SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 AULA - Manuskriptdienst (Abschrift eines frei gehaltenen Vortrags) Jenseits von Gut und Böse Neue Maßstäbe einer modernen Wirtschaftsethik Autor: Dr. Klaus-Jürgen Grün* Redaktion: Ralf Caspary Sendung: Sonntag, 19. Juli 2009, 8.30 Uhr, SWR 2 ___________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula (Montag bis Sonntag 8.30 bis 9.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden erhältlich. Bestellmöglichkeiten unter Telefon: 07221/929-6030 Entdecken Sie den SWR2 RadioClub! Lernen Sie das Radioprogramm SWR2 und den SWR2 RadioClub näher kennen! Fordern Sie unverbindlich und kostenlos das aktuelle SWR2-Programmheft und das Magazin des SWR2 RadioClubs an. 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Das zeigt sich gerade angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise, hier geht es vor allem auch um ethische Maßstäbe eines völlig aus dem Ruder gelaufenen Systems, in dem die Akteure rücksichtslos auf Profit gesetzt haben. Wenn wir auf solche Krisen adäquat reagieren wollen mit zum Beispiel ethischen Regeln, dann brauchen wir eine neue Ethik. Denn die traditionelle Moral, die sich etwa an den Philosophen Kant anlehnt, die das Gute in den Vordergrund stellt, einen universellen geistigen Wert, der nichts mit Neigung, Gefühl oder überhaupt der physischen Natur des Menschen zu tun hat, diese traditionelle Ethik hat versagt. Das wiederum meint Dr. Klaus Jürgen Grün, Philosoph und Unternehmensberater, der in seinen Seminaren immer wieder versucht, eine neue Ethik zu skizzieren, die aktuelle Probleme zu lösen vermag. In der SWR 2 AULA führt Grün seine Kritik an der traditionellen Ethik aus und formuliert Alternativen. Klaus-Jürgen Grün: Der Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Drama „Der Besuch der alten Dame“ verfasst. Dieses Stück ist insofern interessant für unseren Kontext der Ethik, als es die Geschichte in einen spannenden Zusammenhang einbringt, in dem etwas geschieht, was wir eigentlich so nicht unter Ethik und Moral verstehen: Die Bewohner der Stadt Güllen warten auf ihre frühere Bürgerin Claire Zachanassian. Sie war einst vertrieben worden, nachdem ihr Freund Alfred Ill sie geschwängert, sitzen gelassen und dann mit verschiedenen Meineiden aus der Stadt hat verjagen lassen. Nun kehrt sie als reiche alte Frau zurück. Sie verspricht, der Stadt aus deren Finanzkrise zu helfen, in die sie durch schlechtes Wirtschaften geraten ist. Eine Milliarde soll sie bekommen, die eine Hälfte auf die Bürger verteilt, die andere auf die Gemeinde – jedoch nur unter einer Bedingung: Sie will, dass Alfred Ill getötet wird. Den Sarg hat sie gleich mitgebracht. Sie sagt, sie will Gerechtigkeit. Jeder Zuschauer, jeder Leser weiß aber, dass sie Rache meint. Das Wort „Rache“ fällt jedoch nicht ein einziges Mal im Stück, nur „Gerechtigkeit“. Verdrängen wir also mit dem Zauberwort „Gerechtigkeit“ etwas aus den Tiefen unserer Triebstruktur, etwas, das mit Rache zu tun hat? Bevor ich auf diesen Mechanismus näher eingehe, möchte ich grundlegende Überlegungen über den Zusammenhang von Ethik und Moral vorstellen und zeigen, nach welchem Mechanismus uns vor allem Moral stets ein gutes Gefühl gibt, während sie im Untergrund dabei etwas recht Übles vorbereiten kann. SWR2 AULA vom 19.07.2009 Jenseits von Gut und Böse – Neue Maßstäbe einer modernen