Keine Resignation bei Pharmako resistenz

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Kongress Report Aktuell
Rationale Polytherapie der Epilepsie mit neuen Wirkmechanismen
Keine Resignation bei Pharmako­
resistenz
Etwa jeder dritte Epilepsiekranke gilt als „pharmakoresistent“, wobei
die Kriterien dafür bisher weitgehend Ermessenssache waren. Dieser
Interpretationsvielfalt ein Ende machen kann die neue Definition der
Internationalen Liga gegen Epilepsie (ILAE). Ziel der besseren Katego­
risierung des „Outcome“ ist die frühzeitige multidisziplinäre Evalua­
tion und Optimierung des therapeutischen Managements.
ochrechnungen der Daten verschiedener Verlaufsuntersuchungen lassen vermuten, dass in den Industrieländern etwa 1,125 Millionen Menschen
mit einer therapierefraktären Epilepsie
leben und jährlich 75 000 weitere dazukommen, umriss Prof. John Duncan*
vom UCL Institute of Neurology in London, Großbritannien, die Dimension des
Problems. Um die klinische und psychosoziale Situation der Betroffenen zu verbessern, bedürfe es ihrer frühzeitigen
Identifizierung und Überweisung in ein
Epilepsiezentrum (Abb. 1).
* Satellitensymposium „Drug-Resistant
Epilepsy: Defining the Problem. Seeking
the Solution“ beim 9th European Congress
on Epileptology. Rhodos, 27. Juni 2010 ** Satellitensymposium „Erfolgsfaktoren
für die Parkinson- und Epilepsietherapie“
bei der 2. Neurowoche am 22. September
2010 in Mannheim. Veranstalter: GlaxoSmithKline GmbH & Co. KG
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Ein wesentliches Hindernis für die von
Duncan angemahnte frühzeitige Identifizierung von pharmakorefraktären Epilepsiepatienten war für Prof. Alexis Arzimanoglou von der Universitätsklinik
Lyon, Frankreich, bisher die vieldeutige
Terminologie. Die Kriterien, nach denen
eine Epilepsie als „refraktär“, „resistent“
oder „unkontrolliert“ bezeichnet wurde,
waren bisher Ermessenssache. Dem ist
jetzt ein von der Internationalen Liga für
Epileptologie (ILAE) beauftragtes Expertengremium entgegengetreten [4]. Entwickelt wurde eine Definition, die sich
Prognose in einer über fünf Jahre nachverfolgten Kohorte mit fast 90%iger
Wahrscheinlichkeit von Anfallsfreiheit für
Patienten mit idiopathischen fokalen und
idiopathischen generalisierten Epilepsien,
gefolgt mit erheblichem Abstand von den
Patienten mit symptomatisch fokalen
(etwa 50%) und symptomatisch generalisierten Epilepsien (rund 25%) [1].
Außer der Schwere des Epilepsiesyndroms haben sich eine lange Krankheits-
Abbildung 1
Erstbehandelnder Arzt:
neu auftretende Epilepsie
Kaum Prädiktoren für
Therapieresponse
Die Vorhersage der Chancen, unter einer antikonvulsiven Medikation anfallsfrei zu werden und auch dauerhaft
zu bleiben, ist nach Aussage von Prof.
Ettore Beghi vom Istituto Mario Negri
in Mailand, Italien, bisher nur bedingt
möglich. Auch die Literatur gibt keine
zufriedenstellenden bzw. konsistenten
Antworten, weil es an der Einheitlichkeit der Kriterien fehlt.
Eine grobe Einschätzung des „Outcome“ lässt sich anhand des Epilepsie­
syndroms vornehmen. Am besten war die
Neue Definition beendet
die Begriffsverwirrung
Wiederholte
Anfälle (40%)
Epilepsiezentrum
– Diagnose per Video-EEG:
Epilepsie vs. keine Epilepsie
– Epilepsie-Klassifikation:
generalisiert vs. fokal
optimierte medizinische Behandlung
– Fokale Epilepsie:
Ätiologie (MRI Epilepsieprotokoll)
Operative Möglichkeiten (Risiko/Nutzen)
Medikamentös
nicht behandelbare
Epilepsie (20–30%)
1./2.
