Einleitung 2 Die Arbeit von Dr. Emmi Pikler 3 1.1. Wie alles anfing 3 1.2. Das Lóczy 4 1.3. Ziele und Prinzipien 5 1.4. Der Ablauf in der Gruppe 7 1.5. Jetzt fängt der Machtkampf an 8 1.6. Übertragbarkeit des Ansatzes 8 1.7. Resümee 10 Die Arbeit Elfriede Hengstenbergs 11 2.1. Ihre Vorgehensweise 13 2.2. Welche Kinder kommen in ihren Unterricht? 15 2.3. Bewegungsmaterialien 16 2.3.1. Die Stangen 17 2.3.2. Das Fünf-Stangen-Gerät 17 2.3.3. Die Hocker 18 2.4. Die Rolle der Erwachsenen 18 2.5. Wirkungen für den Alltag 19 2.5.1. Aus einer österreichischen Ergotherapiepraxis 20 2.5.2. Aus dem Therapeutikum St. Johann 21 Resümee 22 Exkurs: Alfred Adlers Menschenkenntnis 23 3.1. Der Begriff Gemeinschaftsgefühl 23 3.2. Der Begriff Verwahrlosung 26 3.3. Resümee 27 Die Arbeit von August Aichhorn 28 4.1. Der Begriff Verwahrlosung 29 4.2. Ausheilen in der Übertragung 31 4.3. Resümee 32 Eigene Erfahrungen 34 5.1. Verwahrlosungssymptome 35 5.2. Zwei Beispiele 36 5.2.1. Jonathan S. 37 5.2.2. Birte D. 42 Resümee 45 Schlusswort 46 Bibliographie 50 1. 2. 2.6. 3. 4. 5. 5.3. 6. 1 Einleitung Ich begleite seit zweieinhalb Jahren Jugendliche und junge Erwachsene, die als benachteiligt, schwer integrierbar, schwer erziehbar, schwer beschulbar, nicht anpassungsfähig oder verwahrlost bezeichnet werden. Davor habe ich fünf Jahre mit Kindern in einer Kindertagesstätte gearbeitet, wo ich Tendenzen der Nichtanpassungsfähigkeit und der Verwahrlosung (vgl. Kap. 3 und 4 dieser Arbeit) im Rahmen der Vorschularbeit, der geschlechtsbezogenen Arbeit und der allgemeinen Gruppenarbeit beobachten konnte. Hier fielen einzelne Kinder durch Konzentrationsstörungen, unangemessenes aggressives Verhalten oder, zur anderen Seite hin ausschlagend, durch ein überhöhtes Bedürfnis nach Zuneigung und körperlicher Nähe auf. In dieser Zeit habe ich damit begonnen, mich mit der pädagogischen Arbeit von Emmi Pikler und Elfriede Hengstenberg aus einander zu setzen. Mit der Beziehung von Anfang an und in einem Mit-Einander-Vertraut-WerdenProzess beginnen die Entfaltungen des Individuums und der Gemeinschaft. Damit sind bereits drei Themen Piklers und Hengstenbergs angedeutet. - Welche Einflüsse führen dazu, dass viele Kinder bereits im Säuglingsalter mit ihren Bezugspersonen nur schwer in Kontakt kommen können? - Welche Voraussetzungen brauchen Erwachsene, um die dazu nötige feinfühlige Kommunikation mit ihren Babys aufnehmen und so mit ihnen in Beziehung treten zu können? - Welche Bedingungen brauchen Kinder und Jugendliche damit sie das in ihnen vorhandene Gemeinschaftsgefühl nicht verkümmern lassen, sondern es im Gegenteil entwickeln und am Leben erhalten? An diesen Fragen sollte sich eine auf gegenseitigem Respekt und Vertrauen basierende Sozialpädagogik orientieren. Die vorliegende Arbeit jedenfalls erhebt den Anspruch sich an den oben gestellten Fragen entlang zu bewegen und Antworten darauf zu finden. Zunächst werde ich die Pikler- und Hengstenberg-Arbeit darstellen, dann einen Exkurs zu Alfred Adlers Menschenkenntnis unternehmen, um mich danach mit den Erfahrungen Aichhorns in der Arbeit mit benachteiligten Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu nähern, die ich mit meinen eigenen praktischen Erfahrungen abschließen werde. 2 1. Die Arbeit von Dr. Emmi Pikler Der Arbeit Emmi Piklers (1902-1984) und ihrer Nachfolgerinnen liegen scheinbar einfache Prinzipien zu Grunde, die aber im Alltag offenbar schwer um zu setzen sind: Die Pflegesituation aus ihrer Routine holen, von Anfang an mit dem Säugling sprechen, genaues Beobachten, gewähren lassen, anregende Umgebung schaffen, völlige Gegenwärtigkeit der erziehenden Bezugsperson, Achtung vor der Eigeninitiative des Kindes, Grenzen setzen. Stichwortartig ist hiermit bereits skizziert, um was es im folgenden gehen wird. 1.1. Wie alles anfing Die junge engagierte Kommunistin und Kinderärztin Emmi Pikler bekommt im Nachkriegs-Budapest den Auftrag, den vielen Waisenkindern, die der Krieg zurückgelassen hatte, ein Heim und damit eine neue Heimat zu schaffen. Ihr geht es von Anfang an darum die Kinder nicht nur auf zu bewahren, sondern ihnen eine anregende, vorbereitete Umgebung zu schaffen und von Menschen betreuen zu lassen, die fähig sind, ihnen Achtung und Geborgenheit zu schenken. Durch ihre vielfältigen Erfahrungen als Kinderärztin in den 30er Jahren entwickelt sie einen völlig neuen Ansatz im Umgang mit Säuglingen und Kindern. Bereits während ihres Medizinstudiums in Wien begegnet sie auf der dortigen Kinderstation einem Umgang mit Kindern, der von einem Geist des gegenseitigen Respekts getragen wird. Die