Innenansichten eines Patienten und was die

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17 mm
Wittwer / Folkers
Schmerzen begleiten uns alle. Licht in das Halbwissen über Schmerz und
den Umgang damit zu bringen, ist Ziel dieses Buchs. Eine Novelle als
Rahmenhandlung soll die Schmerzen im Leben der Menschen anschaulich
machen. Was dem Helden der Geschichte widerfährt, wird im Sachbuchtext
gespiegelt: die Entstehung von Schmerz, seine Linderung und Heilung,
die Kommunikation von Schmerz, Geschlechterunterschiede im Schmerzempfinden und das Verhältnis von Schmerz zu Lust. Dabei wird deutlich:
Dank der Wissenschaft gelingt es uns immer besser, den Schmerz unter
Kontrolle zu bringen.
Amrei
Amrei Wittwer
Wittwer
Gerd Folkers
Folkers
Gerd
Dr. Amrei Wittwer ist Apothekerin und Schmerzforscherin mit den
Schwerpunkten Schmerzlinderung, Prävention und Diagnose. Sie ist seit
Dezember 2009 Oberassistentin am Collegium Helveticum Zürich und
verantwortlich für transdisziplinäre Forschungsprojekte.
Prof. Dr. Gerd Folkers lehrt Pharmazeutische Chemie an der ETH Zürich.
Von 2004 bis 2015 leitete er das Collegium Helveticum. Seit 2016 ist er
Präsident des Schweizerischen Wissenschafts- und Innovationsrates.
Innenansichten
Innenansichten
eines Patienten
Patientenund
und
was die Wissenschaft
Wissenschaft
dazu sagt
sagt
ISBN 978-3-7776-2646-8
Die Schmerzleitung
Wie entsteht der Schmerz, den D. beim Ausreißen seiner Nasenhaare spürt?
Bis zur Renaissance behaupten die Anatomen, dass Schmerz – so wie alle
Wahrnehmungen – durch „Tiergeister“ entsteht, durch mysteriöse, unerkennbare Dämpfe, die durch die Hohlräume in unserem Körper wandern.
Descartes erklärt im 17. Jahrhundert in seinem Essay De homine1 erstmals
auf eine rationale und mechanische Weise – ganz ohne Tiergeister – die
Schmerzleitung. Er vergleicht die schmerzleitenden Nerven mit Seilzügen, an
deren Ende eine Glocke hängt, die sich im Gehirn befindet. Werden diese
Seilzüge durch schmerzhafte Reize gespannt, erklingt die Glocke, das heißt,
der Schmerz wird vom Betroffenen empfunden.
Natürlich ist diese bildliche Darstellung nicht korrekt – denn zwischen
dem Gewebeschaden, der durch das Ausreißen der Nasenhaare entsteht, und
der Empfindung des damit verbundenen Schmerzes läuft eine komplexe biochemische Reaktionskette ab, die noch nicht vollständig verstanden ist. Das
mechanische Bild von Descartes übersieht zudem den wichtigen Punkt, dass
Schmerz auch ohne Reize empfunden werden kann; Schmerz kann nämlich
vom schmerzverarbeitenden System ohne körperlichen Auslöser selbst erzeugt werden.
In diesem Buch wollen wir, mit der Hilfe einer großen Menge neuester
Erkenntnisse aus der Schmerzforschung, ein Modell des Schmerzempfindens
herleiten, um das Phänomen Schmerz besser zu verstehen. Dabei wird uns
unser Protagonist D. helfen, die Ich-Perspektive anzunehmen.
Nicht Tiergeister stehen im Zentrum unserer Aufmerksamkeit, es sind die
ebenso mysteriösen und unerkannten Schmerzneurone, denen wir uns in diesem Kapitel nähern wollen.2 Damit D. Schmerz empfinden kann, muss seine
Gewebsverletzung von einem Schmerzneuron registriert und in elektrische
Impulse übersetzt werden. Ein Schmerzneuron ist eine auf Schmerz spezialisierte Nervenzelle im Rückenmark mit einem langen, dünnen Ausläufer, an
dessen Ende sich Schmerzrezeptoren befinden. Diese langen Ausläufer sind
die Schmerzleitungsbahnen, welche die elektrischen Impulse vom Ort der
Verletzung – seiner Nase – über das Rückenmark in D.s Gehirn transportieren. Die langen dünnen Ausläufer der Schmerzneurone durchdringen D.s
ganzen Körper und ermöglichen so die Schmerzrezeption an jeder noch so
entlegenen Stelle.
