Partizipation und Beschwerde? Auch Kinder und Jugendliche mit Behinderung haben ein Recht darauf! München, 23.11. 2015 _______________________________ Dr. Margareta Müller 1 - Kinderrechte - Beteiligung/Partizipation - Beschwerde 2 Inhalte I. Einleitung II. Mädchen und Jungen mit Behinderungen III. Begründungen für die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen IV. Was heißt es für mich, Kinder und Jugendliche zu beteiligen? 3 I. Einleitung 4 Einleitung UN-Kinderrechtskonvention, BRK Bundeskinderschutzgesetz seit 01.01.2012 (§ 45 SGB VIII) Aufarbeitung der ehemaligen Heimgeschichte (50er – 70er Jahre), Runden Tische Heimerziehung und Sexueller Kindesmissbrauch 5 Asymmetrisches Machtverhältnis zwischen Fachkräften und Klient_inn_en besonderes Abhängigkeitsverhältnis in stationären Einrichtungen Aktuelle Veröffentlichungen von Kinderrechtsverletzungen in Einrichtungen, z.B. Haasenburg, Friesenhof, Kitas, DJI Studie, Studie der Universität Bielefeld 2012, Studie der Universität Köln: Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen mit Behinderung, 2013 – 2015 6 Keine einheitlichen gesetzlichen Grundlagen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen Jugendhilfe SGB VIII Behindertenhilfe SGB XII, SGB IX, SGB XI, SGB V § 35a Eingliederungshilfe bei seelischer Behinderung (z.B. ADHS, Autismus, Traumatisierung infolge von Gewalt, sexueller Gewalt, Wahrnehmungsstörungen) §§ 53 ff. SGB XII Eingliederungshilfe für behinderte Menschen (geistige und körperliche Behinderungen) 7 II. Mädchen und Jungen mit Behinderungen 8 2011 lebten rund 7,3 Millionen schwerbehinderte Menschen (GdB mindestens 50%) in Deutschland – ca. 9% der Gesamtbevölkerung. Davon waren fast 290.000 junge Menschen bis 25 Jahre, es ist davon auszugehen, dass die tatsächliche Anzahl höher ist. Quelle: Statistisches Bundesamt 9 Nationale und internationale Studien zeigen, dass Mädchen und Jungen mit Behinderungen häufiger von sexuellem Missbrauch betroffen sind als nicht behinderte Kinder und Jugendliche - ein 3fach erhöhtes Risiko, Missbrauch beginnt früher – bei jüngeren Kindern (Sullivan et al.: 2000, USA) „Der wissenschaftliche Beirat des Teilhabeberichts der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen 2013 stellt fest, dass es erschreckend sei, „dass Kinder und Jugendliche mit Behinderungen im Vergleich zu Gleichaltrigen ohne Behinderungen in erhöhtem Maße Hänseleien, Mobbing, etc. ausgesetzt sind.“ (DGfPI: BeST – Beraten und Stärken) 10 repräsentative Studie „Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen in Deutschland“ 2012, gefördert BMFSFJ, durchgeführt von der Universität Bielefeld u.a. befragt wurden 1.561 Frauen im Alter von 16 – 65 Jahren in Haushalten und in Einrichtungen Das Leben in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen ist nach Aussagen der Betroffenen „durch erhebliche Einschränkungen im selbstbestimmten Leben und in der Wahrung der eigenen Intimsphäre gekennzeichnet und wurde von vielen Frauen als belastend und reglementierend beschrieben.“ (BMFSFJ 2012, S. 38) 11 Die hohen Belastungen insbesondere durch sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend setzen sich im Erwachsenenleben oftmals fort. Jede dritte bis vierte Frau mit Behinderungen und Beeinträchtigungen gab in der vorliegenden Studie sexuelle Übergriffe in Kindheit und Jugend durch Erwachsene, Kinder und Jugendliche an. Die Frauen in Einrichtungen waren hier die mit Abstand am stärksten belastete Gruppe. Täter_innen waren: Bewohner_innen, Arbeitskolleg_innen, Personal (BMFSFJ 2012,) 12 Zur Situation von Mädchen und Frauen in Einrichtungen - viele haben kein eigenes Zimmer, 1/5 hatte keine Mitbestimmung bei der Auswahl der Mitbewohnerin - 1/5 gab an, keine abschließbaren Wasch- und Toilettenräume zu haben - Reglementierung des Alltags und Bevormundung - Diskriminierungen wie Anstarren und