Kinder fühlen sich aufgehoben. Das schafft eine heilsame Atmosphäre, in der sie sich gut entwickeln und genesen können. Danach hat Pikler über 100 Familien beratend zur Seite gestanden. Sie hat sie nicht nur in medizinischen Fragen, sondern vorsorgend und präventiv, auch in Erziehungsfragen, begleitet. Dass sie nun 1946 mit der Gründung eines Kinderheims beauftragt wurde, versetzt sie in die Lage, ihre Kenntnisse und ihre Vorstellungen von Erziehung unter einem Dach und kontinuierlich über Jahre zu praktizieren und eingehende Untersuchungen zu starten ohne, die Kinder zu stören. Über längere Zeiträume, nämlich teilweise von den ersten Lebenstagen bis zum 8. Lebensjahr, kann sie nun die Entwicklung von Kindern beobachten, denen im Heim zu der nötigen 3 psychischen Hülle verholfen wird, um ihre erlittenen Traumata zu verarbeiten und sich in einer ihnen wohlgesonnen Umgebung zu stabilisieren und ein autonomes Ich zu entwickeln. Sie will kein weiteres Heim schaffen, in dem Kinder Hospitalismusschäden erleiden, weil mit ihnen ruppig, hektisch und technisch umgegangen wird. Eine feste vertrauenswürdige und auf gegenseitigem Respekt beruhende Beziehung zwischen Pflegerin und Kind und eine vorbereitete, anregende und den entwicklungspsychologischen Phasen des Kindes entsprechende Umgebung wird den Kindern hier garantiert. Dies setzt auch eine hohe Veränderungs- und Lernbereitschaft der Pflegerinnen voraus. Die Mitarbeiterinnen des ersten Teams sind noch klassisch ausgebildet und weigern sich, die Vorstellungen Piklers umzusetzen. Sie behandeln die Kinder lieblos, sie verstehen die Pflege als rein technischen Alltagsakt und sie bauen keinen wahrhaftigen Kontakt zu ihnen auf. Dies führt zu der Konsequenz, dass sie allesamt entlassen und durch junge und lernwillige Frauen, die gerne mit Kindern arbeiten, ersetzt werden. Nach dem Tod von Emmi Pikler übernimmt ihre Tochter Anna Tardos die Leitung des Heimes. Sie führt es bis heute gemeinsam mit ihrem Team und mit dem gleichen Konzept fort. 1.2. Das Lóczy Im allgemeinen wird das Heim Lóczy genannt, nach der gleichnamigen Straße in einem schönen Viertel Budapests. Es ist in einer alten, von einem großen Garten umgebenden Villa untergebracht. Es ist Heim und Forschungseinrichtung zugleich. Ein Umstand, der in der Anfangszeit Misstrauen erzeugt, weil unterstellt wird, die Kinder würden zu Forschungszwecken benutzt. Aus diesem Grund kann es in den ersten Monaten seine Auslastungskapazität kaum erreichen. Mit der Zeit zerstreuen sich die Zweifel. Heute ist das Lóczy das Staatliche Methodologische Institut für Säuglingsheime Ungarns. In der internationalen Fachliteratur wird es als das Lóczy-Modell bezeichnet. Das Pikler-Institut, wie die Forschungsstätte genannt wird, bietet auch Fort- und Weiterbildungen an. Seiner Arbeit und seinem 4 Einfluss ist es zu verdanken, dass Hospitalismuserscheinungen in anderen Heimen des Landes nicht mehr so häufig auftreten. 1.2. Ziele und Prinzipien Die Ziele, den Kindern für Körper, Seele und Geist gesunde Entwicklungsmöglichkeiten zu schaffen und die Arbeit zu erforschen, ohne in das Leben der Kinder eingreifen zu müssen, sind untrennbar miteinander verbunden. Die Arbeit ist durch folgende vier grundlegende Prinzipien zu charakterisieren: 1. 2. 3. 4. „Die Bedeutung der autonomen Aktivität des Kindes. Die Bedeutung der Beziehungen und insbesondere einer stabilen persönlichen Beziehung des Kindes zu einer bestimmten Bezugsperson. Die Wichtigkeit, dass sich jedes Kind als Person akzeptiert und anerkannt fühlen kann, und es ihm – seinem Tempo gemäß – zu ermöglichen, ein Bewusstsein seiner selbst und seiner Umgebung zu entwickeln. Die Wichtigkeit eines guten körperlichen Gesundheitszustandes, der einerseits die Verwirklichung der genannten Prinzipien unterstützt, andererseits aber auch das Ergebnis der angemessenen Anwendung dieser Prinzipien ist“ ( Falk, 26 in: Pikler u.a.1994). Dabei wird ohne Zwang vorgegangen. Die Pflegerinnen dürfen Widerstände der Kinder nicht mit Gewalt brechen und sie nicht überreden, sondern sie mit Ausdauer und Geduld überzeugen. Die Kinder können wieder Vertrauen in sich, ihre Bezugspersonen und ihr Umfeld schöpfen, weil ihnen mit sehr viel Achtung begegnet wird. „Das eine ist der bewusste Respekt für die senso-motorische Interaktion des Kindes mit seiner Umwelt. Die Erwachsenen achten darauf, seinen Absichten nicht vor- oder dazwischenzugreifen, es nicht zu „fördern“, zu dirigieren,... Das andere Element besteht in der Qualität der Beziehung in der Pflege“ (Wild, 8 in: Pikler u.a. 1994). Die Pflegerinnen werden angehalten vom ersten Tag an auch mit dem allerjüngsten Säugling zu sprechen, ihm jeden Schritt der Pflege an zu kündigen und zu erklären. Erwartungen und Beobachtungen des Erwachsenen werden verbalisiert. Nur ruhige und taktvolle Bewegungen werden ausgeführt. Dabei wird in einem sanften Ton gesprochen. Die Betreuerinnen beobachten und lauschen, um die Bedürfnisse der Kinder zu verstehen. Ihre Hände packen nicht einfach zu, sondern sie bilden halb vollendete Bewegungen, die bittenden Gesten gleich kommen. Das wird das „Rufen mit Gebärden“ genannt. „Wie das Rufen 5 und Anbieten ist auch die bittende Gebärde eine Form des friedlichen Näherns.