Wirtschaftsethik Von Dr. Klaus-Jürgen Grün 3 Moral, so seit einigen Jahrzehnten die Selbstverständlichkeit im akademischen Diskurs, ist das, was jeder Mensch von Natur aus in seinem gesellschaftlichen Rahmen ausbilden kann, in seiner Religion, in seiner Familie, in seiner Kultur, in seinem gewohnten Umgang mit anderen Menschen. Moral ist die Selbstverständlichkeit des wertenden Handelns in unserem normalen Leben. Dass sich Moral-Systeme von Land zu Land, von Kultur zu Kultur, ja manchmal von Mensch zu Mensch unterscheiden können, ist eines der Probleme, mit denen wir in der globalisierten Welt zu tun haben. Ethik versucht, diese Differenzen zwischen verschiedenen Moral-Systemen wissenschaftlich auf einen Begriff zu bringen. Sie fragt danach, welche der grundlegenden Werte unseres moralischen Handelns in einem globalen Sinn verbindlich sein können. In der Ethik kommt also etwas zur Sprache, was in der Moral mit Selbstverständlichkeit gelebt wird. Wir spüren das, wenn wir uns beispielsweise das Wort „Ethik“ genauer ansehen. Ethik – sie klingt immer ethisch. Es ist nicht korrekt zu fragen, welchen Schaden Ethik anrichtet. Ethik setzt daher stets ein wertendes Urteil voraus. Ethik hält sich selbsterklärtermaßen für „das Gute“. Der Soziologe Niklas Luhmann hat schon sehr früh erkannt, dass Ethiken meistens ein moralisierendes Werturteil voraussetzen. Er nannte diese Ethiken daher „moralisierende Ethiken“. In diesem Verständnis der Ethik, das dadurch zum Ausdruck gebracht wird, erkennen wir zugleich die Schwäche, die moralische Werte von vorne herein mitbringen. Das Moralische verdrängt eine Struktur in unserem Triebleben, mit der wir uns selbst nicht mehr anfreunden können. In jeder Rede vom „moralisch Guten“ begegnen wir diesem Verdrängten, die Geschichte ist reich an Beispielen. In diesem Jahr feiern wir das Jubiläum der Darwinschen Hauptschriften, des Darwinschen Geburtstages. Darwin selber lebte immerzu mit diesem Widerspruch. Dieser Widerspruch wird deutlich in der Anekdote: Zwei Bürgersdamen in England unterhielten sich, nachdem das berühmte Buch „Die Entstehung der Arten“ erschienen war. Die eine sagte: „Das kann doch wohl nicht wahr sein, was Darwin schreibt. Und wenn es wahr ist, dann müssen wir verhindern, dass Menschen davon Kenntnis erlangen.“ Dieses Beispiel zeigt, in welcher Weise unser moralisches Werten verletzt werden kann und sich selber durch moralisierende Worte wiederum reinigen möchte. Warum müssen wir verhindern, dass bestimmte Wahrheiten sich unter den Menschen verbreiten – wenn es denn um eine Wahrheit in der Darwinschen Lehre geht? Die Antwort lautet: weil wir es nicht ertragen können, dass wir Menschen einer sehr natürlichen Basis entstammen. Darwins Werk zeigt, wie der Mensch in seinem gesamten Leben aus der Natur heraus erwachsen ist. Im moralischen Selbstverständnis erleben wir diese Natur jedoch nicht mehr. Im Moralischen glauben wir, einer anderen Natur folgen zu müssen. Immanuel Kant beispielsweise hat diese Differenz stets ausgewiesen, indem er davon sprach, dass der Mensch Bürger zweier Welten sei: dem Reich der Natur auf der einen Seite angehörig und dem Reich der Freiheit auf der anderen Seite. Moral und Ethik gehören dem Reich der Freiheit an, die Natur dagegen ist das Triebhafte, offenbar das Unbeherrschbare, was durch Moral beherrscht werden soll. SWR2 AULA vom 19.07.2009 Jenseits von