Vom Geist des Islam

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Vom Geist des Islam
von Muhammad Asad*
Der Autor versucht mit einem Plädoyer für die Religion als solche und den Islam im Besonderen, dem
rational denkenden Menschen die Notwendigkeit religiösen Empfindens und Handelns nahezubringen:
Eines der Schlagworte, das die gegenwärtige Zeit am treffenden charakterisiert, ist das Schlagwort der
‚Eroberung des Raums—. Die Kommunikationsmittel haben sich in einer Weise entwickelt, die weit über die
Vorstellung früherer Generationen hinausgeht; und diese neuen Techniken haben einen weit schnelleren
und ausgedehnten Warenaustausch in Bewegung gesetzt als je zuvor in der Geschichte der Menschheit.
Das Ergebnis dieses Fortschritts ist die wechselseitige ökonomische Abhängigkeit der Nationen. Keine
einzige Nation oder Gruppe kann es sich heutzutage leisten, sich vom Rest der Welt auszuschließen.
Ökonomischer Fortschritt ist nicht mehr räumlich begrenzt, sondern hat weltweiten Charakter
angenommen. Er leugnet, zumindest in seiner Toleranz, politische Grenzen und geographische
Entfernungen. Er birgt in sich - und möglicherweise ist dies sogar wichtiger als die rein materielle Seite des
Problems - die ständig wachsende Notwendigkeit eines Austausches, und zwar nicht nur von Waren,
sondern auch von Gedanken und kulturellen Werten. Aber während diese beiden Kräfte, die wirtschaftliche
und die kulturelle, oft miteinander Hand in Hand gehen, gibt es in ihren dynamischen Gesetzmäßigkeiten
einen Unterschied. Die Grundsätze der Wirtschaft erfordern es, dass der Warenaustausch zwischen den
Nationen auf Gegenseitigkeit beruht, was bedeutet, dass keine Nation ständig nur als Käufer auftritt,
während eine andere Nation auf Dauer immer nur als Verkäufer agiert; jede von ihnen muss beide Rollen
gleichzeitig spielen, also geben und nehmen, sei es nun direkt oder durch die Vermittlung anderer
beteiligter im Spiel der wirtschaftlichen Kräfte. Auf kulturellem Gebiet jedoch ist dieses Gesetz der
Wechselbeziehung keine, zumindest nicht immer eine sichtbare Notwendigkeit; das heißt, die Vermittlung
von Ideen und kulturellen Einflüssen basiert nicht unbedingt auf dem Prinzip des Gebens und Nehmens.
Es liegt in der menschlichen Natur, dass Nationen und Zivilisationen, die politisch und wirtschaftlich stärker
sind, auf schwächer oder weniger aktive Staaten eine Starke Faszination ausüben und sie auf
intellektueller und Sozialer Ebene beeinflussen, ohne selbst beeinflusst zu werden. Und genauso zeigt sich
die heutige Lage, was die Beziehung der westlichen und der muslimischen Welt betrifft.
Aus der Sicht des historischen Betrachters ist der enorme, einseitige Einfluss, den die westliche Zivilisation
gegenwärtig auf die muslimische Welt ausübt, überhaupt nicht überraschend, da er das Ergebnis eines
langen historischen Prozesses ist, der verschieden andere Entsprechung hat. Während der Historiker mit
dieser Feststellung zufrieden sein mag, bleibt dagegen für uns das Problem unerledigt. Denn wir sind nicht
bloß interessierte Zuschauer, sondern leibhaftige Akteure in diesem Drama. Für uns, die wir und als
Anhänger des Propheten Muhammad (möge Gott ihn segnen und Ihm Frieden geben) betrachten, nimmt
das Problem hier erst seinen Anfang. Wir glauben, dass der Islam im Gegensatz zu anderen Religionen
nicht nur eine rein religiöse Geisteshaltung ist, die verschiedenen kulturellen Rahmenbedingungen
angepasst werden könnte, sondern ein sich selbst genügender Kulturkreis und ein soziales System mit klar
definierten Merkmalen. Wenn eine fremde Zivilisation ihre Ausstrahlungen auf unser Innerstes erweitert
und bestimmte Veränderungen in unserem eigenen kulturellen Organismus bewirkt, wie das heute der Fall
ist, dann sind wir dazu verpflichtet, uns selbst klar zu machen, ob jener fremde Einfluss im Einklang mit
unseren eigenen kulturellen Möglichkeiten steht oder ihnen zuwiderläuft; ob er als belebendes Serum im
Körper der islamischen Kultur wirkt oder als ein Gift.