Antikonvulsivum
Keine
Epilepsie
Anfallsfrei (60%)
Überweisung
Frühe Operationen
Epilepsiezentrum
Präoperative Evaluation
Systematische medizinische Studien
Multidisziplinäre umfassende epileptische Betreuung
Mod. nach [5]
H
dauer und eine Vielzahl von frustranen
Therapieumstellungen als negativ prädiktiv erwiesen [2, 3].
Abb. 1: Abklärung einer therapierefraktären Epilepsie. Die meisten Patienten mit Anfällen
können effektiv nahe ihrem Wohnort betreut werden. Patienten mit weiterbestehenden
Anfällen sollten weitergehend abgeklärt werden, um die Diagnose zu bestätigen und
die zugrunde liegende Ursache bzw. das Epilepsiesyndrom zu bestätigen. Dies sichert die
beste medizinische Behandlung und die Auswahl von Patienten, die von einer epilepsiechirurgischen Intervention profitieren könnten. Patienten mit einer bestätigten Epilepsie,
die nicht auf eine Therapie der ersten Wahl ansprechen, könnten von einer langfristigen
Betreuung in einem umfassenden multidisziplinären Zentrum profitieren [5].
NeuroTransmitter _ 11.2010
NeuroTransletter
auf das Wesentliche beschränkt und sich
bei allen Formen der Epilepsie ungeachtet von Ätiologie, Krankheitsdauer, Anfallsfrequenz oder anderer Variablen im
klinischen Alltag anwenden lässt.
Gewissermaßen das Herzstück sind
für Arzimanoglou zwei Aussagen:
¦Remission = vollkommene Anfallsfreiheit über eine Zeitspanne von
minimal der dreifachen Dauer des
längsten interiktalen Intervalls oder
von mindestens zwölf Monaten.
¦Pharmakoresistenz = weiterbestehende Anfälle nach Versagen von
zwei „angemessen“ und „adäquat“
eingesetzten Antikonvulsiva in
Mono- oder Kombinationstherapie.
„Angemessener“ und „adäquater“
Einsatz von Antikonvulsiva
Die Bedeutung dieser zur Diskussion
gestellten „Outcome“-Kriterien unterstrich Arzimanoglou mit Zusatzinformationen zu einigen der Formulierungen:
¦„Vollkommene Anfallsfreiheit“ ist
das für alle Epilepsiepatienten wichtigste Therapieziel.
¦„Mindestens zwölf Monate“ bedeutet, dass sich vor Ablauf dieser Frist
der Therapieeffekt nicht beurteilen
lässt und ein zwischenzeitliches Anfallsrezidiv als „Therapieversagen“
gilt.
¦Die Beschränkung auf „zwei“ Therapieversuche basiert auf der wissenschaftlichen Datenlage und soll die
Überweisung zur fachepileptologischen Abklärung beschleunigen.
¦„Angemessen“ und „adäquat“ verlangt den Einsatz eines sinnvollen
Antikonvulsivums gemäß der Anfallsart in einer individuell ausreichend hohen Dosis über eine ausreichend lange Zeitspanne.
Erweist sich ein Patient gemäß dieser
neuen Definition als pharmakoresistent,
dann dürfe das wegen der Dynamik einer Epilepsie nicht als endgültig angesehen werden (siehe auch Infokasten),
betonte Arzimanoglou, sondern sei als
Aufforderung für eine multidisziplinäre
Evaluation und für eine auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmte Betreuung zu verstehen.
Warum unter vergleichbaren klinischen Voraussetzungen ein Patient gut
NeuroTransmitter _ 11.2010
Kaliumkanal-Aktivierung als neues antikonvulsives Wirkprinzip
Pharmakoresistenz ist ebenso wie Pharmakoresponse kein statischer, sondern ein dyna­
mischer Prozess. Auch nach vielen vergeblichen Therapieversuchen besteht noch immer
eine Chance auf Erfolg, wie zwei Arbeitsgruppen in Großbritannien und den USA unab­
hängig voneinander dokumentiert haben. 16 bzw. 14% ihrer langjährig refraktären Pati­
enten waren dank konsequenter Modifikationen der antikonvulsiven Regime schließlich
anfallsfrei geworden [2, 3]. „Nie einen Epilepsiepatienten aufgeben“, ist daher für Prof.
