3/4SPK Sexualität im Behindertenbereich Sarah Schagerl Anspruch

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Sexualität im Behindertenbereich
Anspruch-Realität-Vision
Faschspezifische
Themenstellung aus
der Heil- und
Sonderpädagogik
Sarah Schagerl
Betreuung: Dr. Mag.
Alfred Brader
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Sexualität im Behindertenbereich
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Anspruch-Realität-Vision
Inhaltsangabe
1. Einleitung
2. Der Begriff Sexualität
2.1.
Vielschichtigkeit des Begriffs Sexualität
2.2.
Normen-, Werte- und Moralsystem unserer Gesellschaft
2.3.
Gesellschaftliche
Vorurteile
bezüglich
Menschen
mit
kognitiver
Beeinträchtigung hinsichtlich ihrer Sexualität
2.4.
Gesellschaftliche Vorurteile bezüglich Menschen mit somatischer
Beeinträchtigung hinsichtlich ihrer Sexualität
2.5.
Lösungsansätze für die sozialpädagogische Arbeit
3. Sexualerziehung
3.1.
Definition der Sexualerziehung
3.2.
Aufgaben und Ziele der Sexualpädagogik im Behindertenbereich
3.3.
Zeitpunkt der Sexualerziehung
4. Die Entwicklung der Sexualität nichtbehinderter und behinderter Menschen
4.1.
Allgemein
4.2.
Orale Phase
4.3.
Anale Phase
4.4.
Phallische Phase
4.5.
Latenzphase
4.6.
Die Pubertät und Adoleszenz
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4.7.
Vom Erwachsenwerden von Menschen mit geistiger Behinderung
5. Standards der Verwirklichung sexueller Selbstbestimmung
5.1.
Das Recht auf individuelles Sexualleben und die eigene Intimsphäre
5.2.
Das Recht auf physische und psychische Unversehrtheit – Schutz vor
sexuellen Übergriffen
5.3.
Das Recht auf Sexualpädagogik und Sexualberatung
5.4.
Das Recht auf Sexualassistenz
5.5.
Das Recht auf eigene Kinder
5.6.
Das Recht auf Eigensinn
6. Sexualassistenz
6.1.
Grundsätze professioneller sexualpädagogischer Begleitung
6.2.
Angebot der Sexualassistenz
6.3.
Möglichkeiten aktiver und passiver Sexualassistenz für Menschen mit
Behinderung
7. Misshandlungen und Übergriffe bei Menschen mit Beeinträchtigung
7.1.
Signale
8. Schluss
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1. Einleitung
Meine ersten Erfahrungen im Behindertenbereich habe ich in meiner fünfjähringen
Ausbildung zur Matura gemacht. Im Zuge eines Werkprojektes gestalteten wir
verschiedene Formen von Sitzmöglichkeiten. Dabei bemerkte ich, dass das Thema
Beziehung, Liebe und Sexualität eine große Rolle für Menschen mit Behinderung
spielt. Auch in meiner Praxis in der Caritas-Werkstätte Lilienfeld erkannte ich, dass
an diesen Themen großes Interesse besteht. Ich beobachtete, dass diese Menschen
gerne Zärtlichkeit austauschen und kuscheln, weiters sprachen sie gerne über
aktuelle Beziehungen, Liebesgeschichten und ihr Interesse am anderen Geschlecht.
Dort lernte ich auch die behinderte 32-jährige A. kennen,
die schon
seit acht
Jahren mit dem Autisten M. in einer Beziehung lebt, die für sie sehr wichtig schien.
Auch die Eltern der beiden wussten von dieser Beziehung und unterstützten sie
nach Kräften. Eine andere Klientin in der Werkstätte lebte noch bei ihrer Mutter, die
für das Thema Sexualität sehr unaufgeschlossen war. Sie musste im Bett der Mutter
schlafen und der Kontakt zu anderen beeinträchtigten Menschen wurde ihr oftmals
verwehrt. Die erwachsene Frau äußerte zwar oft den Wunsch nach einer Beziehung
mit einem Mann, doch dies wurde ihr nicht erlaubt.
Diese Beobachtungen haben mein großes Interesse an diesem Thema geweckt. Ich
besorgte mir einschlägige Literatur, recherchierte im Internet und schaute mir
verschiedene Beiträge in den Medien an. Die Sexualität körperlich und geistig
behinderter Menschen wird schon sehr lange tabuisiert. Es scheint aber, dass sich
diese negative Haltung allmählich ändert und offener darüber gesprochen wird
Erotik und Sexualität werden in unserer Vorstellung vor allem mit körperlicher
Schönheit in Verbindung gebracht. Unseren Idealvorstellungen von schönen
Menschen begegnen wir tagtäglich im Fernsehen, in Zeitschriften und auf großen
Werbetafeln im Straßenbild. Diese Körper nehmen wir als harmonisch wahr, diese
Körper finden wir begehrenswert - Körper, die stets unversehrt sind! Diese
fachspezifische Arbeit will der Frage nachgehen, woher einerseits die stark
verinnerlichten Vorurteile bezüglich der Sexualität körperlich und geistig behinderter
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Menschen in unserem Kulturkreis kommen und wie andererseits behinderte Frauen
und Männer dabei unterstützt werden können, ihren Körper trotz dieser
Zuschreibungen
lustvoll
wahrzunehmen
und
ihre
sexuellen
Wünsche
und
Bedürfnisse zu bejahen.
2. Begriff Sexualität
2.1 Vielschichtigkeit des Begriffs Sexualität
Der Begriff Sexualität, der in erster Linie nüchtern als „Geschlechtlichkeit“ (Duden
1966) übersetzt wird, erhält spätestens mit der Einführung des Begriffs „Libido“, dem
Lebenstrieb, im Gegensatz zum Zerstörung- bzw. Todestrieb, durch Freud einen
neuen Stellenwert. Die Bedeutung von Sexualität beschränkt sich nicht mehr nur rein
auf „alles, was mit dem Unterschied der zwei Geschlechter zusammenhängt, was
sich
mit der Absicht
der Lustgewinnung,
mit dem Körper, speziell den
Geschlechtsteilen, mit dem anderen Geschlecht beschäftigt das, was auf die
Ausführung des Geschlechtsaktes hinzielt und die Fortpflanzungsfunktion“ (Freud).