Eine Antwort auf diese Frage kann nur durch eine Analyse gefunden werden. Wir müssen die treibenden
Kräfte beider Zivilisation herausfinden - die des Islam und die des modernen Westens - und dann
untersuchen, inwieweit ein Zusammenwirken zwischen ihnen möglich ist. Und da die islamische Zivilisation
im wesentlichen eine religiöse ist, müssen wir zuerst versuchen, die allgemeine Rolle der Religion im
menschlichen Leben zu definieren.
Religion und menschliches Leben
Was wir die ‚religiöse Einstellung— nennen, ist das natürliche Ergebnis der intellektuellen und biologischen
Verfassung eines Menschen. Der Mensch ist von sich aus nicht in der Lage, das Geheimnis des Lebens,
das Geheimnis von Geburt und Tod oder das Geheimnis der Unendlichkeit und der Ewigkeit zu erklären.
Sein Erkenntnis- und Urteilsvermögen findet vor unüberwindlichen Mauern seine Grenzen. Er kann
deshalb zweierlei tun. Das eine ist, alle Versuche aufzugeben, das Leben als eine Gesamtheit verstehen.
In diesem Fall werden sich der Mensch allein auf den Beweis äußere Erfahrungen verlassen und seine
Schlussfolgerungen auf diesen Bereich begrenzen. So wird er in der Lage sein, einzelne Bruchstücke des
Lebens zu verstehen, welche Anzahl oder Klarheit so schnell oder so langsam zunehmen können wie die
Naturkenntnis des Menschen wächst; aber es werden nichtsdestoweniger immer nur Bruchstücke bleiben der Bereich der Gesamtheit selbst bleibt jenseits des methodischen Rüstzeugs, das dem menschlichen
Verstand zur Verfügung steht. Das ist der Weg, den die Naturwissenschaft beschreitet. Die andere
Möglichkeit - welche sehr wohl an der Seite der wissenschaftlichen bestehen kann - ist der Weg der
Religion. Er führt den Menschen durch eine innere, meist intuitive Erfahrung dazu, eine unitarische
Erklärung des Lebens zu akzeptieren. Dies geschieht hauptsächlich durch die Annahme, dass es eine
oberste schöpferische Macht gibt, welche das Universum einem vorausgedachten Plan entsprechend
beherrscht, einem Plan, der das menschliche Vorstellungsvermögen übersteigt.
Wie so eben dargelegt wurde, muss diese Vorstellung den Menschen nicht unbedingt an der Erforschung
solcher Fakten und Bruchstücke des Lebens verhindern, um sie äußerer Betrachtung zu unterziehen. Es
gibt keinen inhärenten Widerspruch zwischen äußerer (wissenschaftlicher) und innerer (religiöser)
Vorstellung. Die letztere ist jedoch die einzige spekulative Möglichkeit, das ganze Leben als eine
Wesenseinheit und Einheit von Triebkräften zu begreifen oder, kurz gesagt, als wohlausgewogene,
harmonische Gesamtheit. Der Ausdruck ‚harmonisch— ist, obwohl er schrecklich missbraucht wird, in
diesem Zusammenhang sehr wichtig, weil er eine korrespondierende Haltung im Menschen selbst
beinhaltet. Der religiöse Mensch weiß, dass alles, was mit und in ihm passiert, niemals das Ergebnis eines
blinden Spiels von Kräften sein kann, dass ohne Bewusstsein und ohne Grund gespielt wird. Er glaubt,
dass alles allein durch den bewussten Willen Gottes geschieht und deshalb organisch in einen
umfassenden Plan einbezogen ist. Auf diese Weise ist der Mensch in der Lage, den scharfen Widerstreit
zwischen dem menschlichen Selbst und der gegenständlichen Welt aus Schein und Wirklichkeit, die Natur
heißt, aufzulösen. Der Mensch, mit dem gesamten komplizierten Mechanismus der Seele, mit all seinen
Wünschen und Ängsten, seinen Gefühlen und seinen spekulativen Ungewissheiten, sieht sich mit einer
Natur konfrontiert, in der Wohltätigkeit und Grausamkeit sowie Gefahr und Sicherheit in einer wunderbaren
und unerklärlichen Weise miteinander vermischt sind und offenbar nach Regeln wirken, die sich
vollkommen von den Methoden und von der Struktur des menschlichen Geistes unterscheiden. Noch nie
ist eine rein intellektuelle Philosophie oder eine Experimental-Wissenschaft in der Lage gewesen, diesen
Konflikt zu lösen. Und das ist genau der Punkt, an dem die Religion ansetzt.
