Gotteserfahrungen sind keine Kuschelecken von Michaela F. Heereman Kindliche Ahnungen Die Bevölkerung des Dorfs, in dem ich aufwuchs, war bis auf meine eigene Familie und ein paar katholische Flüchtlingsfamilien durch und durch evangelisch geprägt Meine beste Freundin und Banknachbarin war die Tochter des evangelischen Pastors. Abgesehen von seiner Pfarrerswürde und seiner Reputation im Dorf verschaffte ihm eine an sich artfremde Fähigkeit gerade bei uns Kindern hohes Ansehen. Zur Unterstreichung besonders gewichtiger Ausführungen pflegte er derart mit seiner Kopfhaut zu zucken, daß seine dichte schwarze Haardecke wie eine bewegliche Perücke fast bis zur Nasenwurzel vor- und wieder zurückhüpfte. Der katholische Pfarrer dagegen war schüchtern und gehemmt, sein Haarwuchs ebenso schütter wie sein Redefluß. Stets war er bemüht, seine mangelnde Sprachbegabung mit dem häufigen Gebrauch der Wendung ,,immerwieder und immer wieder“ zu tarnen. Dies brachte ihm im Dorf den Spitznamen ,,der Immerwieder“ ein. Unser „Immerwieder“ konnte dem evangelischen Pastor, der zu allem Überfluß auch noch eine sehr nette und tüchtige Frau hatte, in keiner Disziplin das Wasser reichen; eine Tatsache, die mich meine Banknachbarin, je nach dem aktuellen Klima unserer Freundschaft, mehr oder weniger deutlich spüren ließ. Dennoch war ich froh, katholisch zu sein. Nicht nur, weil - so das neidvolle Zugeständnis meiner Freundin angesichts meines ehrenvollen Status als Beicht- und später Kommunionkind katholisch sein lustiger war. Sondern vor allem, weil ich das Gefühl hatte, hinter unserer Kirche stecke mehr, als es der ,,Immerwieder“ und unsere ebensowenig ansehnliche, kleine Gemeinde erkennen ließen. Ob die beiden folgenden Kindheitserinnerungen nun Auslöser dieser Ahnung oder nur ihre Verstärker oder Katalysatoren waren, weiß ich nicht mehr. Sicher ist, daß sie mich sehr beschäftigten, und so sind sie mir bis heute als lebendige Bilder im Gedächtnis geblieben. - Mein Großvater war ein ebenso kirchentreuer wie konservativer Katholik Trotzdem versteckte er nie seinen Ärger über die dürftigen Predigten des ,,Immerwieder“. Beim Sonntagsfrühstück, das wegen des damals noch geltenden Nüchternheitsgebotes natürlich nach der Messe stattfand, machte er häufig seinem Herzen lautstark Luft. Und zum diebischen Vergnügen von uns Kindern beschloß er seine Kritik meistens mit dem erstaunlichen Satz: ,,Abgesehen von seinen heiligen Weihen ist dieser Pfarrer ein Esel.“ Zweierlei lehrte mich dieser Satz. Erstens, daß meinem Großvater der Glaube viel bedeutete, sonst hätte er wohl nie so unter unserem Pfarrer gelitten. Und zweitens, daß Kirche für ihn immer mehr bedeutete als die Person des jeweiligen Papstes, Bischofs oder Pfarrers, über den er sich im Moment geärgert haben mochte. Was dieses ,,Mehr“ sein könnte, glaubte ich an einer ganz bestimmten Geste meines Vaters zu erkennen. Im Gegensatz zu meinem Großvater war er alles andere als ein konservativer Katholik: In Fragen der Liturgie ein Nachkonziliarer (längst vor dem Konzil], im Glauben eher intellektuell und aufgeklärt, im Verhältnis zur Kirche zwar loyal, aber selbstbestimmt. Als Kind spürte ich deutlich seine fast herablassende Distanz zu manch frommem Tun und Glauben in unserer Gemeinde. Nie sah ich ihn Kerzen anstecken, um seinen Gebeten Nachdruck zu verleihen, geschweige denn an einer Wallfahrt teilnehmen. Vom Einschalten ,,heiliger Spezialisten“ als Fürsprecher hielt er gar nichts. Obwohl leidenschaftlicher Fischesser beurteilte er zu meiner Beunruhigung den Blasiussegen offensichtlich als wenig wirkungsvollen Schutz vor dem Ersticken. Der heilige Antonius, Spezialist für Verlorenes, galt ihm immerhin als harmlos, wenn nicht vielleicht doch (mütterlicherseits) als hilfreich. Daß unsere Handarbeitslehrerin sich angeblich jeden Morgen von den Armen Seelen, von deren Dienstbereitschaft und untrüglichem Zeitgefühl sie Wundersames zu berichten wußte, wecken ließ, lehnte er mit Nachdruck als Unsinn ab. Und selbst meine zeitweilige Vorliebe für Maiandachten wurde von 1 ihm mit leisem, wenn auch liebevollem Spott bedacht Damals kam ich zu dem etwas voreiligen Schluß, Marienverehrung und Rosenkranzgebet hätten denkenden Menschen ähnlich verdächtig zu sein wie der intime Umgang unserer Handarbeitslehrerin mit den Armen Seelen. Vor diesem Hintergrund wird dem Leser vielleicht verständlich, mit welch eigentümlichen Gefühlen ich Sonntag für Sonntag den Gang meines Vaters zu seiner Kirchbank verfolgte. Er mußte dabei das Kirchenschiff durchqueren und den Tabernakel, der damals noch im Zentrum des Altarraumes stand, passieren. Da er regelmäßig erst in letzter Sekunde erschien, wir Kinder aber immer schon frühzeitig zur Kirche geschickt wurden, wartete ich jeden Sonntag mit schwer zu erklärender Spannung darauf, ob der Vater wohl auch diesmal wieder in der Mitte des Ganges innehalten und eine tiefe Kniebeuge machen würde. Wenn dieser Vater, dessen Skeptizismus und Spötteln so locker daherkamen, vor irgendetwas oder irgendwem in der Kirche das Knie beugte, dann mußte hier das Wesentliche unseres Glaubens liegen. 2