Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung

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Gisela Steins (Hrsg.)
Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung
Gisela Steins (Hrsg.)
Handbuch
Psychologie
und Geschlechterforschung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
1. Auflage 2010
Alle Rechte vorbehalten
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
Lektorat: Kea S. Brahms
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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg
Umschlaggrafik: Alexandra Gerdemann
Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in the Netherlands
ISBN 978-3-531-16391-8
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Einführung in „Psychologie und Geschlechterforschung“
Gisela Steins
9
11
(Historische Anfänge der Geschlechterforschung, theoretisches Spannungsfeld, Auswahl der
Beiträge, Inhalt und Gebrauch des Buches)
Teil I
Mädchen und Jungen, Frauen und Männer: Unterschiede versus
Gemeinsamkeiten – Grundlagen
2. Sozialpsychologie
Sozialpsychologie und Geschlecht: Die Entstehung von Geschlechtsunterschieden
aus der Sicht der Selbstpsychologie
Bettina Hannover
27
(Konstruktion von Geschlecht im sozialen Kontext, Geschlechtsrollenstereotype, Salienz von
Geschlecht)
3. Emotionspsychologie
Emotionen der Geschlechter: Ein fühlbarer Unterschied?
Ljubica Lozo
43
(Rationaler Mann – emotionale Frau? – Das Erleben von Emotionen, Ausdruck von Emotionen)
4. Motivationspsychologie
Gendering motivation: Geschlechterdifferenz im Wechselspiel von Nature und
Nurture
Marlies Pinnow
55
(Motiv nach Anschluss und Intimität, Leistungs- und Machtmotiv, Epigenetik,
Anpassungsprozesse)
5. Neuropsychologie
Kognitive Geschlechtsunterschiede
Marco Hirnstein und Markus Hausmann
(Geschlechtsunterschiede in verschiedenen kognitiven Fähigkeiten: Existenz, Erklärung,
Konsequenzen für die Gesellschaft)
69
6
Inhaltsverzeichnis
6. Kognitive Neurowissenschaften
Gehirn zwischen Sex und Gender – Frauen und Männer aus neurowissenschaftlicher
Perspektive
Kirsten Jordan
87
(Biologische Determiniertheit von Geschlechterdifferenzen, Rolle der sozialen und
Umweltfaktoren, Sexualhormone und Gehirn während der perinatalen Phase, hirnanatomische
Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen erwachsenen Frauen und Männern)
7. Allgemeine Psychologie I
Sollten geschlechtsspezifische Unterschiede in der Allgemeinen Psychologie
berücksichtigt werden?
Hilde Haider & Ewelina D. Malberg
105
(Menschliche Informationsverarbeitungsprozesse, Gedächtnis und Männer und Frauen, Bezug
zur neurophysiologischen Forschung)
Teil II
Mädchen und Jungen, Frauen und Männer: Entwicklungsverläufe
8. Entwicklungspsychologie
Körper und Geschlecht im Jugendalter: Schlaglichter auf eine Entwicklungsaufgabe
für beide Geschlechter
Annette Boeger
133
(Entwicklung des Körperbildes, weibliche und männliche Vorstellungen vom Körper,
Körperbild im Jugendalter)
9. Entwicklungspsychologie, Kulturwissenschaften, Biopsychologie
Evolutionäre Grundlagen geschlechtstypischen Verhaltens
Doris Bischof-Köhler
153
(Anlagebedingte Grundlage von Verhalten, Zusammenspiel von anlagebedingten Neigungen
und soziokulturellen Einflüssen)
Teil III
Mädchen und Jungen, Frauen und Männer: Ein Blick in verschiedene
Lebenswelten?
10. Pädagogische Psychologie
Pädagogische Psychologie und Geschlechterforschung
Barbara Moschner
175
(Jungen als Verlierer des Bildungssystems? – Mädchen als Verliererinnen des
Bildungssystems?)
11. Gesundheitspsychologie
Genderforschung in der Gesundheitspsychologie
Monika Sieverding
(Sind Frauen kränker als Männer? Was macht Frauen krank? Warum sterben Männer früher?
Geschlechtsunterschiede in Morbidität und Mortalität)
189
Inhaltsverzeichnis
12. Verkehrspsychologie
Verkehrspsychologische Gender-Forschung
Maria Limbourg und Karl Reiter
7
203
(Verhalten sich Männer riskanter im Straßenverkehr als Frauen? Statistiken zu Unfallhäufigkeit,
Todesfolge im Straßenverkehr, Erklärungsmodelle)
13. Medienpsychologie
Gender und Games – Medienpsychologische Gender-Forschung am Beispiel
Video- und Computerspiele
Sabine Trepte und Leonard Reinecke
229
(Was spielen Mädchen am Computer und was Jungen? Nutzung des Computers aus
Gednerperspektive, Erklärungsmodelle)
14. Forensische Psychologie
Die Analyse anonymer Schreiben unter Berücksichtigung von Gender-Aspekten
Henriette Haas
249
(Geschlecht als ein Merkmal der Urheberschaft eines anonymen Textes, Sprachanalyse,
Profiling)
15. Sportsoziologie
Hat Führung ein Geschlecht? – Karrieren und Barrieren in ehrenamtlichen
Entscheidungsgremien des organisierten Sports
Sabine Radtke
271
(Geschlechterverteilung in ehrenamtlichen Führungspositionen des Sports, Ursachenanalyse,
Entwicklung von Maßnahmen zur Erhöhung des Frauenanteils in den Führungspositionen von
Sportverbänden)
16. Politische Psychologie
Frau sein – eine Herausforderung? – Gender Mainstream und Politische Psychologie
Petia Genkova
289
(Geschlechterrollen und Geschlechtervorurteile, Geschlechterstereotypen, besondere
Berücksichtigung von Wohlbefindenskonzepten)
Teil IV
Das Fach Psychologie aus einer Genderperspektive: Kritik und Reflexion
17. Friedenspsychologie
Krieg und Frieden – feministische Perspektiven der Friedenspsychologie
Miriam Schroer
(Verankerung der Kategorie Geschlecht im friedenspsychologischen Gegenstandsbereich,
Eckpunkte für die Erforschung von Krieg und Frieden, Darstellung zentraler Diskussionslinien
feministischer Friedenspsychologie)
305
8
Inhaltsverzeichnis
18. Arbeits- und Organisationspsychologie
Von „Frauen in Führungspositionen“ zu „doing gender at work“?
Konzeptionalisierungen von Geschlecht in der deutschsprachigen Arbeits- und
Organisationspsychologie
Julia C. Nentwich & Martina Stangel-Meseke
327
(Wie Geschlecht als Untersuchungskategorie in einzelne Forschungsarbeiten der
deutschsprachigen Arbeits- und Organisationspsychologie Eingang gefunden hat)
19. Differentielle Psychologie
Geschlecht und Gender in (einer Kritik) der Differentiellen Psychologie
Katharina Rothe
351
(Skizzierung klassischer differentialpsychologischer Ansätze, Psychoanalyse als Theorie und
Methode zur Lösung von konzeptuellen Problemen der Genderforschung psychoanalytisch
orientierte Geschlechterforschung)
20. Kritische Psychologie
Dark Continent. Über das Unbewusste von Sexismus und Rassismus
Martina Tißberger
371
(Gender als ein Merkmal der Differenz zwischen Subjekten Verschränkung mit anderen
Merkmalen: Ethnizität, Klasse oder ‚Rasse’, Analyse am Beispiel der Psychoanalyse)
21. Überdisziplinäre Reflexion
Die Beteiligung von Frauen an der Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie –
ein historischer Rückblick
Elfriede Billmann-Mahecha
395
(Akteurinnen der wissenschaftlichen Psychologie, aktuelle Lage von Frauen in den
Wissenschaften in Deutschland, Frauen seit der Etablierung der Psychologie als eigenständige
Disziplin, inhaltlicher Beitrag von Frauen zur Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie)
22. Nicht sexistischer Sprachgebrauch
Nicht sexistischer Sprachgebrauch: die stochastische Genuswahl
Norbert Nothbaum & Gisela Steins
409
(Möglichkeiten des Sprachgebrauchs in Hinblick auf die Wahl des Genus, Die stochastische
Geschlechterwahl)
Ausblick
417
Literaturempfehlungen
419
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
421
Vorwort
Obwohl sowohl Frauen als auch Männer der Spezies Mensch angehören und sich im Vergleich zu einer beliebigen anderen Spezies mehr ähneln als unterscheiden, entzünden Spekulationen, Beobachtungen und Erfahrungen über und mit Männern und Frauen immer
wieder die menschliche Phantasie dahingehend, dass Frauen und Männer als verschiedenartige Individuen wahrgenommen werden. Die Psychologie als Wissenschaft hat interessante Erkenntnisse aus den unterschiedlichsten Disziplinen zu dieser Frage und damit zusammenhängenden Themen zusammengetragen. Das Ziel dieses Bandes ist es, diese Erkenntnisse vorzustellen. Herausgekommen sind vielschichtige Ergebnisse. Erstens zeigt sich der
Facettenreichtum der Psychologie als Wissenschaft und wie phantasievoll und sorgfältig
methodisches Wissen zur Erforschung der Geschlechter eingesetzt wird. Allein die in diesem Band versammelte Methodenvielfalt ist die Lektüre wert. Zweitens wird deutlich, wie
komplex Geschlechterforschung betrieben werden muss, damit sie zu wirklich überzeugenden Ergebnissen führen kann. Drittens wird ersichtlich, wie außerordentlich nützlich die
psychologische Geschlechterforschung ist, denn mit ihr wird der Blick auf die Menschen
differenzierter, Risikogruppen können erkannt und besonders behandelt werden, komplexe
Phänomene werden verständlich, Lösungen für Probleme können generiert werden. Ich bin
sicher, dass die Leserinnen und Leser des Bandes von der Lektüre profitieren werden und
sich ihr Blick auf menschliches Erleben und Verhalten differenzieren und schärfen wird.
An einem solchen Band wirken viele Hände mit. Ich danke vor allem unserer Lektorin
Kea Brahms für ihre wertvolle Anregung und Unterstützung und den hier versammelten
Autorinnen und Autoren für ihre interessanten Beiträge und professionelle Kooperation.
Den Leserinnen und Lesern wünsche ich nicht nur viel Vergnügen bei der Lektüre,
sondern vor allem viele Anregungen und Erkenntnisse.
Herbst 2009
Gisela Steins
1. Einführung in „Psychologie und
Geschlechterforschung“
Gisela Steins
Psychologie ist die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten des Menschen. Aus einer Vielzahl von Perspektiven, die sich als Fachdisziplinen entwickelt haben, werden die Erlebensund Verhaltensausschnitte eines Individuums beschrieben, untersucht und erklärt. Obwohl
die Psychologie eine vergleichsweise junge Wissenschaft ist, hat sie besonders in den westlichen Gesellschaften einen starken Einfluss auf das Fühlen, Denken und Verhalten der Menschen ausgeübt. Ihren Erkenntnissen ist es zu verdanken, dass in vielen Lebensbereichen
Menschen eine Sprache und ein Bewusstsein für psychologische Zustände zur Hand haben.