Die Schmerzleitung
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Die elektrischen Impulse, welche die Schmerzinformation übertragen,
werden von einem Hemmsystem aus Neuronen in Rückenmark und Gehirn
moduliert, das heißt weitergeleitet oder abgeschwächt, bevor sie im Gehirn
weiter verarbeitet werden. Erst im Gehirn entsteht dann die subjektive
Schmerzwahrnehmung, die häufig von einer Schmerzäußerung begleitet
wird. Bei D. ist diese Schmerzäußerung ein kurzer, aber heftiger Fluch.
Zwischen dem Punkt, an dem der Schmerz entsteht, also der Nase von D.,
und dem Ort, an dem der Schmerz verarbeitet wird, seinem Gehirn, verlaufen Leitungsbahnen aus Neuronen. Sie leiten Reize von der Peripherie oder
den Organen zum Gehirn. Die Neurone verbinden das Gehirn mit allen Zonen des Körpers und werden deshalb auch als Ausstülpungen des Gehirns
bezeichnet. In den folgenden drei Abschnitten möchten wir herausfinden,
wie die Reaktionskette der Schmerzleitung in D.s Körper funktioniert: wie
die Rezeptoren seiner Schmerzneurone Schmerz registrieren, wie die Nervenfasern seiner Schmerzneurone Impulse weiterleiten und wie diese Information an einer Umschaltstelle – der Synapse – auf andere Neurone übertragen wird.
Wie werden schädliche Reize registriert?
Die körperlichen Strukturen, die die Verletzung von D.s Nasenschleimhaut
registrieren, heißen Schmerzrezeptoren. Es handelt sich um Eiweiße, die in
der Zellmembran der Nervenenden schmerzleitender Neurone liegen. Die
Schmerzrezeptoren stehen in direkter Wechselwirkung mit ihrer Umgebung,
dem Körper von D., den sie konstant analysieren. Ist der schädigende Reiz
am Rezeptor groß genug, um diesen zu aktivieren – wie es beim Ausreißen
von Haaren der Fall ist – reagieren die Neurone in der Nähe der betroffenen
Stelle mit einer Änderung ihrer elektrischen Ladung. Neurone sind nämlich
Zellen, die auf einen Reiz hin ihre Ladung mit Hilfe von Ladungsträgern, den
Ionen, ändern können. Im Ruhezustand ist das Innere des Neurons negativ
und die Außenseite positiv geladen. Bei einer Reizung des Schmerzrezeptors
strömen plötzlich positiv geladene Natriumionen ins Zellinnere, das dadurch
positiv aufgeladen wird. Diese Ladungsumkehr heißt Aktionspotenzial oder
Depolarisation. Die schmerzhafte Information aus der Nase von D. wird am
Rezeptor in eine elektrochemische Ladungsverschiebung umgewandelt, die
als nächstes als Aktionspotenzial an der Nervenfaser entlang wandert.
Schmerzrezeptoren kommen in D.s Haut, in seiner Muskulatur, den Organen und auch im Gedärm vor. Im Gehirn finden sich keine Schmerzrezeptoren, daher würde er bei Eingriffen daran keinen physischen Schmerz emp-
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Teil 1 Die Entstehung von Schmerz
finden. Im Menschen finden sich verschiedene Familien von Rezeptortypen,
die auf mechanische und thermische Schädigung sowie auf Entzündungsmediatoren, beispielsweise Bruchstücke aus zerstörten Zellen, reagieren. Viele
Arten von Schmerzrezeptoren reagieren jedoch auf alle Arten von Reizen
und werden deshalb als polymodal bezeichnet.
Wie gelangt der Schmerzreiz vom Rezeptor ins
Rückenmark?