“ Sie lassen dem Kind „die Möglichkeit zur Entscheidung, die Möglichkeit sich freiwillig den Erwartungen des Erwachsenen anzuschließen oder nicht...“ (Tardos, 96/97 in: Pikler 1994). Hier wird nicht gezerrt und ruckartig mit den Kindern umgegangen, sondern vorsichtig und zart. In einer abwartenden Haltung und mit viel Fingerspitzengefühl wird die Pflege ausgeführt und so dem Säugling und Kleinkind die Möglichkeit zur Mitarbeit und Eigeninitiative eingeräumt. Ein Kind, dessen Grenzen schon zu Beginn seines Lebens verletzt werden, kann nicht davon ausgehen, das seine Initiative von Interesse ist. Im Lóczy wird die Achtung vor der Eigeninitiative der Kinder von Anfang an praktiziert. Eine Leitlinie in der Arbeit Emmi Piklers ist, dass das Wissen, das sich die Kinder selbst aneignen, eine ganz andere Qualität besitzt, als das Wissen, das sie durch Vorträge und Verhaltensanweisungen der Erwachsenen kopieren, um deren Leistungsvorstellungen gerecht zu werden (vgl. Pikler 1994). Pikler vertritt die Ansicht, das Kinder nicht stimuliert und gefördert werden müssen. Sie bringen alles bereits mit. Es braucht sich nur entfalten, indem wir es aus sich heraus wachsen lassen. Viele Babys werden in der ersten Zeit überhäuft mit Reizen. Pikler spricht in diesem Zusammenhang von einer „Extrastimulation“ (ebenda, 41). Das heißt, neben der normalen Stimulation der einfachen, alltäglichen Umgebung werden die Kinder noch zusätzlichen Reizen ausgesetzt. Pikler geht davon aus, dass die Kinder, die es nicht schaffen, der immer mehr zu nehmenden Reizüberflutung zu entfliehen und sich im Gegenteil nur durch sie befriedigen lassen können, zu Suchtverhalten neigen. Ihnen wird in der ersten Zeit ihres Lebens permanent Aufmerksamkeit geboten bis sich die Erwachsenen irgendwann überfordert fühlen und genervt reagieren. Wie soll sich ein solches Kind dann fühlen? Wie kann es diesem Bruch im Verhalten der Bezugsperson verstehen? Solche Kinder werden dann immer wieder versuchen im Vordergrund zu stehen. Sie versuchen, die Aufmerksamkeit, die sie bis dahin gewohnt waren und von der sie abhängig geworden sind, für sich zu erzwingen. „So wird dem Säugling von Anfang an diese Art komplizierten Spielzeugs gegeben, und er stellt sich auf für ihn nicht adäquate stark auffordernde Reize ein, gewöhnt sich an sie und erwartet sie deshalb auch. Es interessiert ihn kaum noch das Entdecken von immer interessanter werdenden Dingen, die ihm das tägliche Leben zum Erforschen bieten 6 könnte. Vielleicht könnte man sogar sagen, dass auf diese Weise dem Verlangen nach Drogen geradezu Vorschub geleistet wird“ (ebenda, 41). Im Pikler-Institut werden keine Spielsachen über Wickelkommoden oder Betten aufgehängt, weil sie vom Kontakt mit der Pflegerin und dem Kontakt zu sich selbst ablenken (vgl. Pikler 1994). 1.4. Der Ablauf in der Gruppe In jeder Gruppe sind acht Kinder, die rund um die Uhr von einer Pflegerin versorgt werden. Jedes Kind kennt seinen Rhythmus in einem Kreislauf der Pflegesituation. Ist die Betreuerin mit dem letzten Kind fertig, beginnt sie wieder beim ersten. Die Zeit, die jedem Kind zusteht, ist dann sehr intensiv. Die pflegende Person ist dann voll präsent und nur auf dieses eine Kind konzentriert. Die anderen wissen, dass sie nicht verlassen sind, dass sie auch wieder dran kommen und zehren aus dem intensiven Kontakt und der Nähe ihrer eigenen Pflegezeit. In der Regel ruhen sie in sich, beschäftigen sich mit sich selbst, unternehmen Entdeckungsreisen mit dem eigenen Körper, und wenn sie greinen oder nörgeln, dann nicht, weil sie unbedingt die Nähe zum Erwachsenen suchen, sondern weil sie sich vielleicht auch aus anderen Gründen unwohl fühlen. „Nur wenn sie satt an Kontakt sind, haben sie die innere Sicherheit, sich der Welt zuzuwenden und sie zu erkunden“ (Valentin, 10 in: Pikler 1994). Das Pflegepersonal soll aufmerksam darauf achten, wie schon die Säuglinge auf ihr Sprechen und ihre Bewegungen reagieren. So wird auch dem Jüngsten Gelegenheit gegeben mit zu arbeiten, sich zu beteiligen an den Pflegehandlungen, zu helfen, zu kommunizieren und zu protestieren. „ Bei diesem Besuch beeindruckte mich besonders, welch tiefe Befriedigung jedes der Kinder aus den Minuten der Betreuung gewann, die ihm in voller Ruhe und Zuwendung zuteil wurde. Ich spürte wie sich die Kinder entspannten, die Pflege genossen, sich der Pflegerin öffneten und soviel Freude aus dem Zusammensein zogen, dass sie daraufhin den eigenen Körper entdeckten oder mit den Gegenständen der vorbereiteten Umgebung spielten und schließlich auch ohne Schwierigkeiten in den Schlaf finden konnten“ (Wild, 7/8 in: Pikler 1994). 