Beschimpfen - körperliche Übergriffe durch Mitbewohner_innen Quelle: Studie „Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen in Deutschland“ 2012 13 - mangelnde Mitbestimmungs- und Gestaltungsmöglichkeiten in Einrichtungen - oft unzureichender Schutz der Privat- und Intimsphäre - mangelnder Schutz vor psychischer, physischer und sexueller Gewalt - Schutz- und Beschwerdemöglichkeiten waren in Einrichtungen kaum vorhanden - Schutzlosigkeit wird durch die Abhängigkeiten verstärkt - Frauen in Einrichtungen sahen keine Möglichkeiten, selbst aktiv Unterstützung zu suchen oder gar ihr Recht einzufordern Quelle: Studie „Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen in Deutschland“ 2012 14 Zur besonderen Situation von Mädchen und Jungen mit Behinderung Die Beziehung zwischen Kindern/Jugendlichen mit Behinderungen und Erwachsenen/ Fachkräften ist durch eine höhere Abhängigkeit gekennzeichnet. Es existiert mehr körperliche Nähe durch Pflege, Untersuchungen, Therapien, Krankenhausaufenthalte – körperliche und soziale Abhängigkeiten. Zumeist können die Mädchen und Jungen nicht selbst bestimmen, wer bei der Pflege hilft – wer wann Zugriff auf ihren Körper hat. Möglicherweise erleben sie ständige Grenzüberschreitungen. 15 Die ständige Auseinandersetzung mit der eigenen Behinderung – Arztbesuche, Therapien, Krankenhausaufenthalte – legen den Fokus auf das „Defizit“. Dies führt zu einem negativen Körperbewusstsein, geringem Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl. Strukturelle Gewalt in Institutionen: Fachkräfte wissen, was gut ist für die behinderten Kinder und Jugendlichen – Bevormundung. Wenig Mitentscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten in den Einrichtungen. Behinderten Menschen wird jede Form der Sexualität abgesprochen. 16 Es fehlt an Informationen und Anlaufstellen für behinderte Mädchen und Jungen gegen sexuelle Gewalt. Die Beförderung von Kinderrechten, Selbstbestimmung, Beteiligungs- und Beschwerdemöglichkeiten, Entwicklung von Schutzkonzepten sind in Behinderteneinrichtungen noch nicht stark ausgeprägt. Fazit: Das hohe Maß an Abhängigkeit, negatives Körperbewusstsein, geringes Selbstbewusstsein, fehlendes Wissen über die eigenen Rechte und fehlende Sexualaufklärung, mangelnde Beteiligungs- und Beschwerdemöglichkeiten, autoritäre und auch unklare Strukturen, fehlende Schutzkonzepte machen es „Täterinnen und Tätern einfach“. 17 Zu: Täter_innen Strategien Viele Täter_innen wählen gezielt zurückhaltende, wenig selbstbewusste, bedürftige und wehrlos erscheinende Kinder aus. Manche Täter_innen suchen gezielt Orte mit Kindern aus. Es werden auch gezielt Arbeitsplätze gesucht – autoritäre Einrichtungen und auch Einrichtungen mit unklaren Strukturen sowie Vernachlässigung der Kinder durch Mitarbeiter_innen stellen „günstige Orte“ für Täter_innen dar. Einrichtungen, die die Rechte und Autonomie von Kindern nicht fördern, in denen es an Beteiligungs- und Beschwerdemöglichkeiten mangelt, Sexualerziehung rigide praktiziert wird, sind ebenfalls „günstige Orte“ für Täter_innen. 18 Was ist zu tun? - Prävention + Intervention + Qualitätsentwicklung - Prävention als Qualitätsmerkmal einer Organisation Präventive Aspekte im Personalmanagement Prävention durch sexualpädagogische Konzepte Partizipations- und Beschwerdeverfahren Interventionsschritte festlegen Überprüfung der Konzepte ……… - Prävention durch Partizipation von Mädchen und Jungen - - - 19 III. Begründungen für die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen 20 1. Beteiligung und Beschwerde als wirksames Instrument - zur Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen - zur Prävention von sexuellem Missbrauch - und gelingende Beteiligung ist präventiver Kinderschutz 2. Rechtliche Grundlagen 3. Demokratisierung 4. Modernes Kindheitsbild 5. Ergebnisqualität, Zufriedenheit 6. Beteiligung und Bildung 