Sexualität wird als „entscheidende Dimension zwischenmenschlicher Kommunikation
und persönlicher Selbstentfaltung“ (Walter 1996) gesehen. So wird im Deutschen
Wörterbuch von 1996 der Begriff Sexualität nicht mehr nur als Geschlechtlichkeit,
sondern auch als die „Gesamtheit des durch den Geschlechtstrieb begründeten
Verhaltens“ beschrieben.
Sporken hat den Gesamtkomplex Sexualität in drei Stufen unterteilt: die erste Stufe
zielt auf die Bejahung der Geschlechtszugehörigkeit und die daraus resultierende
Ich-Identität ab, also das Bewusstsein der eigenen Persönlichkeit. Die zweite Stufe
umfasst den Bereich Zärtlichkeit, Sensualität und Erotik in all seinen Ausprägungen.
Unter die dritte Stufe fällt die Genitalsexualität. Die Übergänge zwischen diesen
Stufen sind fließend und ergänzen sich gegenseitig.
Sexualität ist ein Grundvermögen und zugleich ein Grundbedürfnis des Menschen.
Zum einen ist sie abhängig von biologisch-physiologischen Voraussetzungen wie
beispielsweise dem Fortpflanzungstrieb, zum anderen von Reifungs-Lernprozessen
wie z.B. der personalen und sozialen Entwicklung und dem Bedürfnis nach
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Kommunikation. Menschliche Sexualität steht daher im direkten Zusammenhang mit
Sozialisations-und Erziehungsprozessen. Sie ist Teil der Identitätsentwicklung und
somit von der Lerngeschichte des einzelnen Menschen in seiner Umwelt und von
seinen Beziehungen zu anderen geprägt.
Sexualität bedarf also – wie alle menschlichen Anlagen – der zeitgerechten
Förderung, damit sie sich altersgemäß und angemessen entwickeln kann.
Es kann gesagt werden, dass auch bei Menschen mit einer Behinderung Sexualität
nichts anderes ist als bei Nichtbehinderten. Sexualität wird von jedem Menschen
individuell ausgeformt, auch von Menschen mit einer Behinderung. Durch die
Behinderung erhält die Sexualität „lediglich eine weitere Facette an individueller
Eigenart“.
2.2 Normen-, Werte- und Moralsystem unserer Gesellschaft
Jeder Mensch wird mit dem Zeitpunkt seiner Geburt vom Normen-, Werte- und
Moralsystem seiner Zeit und der bestehenden Gesellschaft bestimmt. Diese Systeme
sind zum einen relativ, also veränderbar, zum anderen kann eine Abweichung vom
bestehenden System zu sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Reaktionen
führen. Normen- und Wertesysteme fordern vom Einzelnen, dass er sein Denken und
Handeln fremden Urteilen und Vorschriften unterwirft. Die Durchsetzung der Systeme
wird häufig durch den Einsatz von Gratifikationen und Sanktionen gesichert.
Besonders im Bereich Sexualität ist in den letzten Jahren eine Veränderung dieser
Normen zu sehen.
Die Eltern von Kindern mit einer Behinderung werden durch das gesetzte Normenund Wertesystem besonders sanktioniert. Allein die Geburt eines behinderten Kindes
ruft viele, oftmals negative, Reaktionen der Umwelt hervor. Die Auseinandersetzung
mit der Geschlechtlichkeit ihrer Kinder birgt bei den Eltern viele zusätzliche Ängste:
vor sexuellem Missbrauch, vor dem Überschreiten von „Sexualtabus“, vor der Geburt
unerwünschten Nachwuchses.
Es können folgende Rückschlüsse für Menschen mit Behinderungen gezogen
werden: die vergrößerte Freizügigkeit und Offenheit sind sicherlich positiv, da das
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Normen-, Werte- und Moralsystem auch Menschen mit einer Behinderung das Recht
auf Partnerschaft und Sexualität zugestehen muss. Dies zeigt sich etwa darin, dass
die Sterilisation erschwert ist und keine getrennt geschlechtliche Unterbringung der
Menschen mit Behinderung mehr verlangt wird. Gerade aber im Zusammenhang mit
dem Leistungsdenken und der Vorstellung eines Schönheitsideals ist keine wirkliche
Verbesserung, sondern eher eine Verschlechterung ihrer Situation zu verzeichnen.
2.3 Gesellschaftliche Vorurteile bezüglich Menschen mit kognitiver
Beeinträchtigung hinsichtlich ihrer Sexualität
Menschen mit geistiger Behinderung werden nicht nur aufgrund ihrer primären
Behinderung, sondern auch wegen ihres Aussehens, ihres Verhaltens, ihrer
Hilfsbedürftigkeit oder ihrer erschwerten Kommunikation gesellschaftlich sanktioniert.
Aufgrund
der
hieraus
erwachsenden
begrenzten
Möglichkeiten,
selbst
partnerschaftliche Erfahrungen zu machen, werden diese Menschen in ihrer
Persönlichkeitsentwicklung – im Sinne einer sekundären Behinderung – zusätzlich
behindert. Im Wesentlichen gibt es laut Walter drei typische Vorurteile in Bezug auf
die Sexualität der Menschen mit geistiger Behinderung:
 „das unschuldige Kind“,
 „der Wüstling“
 „der klebrige Distanzlose“.
Das erste Vorurteil ist die Leugnung und Veränderung der Sexualität geistig
behinderter Menschen, das sogenannte „unschuldige Kind“. Ausgehend von der
Meinung der Öffentlichkeit, dass Sexualität und geistige Behinderung unvereinbare
Begriffe sind, wird von Menschen mit geistiger Behinderung erwartet, dass er das
naive, unverdorbene und geschlechtlose „große Kind“ bleibt.
