Tatjana Fedjaewa: Wittgenstein und Russland. Sankt Petersburg 2009 Eine Sammlung von zehn Aufsätzen liegt in diesem Band sowohl in einer russischen als auch in einer deutschen Version vor. Diese Tatsache ist schon ein äußeres Zeichen dafür, dass Tatjana Fedjaewa, Philosophin und Literaturwissenschaftlerin in St. Petersburg, mit dieser Veröffentlichung einen Brückenschlag zwischen der deutschsprachigen (namentlich der deutschen und österreichischen) und der russischen Lebens- und Geisteswelt anstrebt. Dasselbe Streben deutet auch der Titel des Buches an: er verweist auf eine Verbindung zwischen einem der weltweit bedeutendsten Philosophen, dem aus Österreich stammenden und lange Zeit in England lebenden Ludwig Wittgenstein, auf der einen und „Russland“ auf der anderen Seite. Bei fortschreitendem Lesen zeigt sich, dass die zunächst aus isolierten Anlässen entstandenen Aufsätze untereinander durch eine innere Dynamik konsequent verbunden sind; in wechselseitiger Erläuterung bilden sie schließlich so etwas wie eine kulturgeschichtliche Monographie. So hat etwa der erste Essay: „Wittgenstein und russische Literatur“ (S. 113-124), den Charakter einer Thesenbildung: „Sprachkritische Ideen von Wittgenstein waren von religiösen Vorstellungen, wie sie Tolstoi und Dostojewski verstanden haben, durchdrungen.“ So lautet eine der „Thesen“, die dann – ausgehend von Ludwig Wittgensteins Ergriffenheit von der Lektüre der Schriften dieser beiden Autoren während des Ersten Weltkriegs – an Beispielen erläutert wird. Dabei tritt auch – so wie auch in dem Aufsatz „’Ich bin… Evangelist“: Wittgensteins logischer Ikonismus“ (S. 192-214) – deren Wirkung auf das „Sprach-Modell“ der ersten philosophischen Schrift Wittgensteins zutage – des „Tractatus logico philosophicus“. In dem Essay: „Wittgenstein und Nikolai Bachtin“ (S. 125-133) erfährt man Näheres über die bislang „unbekannte Freundschaft“ des Philosophen mit einem aus der Sowjetunion emigrierten Kollegen an der Universität in Cambridge. Diese Freundschaft mit Nikolai Bachtin, selbst Philosoph, Linguist, Literaturforscher und Literat, bewirkte sozusagen ein „updating“ von Wittgensteins Beziehung zur russischen Kultur. So hat ihm Bachtin während der frühen dreißiger Jahre vermutlich die Bedeutung der Alltagssprache in den Erzählungen Puschkins als eine Anregung zum Sprachspiel-Modell in seinen „Philosophischen Untersuchungen“ nahegebracht. Vor allem dürfte er ihn aber auch mit den Schriften seines Bruders, des Philosophen und Philologen Michail Bachtin, bekannt gemacht haben. In einem weiteren Essay: „Nikolai und Michail Bachtin: ein unhörbarer Dialog“ (S. 134143) führt uns diese „zeitgeschichtliche Wanderung“ zunächst zurück in die gemeinsame Kindheit und Jugend der beiden Brüder und hin zu deren politisch aufgenötigten Gang – bei Nikolai ins „äußere“ bei Michail ins “innere Exil“ bis hin zu jahrelang aufgezwungenen Gulag-Aufenthalten, unter anderem in Kasachstan. Entscheidend bleiben dabei jedoch stets parallel verlaufende geistige Entwicklungs-Prozesse, bleibt der „unhörbare Dialog“, den die beiden Brüder trotz jahrzehntelanger Trennung führten. Die von ihnen erhaltenen Schriften bezeugen, dass jeder von ihnen elementare „Kritik an dem nur an sich selbst orientierten monologischen Bewusstsein“ (S. 137) übte. Beide schufen sie damit die Voraussetzung zur Verbreitung einer dialogischen Denkweise; und eben damit wirkten sie auch auf das Denken des späteren Wittgenstein ein. In den Aufsätzen „M. Bachtin und Wittgensteins Spätphilosophie“ (S. 155-162) und „Zum Begriff des Sprachspiels bei L. Wittgenstein, A. Belyi, M. Bachtin“ (S. 203-214) wird der Möglichkeit dieser Einwirkung im Detail nachgegangen: „Als echte ‚Nachfolger’ von Dostojewski suchen Wittgenstein und Bachtin nach den Wegen der Überwindung des Solipsismus. Sowohl Bachtin in der Dialogtheorie, als auch Wittgenstein in der Theorie der Sprachspiele geben uns die Schlüssel, die die Anderen verstehen lassen.