Gut und Böse – Neue Maßstäbe einer modernen Wirtschaftsethik Von Dr. Klaus-Jürgen Grün 4 Wir erleben im Zusammenhang zwischen Natur und Moral eine Angst vor der eigenen Leiblichkeit, eine Angst vor der physischen, biologischen Natur des Menschen. Wir können an verschiedenen Sprachformen von dieser Angst einiges erfahren. Wenn Sie im Sport- oder Fitness-Studio sind, fragen Sie einmal einen etwa 60-jährigen Mann, der dort auf dem Trainer eine Stunde, zwei Stunden keuchend strampelt, der sich anschließend mit Gewichten belastet, fragen Sie einmal, warum er das tut. Er wird Ihnen antworten: „Man muss doch was für seine Gesundheit tun!“ Er wird nicht sagen: „Ich möchte auch im Alter noch gut aussehen.“ Er antwortet mit einem verräterischen „Man muss doch etwas für sich tun“. Vor kurzem konnte man eine Mutter in einem Interview erleben, die als junge Frau in Italien ihr neugeborenes Kind ausgesetzt hatte. Auf die Frage, warum sie das machte, sagte sie: „Man war ja überfordert.“ Moral hat es damit zu tun, was wir in diesem kleine Wörtchen „man“ stets zum Ausdruck bringen. Wenn wir uns dieses Wörtchens bedienen, dann verdrängen wir eine eigene Lust oder eine eigene Angst oder die eigene Natur und berufen uns auf ein allgemeines Interesse. Wenn ich sage „man macht das nicht“, dann möchte ich ein Gebot, eine Forderung so aussprechen, als gäbe es ein allgemeines Interesse, dass jeder Mensch genauso handeln müsste, wie ich das jetzt tue. Das Wörtchen „man“ erlaubt mir Distanz zu meiner eigenen Leidenschaft, zu meiner eigenen Angst zu gewinnen. Interessanterweise hat wiederum Immanuel Kant, der große Philosoph am Ende der Aufklärung, der die Begriffe Ethik und Moral auf einen gemeinsamen Nenner bringen konnte, diesen Zusammenhang in seinem kategorischen Imperativ ausgesprochen. Der kategorische Imperativ möchte, dass wir unser Handeln stets unter eine Maxime stellen, von der wir erwarten können, dass sie überall und jederzeit zur Grundlage der allgemeinen Gesetzgebung herangezogen werden kann. Deutlicher kann man es nicht sagen. Kant möchte, dass der ethisch-moralische Wert einer Handlung allein dadurch zustande kommt, dass wir diese Handlung so verrichten, als hätten wir kein eigenes Interesse an dieser Handlung. Immanuel Kant glaubte, dieses Gesetz aus dem Studium der reinen Vernunft abgeleitet zu haben. Er irrte. Wir wissen heute, dass dieses Gesetz nur der rationale Ausdruck genau dieses Handelns ist, das wir mit diesem Wörtchen „man“ zum Ausdruck bringen. Durch das Wörtchen „man“ passiert etwas, nämlich ich verdränge mein eigenes Interesse an einer Handlung, die zu unterlassen oder zu tun ist, und ich erkläre diese Handlung dadurch zu einem allgemein Guten. Der Mechanismus, um den es in bezug auf unsere moralischen Werte geht, den wir in der Anekdote von Friedrich Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ begegnet sind, der Mechanismus, der es ermöglicht, dass wir durch ein Wort wie Gerechtigkeit eigentlich verdrängen können, dass es uns im Grunde um Rache geht, dieser Mechanismus findet sich im kategorischen Imperativ ausgesprochen. Moral möchte, dass eine Handlung vom Individuum losgelöst erscheint und zu einer höheren Würde aufsteigt. In dieser höheren Würde geschieht etwas Weiteres, was uns bewusst werden muss, wenn wir verstehen wollen, welche Gefahren auch mit moralischen Werten verbunden sind. Dieses Höhere