Gerhard Marcel Martin: „Körpergebet“ - Eine erste Orientierung Beten ist – religionsgeschichtlich genauso wie theologisch betrachtet – umfassend nicht zuletzt und immer auch eine körperliche Praxis. Dies ist in Gebetshaltungen und Atempraktiken unübersehbar. In den letzten Jahrzehnten ist es nun besonders in katholischen Schulen und Zentren der Meditation zu spezifischen neuen Modellen von „Körpergebet“ gekommen. Dabei handelt es sich um eine Begriffsprägung von Willigis Jäger und Beatrice Grimm.1 Als Übungsweg ist das „Körpergebet“ aber auch bei Sebastian Painadath, Franz Jalizs, Alfons Rosenberg und anderen zu finden. Es geht dabei um Praktiken, die auch weit in den evangelischen Bereich starke Ausstrahlung haben. Man findet diese Praxis in facettenreichen Ausprägungen mit jeweils verschiedenen Impulsen aus eigenen Traditionen, aber auch aus diversen Körpertherapien, aus anderen religiösen Kontexten und aus freien spirituellen Szenen. Historisch etwa gibt es Beziehungen zum „Herzensgebet“ der orthodoxen Kirche mit dem einzigen, mantra-artigen Gebetssatz „Herr Jesus Christus, erbarme Dich meiner“. Anschlüsse gibt es auch an die Exerzitien des Gründers des Jesuitenordens, Ignatius von Loyola (1491-1556). Gegenwärtige Impulse kommen westlich aus der Körperarbeit von Gerda Alexander (Eutonie) und aus der Gestaltpsychologie, östlich von Versenkungstechniken verschiedener Herkunft (Zazen, Yoga). Die Übungspraxis des Körpergebets ist wesentlich vorsprachlich und zumeist mit wenigen Symbolisierungen und Ausdrucksgebärden verbunden – oft mit Konzentration auf den Atem oder den Herzrhythmus. Es geht um elementares Gegenwärtig- und Stille-Werden, um transpersonale und kosmische Erfahrungshorizonte. In einer Marburger Doktorarbeit hat Julia Koll die verschiedenen Ausprägungen von Körpergebet vor allem mit Kategorien der Leib-Phänomenologie kritisch zu verstehen versucht.2 Phänomenologie thematisiert primäre Wahrnehmungen eines Subjekts, das den verschiedenen Eindrücken und Atmosphären eher ausgesetzt ist, als dass es sie seinerseits strukturiert. In dieser philosophischen Schulrichtung wird der Personkern, das „ich“ dieses Subjekts keineswegs als Produzent und Souverän seiner Stimmungen, seiner Bewegungs- und Handlungsimpulse und seiner Konzeptbildungen verstanden. Es geht um trans-reflexives, trans-diskursives „atmosphärisches“ und „eigenleibliches“ Spüren, das noch keinem 1 Willigis Jäger / Beatrice Grimm: Der Himmel in dir. Einübung ins Körpergebet. München 2000. Julia Koll: Körper beten. Religiöse Praxis und Körpererleben, Stuttgart 2007, dort auch die Darstellung und Diskussion der verschiedenen genannten Konzepte des Körpergebets. 2 1 besonderen einzelnen Wahrnehmungsorgan zuzuordnen ist. Der Phänomenologe Hermann Schmitz macht eine zentrale Unterscheidung zwischen „primitiver“ und (in jeder Form von Kultur) „entfalteter“ Gegenwart. Leben bewegt sich zwischen diesen beiden Polen. Schmitz spricht von „Regression“ und „personaler Emanzipation“, von prä-personaler und personaler Subjektivität, ohne damit eine Wertung zu verbinden. Deutlich steht „eigenleibliches Spüren“ lebenslang in Entsprechung und Spannung zu Dimensionen der „entfalteten Gegenwart“, das heißt zum Auseinandertreten der fünf Momente von Hier / Jetzt / Dieses / Dasein / Ich. Die Phänomenologie versucht einen Bereich anderer, nicht besserer, aber unmittelbarerer Wahrnehmung zu markieren, die in den klaren Trennungen zwischen diesen fünf Momenten und in ihren Entfaltungen verloren geht. Dabei handelt es sich um einen Bereich von Ruhe und meditativer Zentrierung und zugleich Entgrenzung, aus denen heraus Menschen in Bewegung kommen und in den Alltag der Welt zurückkehren können. Das ist sogar die Pointe: Der Weg geht zurück in die differenzierte Sinnlichkeit, in die Handlungsfähigkeit – aber eben im bleibenden Kontakt zu dieser „primitiven“ Gegenwart. In einem weiteren Beitrag bringt Julia Koll das „eigenleibliche Spüren“ mit dem Konzept der „Coenästhesie“ bei dem Säuglingsforscher René Spitz und mit Gernot Böhme zusammen. Dieser „Philosoph geht von einer ursprünglichen Einheit der Sinneserfahrung aus, die noch nicht in spezifische Sinne unterteilt werden kann“. Die „coenästhetische Wahrnehmung“ ist „zwar ein Charakteristikum des Säuglingsalters … , aber ihre basale Bedeutung für die Orientierung in der Welt, für unser Verhältnis zu anderen Menschen wie zu uns selbst (behält sie) ein Leben lang“. Julia Koll resümiert, „dass das Beten mit, in und durch den Körper darauf zielt, die coenästhetischen Potentiale des Menschen wahrzunehmen, ihnen Raum zu lassen und sie zu schulen. Die besondere (ästhetische) Qualität dieser religiösen Praxis“ bestünde darin, „von einzelnen sinnlichen Wahrnehmungen immer mehr zu lassen, um auf eine ihnen zugrunde liegende Dimension „des Körpererlebens zurückzugehen“.3 (C) GMM 2011 3 Julia Koll: Mit allen Sinnen beten. Zur ästhetischen Qualität einer religiösen Praxis, in: evangelische aspekte, 16 (2006) Heft 1, 24-27. 2