Die Psychologie gilt als eine Disziplin, in der eine Vielzahl von Phänomenen untersucht
wird, die relevant für menschliches Erleben und Verhalten sind.
Die Geschlechterforschung ist durch politische und geisteswissenschaftliche Einflüsse
der letzten fünfzig Jahre ein relevantes Forschungsgebiet in der Psychologie geworden. Es
ist jedoch unklar, ob Geschlechterforschung in der Psychologie ein eigenständiges Forschungsgebiet darstellen kann. In Lehrwerken zur Geschichte und Systematik der Psychologie spielt sie keine Rolle. Da es bei der Geschlechterforschung nicht um eine übergeordnete Sichtweise geht, sondern um die Betrachtung eines grundlegenden Phänomens aus vielen
unterschiedlichen Perspektiven, ist auch nicht zu erwarten, dass sich das Gebiet in einer
nennenswerten Anzahl von Professuren für Psychologie und Geschlechterforschung institutionalisieren wird. Psychologie wird nach wie vor weitgehend durch ihre Disziplinen strukturiert, nicht durch ihre spezifischen Forschungsgegenstände.
Es gibt einige substanzielle Handbücher zur Geschlechterforschung. Es ist jedoch ausgesprochen selten, dass in ihnen die Perspektive einer psychologischen Disziplin zu Wort
kommt, die zur aktuellen Systematik der Psychologie gehört. Kommen in diesen Handbüchern Psychologen und Psychologinnen zu Wort, vertreten sie wahrscheinlich eine psychoanalytische Perspektive (zum Beispiel in Löw & Mathes, 2005 oder in Becker & Kortendiek,
2008). Eine in der allgemeinen Geschlechterforschung sehr bekannte Psychologin ist Carol
Gilligan, eine Schülerin des psychoanalytisch orientierten Entwicklungspsychologen Erik
Erickson und Lawrence Kohlbergs. Sie bildet jedoch eine Ausnahme.
Aus allen deutschsprachigen Handbüchern zur Geschlechterforschung geht hervor,
dass Geschlechterforschung zum großen Teil immer noch von den beiden historischen Anfängen bestimmt wird, nämlich der feministischen Frauenforschung und der sozialkonstruktivistischen Perspektive. Diese beiden Metaperspektiven bedingen, dass in der Geschlechterforschung interdisziplinär gearbeitet wird. Deswegen tummeln sich unter dem
Dach dieser Handbücher sehr viele unterschiedliche Sichtweisen, die durch diese beiden
G. Steins (Hrsg.), Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung DOI 10.1007/978-3-531-92180-8_1,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
12
Gisela Steins
Metatheorien vereinigt werden. Interessant ist, dass die Perspektiven in der Regel aus den
geisteswissenschaftlichen, kultur- und sprachwissenschaftlichen Disziplinen kommen, allen
voran die Soziologie. Deutlich unterrepräsentiert, wenn überhaupt vorhanden, sind Auseinandersetzungen aus naturwissenschaftlicher Sicht.
Die Psychologie als ein Zwitterwesen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften vereinigt als Fach extrem unterschiedliche Perspektiven auf die Bedeutung der Variable „Geschlecht“ als Kategorie. Das Ziel dieses Buches ist es, diese unterschiedlichen Ansätze darzustellen und auch den Menschen bekannt zu machen, die sich hier nicht als Experten und
Expertinnen fühlen. Außerdem hoffen wir, dass Fragen aufgeworfen werden, die wiederum
die disziplinübergreifende Geschlechterforschung anregen können. Ich werde zunächst den
historischen Hintergrund der Geschlechterforschung skizzieren. Danach gehe ich auf das
theoretische Spannungsfeld ein, in welchem sich die Beiträge in diesem Band bewegen werden. Zum Schluss gebe ich einen kurzen Überblick über die Inhalte des Buches.
Historischer Hintergrund der Geschlechterforschung
Zwei Metaperspektiven haben entscheidend zur Geschlechterforschung, speziell auch in der
Psychologie, beigetragen, nämlich die feministische Perspektive und der soziale Konstruktivismus.
Die feministische Perspektive
Die feministische Position an sich gibt es nicht. Wie bei jeder Metaperspektive lassen sich
auch hier radikalere von relativierenden Sichtweisen unterscheiden. Im Kern beinhalten alle
feministischen Sichtweisen die kritische Reflexion der Gesellschaft, also auch wissenschaftliche Erkenntnisse, aus der Perspektive herrschender Machtverhältnisse. Aus dieser Perspektive wurden in den Siebzigern Methoden und Einstellungen aufgedeckt, die das Vorgehen
vieler Forscher als androzentrisch bezeichneten. Innerhalb der sich so entwickelnden, feministischen Psychologie wurden sowohl die personelle Besetzung der Forschungslandschaft
als auch ihre Arbeitsbedingungen kritisch analysiert. Wie auch in anderen Fachkulturen
wurde auf die geringe Präsenz von Frauen in der Forschung und die geringe Rezeption der
wissenschaftlichen Beiträge von Frauen hingewiesen. Das Ergebnis dieser Analyse ist nach
wie vor aktuell. Auch heute wird viel diskutiert über die (Unter)Repräsentation von Frauen
in prestigeträchtigen Berufen. Der psychologische Erkenntnisbestand und die Methoden der
Erkenntnisgewinnung waren ebenfalls ein aktuelles Thema, das aus feministischer Sicht
lebhaft kritisiert wurde. Der Mensch als Objekt, erfasst durch objektivierende, quantitative
Methoden wurde kritisch dem Menschen als Subjekt mit einer eigenständigen, individuellen
Perspektive gegenüber gestellt. Betrachtet man aus heutiger Sicht diese Debatte, entsteht der
Eindruck, das es eine „männliche“ und eine „weibliche“ Psychologie gab, die auf den ersten
Blick fast klischeehaft anmutet. Hinter dieser Debatte verbirgt sich eine methodische Diskussion, bei der immer noch nicht ein breiter Konsens gefunden wurde.
Psychologie wurde auch deswegen als androzentrisch beschrieben, weil viele Forschungserkenntnisse ausschließlich durch die Datengewinnung bei männlichen Ver-
1. Einführung in „Psychologie und Geschlechterforschung“
13
suchsteilnehmern gewonnen wurden. Da liegt die Frage nahe, ob solche Ergebnisse valide
und generalisierbar sind. In der kritischen Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen
Psychologie wurden verschiedene Forderungen laut, so zum Beispiel nach Methoden, die
der Subjektivität des Individuums mehr gerecht werden, nach einem konstruktivistischen
Zugang zur Wissensgenerierung und nach einer feministischen Erkenntnislehre. Durch alle
diese Forderungen wurden traditionelle Forschungsrichtungen differenziert.
Für eine Person, welche nicht die Entwicklungen der Geschlechterforschung hautnah
verfolgt hat, sieht die feministisch beeinflusste Sprache der Geschlechterforschung aus wie
ein komplizierter Fachjargon. Erschwerend kommt hinzu, dass die Bedeutung der verwendeten Begriffe auch zeitlichen Wandlungen unterliegt, viel schnelleren Wandlungen, als es
durchschnittlich in anderen Forschungsfeldern der Fall ist. Einige wichtige Begriffe werden
hier kurz vorgestellt. Aus der Bedeutung der Begriffe geht hervor, dass feministische Geschlechterforschung mit politischen Haltungen verwoben ist und politische Handlungen
aus ihr abgeleitet worden sind, die beispielsweise aus der öffentlichen Stellenpolitik nicht
mehr wegzudenken sind.
Die seit den 1980ziger Jahren getroffene Unterscheidung zwischen Sex und Gender ist
die bekannteste Begriffsbildung in der feministischen Geschlechterforschung. Man kann
diese Unterscheidung inhaltlich bereits bei de Beauvoir nachlesen (1951). Zunächst verwies
Sex auf das biologische Geschlecht einer Person, Gender bezog sich auf die sozialen Folgen
des biologischen Geschlechts. Ein Mensch wird als Mädchen oder Junge geboren und das
biologische Geschlecht hat systematische Konsequenzen für die Gestaltung der individuellen Biographie. Mittlerweile wird diese Trennung jedoch als verzerrend kritisiert und vorgeschlagen, verschiedene beeinflussende Faktoren als zusammen auftretend aufzufassen,
denn auch die Definition des biologischen Geschlechts wird durch soziale, kulturelle und
historische Faktoren determiniert. Nach dieser kritischen Perspektive bedeutet Gender ein
gewandeltes Verständnis von Geschlecht. Die Inhalte dieses Verständnisses unterliegen
wiederum einer Vielzahl von Einflüssen. Durch doing gender verinnerlicht jeder Mensch vor
seinem zeithistorischen Hintergrund diese Inhalte und trägt so zum Transport des jeweiligen Verständnisses von Geschlecht in die Alltagswelt bei.
Die Beschäftigung mit Gender nennt sich Gender Perspektive. Beide Geschlechter werden betrachtet und in ihrer Differenz zueinander wahrgenommen. Aus dieser Perspektive
ergaben und ergeben sich bestimmte Forderungen, die mit bestimmten Begriffen transportiert werden. Gender Mainstreaming bedeutet die Herstellung von Chancengleichheit für
beide Geschlechter. Eine Voraussetzung für das Gelingen von Gender Mainstreaming ist die
Fähigkeit von Menschen Gender-Aspekte zu erkennen und zu berücksichtigen, also GenderKompetenz zu besitzen. Ein Anwendungsaspekt von Gender Mainstreaming ist z.B. das
Gender Budgeting, welches eine geschlechtergerechte Budgetierung des öffentlichen Haushalts anstrebt.
Sozialer Konstruktivismus
Der soziale Konstruktivismus als zweite Metatheorie spielt nicht nur für die wissenschaftliche Theoriebildung in der Psychologie eine Rolle, sondern ist eine Metatheorie, die eine kritische Instanz für Naturwissenschaften und andere Disziplinen geworden ist (Berger & Luck-
14
Gisela Steins
mann, 1998; Gergen & Davis, 1997). Diese „postmoderne“ Denkschule stellt in ihrem radikalen Ansatz die von uns als real empfundene Wirklichkeit in Frage. Sie postuliert, dass bereits
unsere Wahrnehmung auf sozialen Konventionen beruht und unentwegten Täuschungen
ausgesetzt ist. Durch unseren kulturellen, wirtschaftlichen, historischen, sozialen, gesellschaftlichen und politischen Kontext werden unsere Wahrnehmungen geleitet, so dass wir
die Wirklichkeit, wie sie ist, nicht erkennen können. Radikale Vertreter-/innen behaupten,
dass es grundsätzlich keine Wirklichkeit gibt, da diese immer konstruiert ist. Auch Wissenschaftler-/innen unterliegen in ihrer Forschungstätigkeit diesen Prozessen. Wissenschaftliche
Theorien sind nach dieser Auffassung deswegen einflussreich und langlebig, weil die Vertreter-/innen dieser Theorien ein gutes Verhandlungsgeschick besitzen und ihre wissenschaftliche Gemeinde von der Güte der Theorie überzeugen können. Theorien sind also nicht wegen
ihrer wahren Aussagen einflussreich, sondern weil bestimmte Gruppendynamiken angestoßen werden, die durch Machtverhältnisse beeinflusst werden. Ändern sich der Zeitgeist oder
die ökonomischen Verhältnisse einer Gesellschaft, dann werden andere Theorien und andere
Konventionen aktuell. Unser ganzes Leben beruht auf impliziten Normen eines stillschweigenden Einverständnisses, die gesellschaftlichen Konventionen zu akzeptieren und zu leben.