Im Licht religiöser Empfindung und Erfahrung wird der Mensch, das bewusste Selbst und die stumme,
scheinbar unverantwortliche Natur in eine Beziehung geistiger Harmonie gebracht. Denn beide, das
individuelle Bewusstsein des Menschen und die sich um ihn und mit ihm bewegende Natur, stehen im
Einklang mit einem und demselben schöpferischen Willen und sind auch im Falle ihrer Verschiedenartigkeit
Ausdruck davon. Der enorme Vorteil, den die Religion dem Menschen dadurch verleiht, besteht in der
Erkenntnis, dass er existiert und nie aufhören kann, zu existieren, eine sorgfältig geplante Einheit im
immerwährenden Kreislauf der Schöpfung: ein bestimmtes Teilchen im unbestimmten Organismus des
allumfassenden Schicksals. Die psychologische Konsequenz dieses Konzepts ist ein tiefgehendes Gefühl
geistiger Geborgenheit- jene Balance zwischen Furcht und Hoffnung, welche den ausgeprägt religiösen
Menschen vom nicht-religiösen trennt, ganz gleich, welcher Religion jener angehört.
Die islamische Einstellung
Diese Grundposition haben alle Religionen gemeinsam, was auch immer ihre spezifische Lehre sein mag.
Auch haben sie alle den moralischen Appell an den Menschen gemeinsam, sich Gott hinzugeben. Der
Islam jedoch, und nur der Islam allein, geht über diese theoretische Erklärung und Ermahnung hinaus. Er
lehrt uns nicht nur, dass alles Leben wesensmäßig eine Einheit bildet - da es aus der göttlichen Einheit
hervorgeht -, sondern er weist uns auch den praktischen Weg, auf dem jeder Einzelne - und zwar innerhalb
der Grenzen seines persönlichen, irdischen Lebens - diese Einheit von Idee und Handlung sowohl im
Dasein als auch in seinem Bewusstsein reproduzieren kann. Um dieses höchste Lebensziel zu erreichen,
ist der Mensch im Islam nicht gezwungen, die Welt zu verleugnen. Es wird kein Asketentum verlangt, um
ein geheimes Tor zu geistiger Reinheit öffnen zu können. Es wird kein Zwang auf den Verstand ausgeübt,
an unverständliche Dogmen zu glauben, damit eine Erlösung gewährleistet ist. So etwas ist dem Islam
ganz und gar fremd, denn er ist weder eine mystische Lehre noch Philosophie. Er ist ganz einfach ein
Lebensprogramm, dass den Naturgesetzen folgt, die Gott Seiner Schöpfung auferlegt hat. Seine vollendete
Ausführung besteht in der vollkommenen Koordination der geistigen und der materiellen Aspekte des
menschlichen Lebens. Nach der Lehre des Islam sind diese beiden Aspekte nicht nur deshalb in Einklang
gebracht, um keinen inhärenten Konflikt zwischen der körperlichen und der moralischen Existenz des
Menschen bestehen zu lassen; sondern vielmehr wird das Gewicht auf die Tatsache gelegt, dass ihr
Zusammenwirken und ihre tatsächliche Untrennbarkeit die natürliche Lebensgrundlage darstellen.
Ich glaube, hierin liegt für die besondere Form des islamischen Gebets, in welchem geistige Konzentration
und bestimmte körperliche Bewegungsabläufe miteinander verknüpft sind. Dem Islam feindselig
gegenüberstehende Kritiker ziehen diese Form des Gebets oft als Beweis für ihre Behauptung heran, dass
der Islam eine Religion des Formalismus und der Äußerlichkeiten sei. Und in der Tat können es Menschen
anderer Religionen, die gewohnt sind, das ‚Geistige— vom ‚Körperlichen— sorgfältig zu trennen, nur schwer
verstehen, dass in der nicht entrahmten Milch des Islam diese beiden Bestandteile trotz Verschiedenheit
ihrer jeweiligen Beschaffenheit harmonisch miteinander hergehen und zum Ausdruck kommen. Mit
anderen Worten: das islamische Gebet besteht aus geistiger Konzentration und aus körperlichen
Bewegungsabläufen, weil sich das menschliche Leben selbst auch derart zusammensetzt und weil wir uns
Gott durch die Gesamtheit aller von Ihm verliehenen Fähigkeiten annähern müssen.