7 1.5. Jetzt fängt der Machtkampf an Die Pflegerinnen respektieren den Bewegungsdrang des Kindes auf der Wickelkommode. Sie freuen sich an der Bewegung des Kindes und richten sich nach dem Kind, d.h. sie warten bis es bereit ist oder sie wickeln es in einer anderen Körperposition als der üblichen Liegenden. Die Zeit, die das mehr kostet, wird aufgewogen durch ausbleibende oder doch ehr gemäßigte Machtkämpfe, die mehr Energie, Zeit und Tränen kosten würden und sich in schwierigen Fällen über Jahre hinweg ziehen können. Um die Beweglichkeit zu zulassen, werden Gitter an den Seiten der Wickelkommoden empfohlen (vgl. Pikler/Tardos 1994). „Ein Kind, daß man nicht den Willen hat brechen wollen, wird sich im `Trotzalter` völlig anders verhalten als eines, dass ständig überfordert wurde und das man immerzu abrichten wollte“ (Jacoby 1989, 22). “In den ersten Lebenstagen baut sich das Kind die Lebensschablone und den Lebensplan, denen es ein Leben lang folgt“ (Adler 1989, 15 und 1994, 22). Durch die Zitate von Jacoby und Adler wird deutlich, welche enorme Bedeutung die Pikler-Arbeit im Sinne einer Gewaltprävention hat. Kindern, die doch in die Trotzphase gelangen, kann im Sinne einer Nachholung der Zugewandtheit begegnet werden. 1.6. Übertragbarkeit des Ansatzes Ist der Piklerische Ansatz übertragbar auf die Welt außerhalb des Heims? Sicher ist es im Alltag nicht einfach, die Prinzipen dieses Ansatzes umzusetzen. Das ist auch der größte Vorbehalt, den Anna Tardos auf ihren Vortragsreisen hört. Aber würde man beginnen, seine eigene innere Haltung in diese Richtung zu verändern, würde man sich also gewissermaßen auf den Weg begeben, sich dabei Zeit und Raum gönnen, sich nicht unter Druck setzen lassen von einem neuen Gedankengebilde, den Ansatz also nicht als Handlungsanweisung unter vielen verstehen, sondern ihn nach und nach verinnerlichen, dann könnte jeder und jede mit dem Abbau der eigenen inneren Widerstände beginnen, sich den Alltagswidrigkeiten stellen und sich auf den beiderseitigen Beziehungsprozess, 8 zwischen Mutter und Vater1 auf der einen Seite und den Kindern auf der anderen Seite, einlassen. Man wäre so mittendrin in der Pikler - Arbeit. Dabei ist es wichtig nicht blind zu Agieren, angelesenes Wissen oder irgendwo gehörte Vorgehensweisen ziellos auszuprobieren, sondern sich in die Lage des Kindes versetzen zu lernen. Es geht um Begleitung und eine sanfte Überleitung der Kinder in die Welt und von einem Lebens- bzw. Entwicklungsabschnitt in den nächsten. Dabei wird nicht angeleitet, sondern unterstützt, der Rahmen der vorbereiteten Umgebung gestellt und angemessene Grenzen gesetzt, die besonders wichtig sind, wenn sich ein Kind von einer Entwicklungsphase und von einer Umgebung in die nächste entwickelt. Kinder, die von Anfang an kooperieren werden die neuen Grenzen akzeptieren und sich weiterhin zu hilfsbereiten, rücksichtsvollen Menschen entwickeln. Kindern, die aus der Trotzphase nicht rauskommen, sollten wir nicht mit Gewalt begegnen, sondern liebevoll und klare Grenzen setzend nachholen, was ihnen bisher entgangen ist. Die Verantwortung dafür liegt nicht bei ihnen, sondern in den Versäumnissen der bisherigen Erziehung (vgl. Pikler 1994, Adler 1989). Der Piklerische Ansatz ist auch in allen anderen sozialen Bereichen anwendbar, in denen im Rahmen von sozialer Arbeit Beziehungsarbeit geleistet wird. Vor allem in den Bereichen, in denen die Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Helfer und zu Helfenden besonders offen zu Tage treten: In Kindertagestätten, Krankenhäusern, Behinderteneinrichtungen und Altenheimen. Institutionen, in denen sich die Hilfe benötigenden Menschen oftmals ausgeliefert, machtlos und ohnmächtig fühlen können, wenn die HelferInnen ihnen nicht mit Achtung und viel Feingefühl begegnen. 