Das Aktionspotenzial verschiebt sich im Neuron entlang seiner langen, dünnen Nervenfaser weg vom ursprünglichen Reiz. Die Fasern der Schmerzneurone reichen von ihren Nervenenden mit den Rezeptoren bis zum Zellkörper
in D.s Rückenmark – dahin leiten sie das Aktionspotenzial. Die Länge der
Nervenfaser kann bis über einen Meter betragen, beispielsweise von D.s Fuß
bis zu seinem Rückenmark. Der Zellkörper des Neurons steht über zahlreiche Verzweigungen mit vielen anderen Neurone in Verbindung – über diese
Verbindungen wird das Aktionspotenzial von der einen auf die nächste Nervenzelle übertragen. Das gesamte Rückenmark von D. besteht aus den Nervenfasern und Zellkörpern einer riesigen Menge von Nervenzellen, die neben der Schmerzinformation auch alle anderen Arten von Information zwischen Peripherie und Gehirn vermitteln.
In D.s Nase befinden sich die Schmerzrezeptoren auf zwei verschiedenen Typen von Schmerzneuronen, die sich im Aufbau der Nervenfaser und damit in
ihrer Leitungsgeschwindigkeit unterschieden: Aδ-Neurone und C-Neurone.
Die Aδ-Neurone gehören zu einer Gruppe von vier Neuronentypen mit unterschiedlicher Funktion, die durch griechische Buchstaben unterschieden
werden. Während beispielsweise Aδ-Neurone Schmerz leiten, sind AαNeurone mit Muskeln verbunden und für motorische Reflexe verantwortlich.
Allen A-Neurone gemeinsam ist, dass sie von einer isolierenden fetthaltigen
Myelinschicht umgeben sind, die in regelmäßigen Abständen unterbrochen
ist. Bei der Reizleitung springt das Aktionspotenzial von einer Unterbrechung zur nächsten, was eine schnellere Reizleitung erlaubt: Im Mittel beträgt die Schmerzleitungsgeschwindigkeit bei Aδ-Neuronen etwa 15 Meter
pro Sekunde oder 54 Kilometer pro Stunde – dieser Wert liegt oberhalb der
Geschwindigkeitsbegrenzung für städtischen Verkehr. Im Gegensatz dazu
leiten die C-Neurone ohne Myelinschicht Schmerzreize nur mit ungefähr einem Meter pro Sekunde, also in Schrittgeschwindigkeit.
Die Schmerzleitung
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Das Entfernen von D.s Nasenhaaren erregt sowohl die schnellen Aδ- als
auch die langsamen C-Neurone in seiner Nase. Er empfindet zuerst einen
hellen Schmerz, vermittelt durch die Aδ-Neurone. Dann, nach einem kurzen
schmerzfreien Intervall von circa einer Sekunde, bekommt er die zweite
Schmerzempfindung mit dumpfem, schlecht lokalisierbarem Charakter zu
spüren, die durch die langsameren C-Neurone vermittelt wird. Weil D. sich
viele Haare ausreißt, schwächt sich der erste Schmerz mit der Zeit ab, während der zweite Schmerz kontinuierlich während der Enthaarung zunimmt.
Die Erregung der schnellen Aδ-Neurone löst einen Reflex aus: D. zuckt
beim ersten Schmerz an der Nase blitzschnell zusammen. Noch eindrücklicher ist der Schmerzreflex, als D. beim Kaffeekochen versehentlich mit der
Hand die heiße Herdplatte berührt: Er zieht seine Hand ohne zu überlegen
zurück und verhindert so eine schwere Verletzung. Schmerzreflexe sind nicht
willentlich kontrollierbar, weil das Aktionspotenzial ohne Beteiligung des
Gehirns im Rückenmark auf ein Aα-Neuron des sympathischen Nervensystems weitergeleitet wird, das wiederum die Muskeln steuert. Mit einer Leitungsgeschwindigkeit von 100–150 Metern pro Sekunde oder 360 Kilometern pro Stunde – also schneller als ein französischer Schnellzug in voller
Fahrt – sind die Motoneurone die schnellsten Neurone. Reflexe wie dieser
schützen D., indem sie, ohne Umweg über das Gehirn, eine sehr schnelle Reaktion seines Körpers erlauben. D.s Körper zieht die Hand ganz automatisch
ohne seine bewusste Entscheidung von der Herdplatte zurück. Durch diese
sehr schnelle Reaktion verhindert D.s Körper eine Verbrennung zweiten Grades. Stattdessen muss er nur mit zwei angesengten Fingerkuppen leben.