gibt uns das Gefühl, am Ende nicht mehr Bürger dieser Welt zu sein, wie Kant es sagen würde, wenn er von seinem Reich der Freiheit spricht. Die Ethiken, die aufgebaut sind auf dem Bedürfnis, unser Handeln in SWR2 AULA vom 19.07.2009 Jenseits von Gut und Böse – Neue Maßstäbe einer modernen Wirtschaftsethik Von Dr. Klaus-Jürgen Grün 5 eine höhere Vernunftsphäre zu übertragen, täuschen uns vielfach über die wahren, vielfach materiellen Gründe moralischen Wertens und Handelns. Was aber sind die Gründe moralischen Wertens? Wenn wir uns wiederum anschauen, in welcher Weise ethisch-moralische Formulierungen gebraucht werden, dann sehen wir, dass sie stets einer verdrängten Lust, die zur Angst geworden ist, dienen müssen. Moralisches Werten stützt sich auch auf die Angst, die aus der verdrängten Lust entstanden ist. Aber wie steht es mit den anderen Leidenschaften, mit den anderen Elementen, die noch ein Bestandteil unserer Lust sind, wenn sie durch die Moral verdrängt werden? Hier begegnen wir einer in der Gegenwart besonders heftig diskutierten Frage, nämlich der Frage, wie wir mit den Schwachen in unserer Gesellschaft umgehen sollen. Ethiken, wie wir sie heute erleben, erlauben uns nicht, den Grund ihrer Existenz in der Natur des Menschen aufzusuchen. Die radikale Formulierung, die wir demgegenüber verwenden müssten, lautet: Ethik und Moral existieren nur deswegen, weil wir diejenigen unserer Gesellschaft, die von Natur aus mit weniger Chancen ausgestattet sind, mit zusätzlichen Chancen ausstatten müssen, Ethik und Moral helfen diesen Schwachen in ihrem Kampf um Anerkennung, das heißt, es geht hier um ganz konkrete Machtmittel und um ganz konkrete Interessen, die wohl kaum mit abstrakten Vernunftprinzipien übereinstimmen. Doch die traditionelle Ethik blendet diese Aspekte aus, es liegt ein Tabu über dieser Grundlage der Ethik. Das Wort Gerechtigkeit eignet sich nicht nur dazu, um etwa den Gedanken an Rache zum Verschwinden zu bringen, sondern auch den Gedanken an Neid. Erinnern Sie sich nur, wie sich das anfühlt, wenn Sie neidisch sind, etwa auf das Kleid der Nachbarin oder auf das Auto des Freundes. Wenn Sie dieses Gefühl haben und es mit der sozialen Gerechtigkeit in Verbindung bringen, dann setzt schon wieder der von mir gezeigte Mechanismus ein: Ein abstraktes Wort wie „Gerechtigkeit“ blendet die eigentliche Grundlage aus, nämlich das Gefühl des Neides. Die Gerechtigkeit, die Moral dient nicht nur dem Ehrenziel, etwas Gutes zu tun, sondern sie hat zugleich die Aufgabe, die Erinnerung an sehr niedere Bedürfnisse zum Verschwinden zu bringen. Und eines kommt hier in der Gegenwart besonders deutlich zum Tragen, nämlich dass Moral und Ethik Machtinstrumente sind. Sie sind Machtinstrumente in der Hand derer, die von Natur aus zu den Schwächeren gehören. Aber genau dieser Mechanismus darf nicht ausgesprochen werden. Zu behaupten, dass Moral und Ethik Machtinstrumente seien, beraubt sie ihrer Kraft, wirken zu können. Ähnlich, wie wir das von einem Placebo oder besser gesagt einem Nocebo gewöhnt sind. Wenn ein Arzt dem Patient gegenüber deutlich wird und sagt, ich kann Ihnen nicht helfen, Sie sind todkrank, dann wird auch nichts mehr geschehen. Der Arzt, der verantwortungsbewusst handelt, muss stets die Hoffnung des Patienten aufrecht erhalten, ja selbst, wenn er einen Placebo verschreibt, sollte er das dem Patienten nicht