1 Die Beziehung zwischen Vater und Kind wird in der verwendeten Literatur, bis auf zwei geschilderte Beispiele nicht erwähnt. Es wird immer von der prägenden Mutter-Kind-Beziehung ausgegangen. „Die Grundbedingung der friedlichen, gesunden Entwicklung eines Kindes ist ein freundliches, verständnisvolles Verhältnis zwischen Kind und Mutter“ (Pikler 1982, 57). Dabei wird übersehen, dass es auch zunehmend Männer gibt, die sich bewusst auf die Beziehungen zu ihren Kindern einlassen und sich an einer tiefer gehenden Vaterrolle erfreuen. 9 1.7. Resümee2 In einer ruhigen Entwicklung kann das Kind Erfahrungen sammeln, Erlebnisse erleben und sie nach und nach aneinander reihen. Ermöglichen wir ihm dies nicht und greifen ungeduldig und taktlos ein, behindern wir seine motorische, seelische und geistige Entwicklung. Das ist verantwortungs- und respektlos gegenüber der Eigeninitiative und der Persönlichkeit unserer Kinder. Der Preis für die Gesellschaft ist hoch. Also nicht stimulieren, fordern und fördern im Sinne einer zusätzlichen, anleitenden Reizüberflutung, sondern zurückhaltend, begleitend den Rahmen stellen, eine anregende Umgebung schaffen und in angemessene Beziehung treten, indem wir das Kind unsere Liebe fühlen lassen und sie ihm nicht aufdrängen und es mit ihr überschütten (vgl. Pikler 1982). Die Kinder, die unter diesen Bedingungen heranwachsen, entwickeln eine gesunde Persönlichkeit, sind zu echten emotionalen Beziehungen und zur aktiven, sozialen Anpassung fähig (vgl. Pikler/ Falk 1994). So wachsen Menschen heran, die ein Gefühl zu sich selbst und zu ihrer Umgebung haben, Menschen, die ein Gemeinschaftsgefühl entwickelt haben, und offen und vertrauensvoll dem Leben entgegen schauen und die ein eigenverantwortliches Leben führen können. Im Pikler-Institut gelingt das. Die dort tätigen Forscherinnen haben die Weiterentwicklung vieler Kinder, die das Heim nach spätestens dem 8. Lebensjahr verlassen haben, weiterverfolgt. Nachdem sie in sorgfältig ausgesuchte Familien kamen, von denen sie adoptiert wurden, ergriffen alle gesellschaftlich angesehene Berufe und gründeten teilweise auch eigene Familien, in denen sie die Erziehung, die sie genossen haben, ihren eigenen Kindern zu Gute kommen ließen. Das macht Hoffnung. 2 Nach jedem Kapitel wird ein kurzes Resümee gezogen. Die Vordiplomarbeit wird durch ein Schlusswort, die einleitenden Fragen abhandelnd, insgesamt abgerundet. 10 2. Die Arbeit Elfriede Hengstenbergs Elfriede Hengstenberg (1892-1992) arbeitet 1915 in Berlin privat und in der Schule als ausgebildete Gymnastiklehrerin. Ihr fällt bald auf, dass der klassische Gymnastikunterricht nicht dazu geeignet ist, eine anhaltende Spannkraft des Körpers, eine lebendige Seele und einen wachen Geist der Kinder anzuregen. Sie beobachtet, dass das übliche Vorturnen, dazu führt, dass sich die Kinder spätestens, wenn sie den Gymnastikunterricht verlassen haben, langweilen und erschlaffen. Sie vertritt die Ansicht, dass das Nachmachen eine der schlimmsten Verführungen darstelle, wodurch die Kinder von sich selbst abrücken würden. „Sie fangen an sich rein äußerlich nach einem Vorbild zu richten ohne Gefühl dafür was ihrem augenblicklichen Zustand entspricht. Sie wollen die Etappen des unermüdlichen Probierens überspringen, die derjenige hinter sich hat, der inzwischen Vorbild geworden ist. Ihr Organismus ist aber für solche Anforderungen noch nicht vorbereitet und versagt. Die Leistung wird durch Ehrgeiz und Geltungstrieb erzwungen, lässt aber deutlich den Mangel an Qualität erkennen“ (Hengstenberg 1993, 20). Sie ist Schülerin von Elsa Gindler und Heinrich Jacoby. Die Beiden verstehen ihre Arbeit als „Chance zur Nachentfaltung allgemein menschlicher, aber meist brachliegender oder in der Kindheit entmutigter Fähigkeiten“ (Hengstenberg 1993, 7) . Sie arbeiten in der Erwachsenenbildung. Hengstenberg überträgt dies auf die Arbeit mit Kindern ab drei Jahren. 1935 begegnen sich Hengstenberg und Pikler und stellen fest, dass sie bis dahin unabhängig von einander und ohne von einander zu wissen, „in dem Bedürfnis nach Selbständigkeit ein wesentliches Merkmal kindlicher Entwicklung erkannt hatten, an dem sich ein angemessenes Verhalten der Erwachsenen im Umgang mit dem Kind orientieren kann“ (Hengstenberg 1993, 7/8). Was Pikler für die Kinder bis drei Jahren realisiert hat3, charakterisiert auch die Art und Weise wie Hengstenberg arbeitet für die Altersgruppe ab drei Jahren. Beide sehen „die Voraussetzungen der selbständigen Bewegungsentwicklung als Grundlage einer gesunden Persönlichkeitsentfaltung“ (Hengstenberg 1993, 8) . 3 Diese Einteilung wird in dem Buch Entfaltungen vorgenommen. Sie ist so ausschließlich nicht richtig, denn im Lóczy gibt es in der Regel auch eine kleine Gruppe von vier bis achtjährigen Kindern, für die man noch keine geeignete Adoptivfamilie gefunden hat. 11 „Allein!