Das zweite Vorurteil, „der Wüstling“, meint die Dramatisierung und Überbetonung der
Sexualität geistig behinderter Menschen: die sexuellen Handlungen Behinderter
werden als tierische Befriedigung rein körperlicher Bedürfnisse interpretiert, da ihnen
nicht zugetraut wird, ihre sexuellen Triebwünsche in personalen Beziehungen oder
auf andere sozial akzeptable Weise zu befriedigen. Erschwerend kommt hinzu, dass
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„schlafende Hunde“ nicht geweckt werden sollten, und dass der Mensch mit einer
geistigen Behinderung sowieso kein Interesse an Sexualität habe, bis dieses, zum
Beispiel im Rahmen der Sexualerziehung, in ihm von außen geweckt werde.
Der „klebrige Distanzlose“ bezieht sich auf die Fehldeutung nicht-sprachlicher
Kommunikation geistig behinderter Menschen. Da sich viele Menschen mit geistiger
Behinderung sprachlich nur schwer verständlich machen können, haben vor allem
die Körpersprache und die nonverbale Kommunikation einen hohen Stellenwert.
Diese Körpersprache wird von Nichtbehinderten oft falsch gedeutet, wodurch viele
Missverständnisse entstehen, die den Menschen mit geistiger Behinderung als
„distanzlos, unbeherrscht oder triebhaft“ etikettieren.
2.4 Gesellschaftliche Vorurteile bezüglich Menschen mit somatischer
Beeinträchtigung hinsichtlich ihrer Sexualität
Gerade
Frauen
mit
einer
Körperbehinderung
können
mit
ihrer
Geschlechtsrollenidentität große Probleme bekommen, da sie dem traditionellen
Schönheitsbild mit ihrem Aussehen und mit ihrem Leistungsvermögen häufig nicht
entsprechen. Der erwachsenen Frau mit Behinderung wird oftmals die soziale Rolle
und Kompetenz als Partnerin, Ehefrau, Mutter von der Gesellschaft nicht zugetraut.
Männer mit einer körperlichen Behinderung haben teilweise keine Erektions- und
Orgasmusfähigkeit. Viele leiden darunter und sehen sich nicht als vollwertigen Mann
an,
da
das
gesellschaftliche
Selbstverständnis
von
Männern
von
frühen
Kindheitstagen an erwartet, dass sie sexuell potent sind.
2.5 Lösungsansätze für die sozialpädagogische Arbeit
Es geht darum, dass der Mensch sich in sozialen Bezügen als geschlechtliches
Wesen erlebt und lernt, sich selbst wertzuschätzen. Das Elternverhalten stellt die
emotionale Grundlage für den Aufbau eines Körperbewusstseins und die
Eigenwahrnehmung dar. Da die Erfahrungen mit der außerfamiliären Welt lt.
Weinwurm-Krause entscheidenden Einfluss auf die eigenen Entwicklungs- und
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Lebensmöglichkeiten haben, sollte auf folgende Bereiche der Lebensgestaltung
besonderer pädagogischer Wert gelegt werden:
 Die Einbindung in eine Peergroup in Institutionen wie Schule, Internat, etc.,
um Bewertungskonzepte, Konfliktverhalten und Motivationsstrukturen zu
entwickeln.
 Eine positive Bewertung der Sexualität behinderter Menschen ermöglicht eine
objektive Auseinandersetzung mit diesem Komplex.
 Interaktionen mit Nichtbehinderten und einer Peergroup sind Voraussetzungen
für die Kompetenz, sich in komplexen sozialen Bezügen zurechtzufinden.
 Die Bedeutung seiner Behinderung an den objektiven Einschränkungen
auszurichten hilft dem behinderten Menschen.
Sexualerziehung muss als Persönlichkeitserziehung verstanden werden und umfasst
somit den Menschen in seiner Ganzheitlichkeit. Sie hat die unterschiedlichen
Systeme, in die er eingebunden ist, wie Elternhaus, Wohnheim, Schule, Peergroup
etc., mit einzubeziehen.
3. Sexualerziehung
3.1 Definition der Sexualerziehung
Sexualerzeihung
ist
Sozialerziehung
und
Persönlichkeitserziehung,
wenn
Erfahrungen mit dem eigenen Körper gemacht, ein körperbejahender Umgang
angeboten und die natürlichen Schamgrenzen im sozialen Umgang mit anderen
eingehalten werden. Durch das Vorbild der umgebenden Personen kann im Sinne
der Sozialerziehung ein toleranter, liebevoller, verantwortungsbewusster und
antisexistischer Umgang mit dem eigenen und dem anderen Geschlecht erzielt
werden.
Sexualerziehung umfasst zusätzlich:
 Sachinformationen, die ein sicheres Körpergefühl vermitteln und das
biologische und soziale Gleichgewicht von Mann und Frau einsichtig machen
 Das wertungsfreie Ansprechen von Gefühlen
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 Den
kritischen
Umgang
mit
stereotypen
Verhaltensweisen
und
Rollenzuweisungen zwischen den Geschlechtern
 Die Auseinandersetzung mit der eigenen Behinderung verbunden mit einer
Stärkung des Selbstbewusstseins
3.2 Aufgaben und Ziele der Sexualpädagogik im Behindertenbereich
Alle Menschen sind sexuelle Wesen und bedürfen der Sexualerziehung. Nachdem
Sexualität nicht nur von körperlicher und psychosozialer Reifung abhängt, sondern
auch
einen
Lernprozess
darstellt,
ist
Sexualerziehung
im
Sinne
der
Persönlichkeitserziehung von größter Wichtigkeit.
Konkrete Aufgaben und Ziele in der Sexualpädagogik für Menschen mit
Behinderung.
 Individualität und Sexualität zugestehen
 Sinnliche und kommunikative Körpererfahrungen als Beitrag des Aufbaus der
Persönlichkeit
 Annahme der Geschlechtlichkeit als Entwicklung der Persönlichkeit
 Entwicklung von Geschlechtsrollen- und Ich-Identität
 Zwischenmenschliche Kommunikation als Beitrag zur Selbstverwirklichung
 Handlungsmöglichkeiten als Sozialisationshilfe
 Vermittlung von Werten und Normen als Orientierungshilfe und das Aufzeigen
von Grenzen als Sozialisationshilfe
3.3 Zeitpunkt der Sexualerziehung
Es gibt keinen bestimmten Zeitpunkt für die Sexualerziehung, denn sie beginnt gleich
nach der Geburt. Wie die Eltern den Säugling halten, pflegen, mit ihm schmusen und
spielen – all das ist bereits Sexualerziehung.