Ein weiteres Beispiel dieser Einstellung könne wir an der Einrichtung des tawâf erkennen, jener Zeremonie,
bei der man um die Kaaba in Mekka herumgeht. Es ist eine unerlässliche Pflicht für jeden, der die Heilige
Stadt betritt, siebenmal um die Kaaba herumzugehen, wie auch das Einhalten dieses ausdrücklichen
Gebotes einer der drei wichtigsten Punkte der Pilgerfahrt ist. Wir haben nun das Recht, uns zu fragen:
worin liegt die Bedeutung der Anordnung? Ist es notwendig, Frömmigkeit in solch einer formalen Weise
zum Ausdruck zu bringen?
Die Antwort ist sehr einfach. Wenn wir uns um ein Objekt im Kreis herumbewegen, erheben wir dadurch
dieses Objekt zum Zentralen Punkt unseres Handels. Die Kaaba, in deren Richtung sich jeder Muslim im
Gebet richtet, symbolisiert die Einheit Gottes. Die körperliche Bewegung der Pilger während des tawâf
symbolisiert die Aktivität im menschlichen Leben. folglich beinhaltet der tawâf, dass nicht nur unser
andächtiges Nachdenken, sondern auch unser praktisches Leben, unsere Handlungen und Bewegungen
das Bewusstsein der göttlichen Einheit zum Mittelpunkt haben müssen - gemäß den Worten des Heiligen
Koran:
‚Ich habe die Djinn und die Menschen nur erschaffen, damit sie Mir dienen.—
(Der Koran, 51:56)
Das Konzept der Anbetung im Islam unterscheidet sich also von dem in jeder anderen Religion. Es ist hier
nicht nur auf reine Andachtsübungen beschränkt, wie z.B. das Gebet oder das Fasten, sondern erstreckt
sich ebenso auf das gesamte praktische Leben des Menschen. Wenn der Sinn unsres Lebens insgesamt
an der Anbetung Gottes liegt, dann müssen wir dieses Leben in der Gesamtheit all seiner Aspekte
notwendigerweise als eine komplexe moralische Verantwortung auffassen. Daher müssen all unsere
Handlungen, sogar die anscheinend und unbedeutsamen, unsre Gottesverehrung ausdrücken und somit
bei bewusster Ausführung quasi einen Teil von Gottes allumfassenden Plan in sich bergen. Eine derartige
Betrachtungsweise ist für den Menschen mit durchschnittlichen Fähigkeiten ein entferntes Ideal; aber ist es
nicht die Absicht der Religion Ideale Wirklichkeit werden zu lassen?
Die Haltung des Islam ist in dieser Hinsicht unverkennbar. Er lehrt uns zunächst, dass der Sinn dieses
Lebens schlechthin die ständige Anbetung Gottes bei all den mannigfaltigen Handlungen des
menschlichen Lebens ist; Und zweitens lehrt er uns, dass die Umsetzung dieser Theorie in die Praxis,
solange unmöglich bleibt, wie wir unser Leben in zwei Bereiche aufteilen, in einen geistigen und in einen
materiellen: Beide Bereiche müssen in unserem Bewusstsein und bei unseren Handlungen zu
harmonischer Einheit verbunden werden. Unsere Vorstellung von der Einheit Gottes muss sich in einem
selbstständigen Bemühen um Koordination und Vereinigung der verschiedenen Bereiche unseres Lebens
widerspiegeln.
Eine logische Konsequenz dieser Einstellung macht einen weiteren Unterschied zwischen dem Islam und
allen anderen bekannten religiösen Systemen deutlich. Er besteht in der Tatsache, dass der Islam als
Lehre nicht nur die metaphysischen Beziehungen zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer definiert,
sondern auch - und zwar mit nicht weniger Nachdruck- die irdischen Beziehungen zwischen dem
Individuum und seiner sozialen Umwelt. Das diesseitige Leben wird nicht nur als Gerippe, ein
bedeutungsloser Schatten des unweigerlichen kommenden Jenseits betrachtet, sondern als eine in sich
geschlossene Wesenheit. Gott selbst ist nicht nur dem Wesen nach einer Einheit, sondern auch dem
Wirken nach, und deshalb ist auch Seine Schöpfung eine Einheit, möglicherweise dem Wesen nach, ganz
sicher aber dem Wirken nach.