Holger Lerche**, Leiter der Abteilung für Neurologie mit Schwerpunkt Epileptologie
am Universitätsklinikum Tübingen, ein wichtiger Leitgedanke. Bevorzugt zum Einsatz
kommen sollten wegen der besseren Verträglichkeit „neuere“ Antikonvulsiva. Bei der
üblicherweise erforderlichen Kombinationstherapie sind einige Strategien sinnvoll:
— Nicht wirksame Antikonvulsiva wieder absetzen.
—Rechtzeitig erkennen, ab wann eine weitere Dosiserhöhung im individuellen Fall die
Wirksamkeit nicht mehr erhöht, sondern nur noch Nebenwirkungen produziert.
— Interaktionsmechanismen der zu kombinierenden Antikonvulsiva beachten.
—Obwohl es zur Wirksamkeit verschiedener Kombinationen kaum klinische Daten
gibt, erscheint es sinnvoll, Antikonvulsiva mit unterschiedlichen molekularen Targets
zu kombinieren.
Das Spektrum der potenziellen Kombinationspartner wird bald um eine Alternative
reicher sein. Mit Retigabin befindet sich derzeit eine Substanz im Zulassungsverfahren,
die sich in puncto Wirkmechanismus von allen anderen derzeit verfügbaren Antikon­
vulsiva unterscheidet. Wie Lerche skizzierte, aktiviere Retigabin eine bestimmte Gruppe
neuronaler Kaliumkanäle. Die Erhöhung der Kaliumleitfähigkeit sorge für einen mem­
branstabilisierenden Effekt, der die neuronale Feuerungsrate effektiv vermindere und
dadurch antikonvulsiv wirksam sei. In zwei u. a. in Europa und Amerika durchgeführten
Phase-III-Studien hat Retigabin inzwischen seine Wirksamkeit unter Beweis gestellt.
Über die Zulassung in Deutschland wird die Behörde voraussichtlich 2011 entscheiden.
und ein anderer gar nicht auf den angemessenen und adäquaten Einsatz des
gleichen Antikonvulsivums anspricht, ist
seit Langem Gegenstand intensiver Forschung. Gegenwärtig werden zwei Hypothesen präferiert: Die Target-Hypothese geht davon aus, dass eine genetisch
bedingte oder krankheitssassoziierte Modifikation die Sensitivität der Zielstrukturen für den pharmakodynamischen
Effekt der Antikonvulsiva vermindert.
Die Transporter-Hypothese postuliert, dass die Überexpression von Multidrug-Transporterproteinen an der BlutHirn-Schranke die Aufnahme von Antikonvulsiva ins Gehirn limitiert. Ob diese Mechanismen klinisch relevant sind
und ob sich daraus jemals therapeutische
Konsequenzen ableiten lassen, hält Prof.
Maria del Mar Carreño vom Epilepsiezentrum am Hospital Clinic in Barcelona, Spanien, für noch nicht absehbar.
Alternativen für pharmakoresistente
Patienten, wenn auch zum Teil noch
Zukunftsmusik, sind für del Mar Car­
reño zum einen nicht-pharmakologische
Verfahren wie vor allem die Epilepsiechirurgie, aber auch die Vagusnervstimu-
lation, tiefe Hirnstimulation, ketogene
Diät oder Immunstimulation und zum
anderen die Optimierung des medikamentösen Managements mit innovativen
Darreichungsformen oder neuen Wirkprinzipien. Aktuell in der Pipeline sind
Glutamat-Antagonisten, „Gap-Junction“-Blocker und, bereits im Zulassungsverfahren, der Kaliumkanal-Öffner
Retigabin (siehe Infokasten).
Literatur
1. S
chmidt D, Löscher W. Epilepsia 2005;46:858–877
2.Callaghan BC et al. Ann Neurol 2007;62:382–389
3.Luciano Al, Shorvon SD. Ann Neurol 2007;62:311–313
4. Kwan P et al. Epilepsia 2010;51:1069–1077
5.Schuele SU, Lueders HO. Lancet Neu­
rology 2008;7:514–524
Impressum
Kongress Report Aktuell Nr. 1425
Berichterstattung: Gabriele Kiel
Redaktion: Ingo Schroeder
Layout/Herstellung: Maren Krapp
Leitung Corporate Publishing München:
Dr. Ulrike Fortmüller (verantwortlich)
Springer Medizin
©Urban & Vogel GmbH, München, November 2010
Mit freundlicher Unterstützung der
GlaxoSmithKline GmbH & Co. KG, München
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