Man kann sich letztendlich nur selber immer wieder kritisch reflektieren, um zu sehen, in
welchem Kontext man zu bestimmten Erkenntnissen kommt. Die Entstehung dieser Erkenntnisse ist jedoch nie kontextfrei, auch nicht die Kritik der Erkenntnisse.
Es ist evident, dass der soziale Konstruktivismus gerade zur Geschlechterforschung
kritische Anregungen gab und gibt. Die hier beschriebenen zentralen Annahmen für das
Thema Geschlecht bedeuten, dass auch Geschlechtsidentität als eine konstruierte Entität zu
verstehen ist. Menschen werden zwar mit einem biologischen Geschlecht geboren, jedoch
erwerben sie durch historische, kulturelle und soziale Einflüsse ein soziales Geschlecht,
welches lebenslange Folgen hat. Das soziale Geschlecht enthält von einer Gesellschaft entwickelte tradierte soziale Konventionen, denen das Individuum während der primären und
sekundären Sozialisation ausgesetzt wird, die es internalisiert und befolgt. Sozialer Konstruktivismus beschäftigt sich nicht mit den biologischen Gegebenheiten des Individuums,
sondern stellt die sozialen Prozesse in den Vordergrund, die das Erleben und Verhalten des
Menschen formen. In diesem Sinne stellt der soziale Konstruktivismus ein soziales und
kulturelles Paradigma dar.
Sozialer Konstruktivismus ist keine primäre psychologische Theorie, sondern hat seine
Wurzeln vor allem in der Soziologie, wurde von der Philosophie aufgegriffen und ist in die
anderen Disziplinen gewandert. Historisch spielt er eine große Rolle für die Entwicklung
der Geschlechterforschung, auch in der Psychologie. Befruchtet hat er auch die feministische
Theorienbildung, für die der Gedanke der sozialen Konstruktion der herrschenden Machtverhältnisse entscheidend ist. Beeinflusst haben beide Richtungen – genau wie in anderen
Disziplinen – die Wissensgenerierung in der Psychologie. In Bezug auf Geschlechterforschung wurde das bisherige Wissen der Psychologie vermehrt unter genderbezogenen Aspekten in Frage gestellt und als gesichert befundene Ergebnisse wurden unter dem Aspekt
des Geschlechts zu differenzieren versucht.
Im Folgenden wird das theoretische Spannungsfeld in der Psychologie, abseits von
disziplinübergreifenden Metatheorien, beleuchtet. Hier finden wir genuin psychologische
Annahmen über die Ursachen differenzieller Erlebens- und Verhaltensmuster.
1. Einführung in „Psychologie und Geschlechterforschung“
15
Das theoretische Spannungsfeld
Erworben oder angeboren? Anlage oder Umwelt? Diese beiden Pole bilden zweifellos die
beiden Extreme des Spannungsfeldes, in dem sich psychologische Erklärungsansätze zu
unterschiedlichen Phänomenen bewegen. Auch Theorien zu Geschlechterunterschieden befinden sich üblicherweise in diesem Spannungsfeld. Im Folgenden wird ein Überblick über
die gängigsten theoretischen Ansätze in Hinblick auf die Geschlechterforschung in der Psychologie gegeben. Dabei beziehe ich mich wesentlich auf die von Stainton Rogers und Stainton Rogers (2001) präsentierte Landschaft von Paradigmen zur Erforschung der Variable
Geschlecht.
Biologische Paradigmen
Innerhalb dieses Paradigmas wird davon ausgegangen, dass biologische Prozesse und Gegebenheiten einen systematischen Effekt auf das menschliche Verhalten und Erleben ausüben. Innerhalb der Geschlechterforschung versucht man geschlechtsspezifische Unterschiede durch die systematische Betrachtung biologischer Unterschiede zu beschreiben und
zu erklären. Dabei kann sich das Augenmerk auf unterschiedliche Aspekte der biologischen
Grundlagen richten, so auf
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
evolutionäre Prozesse, welche den Menschen als Spezies betreffen und universelle
Prozesse betreffen sollten,
die Ebene der Gene, welche die genetische Basis eines Individuums ausmachen wie
sein Geschlecht und als unveränderlich angesehen werden,
physiologische Prozesse, insbesondere biochemische Prozesse wie das Zusammenspiel
der Hormone, welche Effekte auf das menschliche Erleben und Verhalten haben und
morphologische Gegebenheiten, also unterschiedliche Körperbeschaffenheiten, wie
beispielsweise die differenzielle Ausbildung von Geschlechtsmerkmalen oder Gehirnstrukturen.
Ein biologisches Paradigma, das die psychologische Geschlechterforschung besonders stark
beeinflußt hat, wurde in den sechziger Jahren von Dawkins geprägt (Dawkins, 1989). In
seinen Ausführungen entwirft Dawkins ein soziobiologisches Modell der Geschlechter. Er
beginnt mit der Prämisse, dass jedes Individuum das Ziel verfolgt, seinen individuellen
Genpool zu maximieren. Gesteuert wird das Individuum unbewusst von seinem egoistischen Gen, welches nur dieses eine Ziel kennt – unabhängig von jeder Moral und anderen
sozialen Konventionen. Daraus ergeben sich unterschiedliche Verhaltensweisen für Frauen
und Männer in Bezug auf Methoden der Partnerwahl, des Verhaltens den eigenen Kindern
und Eltern sowie dem Partner gegenüber. Da Männer sehr viel mehr Nachwuchs produzieren können als Frauen und dabei weniger als Frauen bei der Entstehung des Nachwuchses
investieren müssen, liegt es im Sinne des egoistischen Gens nahe, dass Männer weniger als
Frauen zu monogamem Verhalten neigen. Für beide Geschlechter lohnt es sich, vor der
Zeugung des Nachwuchses sicher zu gehen, dass der jeweils andere Partner treu ist. Frauen
legen hierbei großen Wert auf die emotionale Treue des Partners, da sie ihn als Versorger
16
Gisela Steins
sehen. Männer legen besonderen Wert auf die sexuelle Treue der Frau, da sie keinen fremden Nachwuchs unterstützen wollen.
Aus dem Blickwinkel der soziobiologischen Forschung wurde eine Vielzahl unterstützender Beobachtungen zusammengetragen. So kann universell beobachtet werden, dass die
meisten Frauen einen älteren Partner bevorzugen, der sich schon als erfolgreich hervor getan hat. Das umgekehrte Muster ist eher seltener zu beobachten. Auch wird darauf hingewiesen, dass Männer sexuelle Treue höher schätzen als Frauen und umgekehrt Frauen emotionale Treue wichtiger finden. Dennoch war auch schon Dawkins klar, dass man mit dieser
Theorie nur eine begrenzte Auswahl von Verhaltensweisen, auch geschlechtsspezifischer
Verhaltensweisen, erklären kann. Deswegen führte er schon in seiner ersten Publikation die
Variable der Meme ein. Meme sind von der Gesellschaft tradierte Skripte, Regeln, Ideen,
welche unser egoistisches Gen überlagern können. Die Memetik, die vor allem in der Philosophie elaboriert wurde (Blackmore, 1999; Dennett, 1995), hat jedoch in der Psychologie
bislang nicht eine auffallend starke Rezeption erhalten. In der Psychologie wird in der Regel
auf den biologischen Teil von Dawkins ursprünglicher Theorie Bezug genommen. Auch ist
es dieser Teil von Dawkins Theorie, der in der psychologischen Populärwissenschaft eine
besonders starke Resonanz gefunden hat.
Soziale und kulturelle Paradigmen
Ein zentraler Prozess sozialer und kultureller Paradigmen ist die Internalisierung von Normen und Werten. Wie ein Individuum dazu kommt, die Normen und Werte seiner Bezugsgruppe zu verinnerlichen und sich danach zu verhalten, kann auf unterschiedlichen Ebenen
der Betrachtung beschrieben werden. Aus anthropologischer Sicht spielt die Kultur eine
entscheidende Rolle, die durch geschlechtsspezifische Riten und Regeln den Geschlechtern
differenzielle Wege vorgibt. Die wirtschaftlichen Lebenszusammenhänge gewinnen aus
soziologischer Sicht an Bedeutung. Die Kernfamilie mit ihren streng aufgeteilten Funktionen
des männlichen Geldverdieners und der weiblichen Versorgerin stellt eine Kernthese der
marxistischen Theorie dar, die in der Soziologie fest verankert ist.
Aus psychologischer Sicht findet Internalisierung im Prozess der Sozialisation statt.
Kinder erwerben durch die Agenten der Sozialisation (Familie, Schule, andere relevante
Bezugspersonen und Bezugsgruppen) das Wissen über die Normen, Werte und Regeln,
nach denen sie sich formen, denken, fühlen und verhalten sollen und sozialisieren sich aufgrund eines allgemein menschlichen Bedürfnisses nach Zugehörigkeit dann selber.
Eine einflussreiche Theorie in der Psychologie stellt die sozial-kognitive Theorie Banduras dar (Bandura, 1986). Bandura brach mit dem positivistischen Paradigma des Behaviorismus und stellte innere Lernvorgänge in den Mittelpunkt des Interesses, nämlich das Lernen durch Beobachtung, insbesondere durch die Beobachtung von Modellen. Durch das
Beobachten der erwachsenen Bezugspersonen lernen Kinder deren Verhaltensrepertoire
kennen und üben es durch ihre Spiele ein. Da sich Kinder besonders stark mit Modellen des
gleichen Geschlechts identifizieren, betrachten sie auch eher geschlechtsgleiche Bezugspersonen als Modell und trachten danach, das als geschlechtsangemessen identifizierte Verhalten zu zeigen. Sie werden auch von ihrer Umwelt für diese „richtigen“ geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen verstärkt.
1. Einführung in „Psychologie und Geschlechterforschung“
17
Auch für diese Erklärung sind zahlreiche bestätigende Befunde zusammengetragen
worden. Beobachtungsstudien zeigen, dass Mädchen stärker als Jungen von ihren Müttern
zu Dialogen aufgefordert werden, in denen sie über Emotionen reden. In der Sohn-VaterInteraktion können dreimal so häufig wie in der Vater-Tochter-Interaktion wilde und ausgelassene Interaktionen berichtet werden. Mädchen werden behüteter als Jungen erzogen und
erfahren so mehr Kontrolle über den Internalisierungsprozess. Jungen können früher und
ausgeprägter explorieren als Mädchen, erfahren aber durch häufig geringere Kontrolle weniger Internalisierungsdruck. Auch zeigt ein Blick in die Spielwelten von Jungen und Mädchen, dass sie von ihren Eltern ermuntert werden, geschlechtsspezifische Spiele zu spielen
und diese dann bereits im Kindergartenalter auch selber einfordern (siehe für einen Überblick Maccoby, 2000 und Steins, 2008).