21 III. Begründungen für die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen 1. Beteiligung und Beschwerde als wirksames Instrument - zur Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen - zur Prävention von sexuellem Missbrauch - und gelingende Beteiligung ist präventiver Kinderschutz 22 Erforderlich sind - eine konsequente Umsetzung von Partizipation im Alltag - Aufklärung über die eigenen Rechte - strukturell verankerte Beteiligungs- und Beschwerdeverfahren - Interventionskonzepte …. „Wenn es doch passiert“ 23 III. Begründungen für die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen 2. Rechtliche Grundlagen von Beteiligung 24 2. Rechtliche Grundlagen von Beteiligung UN-Kinderrechtskonvention: Artikel 12: Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife. UN-Behindertenrechtskonvention: Artikel 7 (3): Die Vertragsstaaten gewährleisten, das Kinder mit Behinderungen das Recht haben, ihre Meinung in allen sie berührenden Angelegenheiten gleichberechtigt mit anderen Kindern frei zu äußern, wobei ihre Meinung angemessen und entsprechend ihrem Alter und ihrer Reife berücksichtigt wird, und behinderungsgerechte sowie altersgemäße Hilfe zu erhalten, damit sie dieses Recht verwirklichen können. 25 2. Rechtliche Grundlagen von Beteiligung SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfegesetz: § 5 Wunsch- und Wahlrecht § 8 Beteiligung von Kindern und Jugendlichen (1) Recht auf Beteiligung an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe - entsprechend ihrem Entwicklungsstand (3) Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf Beratung ohne Kenntnis des Personensorgeberechtigten, wenn die Beratung auf Grund einer Not- und Konfliktlage erforderlich ist … § 8a Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung Die Erziehungsberechtigten, das Kind oder der Jugendliche sind in die Gefährdungseinschätzung einzubeziehen 26 2. Rechtliche Grundlagen von Beteiligung § 36 Mitwirkung in der Hilfeplanung §§ 8b, 45 Recht auf Beteiligung und Beschwerde in Einrichtungen, in denen sich Kinder oder Jugendliche ganztägig oder für einen Teil des Tages aufhalten oder in denen sie Unterkunft erhalten § 45 (2) Betriebserlaubnis; geeignete Verfahren der Beteiligung und Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten müssen Anwendung finden 27 2. Rechtliche Grundlagen von Beteiligung SGB I – Allgemeiner Teil: § 33 Ausgestaltung von Rechten und Pflichten „Dabei soll den Wünschen des Berechtigten oder Verpflichteten entsprochen werden, soweit sie angemessen sind“. SGB IX – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen: §9 Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten 28 SGB XII – Sozialhilfe: § 55 Bei Eingliederungshilfe für behinderte Menschen in einer vollstationären Einrichtung ….. „ist angemessen Wünschen des behinderten Menschen Rechnung zu tragen“. § 58 (2) „Bei der Aufstellung des Gesamtplans und der Durchführung der Leistungen wirkt der Träger der Sozialhilfe mit dem behinderten Menschen und den sonst im Einzelfall Beteiligten …. zusammen.“ § 57 Persönliche Budget 29 Richtlinien in Bayern 30 Richtlinien für Heilpädagogische Tagesstätten, Heime und sonstige Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung (Bayrisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen vom 01.08.2009) Aus der Präambel: „Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine von Verbänden, Kostenträgern und Staat gemeinsam getragene Festlegung auf Mindeststandards in Heilpädagogischen Tagesstätten, Heimen und sonstigen Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung sowie der Auftrag des Staates zu deren Festsetzung für jede Einrichtung und ihrer Überprüfung entstammt dem Kinder- und Jugendhilfegesetz. ……. Schreibt § 45 des Achten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VIII) für alle Einrichtungen für Kinder und Jugendliche eine staatliche Betriebserlaubnis vor. …… Zweck der Aufsicht ist vor allem der Schutz von Kindern und Jugendlichen in diesen Einrichtungen vor Gefahren für ihr Wohlergehen.