“ (S.160). In den „Philosophischen Untersuchungen“ schreibt Wittgenstein: „Das Wort ‚Sprachspiel’ soll hier hervorheben, dass Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“ Dies könnte, wie die Verfasserin in dem Aufsatz: „Wittgensteins Russland-Reise: Versuch einer neuen Rezeption“ (S.163-173) vermutet, vielleicht auch als ein Motiv für Wittgensteins Entschluss gelten, um das Jahr 1934 russisch zu lernen und in die Sowjetunion zu reisen, sich möglicherweise dort sogar niederzulassen. Jedenfalls ist damit ein guter Grund ausgesprochen, um in Russland persönlichen Kontakt mit wichtigen Vertretern des geistigen Lebens aufzunehmen. Und vieles spricht dafür, dass er auch mit dem damals internierten Michail Bachtin zusammen kam. Wer über die Ursprünge des dialogischen Denkens in Österreich unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg Bescheid weiß, dem klingt dies alles recht vertraut, und man stellt sich zu Recht die Frage: handelt es sich bei Michail Bachtins Herausarbeitung dialogischer Denk-, Sprech- und Handlungsformen um eine autonome Endeckung, die sich unter dem Druck der Verhältnisse als Alternative zur marxistisch-leninistischen Doktrin von selbst ereignete? Oder lässt sich diese Herausarbeitung auf die Lektüre der Schriften Ferdinand Ebners, der als der eigentliche „Entdecker“ dieser Formen anzusehen ist, und der Schriften Martin Bubers zurückführen? Diese Frage hat sich auch die Autorin in aller Ausführlichkeit gestellt: In zwei Aufsätzen: Michael Bachtin und die Brenner-Tradition“ (S. 144-154) und „Ferdinand Ebner und Michail Bachtin“ (S. 174-191) bringt sie reichlich Argumente vor, die einen Einfluss namentlich des Hauptwerks von Ferdinand Ebner („Das Wort und die geistigen Realitäten“, Innsbruck, Brenner-Verlag 1921) und möglicherweise auch von Martin Bubers „Ich und Du“ (1923) auf Schriften Michail Bachtins („Zur Philosophie der Tat“, geschrieben ca. 1924, und „Probleme des Schaffens bei Dostojewski“, 1929) dringend nahelegen: „Es gibt nur das Wort als Anrede, das Wort, das mit dem anderen Wort in dialogischem Kontext steht.“ So heißt es bei Bachtin und so hieß es zuvor schon bei Ebner. Die Argumente beziehen sich aber nicht nur auf „philologische“ Übereinstimmungen; vielmehr weist die Verfasserin auch auf einen faszinierenden biografischen Sachverhalt hin, der einen direkten Einfluss Ebners und der durch die Innsbrucker „Brenner“-Zeitschrift vermittelten Geistigkeit sehr wahrscheinlich macht: 1913-1914 lernte Michail Bachtin in Odessa den Schweizer Hans Limbach kennen, der – bei einer vornehmen Familie als Hauslehrer tätig – auch in der Ukraine regelmäßig den „Brenner“ und die Veröffentlichungen des Brenner-Verlags zugeschickt bekam. Die beiden pflegten miteinander intensiven geistigen Austausch, der möglicherweise bis in die ersten zwanziger Jahre anhielt. Selten findet man – um mit Max Weber zu sprechen – kulturelles Gemeinschaftshandeln“, das sich über so weit von einander entfernte Bereiche wie damals Österreich und Russland zu erstrecken vermag, derart konkret und intensiv dokumentiert wie in diesem Buch. Es ist zu hoffen, dass es deshalb und auch aufgrund der darin erläuterten Sprachthematik seine Wirkung auf unsere heutige sprachverwirrte Zeit nicht verfehlen wird. Walter Methlagl