“ ist eines der ersten Ausrufe von Kleinkindern. Wenn Erwachsene es dann schaffen würden, die Kinder gewähren zu lassen damit sie ihre eigenen Erfahrungen sammeln können, ohne dass sie eingreifen und ihre Ängste auf die Kinder übertragen, dann würde die Grundlage gelegt für die Entwicklung von Selbstständigkeit, Selbstbewusstsein und Autonomie. Tritschler ist der Meinung, dass die Aufgabe der Kindheit darin bestehe, „sich vertraut zu machen mit dem Leib und seinen Sinnes- und Ausdrucksmöglichkeiten, mit der Mitwelt, mit der Umwelt und den geistigen Potenzialen. Sich vertraut mit dem Leib zu machen bedeutet: den Berührungsund Tastsinn, den Bewegungssinn, den Gleichgewichts- und Schwerkraftsinn, den alle Lebensvorgänge organisierenden Lebenssinn zu entdecken, sowie mit den Kontaktorganen mit dem Leib der umgebenden Welt: dem Sehen, dem Hören, dem Riechen und Schmecken sich orientieren lernen“ (Tritschler 2004, 1) Ein Kind im Vollbesitz seiner Kräfte und Fähigkeiten, mit strahlendem Gesichtsausdruck, gerade aufrecht sitzend, als Ausdruck seines inneren Gleichgewichts und der Beziehung zu seinem Tun sei ein Phänomen, so Hengstenberg. „Wie anders sehen einige Jahre später unsere Schulkinder aus!...Wie erschrickt man, wenn man den Zustand einer Schulklasse auf sich wirken lässt! Nur noch wenige Kinder sind es, deren freies aufrechtes Sitzen auf Ungestörtheit schließen lässt. Man verlangt vom sechsten Lebensjahr an Arbeit vom Kind. Aber die Art der Arbeit, die es in der Schule vorgesetzt bekommt, entspricht absolut nicht seinen Interessen. Anstatt sich die Beziehung zur Arbeit durch selbständiges Forschen und Entdecken zu erobern, muss das Kind nun auf seinem Platz still sitzen und lernen. Eine Forderung, die seinen natürlichen Bedürfnissen nicht entspricht“ ( Hengstenberg 1993, 16 ). Sie fordert dagegen, dass Kinder ihre Fähigkeit zum Ausprobieren wieder wach rufen dürfen. Heinrich Jacoby bemerkt zu diesem Problem: „Wir müssen weg vom Parieren“, das soll hier heißen, es wird absolute Konzentration von den zu Erziehenden erwartet auf das was die Menschen aus dem Helfersystem sagen! Dabei, so Jacoby, ist es das gute Recht von Grundschülern, aus dem Fenster zu gucken, wenn es dort einen Vogel zu beobachten gibt. „Das ist ihr Recht, ihr Naturrecht, das dürfen wir nie vergessen. Das müssen wir bewahren“ (Jacoby 1989, 66). Tritschler formuliert das Leitmotiv der Hengstenberg-Arbeit so: „Hilf mir, dass ich selber kann“ (Tritschler, 2004, 4). Man könnte auch sagen, es geht hier um Hilfe zur Selbsthilfe. 12 2.1. Ihre Vorgehensweise Auch ihre innere Haltung ist geprägt durch die „Achtung vor der Eigeninitiative des Kindes“ (Hengstenberg 1993, 8) und sie achtet in der Praxis darauf, dass den Kindern immer eine Umgebung zur Verfügung steht, die zu Entdeckungen verlockt. Sie geht davon aus, dass ein Kind in einer verständnisvollen Atmosphäre und im sicheren Gefühl der Geborgenheit von Erwachsenen selbstständig die Auseinandersetzung mit der Anziehungskraft der Erde und seinem Gleichgewicht sucht und so auch zu seinem innerem Gleichgewicht finden kann. Eine schon gestörte Entwicklung, die sich durch Fehlgewohnheiten und Haltungsschäden bemerkbar macht, kann so entstört und in gesunde Bahnen begleitet und geleitet werden. Folgenden Weg ließ sie die Kinder gehen: Durch Erforschen setzen sich die Kinder mit den eigenen Schwierigkeiten auseinander, entdecken selbstständig ihre eigenen Störungen und kommen so zu der „Entdeckung ungeahnter Möglichkeiten, einer Lebenserleichterung...zur Anwendung ihrer Einsichten im täglichen Leben“ (Hengstenberg 1993, 23). Dabei kommen die Kinder selbst darauf, ihre Kräfte sinnvoll einzusetzen und sie nicht abzunutzen, indem sie beispielsweise beim Balancieren die Ruhe aus nutzen, die dabei entsteht, und so Ruck, Stoß und Verklemmung vermeiden lernen. Auf diese Weise werden die Kinder mit dem Phänomen der Spannkraft vertraut. In ihrem Unterricht können die Kinder Alltagsbewegungen nachspielen, wie z. B. „Sitzen in der Schule, das Schreiben, das Laufen, zur Bahn gehen, das Einschlafen, kurz all die Verrichtungen, in denen ihnen schon Störungen zu Bewusstsein gekommen sind,...