sagen. In unserer Gegenwart, in der es in der Wirtschaft um Versagen der Ethik, um Versagen der Manager, um die Frage, wie Unternehmer sich in einen sozialverträglichen Kontext einordnen, geht, begegnen wir diesem Mechanismus von Macht und Zwang, der mit ethisch-moralischen Formulierungen ausgeübt werden kann, mit aller Deutlichkeit. Und wir spüren dabei auch umso deutlicher, dass die Leistungsfähigkeit von Ethik an der Stelle geschwächt wird, wo sie gar nicht auf SWR2 AULA vom 19.07.2009 Jenseits von Gut und Böse – Neue Maßstäbe einer modernen Wirtschaftsethik Von Dr. Klaus-Jürgen Grün 6 etwas Positives gerichtet ist, sondern nur auf Verdrängung eines unguten Gefühls. Sofern wir diesem falschen Gebrauch von Ethik und Moral folgen, sobald wir uns nur ein gutes Gefühl verschaffen wollen und die Erinnerung an weniger gute Umstände und Gefühle verdrängen, dienen wir nicht der Lösung von Problemen, sondern nur der Verbreitung bestimmter moralisierender Klimata und Denkmuster. Wir sehen in der gegenwärtigen Krise, dass die herkömmlichen Ethiken nicht in der Lage waren, die Auswüchse von Gier und Exzessen zu verhindern. Wir wissen alle, dass wir die Umwelt schützen müssen, dass wir fast 7 Milliarden Menschen auf der Welt zu ernähren haben und dass wir das Leiden an Mangel und das Leiden aufgrund des Aggressionstriebes der Menschen zu vermindern haben. Doch unsere aus dem Mittelalter, der frühen Neuzeit und der vorrevolutionären Aufklärung stammenden herrschenden Formen der Ethik haben versagt. Weder haben sie jemals eine Krise verhindert noch haben sie jemals einen Ausweg aus der Krise gewiesen. Sie beruhen auf Unkenntnis über die Natur des Menschen und arbeiten mit unzureichenden Mitteln, die Motive seines Handelns beeinflussen zu können. Wenn wir die Krise näher betrachten, in der wir derzeit leben, dann sehen wir, dass die Krise die Ursachen auch im System, in dem wir leben, hat. Und in der unzureichenden Einschätzung von Risiken, die zur Gefahr für die Allgemeinheit werden können. Einige Menschen haben beides ausgenutzt, um sich persönlich zu bereichern. Aber es ist falsch zu glauben, dass irgendeine Ethik oder Moral sie davon hätte abbringen können. Die Krise wurzelt auch in der Angst. Wo Angst vor mangelnder Zahlungsfähigkeit von Schuldnern nicht zu den Auslösern gehörte, hat Angst vor der Zukunft, Angst vor der Globalisierung, generelle Angst vor Managern und Unternehmern, Angst vor der Wirtschaft sowie Angst vor Veränderung gesellschaftlicher Strukturen und die Angst vor Arbeitslosigkeit, Konsumverzicht, Verlust des Wohlstandes maßgeblich zur Verstärkung der Krise beigetragen. Mit der Angst verhält es sich wie mit dem moralisierenden Bewusstsein. Angst löst keine Probleme. Das moralisierende Bewusstsein löst auch keine Probleme, es schafft sich nur ein gutes Gewissen, indem es Schuld zuweisen kann und sich selbst in ein reines Reich des absolut Guten erheben kann. Dass die Krise, in der wir leben, wesentlich durch Angst bestimmt ist, erkennen wir auch daran, dass ein Großteil der betroffenen Menschen glaubt, durch ethisch-moralische Schuldzuweisungen entweder den Ausweg zu kennen oder die mutmaßlichen Verursacher zu treffen. Denn wer von der Angst beherrscht wird, verfällt dem Zwang, Dinge zu tun, die zwar geeignet sind, die Angst zu verkleinern, aber nicht darauf bezogen sind, Probleme zu lösen oder reale Gefahren