Doch wann genau mit welchem Alter der Zeitpunkt gekommen ist, für die Aufklärung;
kann man nicht genau festlegen. Aber gewiss ist, dass aufgeschlossene und
aufmerksame Bezugspersonen jede Veränderung ihres Klienten bemerken und
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selbst am besten entscheiden können, wann es so weit ist. Im Zweifel sollte man
immer aufklären.
4. Die Entwicklung der Sexualität nichtbehinderter und behinderter
Menschen
4.1 Allgemein
Alle Menschen (natürlich auch die mit geistiger Behinderung) können ihre
Persönlichkeit dann am besten ausbilden, wenn die sexuellen Fähigkeiten von
Geburt an unterstützt und gefördert werden. Sexualität ist zwar angeboren, trotzdem
entwickelt sich Sexualität nicht von selbst - eine besondere Begleitung ist daher
erforderlich. Die sexuelle Entwicklung, bei behinderten und nicht behinderten
Menschen, erfordert Anregung und Übung. "Wer allzu selten Zärtlichkeit empfängt,
lernt nicht zärtlich zu sein, sein Körper wird für sexuelle Reize nicht empfindsam". Die
körperliche Entwicklung verläuft bei Menschen mit einer geistigen Behinderung
altersgemäß. Abweichungen von der Norm sind nicht häufiger anzutreffen als bei
nicht behinderten Menschen. Diese Tatsache ist oft eine Schwierigkeit im Umgang
mit Menschen mit einer geistigen Behinderung und ihrer Sexualität, denn meist ist die
körperliche Entwicklung dieser Menschen ganz normal, wo hingegen die geistige
Entwicklung weit zurückliegen kann. Es ist von großer Wichtigkeit, dass auf beide
Punkte, sowohl die physische als auch die psychische Ebene Rücksicht genommen
wird. Allerdings entwickeln sich die körperlichen und sexuellen Fähigkeiten bei den
meisten geistig behinderten Frauen und Männern ebenso langsam, wie die
Fähigkeiten ihrer Intelligenz.
Die Entwicklung der Sexualität nicht behinderter und behinderter Menschen vollzieht
sich in zwei großen Phasen. Die erste Phase, das Kindesalter, beginnt mit der
Geburt und endet mit dem sechsten Lebensjahr und die zweite Phase, die Zeit der
Pubertät beginnt bei Mädchen mit etwa neun bis zehn Jahren und endet mit dem
vierzehnten bis fünfzehnten Lebensjahr. Bei Jungen verzögert sich die Entwicklung
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bis zu zwei Jahren. Zwischen diesen zwei großen Entwicklungsphasen befindet sich
die so genannte Latenzzeit. In dieser Zeit ist der Sexualtrieb nur latent vorhanden.
4.2 Die orale Phase
In
dieser
ersten
Phase,
der
so
genannten
oralen
Phase,
werden
alle
Wahrnehmungen durch den Mund erfahren. Diese Phase dauert ungefähr eineinhalb
Jahre an. Die Nahrungsaufnahme und die dadurch entstehende Stimulation durch
den Mund verschafft dem Säugling eine Lustgewinnung, da sein Saugreflex
befriedigt ist.
Bei geistig behinderten Kindern können bestimmte Vorlieben für verschiedenste
körperliche Zonen bestehen bleiben; z. B. Daumenlutschen oder Speicheln. Der
Grund für dieses Verhaltensmuster ist das lustvolle Spüren des eigenen Körpers.
4.3 Die anale Phase
Die anale Phase beginnt im zweiten Lebensjahr des Kleinkindes. In dieser Phase
wird die sexuelle Befriedigung durch das Beherrschen der analen und HarnröhrenSchließmuskulatur erlangt. Zudem spielen die Kinder auch sehr gerne mit ihrem
eigenen Kot. Wird das Kind in dieser Phase zu stark unter Druck gesetzt und zur
Sauberkeit gedrängt, so kann dies Schamgefühl und Ekel erzeugen, welches sich
auf das spätere Sexualleben ausweiten kann.
Auch in dieser Entwicklungsphase können geistig behinderte Menschen in ihrer
geistigen Entwicklung stehen geblieben sein. Menschen in dieser Phase benötigen
vor allem viel Bestätigung für ihre Bewegungsinitiativen und ihren Trotz, so schwer
es auch für die Mitmenschen zu tragen ist.
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4.4 Die phallische Phase
In der phallischen Phase, welche sich zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr
abspielt, richtet sich das Interesse des Kindes auf die Untersuchung und Stimulation
des eigenen Körpers, insbesondere des Geschlechtsorgans.
Befinden sich geistig behinderte Kinder in der phallischen Phase, möchten sie sich
von ihrer Bezugsperson abgrenzen, wie auch Kinder ohne Behinderung. Es ist von
großer Bedeutung, dass in dieser Phase keine Überbehütung des behinderten
Kindes stattfindet. Kindern kann teilweise erst in dieser Phase bewusst werden, dass
es zwischen Menschen geschlechtliche Unterschiede gibt. Dieses Bewusstwerden
des anderen Geschlechts in dieser Phase stellen behinderte wie auch nicht
behinderte Kinder meist durch "Doktorspiele" fest. Allerdings sind Kinder mit
Behinderung gegenüber nicht behinderten Kindern meist im Nachteil, da behinderte
Kinder oft nicht so selbstständig sind und professionelle Unterstützung und
Betreuung benötigen.
4.5 Die Latenzphase
Die vierte Stufe, die Latenzphase, beginnt zirka mit dem sechsten Lebensjahr und
endet mit Anfang der Pubertät. In dieser Phase wird die Befriedigung durch die
Erkundung der eigenen Umwelt und durch die Entwicklung von eigenen Fähigkeiten
und Fertigkeiten erlangt.