Vollkommenheit:
Das islamische Ideal
Die Anbetung Gottes soeben erläuterten umfassenden Sinn beinhaltet dem Islam nach den Sinn des
menschlichen Lebens. Es ist diese Konzeption, die uns die Möglichkeit des Menschen aufzeigt, während
seines individuellen irdischen Lebens Vollkommenheit zu erlangen. Unter allen religiösen Systemen erklärt
allein der Islam, dass in unserem irdischen Leben individuelle Vollkommenheit möglich ist. Der Islam
verlegt diese Erfüllung nicht auf die Zeit nach einer Unterdrückung der so genannte ‚körperlichen—
Begehrung, wie es die christliche Lehre tut; Ebenso wenig verspricht der Islam eine fortlaufende Kette von
Wiedergeburten mit zunehmend höherem Niveau, wie es beim Hinduismus der Fall ist; Auch hat der Islam
nichts mit dem Buddhismus gemein, demzufolge Vollkommenheit und Erlösung nur durch Aufhebung des
individuellen Ich und seiner gefühlsmäßigen Bindungen an Weltliches erlangt werden können. Nein: der
Islam unterscheidet ausdrücklich die Feststellung, dass der Mensch während seines individuellen irdischen
Lebens Vollkommenheit erreichen und zugleich vollen Gebrauch von allen weltlichen Möglichkeiten seines
Lebens machen kann.
Um Missverständnisse zu vermeiden, muss der Begriff ‚Vollkommenheit— definiert werden, indem er hier
verwendet wird. Solange wir es mit menschlichen, biologisch eingeschränkten Wesen zu tun haben,
können wir die Vorstellung der ‚absoluten— Vollkommenheit unmöglich in Erwägung ziehen, weil alles
Absolute ausschließlich in den Bereich der Attribute gehört. Menschliche Vollkommenheit in ihrer wahren
psychologischen und moralischen Bedeutung trägt notwendigerweise einen relativen und rein individuellen
Zug. Diese Vollkommenheit bedeutet nicht den Besitz aller Vorstellbaren guten Eigenschaften oder etwa
die zunehmende Aneignung neuer Werte von außen, sondern lediglich die Entfaltung bereits vorhandener
positiver Eigenschaften des Individuums, also seine angeborenen, sonst ruhenden Kräfte zu wecken. Auf
Grund der natürlichen Mannigfaltigkeit des Phänomens Leben, unterscheiden sich die angeborenen
Eigenschaften des Menschen in jedem Einzelfall. Es wäre daher absurd anzunehmen, dass alle Menschen
nach dem gleichen ‚Typ— von Vollkommenheit streben sollten oder etwa könnten. Es wäre so absurd wie
zu erwarten, dass ein reines Rennpferd und ein reines, schwerfälliges Zugpferd genau dieselben
Eigenschaften besitzen. Beide mögen für sich jeweils vollkommen und zufriedenstellend sein, aber sie sind
eben verschieden, weil ihre ursprünglichen Merkmale verschieden sind. Mit Menschen verhält es sich
ähnlich. Wenn Vollkommenheit auf einen bestimmten ‚Typ— genormt würde - wie das Christentum
Vollkommenheit auf den Typ des asketischen Heiligen festlegt -, dann müssten die Menschen ihre
individuelle Verschiedenheit aufgeben, ändern oder unterdrücken. Dies würde jedoch eindeutig gegen das
göttliche Gesetz der individuellen Mannigfaltigkeit verstoßen, welches das gesamte Leben auf dieser Erde
beherrscht. Der Islam ist keine Religion der Unterdrückung und lässt deshalb dem Menschen einen sehr
weiten Spielraum in seinem persönlichen Leben und sozialem Sein, so dass die mannigfaltigen
Eigenschaften, Temperamente und psychologischen Neigung verschiedener Individuen gemäß ihrer
jeweiligen Veranlagungen ihren Weg zu einer positiven Weiterentwicklung finden können. Jemand kann
also ein Asket sein oder das volle Maß seiner sinnlichen Möglichkeiten, innerhalb der festgesetzten
Grenzen, ausschöpfen; er kann Nomade sein, der ohne Nahrung für den nächsten Tag in der Wüste
umherschweift, oder ein wohlhabender, von seinen Waren umgebener Kaufmann. Solange er sich
aufrichtig und bewusst den Gesetzen unterwirft, die Gott erlassen hat, hat er die Freiheit, sein persönliches
Leben in der Weise zu gestallten, wie seine Natur ihn leitet. Es ist seine Pflicht, dass beste aus sich Selbst
zu machen und so das Geschenk ‚Leben—, das sein Schöpfer ihm gab, in Ehren zu halten; auf diese Weise
unterstütz er durch seine eigene Weiterentwicklung auch seine Mitmenschen bei ihren geistigen, sozialen
und materiellen Bemühungen. Die Gestaltung seines individuellen Lebens ist jedoch keineswegs durch
eine Norm festgelegt. Es ist frei, seine Wahl zu treffen zwischen all den zahllosen gesetzlichen
Möglichkeiten, die sich ihm eröffnen.