abzuwenden. Hierzu ein Beispiel aus der Gegenwart, das viele von Ihnen vor wenigen Monaten am Bildschirm beobachten konnten, manche vielleicht sogar live: Es handelt sich um die Notlandung eines Passagierflugzeuges im Hudson River in New York. Der Pilot war in der Lage, das Flugzeug auf dem Wasser so zu landen, dass keiner der Passagiere ums Leben kam. Das verdankt er der Tatsache, dass er nicht dem Mechanismus der Angst verfallen war. Dieser Pilot, sein Co-Pilot natürlich auch, ja die gesamte Crew werden geschult, sich solche Situationen vor Augen zu halten, damit sie sie als eine vertraute erleben können, nicht als eine, die Angst auslöst und sie handlungsunfähig macht. Stellen Sie sich nun das „normale“ Bewusstsein vor, das einen SWR2 AULA vom 19.07.2009 Jenseits von Gut und Böse – Neue Maßstäbe einer modernen Wirtschaftsethik Von Dr. Klaus-Jürgen Grün 7 Flugzeugabsturz vor Augen hat: Es ist gelähmt und kann nicht mehr handeln. Angst verkleinert unsere Fähigkeit, reale Risiken präzise einzuschätzen und aufgrund dieser Einschätzungen die richtigen Handlungen auszuführen. Angst und moralisierendes Bewusstsein liegen eng beieinander. Kommen wir zurück zur Krise und zur Frage, welche Ethik, welche moralische Haltung am besten geeignet ist, in der Krise auch die Probleme ins Auge fassen und Lösungen zu finden. Auslöser der Krise ist unter anderem das Prinzip des Shareholders. Zur den Shareholdern gehört jedoch jeder Bürger, der für seine Wertpapiere höchste Renditen forderte, ebenso wie Investment-Banker und RatingAgenturen, die faule Wertpapiere in Umlauf gebracht haben. Nicht allein riskanter Umgang mit der Ausgabe von Wertpapieren hat die Krise hervorgerufen, sondern auch ein unverantwortlicher Gebrauch moralisierender Wörter und Ideologien hat sie begünstigt. Es ist also nur zu warnen vor einem falschen Gebrauch ethischer und moralischer Bewertungen. Es ist zu bedenken, dass die meisten Menschen, die sich in der Gegenwart ethisch-moralischer Terminologie bedienen, weder sich selbst noch anderen gegenüber Rechenschaft ablegen können, was sie eigentlich unter Ethik genau verstehen. Der Selbsterklärungsmechanismus von Ethik, nämlich dass sie stets das Gute per se will, gibt diesen Menschen das Gefühl, dass sie schon ganz automatisch im Sinne des Guten handeln. Sie können mit ihrem ethisch-moralischen Wortgebrauch ihr Gefühl verstärken, auf der Seite der Guten, auf der Seite derer zu stehen, die nichts verschuldet haben. Unsere gegenwärtigen Ethiken basieren zum größten Teil auf der Idee des kategorischen Imperativs, bei dem es als selbstverständlich gilt, dass Ethik nicht aus der Natur stammt, dass Ethik nichts mit Macht und Interesse zu tun haben darf, dass Ethik einem reinen selbstlosen Anspruch am Guten entspringt. Diese Anschauung ist meiner Meinung nach falsch. Wir müssen zugeben, dass auch Ethik und Moral allein zu dem Zweck existieren, diejenigen mit zusätzlichen und besseren Chancen auszustatten, die von Natur aus oder aufgrund widriger Umstände weniger Chancen haben. Ethik und Moral sind deshalb nicht zuletzt Machtmittel, die es nicht nur den Bedürftigen erlauben, enormen gesellschaftlichen Druck auszuüben. Ethik und Moral haben es mit handfesten, auch materiellen Interessen zu tun, selbst wenn sie suggerieren, man würde interessenlos handeln. Ich möchte das noch kurz anhand der Menschenrechte erläutern:. Schauen