“ 31 „Das Kinder- und Jugendhilfegesetz unterscheidet nicht zwischen Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung. Dennoch sind in der Praxis unterschiedliche teilstationäre und stationäre Einrichtungen für diese beiden Zielgruppen entstanden, woraus sich die Notwendigkeit einer eigenen Richtlinie für die Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung ergibt. ……. Ob integrative oder spezialisierte Einrichtung, im Mittelpunkt der gemeinsamen Bemühungen des Freistaates Bayern, von Verbänden und Einrichtungs- und Kostenträgern muss das einzelne Kind, der einzelne Jugendliche mit Behinderung stehen und das Ziel einer optimalen Förderung hin zu größtmöglicher Selbstständigkeit und einer möglichst selbstbestimmten Teilhabe am Leben der Gemeinschaft.“……. „Diese Richtlinien legen nach Art. 44 des Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze die Mindestvoraussetzungen für erlaubnispflichtige Einrichtungen (§§ 45, 48a SGB VIII) fest, die Kinder und Jugendliche mit Behinderung ganztätig oder für einen Teil des Tages regelmäßig betreuen und der staatlichen Aufsicht nach §§ 45 bis 48 SGB VIII unterliegen 32 III. Begründungen für die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen 3. Demokratisierung Machtasymmetrie – Abhängigkeitsverhältnisse - Aufarbeitung der Heimgeschichte + Ergebnisse der Runden Tische Heimerziehung und sexueller Kindesmissbrauch Kinder und Jugendliche zu beteiligen bedeutet für die Fachkräfte Macht abzugeben. Den Kindern und Jugendlichen Möglichkeiten der Mitgestaltung und Beschwerde sowie der Selbstbestimmung zu geben. Demokratisches Erziehungsverständnis – Vermittlung demokratischer Werte – Demokratie lernen 33 III. Begründungen für die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen 4. Modernes Kindheitsbild Bild vom Kind als schutz-, hilfs- und erziehungsbedürftigen Wesen – zum Kindheitsbild vom Rechtssubjekt und Akteur des eigenen Lebens Die Anerkennung der subjektiven Rechte bedeutet, auf die eigenen Lebensverhältnisse Einfluss nehmen zu können 5. Ergebnisqualität, Zufriedenheit Beteiligung hat Einfluss auf den Erfolg der Hilfe. Beteiligung und Zufriedenheit korrelieren miteinander. 34 III. Begründungen für die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen 5. Partizipation und Bildung lohnen 6. Beteiligung sichund …Bildung Förderung von: Kommunikationsfähigkeiten Empathie und Konfliktlösungskompetenzen Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeitsüberzeugung Sozialverhalten Verantwortungsübernahme Kognitive Förderung Demokratielernen 35 IV. Was heißt es für mich, Kinder und Jugendliche zu beteiligen? 36 Grade der Beteiligung 9. Selbstverwaltung 8. Selbstbestimmung 7. Mitbestimmung 6. Mitwirkung 5. Zugewiesen, informiert 4. Teilhabe 3. Alibi- Teilnahme 2. Dekoration 1. Fremdbestimmung (Quelle: Schröder (1995) in Anlehnung an Arnstein (1969)) 37 Was heißt eigentlich Kinder und Jugendliche zu beteiligen? Kind entscheidet autonom Kind entscheidet, Fachkraft hat Anhörungsrecht Kind entscheidet, Fachkraft hat Vetorecht Fachkraft und Kind stimmen beide zu Fachkraft entscheidet, Kind hat Vetorecht Fachkraft entscheidet, Kind hat Anhörungsrecht Fachkraft entscheidet autonom (Quelle: Beteiligungsleiter aus: Demokratie in der Heimerziehung. Dokumentation eines Praxisprojekts in fünf Schleswig-Holsteinischen Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe.) 38 Was heißt eigentlich Kinder und Jugendliche zu beteiligen? (mit)verantworten (mit)entscheiden (mit)gestalten (mit)planen (mit)reden (mit)denken Informiert sein ist die Grundlage gelingender Beteiligung (Quelle: Beteiligungsprozess nach Brückner (2011) mit Erweiterung von Der Paritätische Sachsen) 39 Vielen Dank 40