Die Basis dieses ‚Liberalismus— im Islam beruht in der Auffassung, dass das ursprüngliche Wesen des
Menschen im Grunde gut ist. Im Gegensatz zur christlichen Vorstellung, der Mensch sei sündig geboren,
oder im Gegensatz zur Lehre des Hinduismus, der Mensch sei seiner Herkunft nach niedrig und unrein und
müsse sich mühsam durch eine lange Kette von Seelenwanderung bis zum äußersten Ziel der
Vollkommenheit hindurchquälen, behauptet die islamische Lehre, dass der Mensch rein geboren und im
oben dargelegten Sinne potentiell vollkommen ist. Im Heiligen Koran steht:
‚Fürwahr, Wir erschufen den Menschen in schönster Gestalt.— Aber im selben Atemzug fährt der nächste
Vers fort: ‚Alsdann machten Wir ihn wieder zum Niedrigsten der Niedrigen œ außer denen, die glauben und
rechtschaffene Werke verrichten.—
(Der Koran, 95:4-6)
In diesen Versen kommt die Lehre zum Ausdruck, dass der Mensch ursprünglich gut und rein ist; weiterhin,
dass Unglaube und der Mangel an Rechtschaffenheit seine ursprüngliche Vollkommenheit zerstören
können. Anderseits kann der Mensch diese ursprüngliche individuelle Vollkommenheit bewahren bzw.
wiedergewinnen, wenn er sich bewusst die Einheit Gottes vergegenwärtigt und sich Seinen Gesetzen fügt.
Deshalb ist nach dem Islam niemals der Böse das Wesentliche oder gar das Ursprüngliche; es ist vielmehr
das menschliche Produkt aus seinem späteren Leben und hängt mit dem Missbrauch der angeborenen
positiven Eigenschaften zusammen, welche Gott jedem Menschen verliehen hat. Diese Eigenschaften
sind, wie bereits erwähnt, bei jedem Individuum unterschiedlich, aber immer in sich selbst potentiell
vollkommen; und ihre uneingeschränkte Entfaltung ist möglich innerhalb des individuellen menschlichen
Lebens auf Erden. Wir nehmen an, dass uns das Leben nach dem Tod infolge seiner vollkommen
veränderten Bedingungen des Gefühls und Empfindungsvermögens andere, gänzlich neue Eigenschaften
und Fähigkeiten verleihen wird, welche einen noch größerer Fortschritt der menschlichen Seele möglich
machen wird; dies betrifft jedoch ausschließlich unser zukünftiges Leben. Die islamische Lehre erklärt
ferner mit Nachdruck, dass jeder einzelne das ganze Maß an Vollkommenheit erreichen kann, indem er die
positiven, bereits vorhandenen Charakterzüge weiterentwickelt, aus denen sich unsere Individualität
zusammensetzt.
Von allen Religionen ermöglicht es allein der Islam, dass der Mensch sich der gesamten Aktionsradius
seines irdischen Lebens erfreuen kann, ohne auch nur einen Moment seine geistige Orientierung zu
verlieren. Wie grundverschieden ist dies von der christlichen Vorstellung! Dem christlichen Dogma zufolge
ist die Menschheit mit der von Adam und Eva begangenen Erbsünde behaftet, und konsequenterweise
wird das gesamte Leben- zumindest in der Dogmatischen Theorie- als ein trübsinniges Tal von Leiden
angesehen. Es ist das Schlachtfeld zweier entgegengesetzter Kräfte: Des Schlechten, repräsentiert durch
den Satan, und des Guten, verkörpert durch Jesus Christus. Der Satan versucht durch körperliche
Versuchung, das Fortschreiten der menschlichen Seele in Richtung auf die leuchtende Ewigkeit zu
verhindern; während die Seele Christus gehört, ist der Körper das Spielfeld satanischer Einflüsse. Man
kann es auch anders darstellen: Die Welt der Materie ist im Grunde satanisch, während die Welt des
geistigen göttlich und gut ist. Alles, was in der menschlichen Natur materiell ist oder ‚fleischlich—, wie es die
christliche Theologie vorzieht zu nennen, wird als direktes Resultat davon betrachtet, dass Adam der
Einflüsterung des höllischen Fürsten der Finsternis und des Materiellen erlag. Um Erlösung zu erlangen,
muss deshalb der Mensch sein Herz weg von dieser Welt des Fleisches und hin zur künftigen geistigen
Welt lenkt, wo die ‚Sünde der Menschheit— durch den Opfertod Christi am Kreuz ausgelöscht wird.