In dieser Phase ist es sehr wichtig bei Menschen mit geistiger Behinderung darauf zu
achten, dass sie den Umgang mit Nähe und Distanz erlernen können, da in dieser
Phase vor allem die kognitiven Fähigkeiten entwickelt werden. Es ist in der
Latenzphase sehr wichtig, dem geistig behinderten Kind, aber auch dem nicht
behinderten Kind, beizubringen, dass es einen Unterschied zwischen dem privaten
Bereich zu Hause und der Öffentlichkeit gibt. Vor allem muss das behinderte Kind
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lernen, diese beiden Bereiche zu trennen und ein normales Schamgefühl zu
entwickeln.
4.6 Die Pubertät und Adoleszenz
Die Adoleszenz, auch Jugendalter genannt, wird als der Lebensabschnitt definiert,
der mit dem Einsetzen der Pubertät beginnt. Diese Entwicklungsphase und die damit
verbundene Entwicklung der Geschlechtsreife dauert bis zu zirka sechs Jahren an.
Bei Mädchen beginnt sie mit etwa neun und endet mit dem fünfzehnten Lebensjahr.
Jungen kommen etwa mit zehn bis elf Jahren in die Pubertät und sie dauert zirka bis
zum siebzehnten Lebensjahr an.
In dieser Phase braucht der geistig behinderte Jugendliche oft Hilfestellung von
seiner Umgebung, damit er mit den Veränderungen seines Körpers fertig werden
kann. Junge Mädchen und Burschen mit geistiger Behinderung sollten, wie nicht
behinderte Jugendliche auch, über die Bereiche Menstruation und Samenerguss
aufgeklärt werden. Dies ist ganz besonders wichtig, damit bei dem geistig
behinderten Jugendlichen nicht der Eindruck entsteht, dass sie abnormal oder krank
seien. In dieser Entwicklungsphase zeigen meist geistig behinderte Jugendliche
deutlich auf, dass sie sich sexuell befriedigen möchten, aber nicht wissen wie dies
funktioniert. Es ist daher in der Phase der Pubertät sehr wichtig, den geistig
behinderten Jugendlichen zu erklären, wie sie sich selbst stimulieren und befriedigen
können. Sowohl die sexuelle Befriedigung als auch eine Orientierung an einer
Gruppe Gleichaltriger ist in diesem Alter sehr wichtig für die Kinder. Hier bemerken
aber geistig behinderte Jugendliche sehr schnell, dass sie oftmals im Nachteil sind.
Sie stellen sich oft die Frage, wer sie eigentlich sind und erkennen ihre
‚Andersartigkeit' gegenüber den nicht behinderten Jugendlichen. Nicht selten fühlen
sie sich dann ängstlich und unsicher und schämen sich für ihre Behinderung.
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4.7 Vom Erwachsenwerden von Menschen mit geistiger Behinderung
Was heißt Erwachsensein? Dies ist zumindest eine Frage, die wir uns alle einmal
stellen können. Jeder von uns hat unterschiedliche Vorstellungen von dem, was für
ihn Erwachsensein bedeutet. In diesen unterschiedlichen Vorstellungen erkennen wir
auch die Unterschiedlichkeit untereinander. Doch in unserer Gesellschaft werden
junge Heranwachsende erst als "fertige Persönlichkeiten" akzeptiert, wenn sie nach
unserem soziokulturellen Alltagsverständnis folgende Punkte erfüllen:

körperliche, sowie psychische Reife

Selbstverantwortung

finanzielle Eigenständigkeit

Partnerschaft

Familie

Elternschaft.
In der Zeit des Erwachsenwerdens fallen viele wichtige Entscheidungen über
Partnerschaft, Familie und Zukunft und eine gewisse psychische Reife werden
aufgrund gesammelter Erfahrungen erreicht. Das heißt, dass es sich beim
Erwachsenwerden und Erwachsensein um einen Prozess handelt und nicht um
etwas Statisches.
Denn wir dürfen eines nicht vergessen: unsere Bilder, Rollenzuschreibungen und
Rollenerwartungen von einem erwachsenen Menschen ist der Maßstab, den wir für
alle Menschen anlegen, somit auch für Menschen mit geistiger Behinderung. Das
größte Hindernis für den Menschen mit einer Behinderung, im Prozess des
Erwachsenwerdens weiterzukommen, ist unsere Definition von Erwachsensein.
Aufgrund dieser Definition von Erwachsensein ist es absehbar, dass Menschen mit
geistiger Behinderung diese Voraussetzungen nur sehr schwer oder gar nicht
erfüllen können. Unsere Gesellschaft bestimmt in der Regel für den geistig
behinderten Menschen was Erwachsensein bedeutet und was Erwachsensein
ausmacht. Menschen mit geistiger Behinderung sind fast in allen Bereichen ihres
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Lebens auf fremde Hilfe angewiesen, und aufgrund dessen wird ihnen auch die
juristische Mündigkeit zum Erwachsensein abgesprochen. Daraus folgt, dass der
geistig behinderte Erwachsene auch nicht selbstverantwortlich über sein Tun und
Lassen entscheiden kann.
Doch sollten wir uns nicht besinnen und darüber nachdenken, ob nicht wir es sind,
die geistig behinderten Heranwachsenden gar keine Möglichkeit geben, erwachsen
und damit mündig, verantwortungsbewusst, unabhängig und selbstbewusst zu
werden? Walter schreibt dazu: "Nicht nur für Eltern und Erzieherinnen, sondern auch
für die Öffentlichkeit in unserer Gesellschaft ist mit dem Bild der geistigen
Behinderung eng die Vorstellung einer lebenslangen Unfähigkeit verbunden, den
Status und die Norm des reifen, mündigen und unabhängigen Erwachsenen zu
erreichen, wie ihn unser Alltagsverständnis definiert. Mit dem Etikett "geistig
behindert"
verbindet
Behinderungssyndrom
das
Alltagsverständnis
assoziativ
in
Unselbstständigkeit,
einem
einheitlichen
Abhängigkeit,
geringe
Leistungsfähigkeit, Unreife, Ehelosigkeit, keine oder allenfalls infantile Sexualität".