Wie gelangen Schmerzreize vom Rückenmark ins Gehirn?
Damit die Signale reguliert werden können, müssen sie immer wieder von
einer Nervenzelle auf die nächste springen. Das geschieht an den sogenannten Synapsen. Auf dem Weg in D.s Gehirn muss das Aktionspotenzial – die
elektrochemische Information über den Schmerzreiz – eine ganze Reihe von
Synapsen passieren, die sich im Rückenmark befinden. Synapsen sind die
entscheidenden Stellen der neuronalen Kommunikation, an ihnen wird die
Information zwischen zwei Zellen übertragen oder gestoppt. Sie fassen sehr
viele neuronale Eingangssignale der verschiedensten Nervenfasertypen zusammen.
Unter dem Mikroskop erscheint eine Synapse als die zwei abgeplatteten
Nervenenden zweier Neurone, die einander gegenüberstehen. Ein Ende ist
der Senderteil, das andere Ende ist der Empfängerteil. Der mit Flüssigkeit
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Teil 1 Die Entstehung von Schmerz
gefüllte Raum zwischen den Nervenenden heißt synaptischer Spalt. Die Synapsen in D.s Körper werden fortlaufend gebildet und auch wieder zurückgebildet.
Der Austausch von Information zwischen Empfänger- und Senderteil der
Synapse geschieht durch den Austausch chemischer Botenstoffe, der sogenannten Transmitter. Der elektrische Puls eines Aktionspotenzials ändert die
Membraneigenschaften der Synapse. Er öffnet Kanäle im Senderteil der Synapse, dadurch werden Transmitter in den synaptischen Spalt ausgeschüttet.
Die Zelle auf der gegenüberliegenden Seite ist mit Transmitterrezeptoren
ausgestattet. Diese Rezeptoren können geometrische und elektrische Eigenschaften der Transmittermoleküle erkennen. Werden die Transmitter von
den Rezeptoren der Empfängerzelle registriert, so bewirkt dies eine Ausschüttung von Ionen und damit ein neues Aktionspotenzial. Damit ist der
Schmerzreiz von der Senderzelle auf die Empfängerzelle übertragen worden
und wird entlang der Nervenfaser bis zur nächsten Synapse geleitet. Die
Transmitter werden schnell aus dem synaptischen Spalt entfernt. Sie diffundieren ab, werden abgebaut oder wieder in die Zelle aufgenommen.
Unterhalb einer gewissen Konzentration von chemischen Botenstoffen
reagiert die Empfängerzelle nicht und verhindert so die Weiterleitung des
Reizes.
Die Schmerzreize, die durch D.s Nasenepilation entstanden sind, haben die
Synapsen offensichtlich überwunden. Doch nicht alle Schmerzreize schaffen
dies. Im nächsten Kapitel werden wir erfahren, dass das Gehirn die Schmerzwahrnehmung verändern kann, indem es die körpereigene Schmerzschwelle
an den Synapsen moduliert.
II Die Wohnungstüre fiel mit einem dumpfen Schlag ins Schloss. Jedes
Mal, wenn sie fortging, blieb weniger von ihm übrig, jedes Mal, wenn
II
sie ihn verließ, vergrößerte sich die Leere in ihm. Es war gut, dass der
Schlüssel nun endlich auf dem Tisch lag, dass sie ohne seine Erlaubnis
nie wieder eintreten würde. Dass er in diesen Mauern ohne sein Einverständnis ihr Gesicht nie mehr sehen würde. Doch warum war ihm so
übel, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte? Ihr Wohnungsschlüssel, das banale Objekt auf dem Tisch, saugte ein Vakuum in seine
Küche, und er musste sich an der Anrichte festhalten, um nicht zu
stürzen.
Die Schmerzleitung
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