisses. Das trifft sich mit der Tradition der Zisterzienser. Denn mit der Ordensgründung haben die Zisterzienser nach Klarheit gedrängt und Klarheit geschaffen. Die Zisterzienser waren von Beginn an eine Reformbewegung. Reform der Kirche bedeutet dabei eine Rückkehr zur Hauptaufgabe der Kirche, die gerade kein Rückzug ist, sondern die ausstrahlt und nach vorn weist. Im Hinblick auf das Reformationsjubiläum im Jahr 2017 auf das wir zugehen, sind genau das die Fragen, die uns bewegen: Wie bringen wir das Wesen unseres Glaubens in den gegenwärtigen Kontexten zur Geltung? Sie als evangelische Zisterzienser-Erben geben dafür wichtige Impulse, denn sie verbinden Tradition mit einer gelebten Spiritualität. Spiritualität lebt von den beiden Polen: der Gottes- und der Nächstenliebe, von Kontemplation und Aktion. Man darf beides nicht gegeneinander ausspielen. Spiritualität ist keine Rückzugsbewegung in die Stille und die Einsamkeit mit Gott, sondern Spiritualität weckt mich, lässt mich aufstehen und damit auferstehen zum Dienst in der Gesellschaft. IV. »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften«. Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« 5 Diese Verse sind wie eine Atembewegung der Liebe. Die Liebe strömt in uns hinein und entfaltet sich dann als Liebe zum Nächsten nach außen. Diese Liebe ist zugleich der Atem Gottes, der uns in seine Liebe hineinzieht und überströmt, als Liebe zum Nächsten, der sogar den Feind noch lieben kann. Dazwischen liegt das Hören. Menschen, die mit dem Atem arbeiten, wissen, dass es nach dem Ausatmen eine Atempause gibt. Ein Punkt des Übergangs, der Leere, wo weder Ein- noch Ausatmen ist. Ein Punkt, an dem alles möglich wird, der Punkt, der Kontemplation und Aktion, der Ein- und Ausatmen noch einmal neu füllt, gerade in dem er leer bleibt. Der Punkt des reinen Daseins könnte man vielleicht sagen. Der Punkt, von dem aus Gott uns mit Liebe füllt. Wobei all das nur zeichenhafte Beschreibungen sein können. Was ist das höchste Gebot? Bernhard von Clairvaux hat darauf eine Antwort gefunden. Er sagt: „Was ist das Höchste, das Beste? Gewiss die Liebe. Ohne sie hat die Furcht nur Pein und die Verehrung keine Annehmlichkeit. .... Unter allen Regungen, Gefühlen und Trieben ist die Liebe das einzige, worin das Geschöpf dem Schöpfer, wenn nicht Gleiches mit Gleichem, so doch Ähnliches mit Ähnlichem vergelten kann. ... Denn wenn Gott liebt, verlangt er dafür nichts anderes als Gegenliebe. Er liebt ja zu keinem anderen Zwecke, als um geliebt zu werden, und er weiß, dass alle, die ihn lieben, in ihrer Liebe selig sind." Etwas von dieser Erkenntnis und von diesem Geist wünsche ich Ihnen für Ihre Tagung hier in Doberlug. Und ich wünsche uns allen im Leben, dass wir uns in dem Atem Gottes, in den Atem der Liebe, mit hineinnehmen lassen. Heute. Und an allen Tagen. Und sogar noch über diese Welt hinaus. Amen. 6