Interaktionistische Paradigmen
Interaktionistische Paradigmen durchziehen die Geschichte der Psychologie und alle ihre
Disziplinen. Es gibt immer wieder Versuche, sowohl biologische als auch soziale Einflüsse
in Wechselwirkung miteinander in ein konsistentes Beschreibungs- und Erklärungsmodell
zu überführen. Bekannte Versuche stellen Piagets kognitive Entwicklungstheorie und
Freuds Psychoanalyse dar. Interaktionistischen Paradigmen liegt die Annahme zugrunde,
dass die Entwicklung bestimmter Fähigkeiten und Erkenntnisse genetisch programmiert ist
und deren Ausgestaltung von der Umwelt moderiert wird. Ein gutes experimentelles Beispiel, wie interaktionistische Paradigmen empirisch umgesetzt werden können, ist die Untersuchung von Dabbs und Morris (1990). Dabbs und Morris untersuchten den Testosteronwert von 4462 ehemaligen Soldaten und unterzogen diese zusätzlich einer ausführlichen
Befragung. Sie fanden, nicht überraschend vom Blickwinkel eines biologischen Paradigmas,
dass die Männer, die zu den 10% mit dem höchsten Testosteronspiegel gehörten, häufiger
als die anderen von Ärger und Schwierigkeiten mit ihren Sozialisationsinstanzen (Eltern,
Lehrpersonen, Klassenkameraden) berichteten. Ebenfalls wiesen sie einen höheren Drogenmissbrauch auf und berichteten von einer höheren Zahl sexueller Partnerinnen. Auch fanden sich in dieser Gruppe häufiger Hinweise auf delinquentes Verhalten. Diese aus biologischer Sicht klaren Daten wurden durch die Zugehörigkeit der Männer zu bestimmten sozioökonomischen Gruppen differenziert. Männer mit einem höheren Einkommen und einem höheren Bildungsniveau wiesen signifikant weniger wahrscheinlich einen hohen Testosteronspiegel auf als Männer mit einem sozioökonomisch niedrigeren Status und einem
geringeren Bildungsniveau. Nur in der letzten Gruppe gab es eine Verbindung zwischen
den auffallenden antisozialen Verhaltensweisen und einem hohen Testosteronspiegel.
Das Ergebnis von Dabbs und Morris kann unterschiedlich interpretiert werden. Die
Autoren selber kommen zu dem Schluss, dass Männer mit höherem Status und höherem
Bildungsniveau besser mit antisozialen Impulsen umgehen können als Männer mit niedrigerem Status und Bildungsniveau. Andere Autoren entgegnen dem jedoch, dass Männer
mit höherem Einkommen und höherem Bildungsniveau möglicherweise nicht so häufig in
Situationen kommen, die antisoziale Verhaltensweisen wahrscheinlich machen wie die
Männer der Vergleichsgruppe (Brannon, 1996).
18
Gisela Steins
Interaktionistische Paradigmen machen den Blick auf einen Forschungsgegenstand
insgesamt komplexer. Häufig sind die Daten jedoch so kompliziert, dass sie das Bedürfnis
nach Klarheit nicht befriedigen können.
Zum vorliegenden Buch: Auswahl, Inhalt und Gebrauch
Auswahl
Das hier knapp umrissene Spannungsfeld, zusammen mit den skizzierten Metatheorien,
wird im folgenden in den einzelnen Beiträgen aus den Disziplinen der Psychologie erkennbar werden. Bewusst wurden Forscherinnen und Forscher zu einem Beitrag eingeladen, die
nicht nur durch ihre Disziplinen sehr unterschiedliche Perspektiven auf die Geschlechterforschung aufweisen, sondern die auch in dem theoretischen Spannungsfeld unterschiedliche Positionen vertreten. Bemerkenswert ist das methodische Spektrum der Herangehensweisen an das Thema. Qualitative wie quantitative Methoden finden ihre Verwendung. Bei
der Auswahl der Autoren und Autorinnen wurde darauf geachtet, die Disziplinen der Psychologie breit zu vertreten. Auch wenn dieser Band eine Vielzahl von Disziplinen der Psychologie darstellt, misslang der Versuch u.a. einen Autor oder eine Autorin als Vertreter
oder Vertreterin der Klinischen Psychologie zu gewinnen. In der folgenden Überblickstabelle (Tabelle 1) sind die Disziplinen aufgelistet, aus deren Perspektive im folgenden Band das
Thema der Geschlechterforschung behandelt wird. Die jeweiligen Kurzbeschreibungen
sollen dem Leser und der Leserin ein kurzes Bild davon vermitteln, mit welchen Hauptthemen sich Forscherinnen und Forscher innerhalb dieser Disziplinen beschäftigen. Sie können
jedoch nicht eine umfassende Darstellung der Disziplin liefern und bilden keine allgemeingültigen Definitionen ab.
Auch ist es aus der Perspektive des Buches heraus interessant zu beobachten, dass nur
ein einziger Beitrag von zwei Forschern geleistet wird, und nur drei weitere Beiträge von
Männern als Coautoren. Trotz des Bemühens, in diesem Band eine ungefähre Gleichverteilung der Beiträge auf Forscher und Forscherinnen zu erzielen, scheiterte dieser Versuch –
aus welchen Gründen auch immer.
1. Einführung in „Psychologie und Geschlechterforschung“
Tabelle 1:
19
Überblick über die in diesem Band vertretenen Disziplinen der Psychologie
Disziplin
Sozialpsychologie
Emotionspsychologie
Motivationspsychologie
Neuropsychologie
Kognitive Neurowissenschaften
Entwicklungspsychologie
Allgemeine Psychologie I
Pädagogische Psychologie
Gesundheitspsychologie
Verkehrspsychologie
Medienpsychologie
Forensische Psychologie
Sportsoziologie
Politische Psychologie
Friedenspsychologie
Arbeits- und Organisationspsychologie
Differentielle Psychologie
Subjektwissenschaftliche Psychologie
Skizzierung der Disziplin
Beschreibung und Erklärung der Interaktionen zwischen
Individuen und der Ursachen und Wirkungen dieser
Interaktionen (nach Herkner, 2001)
Beschreibung und Erklärung von Emotionen: Entstehung,
Entwicklung, Wirkung, Kontextabhängigkeit
Beschreibung der für den Menschen charakteristischen Handlungsklassen, Beweggründe von Handlungen, Bedingungen
und Wirkungen von Handlungen
Beschreibung und Erklärung menschlichen Erlebens und
Verhaltens mit neurophysiologischen Prozessen
Aufdecken von Zusammenhängen zwischen Erkenntnissen der
Neuropsychologie und kognitiven Vorgängen
Veränderungen und Nicht-Veränderungen, die auf der Zeitdimension Lebensalter registriert werden (nach Oerter &
Montada, 2002)
Beschäftigung mit den grundlegenden Prinzipien menschlichen
Erlebens und Verhaltens
Grundlagenwissenschaft für die Lösung pädagogischer
Probleme
Entwicklung psychologisch begründeter Modelle und
Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und ihre Qualität zu
überprüfen (nach Selbstdefinition der Fachgruppe)
Erforschung der Wechselbeziehungen zwischen Verkehrssystemen und menschlichem Erleben und Verhalten mit dem
Ziel, die Mensch-Verkehrssystem-Interaktion zu optimieren
und Unfälle zu vermeiden (nach Limbourg & Reiter, Kap. 12 in
diesem Band)
Erforschung des menschlichen Erlebens und Verhaltens im
Kontext der Mediennutzung (nach Trepte und Reinecke,
Kap. 13 in diesem Band)
Anwendung psychologischer Erkenntnisse auf Fragen des
juristischen und forensischen Systems
Erforschung der im Sport relevanten Strukturen und Prozesse
angewandte Sozialpsychologie mit spezifischen Schwerpunkten, die die gesellschaftlichen Normen, Regeln und
Prozesse wiedergeben; Veränderung der sozialen Normen und
Prozesse zur Verbesserung der Lebensqualität der Menschen
(nach Genkova, Kap. 16 in diesem Band)
Anwendung psychologischer Erkenntnisse auf die Themen
Krieg und Frieden (nach Schroer, Kap. 17 in diesem Band)
Erforschung des Erlebens und Verhaltens von Personen in
Organisationen in Bezug auf ihre Arbeit
Beschäftigung mit den Unterschieden zwischen Personen und
Gemeinsamkeiten von Personen im Erleben und Verhalten
Kritische Auseinandersetzung mit psychologischen
Erkenntnissen unter besonderer Berücksichtung des
Menschen als Subjekt
20
Gisela Steins
Inhalt
Die Autorinnen und Autoren des Bandes wählten unterschiedliche Ebenen der Betrachtung.
Die meisten Beiträge beschäftigen sich auf der Basis empirisch gewonnener Daten mit den
Differenzen und Gemeinsamkeiten verschiedener Entwicklungsverläufe, Fähigkeiten, Bewusstseinsinhalte und Verhaltensweisen der Geschlechter und ziehen hierzu differenzierte
Erklärungsmodelle heran. Einige Autorinnen haben eine Metaperspektive gewählt und
analysieren ihr Fach oder die Psychologie als Wissenschaft aus dem Blickwinkel der Geschlechterforschung bzw. ihres Standes und ihrer Akzeptanz.
So entstehen verschiedene Teile des Buches. Teil I Mädchen und Jungen, Frauen und
Männer – Unterschiede versus Gemeinsamkeiten: Grundlagen; Teil II Mädchen und Jungen, Frauen
und Männer: Entwicklungsverläufe; Teil III Mädchen und Jungen, Frauen und Männer: Ein Blick in
verschiedene Lebenswelten?; und Teil IV Das Fach Psychologie aus Genderperspektive: Kritik und
Reflexion. Das Buch wird beendet mit dem Vorschlag einer praktischen Lösung des nicht
sexistischen Sprachgebrauchs und einem kurzen Ausblick.