“ (ebenda, 24). Spielen ist ihrer Ansicht nach gleichbedeutend mit forschen. Die Kinder finden so auf ihre Weise heraus, wo ihnen etwas fehlt. Obwohl sie auch in Schulstrukturen tätig ist, lässt sie den Kindern soviel Raum und Zeit, dass es in ihren Stunden sogar zur Erforschung von Körperteilen kommt, z. B. der Füße. Kinder stellen fest, das ihr Fußgewölbe vergleichbar mit einer halbrunden Steinbrücke ist, dass es wichtig ist, so mit dem Fuß auf zu kommen, dass sich ein möglichst großes Hohlraumgewölbe bildet und, wie sie aufkommen müssen, dass möglichst wenig Last und Druck auf den Füßen liegt, oder, dass es Plattfüße zur Folge haben kann, wenn man die Füße beim Gehen zu weit nach 13 außen stellt. „Sieh mal, so auswärts gehe ich, das drückt den Fuß dann immer runter“ (Hengstenberg 1993, 27/58), so ein Kind während der Fußbetrachtungen. Sie stellt geschickt Fragen, die den Erkenntnisprozess voranbringen und verzichtet auf Vorträge. Tritschler nennt das zirkuläres Fragen?4 (vgl. Uli Trischler 2004) So ermuntert sie die Kinder zu geistiger Wachheit und Kooperation. Außerdem vermittelt sie ihnen dadurch, dass ihre Initiative von Interesse ist. Die Kinder haben Spaß am Unterricht und zeigen hohe Eigenmotivation. Damit ist auch zu erklären, warum in ihren Gruppen eine ruhige und interessierte Atmosphäre herrscht, obwohl viele Kinder darunter sind, die von Natur aus oder aufgrund von Störungen sehr temperamentvoll und unruhig sind. Jedes Kind agiert selbstbestimmt, d. h. in seinem Tempo, seinem Entwicklungstand entsprechend und nach seinem Interesse. Es macht nur das, was es sich selbst zutraut. Es macht sich mit seinem Körper und dessen Ausdruckmöglichkeiten vertraut. „Sich - Vertraut - Machen kann nur durch eigenes Tun und Handeln, durch eigenes Erleben geleistet werden und nicht über theoretischen Unterricht oder Medien...angetrieben durch innere Impulskräfte einer Intelligenzquelle, die weiß, was wann an der Zeit ist, um entdeckt und entfaltet zu werden. ... Dabei bildet sich das Netzwerk zwischen Sinnen und dem Gehirn als Übertragungsinstrument zwischen Körper, Seele und Bewusstsein aus. Es wird der eigene Leib von innen erfahren und es werden die Verstehenskräfte für den Leib und die umhüllende Welt zum Körper gebildet“ (ebenda, 1). Wenn das Kind eine Ruhepause benötigt, dann kann es sich jederzeit ausruhen, um neue Kräfte zu sammeln, um neue Ideen zu gebären und sich innerlich und in seinem sozialen Verhalten auszugleichen. Manchmal machen die Kinder auch ihre gemeinsame Fünf-Minuten-Pause. Danach geht ein Kind herum und weckt die anderen vorsichtig, was in Hengstenbergs Stunden eine beliebte Tätigkeit ist. „Wie viel leichter und selbstverständlicher wurden nach dieser friedlichen Pause die verschiedenen Hindernisse genommen! Hast, Aufregung und Angeberei waren verschwunden. Peter stotterte jetzt nicht mehr. Thomas hatte Mut gewonnen...“ (Hengstenberg 1993, 48). 4 Vergleiche auch „Zirkuläres Fragen“, Simon, Rech-Simon, 1999 14 2.2. Welche Kinder kommen zu ihr in den Unterricht? Es kommen vor allem Kinder, die unter körperlichen Haltungsschäden und Fehlstellungen leiden, die auch psychische Ursachen haben. Hengstenberg ist in der Lage, die Körpersprache der Kinder zu lesen. Es sind Jungen darunter, deren Körperausdruck verrät, dass sie in einer Trotzhaltung erstarrt sind. Bei einem Jungen äußert sich das durch unter der Last des Körpers durchgebogene Beine. Seine Eltern hatten bereits erwogen ihn operieren zu lassen. Seine oft auf „dem Rücken verschränkten Arme versuchen mühsam zu halten, was in seinen ersten Lebensjahren keine Gelegenheit hatte, ins Lot zu kommen“ ( Hengstenberg 1993, 40). Gleichzeitig stemmen sich seine Beine so in den Boden, als wolle er sich gegen die Übermacht der Erwachsenen abstützen und seine hinter dem Rücken verschränkten Arme signalisieren, dass er der Erwachsenwelt seine Bereitwilligkeit aufgekündigt habe. Nach zwei Jahren und einmal wöchentlich bei Elfriede Hengstenberg hat sich seine Wirbelsäule aufgerichtet und seine Beine sind tragfähiger geworden. „Von den Füßen bis zum Scheitel vermittelt er jetzt den Eindruck lebendiger Bereitschaft“ ( ebenda, 41 ). Andere Kinder kommen mit so ausgeprägten X-Beinen, dass sie teilweise kaum mehr in der Lage sind, sich fort zu bewegen, Kinder, die täglich zehn Minuten Fußübungen machen sollten, die sie aber nur lustlos durchführten, so dass sie danach wieder mit den Füßen nach außen und den Knien nach innen da standen. Es kommen Kinder mit Senk-, Spreiz- und Plattfüßen, mit chronischer Bronchitis und Keuchhusten. Vertobte Kinder, wie Hengstenberg sie nennt, heute würden wir sagen: Kinder mit ADS5, hyperaktive Kinder, die kaum still sitzen und sich in ihrer Interaktion kontrollieren können, nehmen auch an ihren Stunden teil. Es sind Kinder darunter, deren gesamte Körperhaltung in sich gekehrt ist, d.h. mit eingezogenem Kopf und hochgezogenen Schultern, deren