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Den Frieden mit der Seele suchen Links, religiös und feministisch: Der rote
Faden in Alice Shalvis Leben heisst Gerechtigkeit. Eine aussergewöhnliche
Israelin war in Zürich zu Gast.
Von Daniela Kuhn Tages Anzeiger, 28.05.03
In England habe sie sich immer als sehr klein erlebt, erst in Israel sei ihr
ihre Körpergrösse normal vorgekommen. Alice Shalvis Augen lachen, als sie
nach einer kurzen Siesta in der Hotellobby erscheint. Am Morgen ist sie aus
Berlin angekommen, wo sie am europäischen jüdisch-feministischen Kongress
Beth Deborah teilgenommen hat. Das Tagungsthema «Macht und Verantwortung»
war von ihr angeregt worden - es ist ihre Passion. So dominierte es auch
den Montagabend im Restaurant «Falcone», als sich TA-Redaktorin Claudia
Kühner mit Alice Shalvi unterhielt. Eingeladen hatte die Gruppe «Jüdische
Stimme für einen gerechten Frieden zwischen Israel und Palästina». Shalvi
wurde gebeten, Deutsch zu sprechen, doch erklärtermassen hätte sie den Abend
lieber auf Englisch bestritten, in der Sprache, in der sie zu Hause ist.
Geistig freiere Frauen 1926 in Essen geboren, emigrierte sie 1934 mit ihrer
Familie nach London. Nach dem Soziologiestudium in Cambridge wanderte sie
1949 nach Israel aus. Am neu eingerichteten englischen Seminar der
Hebräischen Universität in Jerusalem unterrichtete sie Englisch, aus den
improvisierten Stunden wurde eine Professur. Daneben amtierte sie von 1975
bis 1990 als Rektorin der experimentellen Mittelschule Pelech für religiöse
Mädchen, 1984 war sie Mitinitiantin bei der Gründung der
Frauenrechtsbewegung «Israel Women?s Network», und 1997 wurde sie erste
Rektorin eines modern orthodoxen Rabbinerseminars, in dem Frauen und Männer
gleichberechtigt sind. Ihr Motto: «Wissen ist Macht.» Doch sie betont auch
ihr «Glück»: All dies habe sie nur tun können, weil ihr Mann sie im Haushalt
und in der Betreuung der sechs Kinder stets unterstützt habe: «Für seine
Generation ist er aussergewöhnlich.» Dabei war ihr das gar nicht immer
bewusst. «Bis 1973 habe ich gedacht, in Israel sei eine Gleichstellung
zwischen den Geschlechtern bereits erreicht, doch immer mehr sah ich, dass
wir davon sehr weit weg waren - und sind: Frauen erhalten heute gerade 68
Prozent des Lohns, den ein Mann für dieselbe Arbeit erhält.» Ebenso
problematisch ist die Schlüsselrolle der Armee in der israelischen
Gesellschaft. Nicht zufällig haben die meisten Politiker eine
Berufsmilitärkarriere hinter sich. Hohe militärische Ränge sind sozusagen
das Eintrittsticket in die Politik, aber auch für andere wichtige Funktionen
der Zivilgesellschaft. Aus diesem Grund setzte sich Shalvi dafür ein, dass
Frauen im Militär in Bereiche vordringen können, die bisher Männern
vorbehalten waren. Halb ernst, halb scherzend zitiert sie das englische
Sprichwort «If you can?t beat them, join them». Ein Militärfan ist sie
deshalb keineswegs, vielmehr befürwortet sie einen freiwilligen
Militärdienst. Gerade weil Frauen weniger im militärischen System
eingebunden seien, könnten sie unabhängiger denken. Dies sei auch der Grund,
weshalb in der Friedensbewegung mehr Frauen aktiv seien - von ihnen ist
allerdings nur eine Minderheit religiös. «So deprimierend war es noch nie»
«Die religiöse Linke macht eben weniger Lärm», meint Shalvi. Kürzlich freute
sie sich aber über ein in israelischen Zeitungen publiziertes Manifest, das
170 junge religiöse Menschen unterschrieben haben. Obwohl aus der
Siedlerbewegung stammend, wollen sie damit die religiöse Öffentlichkeit auf
den unwürdigen Umgang mit den Palästinensern aufmerksam machen. Vor 15
Jahren war Shalvi verändert von einem Treffen zwischen israelischen und
palästinensischen Frauen in Brüssel nach Hause zurückgekehrt, zum ersten Mal
hatte sie die andere Seite verstanden. Die Kontakte sind heute spärlicher
geworden, man lebt im Abstand von wenigen Kilometern, sich zu treffen, ist
ein Ding der Unmöglichkeit. «Die anderen verstehen», so einfach dies klingt
- wer von Angst geleitet wird, scheitert. Shalvi spricht vom
«nachvollziehbaren Verfolgungswahn, an dem beide Seiten leiden». Obwohl ihr
klar ist, dass es eine Zweistaatenlösung geben muss, mag sie Ariel Sharon
nicht trauen: «There is quite a way to go», meint sie, ein langer Weg stehe
noch bevor. Schlimmer noch als der Zusammenbruch der Wirtschaft scheint ihr
der moralische Zerfall, der mit jüdischer Ethik nicht zu vereinbaren sei:
«Die Okkupation führt zu einer Entmenschlichung, zur Brutalisierung der
Besatzer. Bei den Palästinensern stehen Demütigungen auf der Tagesordnung,
bei uns ist es die permanente Angst vor Selbstmordattentaten. Seit ich in
Israel lebe, war die Stimmung noch nie so deprimierend. Die letzten
zweieinhalb Jahre waren der Tiefpunkt.» Dennoch hofft sie auf bessere
Zeiten. Hätte sie Verständnis, wenn eines ihrer 21 Enkelkinder aus Israel
wegziehen würde? Sie lächelt: «Ich wäre enttäuscht.»
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