19.Sonntag nach Trinitatis, 18. Oktober 2009 Predigttext: Markus 2, 1-12, vgl. Mt. 9,1-8; Lk. 5,17-26 „Die Heilung eines Gelähmten“, „Der Gichtbrüchige“, „Die Vollmacht der Sündenvergebung“ Und als er wieder nach Kapernaum hineinkam, einige Tage darauf, wurde bekannt, dass er im Hause sei. 1 Und es versammelten sich so viele, dass der Platz nicht mehr reichte, nicht einmal vor der Tür draußen. Und er sagte ihnen das Wort. 3 Und sie kommen und bringen einen Gelähmten zu ihm, getragen von vieren. 2 Und da sie ihn wegen der Volksmenge nicht zu ihm hinbringen konnten, deckten sie dort, wo er war, das Dach auf, gruben es durch und lassen die Bahre, auf der der Gelähmte lag, hinunter. 4 Und als Jesus ihren Glauben sah, sagt er zu dem Gelähmten: »Kind, vergeben sind deine Sünden.« 5 6 Es saßen aber einige von den Schriftgelehrten dort und dachten in ihren Herzen: 7 »Was redet der so? Er lästert! Wer kann Sünden vergeben außer der eine Gott?« Und sogleich erkannte Jesus in seinem Geist, dass sie so bei sich denken, und spricht zu ihnen: »Warum denkt ihr das in euren Herzen? 8 Was ist leichter, dem Gelähmten zu sagen: 'Vergeben sind deine Sünden', oder zu sagen: 'Steh auf, nimm deine Bahre und wandle'? 9 Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, auf Erden Sünden zu vergeben« spricht er zum Gelähmten: 10 11 »Ich sage dir: stehe auf, nimm deine Bahre und geh heim in dein Haus.« Und er stand auf und sogleich nahm er die Bahre und ging hinaus vor ihnen allen, so dass alle außer sich gerieten und Gott priesen und sagten: »So etwas haben wir noch nie gesehen.« 12 (Übersetzung von J. Schniewind) Liebe Gemeinde! „Er hat uns allen wohl getan. Den Blinden gab er das Gesicht, die Lahmen macht’ er gehend; er sagt’ uns seines Vaters Wort, er trieb die Teufel fort; Betrübte hat er aufgericht’t; er nahm die Sünder auf und an; - sonst hat mein Jesus nichts getan.“1 Diese Worte der bedrängten Seele, gesungen von einem Sopran in der Bachschen Matthäuspassion, kamen mir in den Sinn, als ich mich auf die Predigt heute vorbereitet habe. Wir werden aufgefordert, über Jesu wunderbare Taten und seine Worte nachzudenken und uns zu fragen, wie wir das alles, Ihm nachfolgend, selbst umsetzen können. Für die vier Helfer war es wichtig, den Kranken zu Jesus zubringen. Er konnte es nicht allein schaffen und auch für seine Freunde war es schwierig genug, das zu bewerkstelligen. Mitten hinein in eine Zuhörerschar, die Jesu Lehre „im Hause“ hören wollte, praktizierten sie den Gelähmten. Das stört. Doch Jesus wendet sich dem Mann zu und vergibt ihm seine Sünden. Als ob der das vordringlich brauchte. Zunächst einmal, Sünden vergeben kann und darf nur Gott selbst. Das wissen nicht nur die Pharisäer, die Schriftgelehrten. Es steht schon in den Psalmen: „Bei dir, Gott, ist Vergebung, auf dass man dich fürchte.“ (Psalm 130,4). Und danach noch dieses: „Ich sage dir: stehe auf, nimm deine Bahre und geh heim in dein Haus.“ Seite 2 von 2 Wir erkennen, in Jesus Christus ist Gott am Werk. Wo er auftritt, redet und handelt, da Geschehen Dinge, die sonst nur Gott möglich sind. Sünden vergeben und wirklich heilen. Die Reihenfolge, in der das alles hier beschrieben wird, war und ist wohl mit dafür verantwortlich, dass Krankheit als Folge eines sündhaften Lebens betrachtet wird, als Strafe gewissermaßen für die Sünde. Selber dran schuld. Dem mag ich nicht folgen. Was ist Sünde? Sünde ist in biblischer Sicht die Gottferne und Gottlosigkeit des Menschen. - Sündigen heißt: Sichsondern von Gott und seinem Gebot der Liebe. Leben in der >Gottesfinsternis<2. Darum geht es zuerst. Aus der Gottesferne in Seine Nähe zu kommen. Sünden vergeben heißt das Wegräumen von Hindernissen zu einem neuen, lebenswichtigen Anfang. Jesus spricht das dem Kranken zu, ohne eine Vorleistung von ihm hier zu fordern. Erst dann, wenn diese Position gegenüber Gott geklärt ist, wie in unserer Geschichte, heilt er ganz real. Der durch Krankheit zuvor Unfähige wird zum Akteur, kann