Im Islam kennen wir nichts der Erbsünde Vergleichbares; wir betrachten derartiges als unvereinbar mit der
Vorstellung von Gottes Gerechtigkeit. Gott macht ein Kind nicht für die Handlung seines Vaters
verantwortlich: Warum sollte Er dann all jene zahllose Generationen der Menschheit für eine Sünde des
Ungehorsams, die von einem Urahnen begannen wurde, verantwortlich machen? Es ist zweifellos möglich,
philosophische Erklärungen für diese seltsame Annahme zu konstruieren, aber für den unverfälschten
Intellekt werde sowohl diese Annahme als auch das Konzept der Trinität an sich immer erkünstelt und auch
befriedigend bleiben. Und so wie es keine Erbsünde gibt, so gibt es in der Lehre des Islam auch keine
allumfassende Vergebung für die Menschheit als Ganzes. Vergebung und Verdammung geschehen
individuell. Jeder Muslim ebnet sich den Weg zum Heil selbst. Er birgt in seinem Herzen alle Möglichkeiten
des geistigen Erfolges oder Misserfolges. Über die menschliche Persönlichkeit heißt es im Koran:
‚Sie erhält, was sie verdient, und es kommt über sie, was sie verdient.—
(Der Koran, 2:286)
Ein anderer Vers sagt:
‚... und dass der Mensch nur erhält, worum er sich bemüht hat.—
(Der Koran,53:39)
Der Mittelweg
Wenn nun der Islam die düstere Lebensauffassung, die im Christentum zum Ausdruck kommt, nicht teilt,
so lehrt er uns dagegen, dem irdischen Leben nicht jenen übertriebenen Wert zuzuschreiben, den ihm die
moderne westliche Zivilisation beimisst. Während vom christlichen Standpunkt das irdische Leben als eine
unangenehme Angelegenheit betrachtet wird, huldigt der moderne Westen œ im Unterschied zum
Christentum- dem Leben in einer Weise, wie der Schlemmer seinem Essen huldigt: Er verschlingt es, hat
aber keine Beziehung zu ihm. Der Islam dagegen betrachtet das irdische Leben mit Ruhe und Respekt. Er
betet es nicht an, sondern hält es für einen organischen Abschnitt auf unserem Weg zu einem höheren
sein. Aber gerade, weil es ein Abschnitt, und zwar sogar ein wichtiger Abschnitt ist, hat der Mensch kein
Recht, den Wert seines irdischen Lebens Geringzuschätzen oder gar unterzubewerten. Unsere Reise
durch diese Welt ist ein notwendiger und positiver Teil in Gottes Plan. Deshalb ist das Menschliche Leben
von ungeheurem Wert; wir dürfen nicht nur vergessen, dass es sich um einen rein instrumentalen Wert
handelt. Im Islam gibt es weder einen Platz für den materialistischen Optimismus des modernen Westens,
der proklamiert: ‚Mein Königreich ist nur von dieser Welt—, noch für die Lebensverachtung der christlichen
Aussage: ‚Mein Königreich ist nicht von dieser Welt—. Der Islam beschreitet den Mittelweg. Der Koran lehrt
uns, zu beten:
‚... unser Herr, gib uns im Diesseits Gutes und im Jenseits gutes...—
(Der Koran, 2:201)
Die volle Würdigung dieser Welt und ihrer Güter ist also auf gar keinen Fall ein Hindernis für unser
religiöses Streben. Materieller Reichtum ist wünschenswert, wenngleich auch kein Ziel an sich. Das Ziel all
unserer praktischen Aktivitäten sollte immer die Schaffung uns Erhaltung solcher persönlicher und sozialer
Bedingungen sein, wie es für die Weiterentwicklung moralischer Stärke im Menschen hilfreich sein
könnten. Nach diesem Prinzip führt der Islam den Menschen zu einem Bewusstsein moralischer
Verantwortung in all seinem Tun, ob es sich dabei nun um Bedeutendes handelt oder um Geringfügiges.