"Die Perspektive einer glückenden Daseinsgestaltung als Erwachsener setzt aber
relative Selbstständigkeit und Unabhängigkeit auch in Fragen der Sexualität und der
Partnerwahl voraus. Hierin liegt der zentrale Unterschied zu Kindheit und Jugend".
5
Standards der Verwirklichung sexueller Selbstbestimmung
5.1 Das Recht auf individuelles Sexualleben und die eigene Intimsphäre
Einzelzimmer sollten für jeden Beeinträchtigten, auch für Schwerstbehinderte, zur
Verfügung stehen, da ansonsten keine Intimsphäre aufgebaut werden kann.
Ohne einen geschützten Privatbereich kann kein selbstbestimmtes Grenzen
setzen und Erkennen von Grenzüberschreitungen geübt werden. Weiters wird
davon ausgegangen, dass in dieser privaten Räumlichkeit der volljährige Klient
selbst entscheiden darf, wen er in Empfang nehmen möchte und dies bei einem
Vergehen seitens der Sozialpädagogen ansonsten einer Freiheitsberaubung
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gleichzusetzen ist. Dabei gilt auch, dass das Recht auf ein individuelles
Sexualleben mit der ersten selbstbestimmten Intimsphäre beginnt.
5.2 Das Recht auf physische und psychische Unversehrtheit – Schutz vor
sexuellen Übergriffen
Den Sozialpädagogen sei geraten, dass sie bei der Aufklärung auch selbst Position
bei Fragen beziehen, um sexuellen Übergriffen vorzubeugen. Auch sollten weiterhin
die sexuellen Übergriffe auf geistig behinderte Menschen thematisiert werden, um
gleichzeitig ein Tabu zu lösen und zu sensibilisieren. Auch von der rechtlichen Seite
sollten alle Sozialpädagogen aufgeklärt sein und über mögliche straffällige Taten
Bescheid wissen. Das Strafgesetz hat einerseits die Aufgabe Schutz vor sexuellen
Übergriffen zu geben und andererseits die ungestörte sexuelle Entwicklung
strafrechtlich zu sichern.
Auch erzwungene Sterilisationen, zur Mäßigung der Ängste der Eltern, sollten in dem
Recht der körperlichen Unversehrtheit angeklagt werden.
5.3 Das Recht auf Sexualpädagogik und Sexualberatung
Jeder kognitiv beeinträchtigte Mensch ist sexualpädagogisch zugänglich. Oft wird im
Elternhaus oder der Schule nur unzureichend aufgeklärt, sodass viele sogar im
Erwachsenenalter den Zusammenhang zwischen Zeugung und Verhütung noch nicht
verstehen können. Doch der emanzipatorischen Selbstbestimmung Behinderter
halber sollte auch im Alter noch aufgeklärt werden, wenn Nachholbedarf besteht.
Sexualberatung beinhaltet nicht nur oberflächliche Informationen, sondern auch
genaue Details über Mann und Frau beim Sex zu geben.
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5.4 Das Recht auf Sexualassistenz
Die Informationen über entsprechende Hilfsmittel und weiteren Anlaufstellen sollten
prinzipiell in der Aufklärung enthalten sein, dazu gehört auch die passive
Sexualassistenz, wie zum Beispiel die Kontaktierung von Prostituierten. Doch schon
oft hat sich hier die Problematik erwiesen, dass die Sozialpädagogen selbst nicht
kundig in diesem Bereich sind.
Bei aktiver Sexualassistenz mit Körperkontakt sollten immer externe Fachkräfte
hinzugezogen werden. Dadurch soll einer wohlmöglich noch größeren Abhängigkeit
vorgebeugt sein. Außerdem kann einer zusätzlich belastenden Situation entgangen
werden, wenn sich zum Beispiel der Klient den Sexualassistenten auch als
Sexualpartner wünscht. Doch ergibt sich wiederum durch den Einsatz von solchen
geschulten Service- Diensten das Problem des geforderten Geldes.
5.5 Das Recht auf eigene Kinder
Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung ist es schon seit Jahren erlaubt
zu heiraten und Kinder zu bekommen. Es ist ein Menschenrecht im Zusammenhang
mit sexueller Selbstbestimmung. Es gibt viele Unterstützungsangebote für behinderte
Eltern, sowie Beratungs- und Familienbetreuungskonzepte.
Die Sozialpädagogen sollten im Falle eines Kinderwunsches behutsam die Klienten
aufklären mit welchen Pflichten und Voraussetzungen dies verbunden ist.
5.6 Das Recht auf Eigensinn
„Das Recht auf Eigensinn“ beinhaltet, sich eine eigene Meinung bilden zu können,
auch wenn diese vielleicht dem Gegenteil der üblichen Mainstream- Gesellschaft
entspricht.
Auch
ist
damit
gemeint,
dass
selbstbestimmt wählen können.
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die
Klienten
ihren
Lebensweg
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6 Sexualassistenz
6.1 Grundsätze professioneller sexualpädagogischer Begleitung
Ziel professioneller sexualpädagogischer Begleitung:
Ziel ist die Sexualentwicklung der Klienten als Teil ihrer Gesamtentwicklung zu sehen
und ihre sexuellen Bedürfnisse menschengerecht zu stillen. Die Sexualpädagogik
soll aus emanzipatorischen Gründen das Selbstbild verbessern und zusätzlich
sexueller Gewalt vorbeugen.
Handlungsweisende Positionen professioneller sexualpädagogischer Begleitung:
 Die sexualpädagogische Begleitung sollte Bestandteil jeder Begleitung in
Wohngruppen, Tagesstätten, etc. sein.
 Die Sozialpädagogen sollten bzgl. dieses Themas erhöht sensibilisiert sein,
auch in Bezug auf sexualisierte Gewalt. Sie sind somit ständig in einen
Lernprozess involviert.