Skizzierung der Inhalte der Teile des Buches
Teil I Mädchen und Jungen, Frauen und Männer: Unterschiede versus Gemeinsamkeiten –
Grundlagen
Teil I beginnt mit einem Beitrag aus sozialpsychologischer Perspektive von Bettina Hannover (Kapitel 2). Die Autorin vermittelt einen umfassenden Einblick in die Wirkung von Geschlechtsrollenstereotypen und kulturellen Normen auf das Selbstkonzept weiblicher und
männlicher Personen. Unser Selbst, das unser Denken, Fühlen und Handeln steuert, wird
anhand dieser Stereotype und Normen ausgebildet und resultiert in stabilen Differenzen
zwischen den Geschlechtern. Diese Unterschiede machen eine Konstruktion von Geschlecht
in der sozialen Interaktion wahrscheinlich. Der Leser und die Leserin erhalten eine sehr gute
Vorstellung davon, wie auf der Ebene der persönlichen Informationsverarbeitung soziale
Effekte entstehen und bekommt nebenbei eine Einführung in die kognitiven Mechanismen
der Verhaltenssteuerung. Diesem Beitrag schließt sich ein emotionspsychologischer Beitrag
von Ljubica Lozo an (Kapitel 3), in welchem dem Klischee „emotionale Frau“ und „rationaler Mann“ nachgegangen wird. Die Wirklichkeit sieht komplexer aus und auch hier ist es
erstaunlich zu sehen, zu welchen differenzierenden Erkenntnissen wir kommen müssen,
wenn Forschung präzise und sorgfältig durchgeführt wird und selbstkritisch weiterentwickelt wird. Aus der Perspektive der Allgemeinen Psychlogie II, speziell aus der Motivationspsychologie beschäftigt sich Marlies Pinnow (Kapitel 4) mit den unterschiedlichen Motiven aus Genderperspektive und bettet die Befunde in interaktionistische Modelle ein. Dem
schließt sich in dem neuropsychologischen Beitrag von Marcus Hirnstein und Markus
Hausmann die Frage an, ob Larry Summers recht hatte, als er behauptete, Frauen seien
natürlicherweise in bestimmten kognitiven Fähigkeiten benachteiligt und deswegen in prestigeträchtigen Berufen unterrepräsentiert. Das räumliche Vorstellungsvermögen der Geschlechter ist hier ein Thema, über das differenziert und detailliert aufgrund aktueller Un-
1. Einführung in „Psychologie und Geschlechterforschung“
21
tersuchungen aufgeklärt wird (Kapitel 5). In eine ähnliche Richtung zielt der Beitrag aus den
kognitiven Neurowissenschaften von Kirsten Jordan (Kapitel 6). Der Leser und die Leserin
erfahren hier detaillierte Zusammenhänge zwischen Gehirnprozessen und Umwelt. Der
erste Teil wird abgeschlossen mit einem Beitrag von Hilde Haider und Ewelina Malberg
(Kapitel 7), die von der zentralen Annahme ausgehen, dass menschliche Informationsverarbeitungsprozesse auf der Basis einheitlicher Mechanismen funktionieren und dies anhand
einiger Beispiele aus der kognitionspsychologischen Experimentalforschung aufzeigen werden. Die Autorinnen gehen dann am Beispiel gedächtnispsychologischer Befunde auf geschlechtsspezifische Unterschiede ein und spannen dabei den Bogen zur neurophysiologischen Forschung.
Diese Beiträge wurden bewusst an den Anfang gestellt, weil sie unverzichtbare theoretische Konzepte der psychologischen Grundlagenforschung einführen und bereits das
Hauptziel des Buches vorgeben, nämlich eine differenzierte Perspektive der Geschlechterforschung in der Psychologie zu skizzieren.
Teil II Mädchen und Jungen, Frauen und Männer: Entwicklungsverläufe
Die Beiträge von Annette Boeger (Entwicklungspsychologie; Kapitel 8) und Doris BischofKöhler (aus einer interdisziplinären Perspektive: Entwicklungspsychologie, Kulturwissenschaft, Biopsychologie; Kapitel 9) befassen sich mit den geschlechtsspezifischen Differenzen
bestimmter Entwicklungsprozesse und ihrer beeinflussenden Faktoren. Annette Boeger greift
ein besonders wichtiges Thema des Jugendalters auf, nämlich die geschlechtsspezifischen
Differenzen im Umgang mit und der Einstellung zum eigenen Körper. Der Leser und die
Leserin erhalten einen sehr direkten und lebendigen Einblick in das Erleben von Körperlichkeit aus der Perspektive eines Jungen bzw. eines Mädchens und bekommen ein Verständnis
für die beeinflussenden Faktoren. Doris Bischof-Köhler thematisiert besonders die evolutionären Grundlagen geschlechtstypischen Verhaltens und weist auf den schwierigen Diskurs
zwischen Natur und Kultur hin. Sie geht auf wesentliche Entwicklungsunterschiede zwischen den Geschlechtern ein und versucht diese aus evolutionärer Perspektive zu erklären.
Teil III Mädchen und Jungen, Frauen und Männer: Ein Blick in verschiedene Lebenswelten?
In diesem Teil finden sich angewandte Disziplinen der Psychologie. Aus verschiedenen
disziplinären Perspektiven werden wichtige Bereiche unseres Lebens beleuchtet. Der Beitrag
von Barbara Moschner (Kapitel 10) widmet sich demjenigen Bereich unseres Lebens, in dem
sich vermeintlich alle auskennen, der Schule. Sie geht aus der Perspektive einer pädagogischen Psychologin auf die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen hinsichtlich Bildung, Lernen und Schule ein und thematisiert kritisch die Bedeutung dieser Unterschiede.
Die drei nächsten Beiträge stammen aus sehr unterschiedlichen Disziplinen – dennoch ist
ein gemeinsames Thema zu erkennen, das schon bei Barbara Moschner anklingt, nämlich
die Identifizierung einer männlichen Risikogruppe, die aus gesundheitspsychologischer
Perspektive (Monika Sieverding, Kapitel 11), aus verkehrpsychologischer Perspektive (Maria Limbourg und Karl Reiter, Kapitel 12) und aus medienpsychologischer Perspektive (Sabine Trepte und Leonard Reineke, Kapitel 13) differenziert beschrieben wird. Die Verhal-
22
Gisela Steins
tensweisen der Geschlechter in diesen drei wichtigen Bereichen des Alltags werden dem
Leser und der Leserin eindringlich nahe gebracht und es werden interessante Erklärungsmodelle aufgeführt, die den Blick für diese Bereiche schärfen.
Danach führt Henrietta Haas in die Sprachanalyse aus der Perspektive der forensischen
Psychologie ein (Kapitel 14). Es ist spannend zu erfahren, wie ein anonymes Schreiben auseinander genommen wird und wie systematisch der Sprachgebrauch Hinweise auf die Geschlechtsidentität des oder der Schreibenden geben können. Im luftleeren Raum entsteht so
plötzlich das Profil einer Person, die als Mann oder als Frau zu erkennen ist. Danach folgt
eine sportsoziologische Analyse von Führung von Sabine Radtke (Kapitel 15). Die Auswahl
eines Beitrages aus der Sportsoziologie ist gleichzeitig auch ein Ausflug in ein der Sozialpsychologie besonders nahe stehendes Fach: die Soziologie. Mit Hilfe qualitativer Analyseverfahren und Methoden werden die Hintergründe der sich hinter Sport befindenden Hierarchien aufgedeckt und systematisch dargestellt. In Kapitel 16 setzt sich Petia Genkova mit
der Politischen Psychologie auseinander und stellt hierbei interessante Befunde vor, die
auch den vorherigen sportsoziologischen Beitrag interessant ergänzen.
Nach der Lektüre des zweiten Teils dieses Buches sollten Leserinnen und Leser einen
Überblick über einen großen Teil der aktuellen Forschung der psychologischen Geschlechterforschung gewonnen haben, sowohl über deren grundlegende Erkenntnisse, als auch
angewandten Kontexte. Teil III, ist als Frage formuliert. Der Leser und die Leserin erhaltet
ausreichend detaillierte Befunde, um selbst beurteilen zu können, ob von weiblichen oder
männlichen Lebenswelten die Rede sein kann oder ob mit dieser Formulierung nicht bereits
Prämissen geschaffen werden, die in dieser Formulierung der realen Grundlage entbehren.
Teil IV Das Fach Psychologie aus Genderperspektive: Kritik und Reflexion
Mit Teil IV betritt die Leserschaft eine Metaebene des Themas Psychologie und Geschlechterforschung. Drei verschiedene Disziplinen werden kritisch zu ihrem Verhältnis zur Geschlechterforschung dargestellt und kritisch wie konstruktiv diskutiert. Miriam Schroer
beschreibt detailliert die Bedeutung der Begriffe Geschlecht und Gender für die Friedenspsychologie (Kapitel 17). Julia Nentwich und Martina Stangel-Meseke sehen in der Geschlechterforschung einen anregenden Beitrag zur Neukonzeptualisierung der Arbeits- und
Organisationspsychologie und stellen das Geschlecht als zentrales gesellschaftliches Organisations- und Herrschaftsprinzip in Frage (Kapitel 18). Katharina Rothe setzt sich kritisch mit
der Differentiellen Psychologie als Fach auseinander und bemängelt die wenig erfolgte
Auseinandersetzung mit modernen Konzepten am Beispiel der Genderforschung (Kapitel
19). Aus Sicht der subjektwissenschaftlichen Psychologie bringt Martina Tißberger, ähnlich
wie Katharina Rothe, auch einen psychoanalytischen Blickwinkel ein (Kapitel 20).
Das Fach Psychologie als Wissenschaft wird von Elfriede Billmann-Mahecha schließlich unter dem Gesichtspunkt zentraler Fragen des Themas Geschlecht analysiert. Der Leser
und die Leserin lernen zentrale Figuren der historischen Psychologie kennen und können
sich einen fundierten Eindruck über den aktuellen Zustand des Faches aus der Perspektive
des doing gender bilden (Kapitel 21).
1. Einführung in „Psychologie und Geschlechterforschung“
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Der letzte Beitrag von Norbert Nothbaum und der Herausgeberin (Kapitel 22) verfolgt
das Anliegen, eine praktische Lösung für eine geschlechtergerechte Sprache vorzustellen –
als eine nutzenorientierte Anwendung psychologischer Erkenntnisse.
Das Buch schließt mit einem Ausblick und einigen Empfehlungen für eine vertiefende
Lektüre zum Thema Psychologie und Geschlechterforschung.
Gebrauch
Wie jeder Sammelband kann auch in diesem die Reihenfolge des Lesens nach Interessenschwerpunkt und Vorkenntnissen selbst bestimmt werden. Für Leser und Leserinnen mit
nur wenigen Vorkenntnissen im Fach Psychologie empfehle ich den Teil I als Einstieg und
hierfür auch eine chronologische Reihenfolge, denn hier werden die grundlegenden Prozesse des Erlebens und Verhaltens von Menschen dargestellt.
Literatur
Bandura, A. (1986). Social foundations of thought and action: A social cognitive theory. EnglewoodCliffs, NJ: Prentice Hall.
Becker, R., & Kortendiek, B. (2008). Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorien, Methode, Empirie. 2. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Berger, L.B., & Luckmann, T. (1998). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/M.:
Fischer.
Blackmore, S. (1999). The meme machine. New York: Oxford University Press.
Brannon, L. (1996). Gender: Psychological perspectives. Boston, MA: Allyn and Bacon.
Dabbs, J.M. Jr. & Morris, R. (1990). Testosterone, social class and antisocial behaviour in a sample of
4,462 men. Psychosocial Science, 1, 209-11.
Dawkins, R. (1989). The selfish gene. New York: Oxford University Press.
De Beauvoir, S. (1951). Das andere Geschlecht. Reinbek: Rowohlt.