Das wohlbekannte Gebot des Evangeliums: ‚Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes
ist!— hat im theologischen System des Islam keinen Platz, da der Islam das Vorhandensein eines Konflikts
zwischen der Moral und den sozioökonomischen Bedürfnissen nicht zulässt. Bei allen Dingen kann es nur
eine Art der Wahl geben: Die Wahl zwischen Recht und Unrecht- und nichts weiter dazwischen. Hieraus
ergibt sich das ausdrückliche Festhalten am Handeln als ein unerlässliches Element der Sittlichkeit. Jeder
einzelne Muslim muss sich selbst als persönlich verantwortlich für alles betrachtet, was um ihn
herumgeschieht, und sich jederzeit und überall für die Errichtung des Rechts und für die Abschaffung des
Unrechts einsetzen. die Bestätigung für diese Verhaltensweise finden wir im folgenden Koranvers:
‚Ihr seid die beste Gemeinschaft, die für die Menschen erschaffen wurde; ihr gebietet, was rechtens ist,
und verbietet das Unrecht; und ihr glaubt an Allah.—
(Der Koran, 3:110)
Dies ist die moralische Rechtfertigung des gesunden Aktivismus im Islam, eine Rechtfertigung des
gesunden Aktivismus im Islam, eine Rechtfertigung für die frühen islamischen Eroberungen. Sie war und
ist auch heute noch die Grundlage zur Errichtung einer irdischen Ordnung für eine optimale geistige
Entwicklung des Menschen. Denn gemäß den Lehren des Islam nötigt moralisches Wissen den Menschen
automatisch zu moralischer Verantwortung. Eine rein platonische Unterscheidung zwischen Gut und Böse,
ohne ausdrücklich das Gute zu fördern und das Böse zu vernichten, ist eine große Unsittlichkeit in sich
selbst. Im Islam lebt und stirbt die Sittlichkeit mit dem menschlichen Bemühen, ihren Sieg auf Erden
herbeizuführen.
Originaltitel:
* The Spirit of Islam, by The Islamic Foundation. Leicester 1979.
Leopold Weiss/Muhammad Asad - ein Grenzgänger zwischen West und Ost
Vor zehn Jahren verstarb der Journalist, Diplomat und islamische Gelehrte Muhammad Asad. Anders als
sein Sohn, der in New York lehrende Anthropologe Talal Asad (geb. 1932 in Saudi-Arabien) wurde der in
der islamischen Welt vielbeachtete Denker nicht in Arabien, sondern in der österreichisch-ungarischen
Monarchie geboren. Neue Erkenntnisse über das spannende Leben eines österreichischen Grenzgängers
liegen nun in Buchform vor.
Der Enkel eines orthodoxen Rabbiners und Sohn eines Rechtsanwalts kam 1900 in Lemberg zur Welt. Er
hieß damals noch Leopold Weiss und wurde bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges mit seiner Familie in
Wien ansässig.
Weder Kunstgeschichte noch Philosophie vermochten es, den Studenten an der Universität zu halten und
schon bald sah man Weiss an den Tischen der Wiener Kaffeehausliteraten.
Film und Journalismus
Anfang der Zwanziger Jahre ließ er Wien hinter sich und fand nach gemeinsamen Filmarbeiten mit F. W.
Murnau und Anton Kuh zum Journalismus.
Als Weiss als Nahostkorrespondent der Frankfurter Zeitung den Vorderen Orient bereiste, glaubte der
Kritiker westlichen Fortschrittsdenkens im Leben unter Muslimen "wahre Gemeinschaft" gefunden zu
haben.
Er konvertierte zum Islam, nahm den Namen Muhammad Asad an und brach 1927 zu seiner ersten
Pilgerfahrt nach Mekka auf und - er blieb.
Wegbereiter des Staates Pakistan
Asads bis 1932 währender Aufenthalt in (Saudi-)Arabien steht am Beginn einer der wohl
bemerkenswertesten Biographien eines europäischen Intellektuellen in der islamischen Welt:
Vertrauter König Abd al-Aziz Al Sauds, Wegbereiter für die Gründung Pakistans und UNO-Botschafter des
Landes in New York, Koranübersetzer und -kommentator, muslimischer Denker und Autor, Wegbereiter für
einen Dialog zwischen der islamischen und westlichen Welt.
Neues Buch zur Person Muhammad Asads
Eine umfassende Darstellung und Analyse zur Person Muhammad Asads ist kürzlich im Böhlau Verlag
erschienen. Das Buch des Sozial- und Kulturanthropologen Günther Windhager - mit bisher
unveröffentlichten Fotos und Dokumenten - bietet erstmals einen ausführlich recherchierten Einblick in
Weiss/Asads frühe Biographie und seine journalistische Arbeit bis zum Aufbruch zu seiner ersten
Pilgerfahrt nach Mekka im Jahr 1927.
Windhager, Günther: Leopold Weiss alias Muhammad Asad. Von Galizien nach Arabien 1900-1927.
Erschienen im Böhlau-Verlag (2002) ISBN 3-205-99393-4
Weitere Informationen unter: www.boehlau.at
Der Autor ist in den Wittgenstein- Forschungsschwerpunkt: "Lokale Identitäten und überlokale Einflüsse"
an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften eingebunden. Rezensionen zu dieser
Neuerscheinung finden Sie auf der Wittgenstein-Homepage.
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