wieder aktiv am Leben teilnehmen. Wir sollen und wollen als Christen Ihm nachfolgen. Also, nur munter alle Sünden vergeben und dann wird alles gut. Doch Vorsicht. Wir selbst können gar nicht Sünden vergeben. Wir können nur geben, was wir vorher geschenkt bekommen haben. Das ist schon viel, aber es wird nicht reichen, damit alle Krankheit und persönliches Leid verschwindet. Doch wir können etwas ab- und weitergeben, können wie die vier Freunde des Kranken im Evangelium für ihn da sein und ihm Teilhabe ermöglichen, ihm so Sinn im Leben (und Leiden) geben. Auch wenn nicht nur an dieser Stelle im Neuen Testament Heilungswunder Jesu beschrieben sind, das Christentum ist keine Gesundheitsreligion. Pastoren allemal keine Wunderheiler. Ärzte ebenfalls nicht. Natürlich ist es eine ihrer großen Aufgaben, soweit wie möglich die Gesundheit ihrer Patienten zu erlangen. Ihnen dabei zu helfen, körperlich und seelisch gesund zu werden. Doch können sie wirklich heilen? Laut Weltgesundheitsorganisation ist „Gesundheit ist nicht nur die Abwesenheit von Krankheit. Gesundheit ist der Zustand völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens.“ Der Psychiater und Theologe Manfred Lütz bemerkt dazu, dass, wenn man diese Definition ernst nähme, sich „niemand mit Sicherheit als gesund zu bezeichnen“ 3 könne. Er geißelt und spottet in seinem Buch „Lebenslust“ über eine neue Weltreligion, den Gesundheitswahn. Aber nicht nur dieser, sondern auch das all gegenwärtige Streben nach dem „höchsten Gut“ Gesundheit und die daraus folgenden Ansprüche an die Medizin und das gesamte Gesundheitswesen, sind zu hinterfragen. Ist das höchste Ziel ärztlichen Handelns immer und um jeden Preis, Leben zu verlängern? Ich denke hier an gefeierte Erfolge nach dem Einsatz nebenwirkungsreicher Medikamente mit dem Ergebnis einer „signifikanten“ Lebensverlängerung von wenigen Wochen. Gibt es ein Recht auf Gesundheit? Im Sinne eines für alle geltenden Grundrechtes. „Das steht mir zu!“ Ein Anrecht auf medizinische Hilfe durch den Einsatz embryonaler Stammzellen, einen Anspruch auf das Organ eines anderen Menschen? Meistens bedeutet das ja den Tod eines Anderen vorausgesetzt. Ich will hier nicht die Fortschritte und Erfolge der Medizin in Frage stellen. Doch meine Antwort lautet eindeutig nein. Kein Rechtsanspruch. Wenn wir heute gern (wieder) von einer ganzheitlichen Medizin reden und damit meinen, dass Körper und Seele nicht voneinander zu trennen sind, so ist das eine gute Sache. Doch auch hier lauern Gefahren. Ganzheitliche, psychosomatische Medizin falsch verstanden bringt eine neue Qualität von Schuldgefühlen mit sich. Habe ich mich vielleicht nur nicht richtig eingestellt, bin ich, wenn die scheinbar besiegte Krankheit wieder aufflackert, nur nicht richtig damit umgegangen? Seite 3 von 3 Sie habe ihren Krebs besiegt, wird von der Einen berichtet und der Andere mag sich Vorwürfe machen, ihm sei das nicht gelungen, weil er nicht tapfer genug gekämpft. Plötzlich sind sie wieder da, Gedanken an persönliches Verschulden beim Auftreten von Krankheiten und drohendem Tod, an sündhafte, folgenschwere Lebensweise. Das hat religiöse Züge, ist möglicher Teil der neuen oben schon erwähnten gnadenlosen Gesundheits-religion, deren Teufel der Tod ist. Wir kehren zurück zum Ausgangspunkt, unserem heutigen Evangelium. Das Entscheidende, was Jesus tat war, dass er den Kranken und Hilflosen annahm, ihn als Menschen mit seiner Würde in Gottes Nähe stellte, den Abgrund, den Sund überbrückte, ihm seine Sünden vergab. Er machte ihn dadurch fähig, wieder am Leben teilzunehmen. Als Gottes Kind, krank oder gesund. Ohne Angst vor dem Leben und dem unausweichlichen Sterben. Er konnte wieder einen, seinen Weg gehen. Das ist das Wunder. Das ist die Gnade, auf die wir hoffen dürfen. - amen - 1 (Christian Friedrich Henrici „Picander“; J.S. Bach Matthäuspassion 1729) 2 (Martin Buber) 3 (Manfred Lütz: Lebenslust, München 2002) Dr. med. Michael Paulus Münscher Pastor im Ehrenamt