Dennett, D. (1995). Darwin’s dangerous idea. London: Penguin.
Gergen, M.M. & Davis, S.M. (1997). Towards a new psychology of gender. London: Routledge.
Herkner, W. (2001). Lehrbuch Sozialpsychologie. Bern: Huber.
Löw, M. & Mathes, B. (2005). Schlüsselwerke der Geschlechterforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Maccoby, E.E. (2000). Psychologie der Geschlechter. Sexuelle Identität in den verschiedenen Lebensphasen. Stuttgart: Klett-Cotta.
Oerter, R. & Montada, L. (2002). Entwicklungspsychologie. Göttingen: BeltzPVU.
Stainton Rogers, W. & Stainton Rogers, R. (2004). The psychology of Gender and Sexuality. Oxford: Open
University Press.
Steins, G. (2008). Identitätsentwicklung. Die Entwicklung von Mädchen zu Frauen und Jungen zu Männern. 3. Aufl. Berlin: Pabst Science Publishers.
Teil I
Mädchen und Jungen, Frauen und Männer:
Unterschiede versus Gemeinsamkeiten –
Grundlagen
2. Sozialpsychologie
Sozialpsychologie und Geschlecht: Die Entstehung von
Geschlechtsunterschieden aus der Sicht der Selbstpsychologie
Bettina Hannover
Das Verständnis von Geschlecht in der Sozialpsychologie
Geschlecht wird in sozialpsychologischer Perspektive nicht in erster Linie als ein stabiles
Merkmal der Person betrachtet, sondern vielmehr hinsichtlich der Frage, wie es im sozialen
Kontext konstruiert wird. Im Zentrum steht somit die Untersuchung von Situationsfaktoren,
in Abhängigkeit von denen das Geschlecht von Personen relevant wird oder aber nicht.
Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, dass alle Menschen Geschlechtsrollenstereotype
kennen und in ihrem Gedächtnis repräsentiert haben und dass diese Stereotype, wenn sie
durch die Situation aktiviert werden, sich auf die soziale Interaktion auswirken (vgl. Deaux
& LaFrance, 1998). Als Beispiel mag eine Sportstunde dienen, in der ein Kind über einen
Bock springen soll. Ob das Geschlecht des Kindes Einfluss auf das Interaktionsgeschehen
nimmt oder nicht, ist davon abhängig, a) ob die Lehrperson die Wahrscheinlichkeit, dass
das Kind erfolgreich ist, in Abhängigkeit seines Geschlechts für unterschiedlich hoch hält
oder nicht (d.h. von den Geschlechterstereotypen der Lehrperson), b) ob das Kind einen Zusammenhang zwischen seinem Geschlecht und der Wahrscheinlichkeit, dass es über den
Bock springen kann, vermutet oder nicht (d.h. von der durch Geschlechtsrollenstereotypen
geprägten Geschlechtsidentität des Kindes) und c) von der Salienz von Geschlecht in der konkreten Situation. So ist Geschlecht als soziale Kategorie beispielsweise psychologisch stärker
betont, wenn das Kind hinsichtlich seines Geschlechts in der Gruppe in der Minderheit ist
oder wenn das Bockspringen als Wettkampf zwischen zwei Gruppen von Kindern, Mädchen versus Jungen, organisiert ist.
Geschlechterstereotypen sind sozial geteilte Annahmen darüber, wie sich männliche
und weibliche Personen voneinander unterscheiden (deskriptiv) oder unterscheiden sollten
(präskriptiv) (z.B. Deaux & Kite, 1993). Deskriptive und präskriptive Geschlechtsrollenstereotype stimmen über Kulturen hinweg dahingehend überein, dass weibliche Personen
fürsorglich und emotional expressiv sind bzw. sein sollten, männliche Personen hingegen
dominant und autonom in ihrem Verhalten (z.B. Williams, Satterwhite & Best, 1999).
Ist Geschlecht in einer konkreten Interaktionssituation psychologisch hervorgehoben,
so werden die Geschlechtsrollenstereotype der Beteiligten aktiviert. In der Folge schreiben
sie a) sich selbst und b) anderen in Abhängigkeit ihres Geschlechts, deskriptiv und präskriptiv unterschiedliche Personeigenschaften, Interessen und Aktivitäten oder Aufgaben, Fähig-
G. Steins (Hrsg.), Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung DOI 10.1007/978-3-531-92180-8_2,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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Bettina Hannover
keiten, Rollen und emotionale Dispositionen zu. Diese Zuschreibungen finden ihren Niederschlag in unterschiedlichen Erwartungen und Verhaltensweisen. In unserem Beispiel
traut die Lehrperson dem weiblichen Kind möglicherweise weniger zu, den Bock erfolgreich überwinden zu können, was sich in einer stärkeren Hilfestellung oder darin niederschlagen kann, dass die Lehrperson eine niedrigere Position des Bocks einstellt. Oder aber
die Tatsache, dass das Kind das einzige Mädchen in der Gruppe ist, kann seine Aufmerksamkeit auf seine Geschlechtszugehörigkeit und damit auf das Stereotyp über die geringere
sportliche Kompetenz von Mädchen richten. Im Ergebnis sinkt die Erfolgszuversicht des
Kindes und damit die Wahrscheinlichkeit, dass es die sportliche Aufgabe erfolgreich meistern wird. Sind Personen solchen aktivierenden Kontextfaktoren immer wieder ausgesetzt,
so können sich entsprechende stabile Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen
Personen entwickeln.
Wie unsere Beispiele zeigen, wirken sich Geschlechtsrollenstereotype in sozialen Situationen gleichermaßen auf die Wahrnehmung anderer Personen, wie auch auf die Wahrnehmung der eigenen Person aus. In diesem Aufsatz soll genauer der Frage nachgegangen
werden, welche Rolle der Wahrnehmung der eigenen Person, also dem Selbst, bei der Konstruktion von Geschlecht zukommt. Dazu werden zwei Fragen zu beantworten sein. Zum
ersten soll analysiert werden, wie sich das Selbst geschlechtstypisiert ausprägt. Hier wird zu
beschreiben sein, aufgrund welcher Einflussfaktoren männliche und weibliche Personen
typischerweise ein unterschiedliches Bild von der eigenen Person – d.h. ein unterschiedliches Selbst – entwickeln. Zum zweiten werden wir fragen, auf welche Weise das geschlechtstypisierte Selbst dazu beiträgt, dass Geschlecht im sozialen Kontext konstruiert
wird. Hier wird es darum gehen zu zeigen, wie sich das geschlechtstypisierte Selbst im
Denken, Fühlen und Handeln von Personen niederschlägt.
Wie sich das Selbst geschlechtstypisiert ausprägt
Das Selbst bezeichnet die Sicht, die das Individuum auf die eigene Person hat, d.h. die Gesamtheit der kognitiven Konzepte oder des Wissens, die bzw. das eine Person im Laufe ihres
Lebens über sich selbst erwirbt (Markus, 1977). Selbstwissen kann auf persönliche Eigenschaften und Gruppenzugehörigkeiten (z.B. „Ich bin ehrgeizig“, „Ich bin Johannes Schwester“), auf die eigene Biographie (z.B. „Ich habe als Kind gerne gemalt“) oder auf Ziele für die
Zukunft (z.B. „Ich möchte Ärztin werden“) bezogen sein. Es enthält beschreibende (z.B. „Ich
bin rothaarig“) und bewertende Aspekte (z.B. „Ich mag meine roten Haare“).
Ein Teilaspekt des menschlichen Selbst ist auf das Wissen über die eigene Geschlechtszugehörigkeit bezogen (im Folgenden: Geschlechtsidentität). Kinder machen sehr früh die
Erfahrung, dass die soziale Kategorie Geschlecht von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Umwelt ist, in der sie leben. Entsprechend sind sie schon im Alter von zwei
Jahren beginnend sehr daran interessiert herauszufinden, was es bedeutet, ein Mädchen
bzw. ein Junge zu sein. Sie eignen sich dazu aktiv Geschlechtsrollenstereotype an, indem sie
vorzugsweise Vertreter ihrer eigenen Geschlechtsgruppe beobachten und als Interaktionspartner wählen, indem sie all jene Informationen positiv bewerten, die die Verschiedenheit
der Geschlechter zu bestätigen scheinen und indem sie sich vorzugsweise mit Objekten und
2. Sozialpsychologie
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Aktivitäten beschäftigen, die gemäß Geschlechtsrollenstereotypen zu ihrem eigenen biologischen Geschlecht „passen“ (für einen Überblick siehe Ruble, Martin & Berenbaum, 2006).
Interessanterweise erwerben Kinder rudimentäre Geschlechtsrollenstereotype ontogenetisch betrachtet schon bevor sie von sich selbst sagen können, ob sie ein Mädchen oder ein
Junge sind, ein Entwicklungsstand, der erst im Alter zwischen zwei und drei Jahren erreicht
wird (z.B. Fagot & Leinbach, 1985). Es scheint, dass der Erwerb von Geschlechtsrollenstereotypen Voraussetzung für die Herausbildung der Geschlechtsidentität ist.
Wie das geschlechtstypisierte Selbst zur Konstruktion von Geschlecht beiträgt
Als Ergebnis des Einflusses von Geschlechtsrollenstereotypen entstehen relativ stabile Unterschiede im Selbst zwischen männlichen und weiblichen Personen. Im Folgenden wird für
verschiedene Aspekte des Selbst (Geschlechtsidentität, Selbstkonstruktion, Fähigkeitsselbstkonzept, Selbstwert) jeweils dargestellt, welche systematischen Geschlechtsunterschiede
beschrieben wurden und auf welche Weise diese Unterschiede – vermittelt über das durch
das Selbst gesteuerte Denken, Fühlen und Handeln der Person – zur Konstruktion von Geschlecht im sozialen Kontext beitragen können.
Geschlechtsunterschiede in der Geschlechtsidentität
In Übereinstimmung mit Geschlechtsrollenstereotypen beschreiben sich Jungen und Männer, zu einer Selbstbeschreibung aufgefordert, wahrscheinlicher mit instrumentellen und
autonomen Eigenschaften, Mädchen und Frauen hingegen eher als expressiv und mit anderen verbunden (z.B. Altstötter-Gleich, 2004).
Menschen, die ihrer Geschlechtsidentität eine hohe Bedeutsamkeit für die Definition
der eigenen Person beimessen, entwickeln ein Selbstschema für Geschlecht (Markus, Crane,
Bernstein & Siladi, 1982). Sandra Bem (1981) bezeichnet Personen, die sich selbst entweder
vor allem mit maskulinen oder aber vor allem mit femininen Eigenschaften beschreiben, als
schematisch (sex-typed), hingegen Personen, die sich mit beiden Arten von Eigenschaften
gleichermaßen stark oder gleichermaßen wenig beschreiben als aschematisch (androgynous).
Selbstschemata (wie andere kognitive Schemata auch) erleichtern die Informationsverarbeitung, weil die Person auf ihrer Grundlage Erwartungen über neu eintreffende Informationen ausgebildet hat und bei deren Interpretation auf diese bereits bestehenden Konzepte
zurückgreifen kann. Dies bedeutet, ein Schema geht mit automatischer Verarbeitung einher.