 Dieses Angebot sollte sich an alle Klienten, unabhängig von Alter, Herkunft,
Geschlecht und sexueller Orientierung richten. Bei Klienten mit schwerer
intellektueller oder mehrfacher Behinderung orientiert sich die Unterstützung
am geistigen Entwicklungsstand und den körperlichen Fähigkeiten.
 Den Klienten sollten Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt werden, in
welchen ihre Intimität gewahrt bleibt.
 Es sollten alle (legalen) sexuellen Praktiken und Hilfsmittel in Betracht
gezogen werden. Zu beachten ist, dass dabei Grenzen, Achtung, Würde und
Gesundheit aller Beteiligten gewahrt werden.
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 Peergroup- Kontakte sollten speziell gefördert werden. Auch Beziehungen
sollten sensibel begleitet werden. Dies beinhaltet ebenso die Unterstützung
aller Formen (legalisierter) Partnerschaften.
 Die
Sozialpädagogen
sollten
auch
immer
ein
Auge
auf
die
Empfängnisverhütung haben und diese mit den Klienten thematisieren.
 Kinderwünsche
sollten
immer
ernst
genommen
werden.
Bei
Schwangerschaften steht das Wohl der Mutter als auch das Wohl des Kindes
im Vordergrund. Die Klientin sollte auch beim Aufbau von Stützstrukturen
begleitet werden. Auch bei dem Wunsch eines Schwangerschaftsabbruchs
soll dies akzeptiert werden und die Frau bei der Bewältigung der
Lebenssituation begleitet werden.
 Pädagogische
und
psychotherapeutische
Hilfen
sollten
Medikamenten
vorgezogen werden.
 Die Vorgangsweise beim Aufdecken von sexuellen Übergriffen sollte schon im
Vorhinein geklärt sein. Bei dem Prozess der Aufdeckung und Aufarbeitung
sollten die Klienten genauso unterstützt werden (bei Bedarf externe Fachkräfte
hinzuziehen).
6.2 Angebot der Sexualassistenz
Sexualassistenz ist ein Angebot aktiver sexueller Assistenz, das von einer
diesbezüglich ausgebildeten Person freiwillig und gegen Entgelt angeboten wird. Bei
Sexualassistenz sind Elemente passiver sexueller Assistenz ebenfalls möglich. Somit
kann Sexualassistenz von der Sexualberatung und –aufklärung, über Berührungen
und Masturbation bis hin zum Koitus alles beinhalten.
Das Angebot der Sexualassistenz soll eine Möglichkeit schaffen, Sexualität
selbstbestimmt zu leben. Der Zugang zum Angebot Sexualassistenz erfolgt
größtenteils über Institutionen, die auch die Ausbildung zur Sexualassistentin / zum
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Sexualassistenten anbieten. Diese Institutionen betreiben Plattformen im Internet, bei
denen das Angebot Sexualassistenz beschrieben wird und die anbietenden
Personen vorgestellt werden.
6.3 Möglichkeiten aktiver und passiver Sexualassistenz für Menschen mit
Behinderung
Bei den unterstützenden Maßnahmen wird allgemein zwischen passiver und aktiver
Sexualassistenz unterschieden. Während passive Hilfen es ermöglichen, konkrete
Voraussetzungen für die Verwirklichung einer selbstbestimmten Sexualität zu
schaffen, z.B. in Form von Sexualberatung, Informieren über Sexualpraktiken,
Besorgen von Hilfsmitteln bzw. Videos, Vermittlung von Prostituierten oder
Sexualbegleitern u.ä.; geht es bei den aktiven Hilfen um alle Formen der Assistenz,
bei denen Mitarbeitende aktiv in eine sexuelle Interaktion einbezogen sind, z.B.
durch erotische Massagen, Hilfestellungen bei der Selbstbefriedigung bzw. beim
Sexualkontakt. In Abgrenzung dazu ist nach Joachim Walter unter Sexualbegleitung
eine
aktive
Assistenz
zu
verstehen,
bei
welcher
die
Assistenzgeber/
Assistenzgeberinnen über pädagogische und pflegerische Kompetenzen als
Basisqualifikation verfügen. Zu diesen Basiskompetenzen sollten nach Walter
gehören: eine Reflexion der eigenen Sexualität; Kenntnisse über Hebetechniken
sowie
im
Umgang
mit
Spastik,
Lähmung
und
Inkontinenz
(pflegerische
Grundausbildung); Kenntnisse über unterschiedliche Formen von Behinderung und
den Umgang mit kognitiven und emotionalen Reaktionen, einschließlich der
Grundlagen einer klientenzentrierten Gesprächsführung (behindertenpädagogische
Grundlagen, Kenntnisse über die Sexualentwicklung, sexuelle Funktionsstörungen
sowie Möglichkeiten und Techniken unterstützter Sexualität (sexualtherapeutische
Grundlagen); juristisches Grundwissen sowie die Bereitschaft, unter Supervision die
eigenen Grenzen und Probleme in der professionellen Rolle der Sexualbegleitung zu
reflektieren.
Aufgrund
dieser
Basiskompetenzen
könne
Sexualbegleitung von Prostitution unterschieden werden.
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eine
professionelle
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7. Misshandlungen und Übergriffe bei Menschen mit Beeinträchtigung
Diese Problematik bezieht sich sowohl auf somatisch als auch auf kognitiv
beeinträchtigte Menschen. Da aber schwer intellektuell beeinträchtigte Menschen
und Menschen mit mehr als einer Körperbehinderung (z. B. Spastiker mit
Sprachstörung) oder Sinnesbeeinträchtigung (z. B. gehörlos und blind) es in diesem
Komplex noch schwerer haben, ist das Folgenende auf diese Gruppe der
Beeinträchtigten bezogen.
Erstes öffentliches Aufsehen dieser Problematik gab es in den 80ern. Die Diskussion
wurde vorwiegend von betroffenen Frauen initiiert. Dies ist zurückzuführen auf die
Einstellung der Umwelt damals, dass behinderte Menschen asexuell und unattraktiv
seien. So war es behinderten Menschen abgesprochen worden, sexuell missbraucht
zu werden. Es ist kaum Literatur darüber zu finden, in welcher die Verbreitung des
sexuellen Missbrauchs an Menschen mit Behinderung festgehalten wurde.