wir zurück auf die ersten Erklärungen der Menschenrechte, wie sie etwa 1775 mit der amerikanischen Unabhängigkeit dokumentiert worden sind, dort heißt es unter anderem: All men are created equal. Die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung und der Menschenrechte wollten damit zum Ausdruck bringen, dass es nichts Trennendes zwischen den Menschen mehr gibt, aber sie meinten damit: „All white men“ und schlossen Frauen aus. In der ursprünglichen Erklärung der Menschenrechte tritt dieser Doppelcharakter des moralisch-ethischen Wertens deutlich zutage. Die Menschenrechte wurden ausgesprochen von Männern, die sich selbst nicht mehr eingestehen konnten, diskriminierend vorzugehen, sie haben eine Sprache verwendet, die sehr weit hinausreicht über ihre eigentlichen Interessen, die diese Interessen zum teil verschleiert. Sie dachten zunächst nur an die weißen wahlberechtigten Männer, Frauen und Schwarze schlossen sie einfach aus. SWR2 AULA vom 19.07.2009 Jenseits von Gut und Böse – Neue Maßstäbe einer modernen Wirtschaftsethik Von Dr. Klaus-Jürgen Grün 8 Die Idee der Menschenrechte transportiert also keineswegs lediglich die ursprüngliche Freundlichkeit allen Menschen gegenüber, sondern sie ist Ausdruck einer Gesellschaft, die sich selbst nicht mehr erlaubt, ihre eigenen Neigungen zur Diskriminierung wahrzunehmen. Man hat dann oft geglaubt, dass Menschenrechte sozusagen von Natur aus da seien, dass es ein Naturrecht gäbe. Ich glaube nicht, dass wir auf diese Weise der Wahrheit näher sind als mit dem Satz, den Ernst Bloch etwa ausgesprochen hat, indem er sagte: „Kein Recht ist von Natur aus da, alle Rechte sind erkämpft und erstritten.“ Dass sich Menschenrechte heute auch auf Frauen, auf Schwarze, auf Minderheiten erstrecken, liegt nicht daran, dass diese Gruppen ursprünglich von Natur aus Menschenrechte hatten, sondern dass sie ihre eigenen Interessen entdecken konnten, mächtig wurden, gekämpft haben und sich Rechte erstritten haben. Der großartige Gedanke der Menschenrechte stammt also nicht aus der Idee einer reinen Vernunft, einer den Menschen von einer höheren Ordnung irgendwie zugewiesenen Struktur, sondern er basiert auf einem vitalen Interesse an Gleichberechtigung. ***** * Zum Autor: Privatdozent Dr. habil. Klaus-Jürgen Grün, geboren 1957, hat zunächst in der chemischen Industrie eine naturwissenschaftliche Berufsausbildung absolviert; nach dem Abitur als Externer und dem Studium der Philosophie, Mathematik sowie mittlerer und neuerer Geschichte promovierte er mit einer Arbeit über Schellings Naturphilosophie. 1998/99 Abschluss der Habilitation. Bis 2001 vertrat Grün an der Universität Frankfurt/Main eine Dozentur mit dem Schwerpunkt Naturphilosophie und Philosophie der Aufklärung; seit 2001 ist er Leiter des von ihm gegründeten Philosophischen Kollegs für Führungskräfte, das die Anwendung philosophischer Methoden und Programme in der Wirtschaft praktiziert. Buchauswahl: - Angst: Vom Nutzen eines gefürchteten Gefühls. Aufbau Verlag. - Geist und Geld. Mentis-Verlag. - Das Gehirn und seine Freiheit (hg. zusammen m. Gerhard Roth). Verlag Vandenhoeck + Ruprecht. - Wozu brauchen Führungskräfte Philosophie? Autonomie und Freiheit durch methodisches Denken. Verlag Ronneburger Kreis. SWR2 AULA vom 19.07.2009 Jenseits von Gut und Böse – Neue Maßstäbe einer modernen Wirtschaftsethik Von Dr. Klaus-Jürgen Grün