Mitglieder von Gruppen, die von ihrem Status oder ihrer Anzahl her unterlegen sind,
definieren die eigene Person stärker durch ihre Zugehörigkeit zu dieser Gruppe, als Mitglieder der entsprechenden Majoritätsgruppen dies tun (z.B. Simon & Hamilton, 1994). Dies
erklärt, warum Mädchen und Frauen wahrscheinlicher ein Selbstschema für Geschlecht
entwickeln als Jungen und Männer (Hurtig & Pichevin, 1990; Lorenzi-Cioldi, 1991).
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Bettina Hannover
Auswirkung der Geschlechtsidentität auf das Denken, Fühlen und Handeln der Person
Die inhaltliche Ausprägung der Geschlechtsidentität wirkt sich auf das Verhalten der Person aus. So konnten beispielsweise Athenstaedt, Haas und Schwab (2004) belegen, dass mit
steigender Zugänglichkeit (gemessen über Latenzzeiten bei der Selbstbeschreibung) maskulinen Selbstwissens und mit sinkender Zugänglichkeit femininen Selbstwissens die in einer
Gruppe in Anspruch genommene Redezeit stieg. Athenstaedt, Mikula und Bredt (2009)
konnten das Freizeitverhalten Jugendlicher aus ihrer Geschlechtsidentität vorhersagen:
Unabhängig vom biologischen Geschlecht der Befragten begünstigte hohe Femininität der
Geschlechtsidentität Aktivitäten wie sich mit Freunden treffen/Telefonieren oder Lesen/
Malen; hohe Maskulinität hingegen sportliche Aktivitäten.
Neben der inhaltlichen Ausprägung der Geschlechtsidentität ist für die Konstruktion
von Geschlecht im sozialen Kontext auch bedeutsam, ob die Person ein Selbstschema für
Geschlecht hat oder nicht. Geschlechtsschematische Personen verarbeiten stärker stereotypoder erwartungsbasiert als Personen ohne ein Selbstschema für Geschlecht. Genauer konnten Bem und Mitarbeiter/innen (z.B. Andersen & Bem, 1981; Frable & Bem, 1985) zeigen,
dass die hohe Bereitschaft geschlechtsschematischer Personen, Informationen auf einer
Geschlechtsrollendimension zu kategorisieren, dazu führt, dass sie sich stärker selbst gemäß
ihres Geschlechts stereotypisieren (d.h., das Ingroup-Stereotyp über Geschlecht zur Beschreibung der eigenen Person heranziehen), die jeweils andere Geschlechtsgruppe als stärker homogen wahrnehmen und auf diese Weise zur Aufrechterhaltung von Geschlechtsrollenstereotypen beitragen. Zusammengefasst wird Geschlecht im sozialen Kontext umso
wahrscheinlicher konstruiert, je stärker die Geschlechtsidentität der Beteiligten geschlechtstypisiert ausgeprägt und je stärker schematisch sie ist.
Geschlechtsunterschiede in der Selbstkonstruktion
Außer durch Geschlechtsrollenstereotype wird die Entwicklung des Selbst noch durch eine
andere Art von Normen geschlechtsabhängig unterschiedlich geprägt. Cross und Madson
(1997) haben postuliert, dass gegenüber männlichen und weiblichen Personen unterschiedliche Imperative existieren, auf welche Weise sie ihr Selbst konstruieren sollen. Dabei nehmen sie auf eine von Markus und Kitayama (1991) eingeführte Unterscheidung Bezug: In
der independenten Selbstkonstruktion wird das Individuum vor allem als getrennt und
verschieden von anderen Menschen gesehen; typische Elemente des Selbstwissens sind
somit die Person als Individuum auszeichnende Merkmale (z.B. „ich bin humorvoll“, „ich
liebe Verdi“). In der interdependenten Selbstkonstruktion werden demgegenüber bevorzugt
enge Beziehungen oder Gemeinsamkeiten mit anderen in die Definition der eigenen Person
einbezogen; entsprechend dominieren im Selbstwissen Beschreibungen eigener Rollen und
Gruppenzugehörigkeiten (z.B. „ich bin die Patentante von Hester“, „ich engagiere mich in
der Kirche“).
Cross und Madson (1997) zufolge sind Jungen und Männer wahrscheinlicher Independenz-Einflüssen, Mädchen und Frauen hingegen Interdependenz-Einflüssen ausgesetzt.
Beispiele sind, dass Mädchen mehr als Jungen dazu angehalten werden, soziale Verantwortung zu übernehmen, z.B. sich um kleinere Geschwister zu kümmern (z.B. Maudlin &
2. Sozialpsychologie
31
Meeks, 1990), dass Mädchen eher als Jungen für expressiven Ausdruck (z.B. Emotionsausdruck, z.B. Brody, 2000) dem Spielen eines Musikinstruments (Fredricks, Simpkins & Eccles,
2005) verstärkt werden und auch dafür, dass sie an sie gerichteten Erwartungen entsprechen
– z.B. sich nett und ansprechend zurechtzumachen (Klomsten, Skaalvik & Espnes, 2004). Im
Unterschied dazu werden Jungen eher als Mädchen dazu ermuntert, in herausgehobenen
Rollen zu agieren – z.B. werden sie von ihren Eltern häufiger für Begabtenklassen angemeldet (Stumpf & Schneider, 2009) und erhalten häufiger die Möglichkeit, an einer privaten
Universität zu studieren (32 998 der 54 390 Studierenden an privaten Universitäten in
Deutschland im WS 2007/2008 waren männlich; Statistisches Bundesamt 2009). Weiter werden sie eher darin unterstützt, ihre eigenen Interessen zu identifizieren und zu verfolgen –
z.B. sich in der Schule auf das eigene „Lieblingsfach“ zu konzentrieren (Denissen, Zarrett &
Eccles, 2007) oder sich sportlich zu betätigen (Fredricks et al., 2005). Im Ergebnis entwickeln
männliche Personen wahrscheinlicher eine independente Selbstkonstruktion und weibliche
Personen eine interdependente (Cross, Bacon & Morris, 2000; Guimond, Chatard, Martinot,
Crisp & Redersdorff, 2006; Kashima et al., 2004).
Guimond et al. (2006) haben gezeigt, dass die Einflüsse von Independenz- versus Interdependenz-Normen auf das Selbst über Geschlechtsrollenstereotype vermittelt zustande
kommen. Ihre Versuchsteilnehmer beschrieben sich selbst, die typische Frau und den typischen Mann auf interdependenten (z.B. family oriented, caring) und independenten (z.B: coarse, selfish) Trait-Adjektiven. Der Zusammenhang zwischen Geschlecht und Interdependenz
der Selbstkonstruktion verschwand vollständig, wenn das Stereotyp über die eigene Geschlechtsgruppe mit in die Regressionsanalyse einbezogen wurde. Dies bedeutet, die stärkere Interdependenz in der Selbstkonstruktion von Frauen geht darauf zurück, dass Männer
und Frauen die typische Frau für stärker interdependent halten als den typischen Mann. Die
Ergebnisse für die Independenz der Selbstkonstruktion waren ähnlich, allerdings verschwand hier der Zusammenhang zwischen Geschlecht und Selbstkonstruktion nicht vollständig, wenn die Ingroup-Geschlechtsrollenstereotype der Befragten einbezogen wurden.
Auswirkung der Selbstkonstruktion auf das Denken, Fühlen und Handeln der Person
Independenz- und Interdependenz-Normen tragen zur Konstruktion von Geschlecht bei,
weil ein independentes Selbst eine andere Art der Informationsverarbeitung (Hannover &
Kühnen, 2002) und damit anderes Denken, Fühlen und Handeln begünstigt als ein interdependentes Selbst (für einen Überblick siehe Hannover & Kühnen, 2009). Entsprechend zeigen sich zahlreiche analoge Unterschiede zwischen Mitgliedern von Independenzkulturen
(z.B. USA, Nordeuropa) versus Interdependenzkulturen (z.B. Japan, Lateinamerika; Markus
& Kitayama, 1991) auf der einen Seite und männlichen versus weiblichen Personen auf der
anderen Seite. Beispiele sind a) die stärkere Feldabhängigkeit der Wahrnehmung (Kulturvergleich: Kühnen, Hannover, Roeder, Schubert, Shah, Upmeyer & Zakaria, 2001; Geschlechtervergleich: für einen Überblick siehe Voyer, Voyer & Bryden, 1995), b) der geringere personale Selbstwert – bei gleich stark ausgeprägtem kollektiven Selbstwert (Kultur: z.B.
Kitayama, Markus & Lieberman, 1995; Geschlecht: personal: z.B. Gentile, Grabe, Dolan-Pascoe, Twenge & Wells, 2009; kollektiv: Foels & Tomcho, 2005), c) die geringeren selbstwertdienlichen Voreingenommenheiten (Kultur: z.B. Brown, 2003; Geschlecht: z.B. Ehrlinger &
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Bettina Hannover
Dunning, 2003), d) eine stärker indirekte Kommunikation (Kultur: z.B. Gudykunst, TingToomey & Chua, 1988; Geschlecht: z.B. LaFrance, Hecht & Paluck, 2003) und e) das stärkere
Verfolgen von sozial verantwortlichen Zielen versus selbstbezogenen Zielen (Kultur: van
Horen, Pöhlmann, Koeppen & Hannover, 2008; Geschlecht: z.B. Chen & Welland, 2002).
Geschlechtsunterschiede im Fähigkeitsselbstkonzept
Das Fähigkeitsselbstkonzept meint den Ausschnitt aus dem Selbst, der auf die Wahrnehmung eigener Fähigkeiten oder Kompetenzen bezogen ist (z.B. „Ich bin nicht gut in Mathe“;
„Ich bin sehr sportlich“). In Übereinstimmung mit Geschlechtsrollenstereotypen zeigen
Menschen in solchen Bereichen besonders starke Fähigkeitsselbstkonzepte, die gemäß Geschlechtsrollenstereotypen zu ihrem biologischen Geschlecht „passen“ und weniger starke
Selbstkonzepte in Bereichen, die mit dem jeweils anderen Geschlecht assoziiert werden.