7.1 Signale
Um die Signale richtig interpretieren zu können, muss man immer aufmerksam das
Verhalten des Klienten erkennen. Dies ist erschwert dadurch, dass gewisse Signale
ebenso auf psychische Probleme zurückgeführt werden könnten. Die Signale von
beeinträchtigten Personen sind fast nicht zu unterscheiden zu denen Menschen ohne
Behinderung.
Hinweise auf sexuellen Missbrauch:
 Das Gefühl, dass man schmutzig, schlecht oder anders ist.
 Probleme im zwischenmenschlichen Bereich (schlecht neue Kontakte
knüpfen, große Isolation, weglaufen vor Problemen, sich abseits halten,
Konzentrationsprobleme,…)
 Hilflosigkeit,
Gefühl
der
Machtlosigkeit,
Minderwertigkeitsgefühle,
Schuldgefühle, negatives Selbstbild, Depression, Verwirrung,…
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 Auffällig beherrschtes Verhalten, Vermeidung von Gefühlsregungen und
Expressionen, von eigenen Gefühlen entfremdet sein,…
 Negatives Körpererleben, verkrampfte Körperhaltung, Berührungsängste, sich
unter Kleidung verstecken, sich nicht umziehen wollen,…
 Körperbeschwerden,
Essstörungen,
Müdigkeit,
Übelkeit,
Kopfschmerzen,
Erbrechen,
Bauchschmerzen,
Harnwegsinfektion,
Menstruationsschmerzen, Bettnässen, Blasenentzündungen,…
 Autoaggressives Verhalten, Suizidversuche, nichts fühlen- auch keine
Schmerzen, Zerstörungsdrang, Süchte,…
 Ängste, Phobien, Misstrauen, Panik, sich mit niemanden verbunden fühlen,
plötzliche und unerklärliche Verhaltensänderungen,…
 Probleme in den Bereichen Sexualität, Liebe, Zärtlichkeit, sexuell verwöhnt
oder ausweichend reagieren,…
8. Schluss
Im Buch „Was macht ihr Sohn denn da?“ von Ilse Achilles habe ich folgende
Geschichte von einer gelungenen, akzeptierten und funktionierenden Beziehung
zwischen zwei Menschen mit Behinderung gefunden:
„Zunächst ging es um eine von uns betreute Frau. Sie lebte in einem unserer
Wohnheime, konnte – wenn auch eingeschränkt – lesen, rechnen, schreiben. Sie
wollte, und wir befürworteten das, in eine Sozialwohnung ziehen. Mitte zwanzig
wurde sie schwanger von einem Mann, ebenfalls Mitte zwanzig, der bei uns in der
Tischlerei arbeitet und auch ähnlich geistig behindert ist. Sie hat uns von ihrer
Schwangerschaft nur sehr zögernd erzählt, weil sie fürchtete, dass wir auf eine
Abtreibung drängen würden. Das taten wir aber nicht. Wir setzten uns mit ihr und
ihrem Freund zusammen und beratschlagten: Was ist zu tun? Welche Möglichkeiten
gibt es? Wir waren der Überzeugung, dass die beiden es schaffen könnten. Das
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stimmte auch. Das Paar hat mittlerweile zwei Kinder – der Sohn ist jetzt viereinhalb,
die Tochter ein Jahr und zwei Monate – und kommt damit gut zurecht.“
Sexualität ist ein wichtiger Teil des Lebens, der alle Menschen betrifft und
beschäftigt. Wir wissen, dass früher viele Menschen mit Beeinträchtigung nichts über
Sexualität erfahren haben. Wir wissen, dass auch heute viele nichts über Sexualität
erfahren. Oft wird gesagt, dass für Menschen mit Behinderung Sexualität nicht
wichtig ist. Manche Menschen glauben, dass diese ihre Sexualität nur unkontrolliert
ausleben können.
Menschen mit Beeinträchtigung haben das Recht, dass sie erfahren, was Sexualität
bedeutet. Aber es verstehen nicht alle Menschen die gleiche Art von Information.
Deshalb muss Sexualität auf verschiedene Arten erklärt werden, damit sie für alle
verständlich ist. Menschen mit Behinderung haben das Recht auf Unterstützung,
damit sie ihre Sexualität so erleben können, wie sie das möchten.
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Literaturliste
2. Begriff Sexualität
Cathrin Ehlers: Sexualerziehung bei Jugendlichen mit körperlicher und geistiger
Behinderung, 2006
3. Zeitpunkt der Aufklärung
Ilse Achilles: „Was macht Ihr Sohn denn da?“ Geistige Behinderung und Sexualität,
1990
Bosch, Erich: Sexualität und Beziehungen bei Menschen mit einer geistigen
Behinderung. Ein Hand- und Arbeitsbuch. Tübingen 2006. Auflage2.
4. Die Entwicklung der Sexualität nichtbehinderter und behinderter Menschen
http://bidok.uibk.ac.at/library/treiber-menschenrechte.html#id3149551
http://bidok.uibk.ac.at/library/walter-sexualitaet.html
5. Standards der Verwirklichung sexueller Selbstbestimmung
Jerg, Jo/ Armbruster, Jürgen/ Walter, Albrecht (Hg.): Selbstbestimmung, Assistenz
und Teilhabe. Beiträge zur ethischen, politischen und pädagogischen Orientierung in
der Behindertenhilfe. Stuttgart 2005.
6. Sexualassistenz
www.viss.at/literatur.html?file=tl_files/viss/...sexualassistenz
Diplomarbeit Petra Grassel 2012 /5SPC
http://www.nicolai-vista.de/sozial/diplom_daebritz_sozpaed.pdf
7. Misshandlungen und Übergriffe bei Menschen mit Beeinträchtigung
Bosch, Erich: Sexualität und Beziehungen bei Menschen mit einer geistigen
Behinderung. Ein Hand- und Arbeitsbuch. Tübingen 2006. Auflage2.
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