So geben bereits in den Anfangsjahren der Grundschule Mädchen ein höheres Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten im schriftsprachlichen Bereich an, während Jungen
sich gegenüber Aufgaben aus dem Mathematik-Unterricht erfolgszuversichtlicher zeigen
(LOGIK- und SCHOLASTIK-Studien; z.B. Weinert & Schneider, 1999). Am Ende der Grundschulzeit, zu der Mädchen den Jungen in ihrer Lesekompetenz deutlich überlegen sind
(PIRLS-Studien; Mullis, Martin, Kennedy & Foy, 2007), geben Schülerinnen in manchen
Studien ein entsprechend positiveres lesebezogenes Selbstkonzept an (z.B. Bos et al., 2004;
Valtin & Wagner, 2002; Wilgenbusch & Merrell, 1999), in anderen Studien hingegen nicht
(z.B. Faber, 2003; Mielke, Goy & Pietsch, 2006; Polocek, Greb & Lipowsky, 2008). Für das
mathematikbezogene Selbstkonzept fanden Wilgenbusch und Merrell (1999) in einer Metaanalyse für Primarstufenschüler/innen (Klassen 1 bis 6) bei Jungen ein positiveres mathematikbezogenes Selbstkonzept als bei Mädchen (d=.25). Ähnlich fanden Polocek et al. (2008)
schon bei Jungen aus ersten Schulklassen eine deutlich positivere Selbsteinschätzung der
eigenen Kompetenz im Rechnen als bei den Mädchen (d=.52). Die Geschlechtsunterschiede
im Selbstkonzept stabilisieren sich über die Schulzeit hinweg: Sie wurden in zahlreichen
Studien auch beim Vergleich älterer Mädchen und Jungen gefunden (z.B. PISA-Studien:
Baumert et al., 2001; Prenzel et al., 2004; Prenzel et al., 2007).
Relativ wenige Studien liegen für den vorschulischen Bereich vor. Dies mag der Tatsache geschuldet sein, dass unklar ist, ob Kinder in diesem Alter (in dem sie sich typischerweise optimistisch überhöht beurteilen) bereits zwischen verschiedenen, domänenspezifischen akademischen Selbstkonzepten unterscheiden können (z.B. Marsh, Ellis & Craven,
2002). Dass Kinder bereits vor Eintritt in die Schule differenzieren, legen die Ergebnisse
einer Studie von Wolter und Hannover (2008) nahe. Bei fünfjährigen Kindergartenkindern
fanden sie moderate Korrelationen zwischen verbalem und mathematischem Selbstkonzept
(Mädchen: r=.42*, Jungen: Jungen r=.54**) und dass die Mädchen signifikant höhere schriftsprachliche Vorläuferkompetenzen, aber kein positiveres verbales Selbstkonzept hatten als
die Jungen.
Neben den Interaktionen zwischen Geschlecht und fachlicher Domäne, auf die das Fähigkeitsselbstkonzept bezogen ist, zeigen sich systematische Zusammenhänge zwischen
Geschlecht und Fähigkeitsselbstkonzept dahingehend, dass Mädchen/Frauen sich im Mittel
bescheidener einschätzen als Jungen/Männer. So findet die Tatsache, dass Mädchen inzwi-
2. Sozialpsychologie
33
schen in verschiedenen Ländern bessere Schulnoten und höhere Schulabschlüsse erreichen
als Jungen (z.B. Blossfeld, Bos, Hannover, Lenzen, Müller-Böling, Prenzel & Wößmann,
2009; Pomerantz & Altermatt, 2002; Shettle et al., 2007; Statistisches Bundesamt, 2008) keinen
Niederschlag in einem entsprechend höheren akademischen Fähigkeitsselbstkonzept (z.B.
Guimond, Chatard, Martinot, Crisp & Redersdorff, 2006; Stetsenko, Little, Gordeeva, Grasshof & Oettingen, 2000). Unklar ist allerdings, inwiefern dies mit der Tatsache zusammenhängt, dass der Vorsprung der Mädchen in Noten und Abschlüssen keine Entsprechung in
standardisierten Leistungstests findet (z.B. Blossfeld et al., 2009; Duckworth & Seligman,
2006).
Zusammengefasst stimmen die Unterschiede in domänenspezifischen Fähigkeitsselbstkonzepten zwischen Mädchen und Jungen mit dem überein, wie sich die Geschlechter
gemäß Geschlechtsrollenstereotypen voneinander unterscheiden. Weiter schätzen Mädchen/
Frauen sich insgesamt bescheidener ein als Jungen/Männer. Möglicherweise ist diese Tendenz auf die stärkeren Interdependenz-Normen zurückzuführen, denen sich weibliche
Personen ausgesetzt sehen: Die Verbundenheit mit anderen kann durch eine bescheidene
Selbstpräsentation betont werden. Beschreibt eine Person ihre Fähigkeiten eher als mittelmäßig oder durchschnittlich, so bringt sie damit zum Ausdruck, dass sie sich als ähnlich wie
andere sieht. Independenz, d.h. Unabhängigkeit von anderen, kann im Unterschied dazu
am besten dadurch signalisiert werden, dass man die eigene Person als besser als andere
oder als besonders beschreibt.
Weitere Einflussfaktoren auf die Ausprägung von Fähigkeitsselbstkonzepten sind soziale Vergleichsprozesse (Marsh, 1986). Das Fähigkeitsselbstkonzept ist um so geringer ausgeprägt, je relativ besser die Leistungen relevanter Vergleichspersonen in der betreffenden
Domäne sind (also z.B. die anderen Kinder in der Klasse; sog. big-fish-little-pont-effect). Geschlechtsunterschiede im Fähigkeitsselbstkonzept können somit auch damit erklärt werden,
dass statusunterlegene Gruppen sich typischerweise mit statushöheren vergleichen, nicht
aber umgekehrt (z.B. Fiske & Berdahl, 2007; Lorenzi-Cioldi, 1991): Möglicherweise vergleichen Mädchen ihre Leistungen sowohl mit weiblichen als auch männlichen Mitschülern,
Jungen hingegen nur innerhalb ihrer eigenen Geschlechtsgruppe. Damit könnte erklärt
werden, warum Mädchen zwar, entsprechend ihrer relativ zu den Jungen geringeren Kompetenz, ihre Fähigkeiten in der Mathematik als geringer einschätzen, umgekehrt aber die
Jungen kein geringeres Leseselbstkonzept oder kein geringeres generelles akademischen
Fähigkeitsselbstkonzept haben als die Mädchen, obwohl sie ihren Mitschülerinnen hier
unterlegen sind.
Auswirkung des Fähigkeitsselbstkonzepts auf das Denken, Fühlen und Handeln der Person
Fähigkeitsselbstkonzepte stellen neben Intelligenz und Vorwissen die bedeutsamsten Prädiktoren für Leistungen dar. Insofern kann angenommen werden, dass die geschlechtsdifferenzierten Fähigkeitsselbstkonzepte zur Konstruktion von Geschlecht beitragen, nämlich
zur Entwicklung von Geschlechtsunterschieden in tatsächlichen Fähigkeiten.
Wie bereits angeführt verfügen Mädchen am Ende der Grundschulzeit über eine signifikant höhere Lesekompetenz als Jungen (z.B. IGLU, 2006: Gesamtskala Lesen Mädchen 551
Punkte, Kompetenzstufe IV; Jungen: 544 Punkte, Kompetenzstufe III; Bos et al., 2007). Um-
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Bettina Hannover
gekehrt sind die Jungen am Ende der Primarstufenzeit den Mädchen in den Naturwissenschaften (IGLU-E, 2001: 15 Punkte) und in der Mathematik (IGLU-E, 2001: 24 Punkte) überlegen (Bos, Lankes, Prenzel, Schwippert, Valtin & Walther, 2004). Diese Leistungsdifferenzen zwischen den Geschlechtern verstärken sich über die Sekundarstufen I und II hinweg
(z.B. PISA, 2000 (Lesen), PISA 2003 (Mathematik), und PISA 2006 (Naturwissenschaften);
Baumert et al., 2001; Prenzel et al., 2004; Prenzel et al., 2007). Zusammengefasst fallen die
Geschlechtsunterschiede in Fähigkeiten in Übereinstimmung mit Geschlechtsrollenstereotypen aus.
Die Frage, ob Geschlechtsunterschiede im Fähigkeitsselbstkonzept zeitlich vor Unterschieden in Fähigkeiten auftreten (also wesentlich durch Geschlechtsrollenstereotype bedingt sind) oder aber umgekehrt Geschlechtsunterschiede in Fähigkeiten unterschiedliche
Fähigkeitsselbstkonzepte nach sich ziehen, ist allerdings nur schwer zu beantworten, da
Selbstkonzept und Leistung wechselseitig aufeinander einwirken. Zusammenfassend
spricht die Empirie für reziproke Effekte (z.B. Guay, Marsh & Boivin, 2003), wobei die Wirkung von Leistung auf das Fähigkeitsselbstkonzept vergleichsweise stärker ist (Trautwein,
Lüdtke, Köller & Baumert, 2006).
Nichtsdestotrotz ist auch der Wirkzusammenhang vom Fähigkeitsselbstkonzept auf
die Leistung nicht vernachlässigbar. So fanden beispielsweise Eccles und Mitarbeiter/innen
in ihrem umfangreichen Forschungsprogramm, dass Fähigkeitsselbstkonzepte (z.B. „Für
wie gut halte ich mich in Physik?“) ein wesentlicher Prädiktor für leistungsbezogene Wahlen sind („Wähle ich Physik als Leistungskurs?“), die ihrerseits einen maßgeblichen Einfluss
auf die weitere Kompetenzentwicklung haben (z.B. Eccles & Wigfield, 2002), und zwar insbesondere in Schulsystemen (wie dem deutschen), in denen leistungsunabhängige Neigungswahlen von Fächern möglich sind (Nagy, Garrett, Trautwein, Cortina, Baumert &
Eccles, 2008). Weiter fanden Eccles und Mitarbeiter/innen, dass Fähigkeitsselbstkonzepte
nicht nur durch persönliche Erfahrungen in Leistungssituationen geprägt werden, sondern
wesentlich auch von den Geschlechtsrollenstereotypen relevanter Bezugspersonen beeinflusst sind: Eltern und Lehrer/innen haben Annahmen darüber, welche Fähigkeiten ein Kind
hat. Eccles und Mitarbeiter/innen konnten zeigen, dass Mädchen und Jungen in ihren Fähigkeiten in geschlechtskonnotierten Domänen (z.B. Englisch oder Mathematik) in Übereinstimmung mit Geschlechterstereotypen systematisch über- bzw. unterschätzt werden (z.B.
Frome & Eccles, 1998), dass die Bezugspersonen entsprechend geschlechtsdifferenzierte
Lernumgebungen bereitstellen (z.B. Jacobs, Davis-Kean, Bleeker, Eccles & Malanchuk, 2005)
und dass sich ihre Einschätzungen in den Fähigkeitsselbstkonzepten der Mädchen und
Jungen niederschlagen (z.B. Frome & Eccles, 1998).
Auch die Tatsache, dass Geschlechtsunterschiede in Fähigkeitsselbstkonzepten typischerweise größer ausfallen als tatsächliche Fähigkeitsunterschiede, spricht dafür, dass
Geschlechtsrollenstereotype – vermittelt über Fähigkeitsselbstkonzepte – Einfluss auf die
Leistungsentwicklung nehmen. So zeigte sich beispielsweise in der PISA-2006-Studie, dass
der Unterschied in der naturwissenschaftlichen Kompetenz zwischen deutschen Mädchen
und Jungen eine Effektstärke von nur d=.07 (Gesamtskala Naturwissenschaften) hatte, hingegen der Unterschied im naturwissenschaftsbezogenen Fähigkeitsselbstkonzept eine Effektstärke von d=.38. Auch in Ländern, in denen PISA-2006 keine Leistungsunterschiede
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