Knie permanent durchgedrückt sind. Sie sind schüchtern, scheu, und verschlossen. Ein Kind kommt, weil es einmal pro Woche in der Schule ohnmächtig wurde. „Der freundliche, aber unselbständige Junge neigte in Situationen, die für ihn brenzlig zu werden drohten, zum Erstarren. Er wurde dann ganz steif und verkrampfte sich bis in die Hände“ (ebenda, 69). Ein anderes Kind nimmt teil, weil es so verkrampft ist, das seine Schrift nicht mehr zu entziffern ist. Es sind 5 Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom 15 Kinder darunter, deren gesamte Schlaffheit sich körperlich dadurch zum Ausdruck bringt, das sie nach vorn gebeugt sitzen und ihre Arme zwischen den Beinen hängen, so als wollten sie den Körper durch zusätzliche Gewichte noch mehr nach vorne ziehen. 2.3. Bewegungsmaterialien Elfriede Hengstenberg arbeitet mit Alltagsgegenständen wie Leitern: Hühnerleitern, Strickleitern, Stegleitern und großen, sowie kleinen Stehleitern; Hockern, Stühlen, einbeinigen Schemeln, Stangen, Brettern, Brettchen, Vierkantbalken, Rundhölzern, Stäbchen, Stöcken, Rollen, Reifen, Speeren, Pfeilen und einem Fünfstangengerät, die allesamt aus Holz gefertigt sind. Darüber hinaus verwendet sie Bälle, Hütchen, Bänder, Tücher, Seile, Kescher, Kochlöffel, Blumentöpfe, Balancierteller, Aktentaschen, Körbe und andere Alltagsgegenstände. Der Phantasie und Kreativität in der jeweiligen Situation sind in dieser Arbeit keine Grenzen gesetzt. In der Arbeit heute werden darüber hinaus große und kleine Balancierscheiben, Balancierbretter, Kippelhölzer, Flitzbretter ( kleine Bretter, auf Rollen) große Gymnastikbälle, Hängematten, hängende Balken, verschiedene Schaukeln und halbrunde Gitterwippen, die verkehrt herum aufgestellt ein Klettergerüst bilden, eingesetzt. Diese halbrunden Gitterwippen stammen ursprünglich von Emmi Pikler. Sie werden in kleiner Form im Lóczy eingesetzt. In ihrem großen Garten steht ein fünf Meter hohes Klettergerüst aus zwei Balken, die oben mit einem Querbalken verbunden sind und auf dem, die sich am sichersten fühlenden Kinder hochklettern und oben angekommen, hinüber zum anderen Ende robben, um sich am dortigen Balken wieder hinunter zu lassen. Ein Balken ist mit Sprossen versehen damit sich auch nicht so geschickte Kinder in die „Lüfte“ wagen können. An dem Querbalken können Seile und Schaukeln eingehängt werden. Der Unterricht findet, wenn das Wetter es zulässt, in freier Natur statt, wo Bäume, Wiese und Wasser genutzt werden. Im folgenden werde ich drei Geräte näher beschreiben. 16 2.3.1. Die Stangen Sie sind zwei Meter lang und aus Eschenholz gefertigt, das sich durch einen hohen Grad an Elastizität und Stabilität auszeichnet. Kindern, denen im Alltag Bäume zum Klettern fehlen, können mit diesen Stangen ähnliche Erfahrungen sammeln. Die Stangen sind durch ihre Biegsamkeit hervorragend geeignet zum wiegenden Wippen und Balancieren. Auf ihnen kann man das Gefühl eines Surfers oder Skaters in Aktion bekommen (Eindrücke aus eigenen Erfahrungen des Autor dieser Arbeit). Sie sind vielseitig einsetz- und kombinierbar mit den anderen Geräten. Man kann sie in Leitern oder draußen in Bäume oder Fensterbretter einhängen. Sie werden auch als Doppelbalancierstange eingesetzt, auf der es sich rutschen und bequem ausruhen lässt. Erscheinen sie dem Kind zu hoch oder in zu steilem Winkel, kann es sie auch auf den Boden legen und von dieser Höhe aus sich langsam auf größere Höhen herantasten, z. B., in dem es sie dann in die unterste Stufe der Leiter einhängt oder im Anschluss daran auf die Hocker legt. „Wenn sie sich an der langen Stange zur Hauswand hangelten, nutzten sie ihre Kräfte in ungewohnter Weise. Sie gewannen dadurch die Spannkraft, die ihnen beim Klettern in der Senkrechten fehlte“ (ebenda, 171). 2.3.2. Das Fünf-Stangen-Gerät Dieses Gerät ist aus einer Idee Elfriede Hengstenbergs entstanden und sie hat es für ihren Unterricht anfertigen lassen. Die fünf zwei Meter langen Eschenholztangen sind angeordnet wie die „Fünf“ auf einem Würfel und oben und unten durch ein Holzkreuz miteinander verbunden. In der heutigen Arbeit ist die eine Seite dieses Kreuzes mit ausfahrbaren Bodenstützen versehen, die ein Umkippen, wenn mehrere Kinder sich daran spielend bzw. forschend bewegen, verhindern sollen. Die Stangen sind in die Kreuze geschraubt und damit jederzeit demontierbar. Das Gerät ist sowohl senkrecht, als auch waagrecht einsetzbar. Es eignet sich ebenfalls sehr gut zum Klettern, Balancieren, Hangeln und ist auch mit allen anderen Geräten kombinierbar. Hieran probieren Kinder gerne den Überschlag. Ein didaktisches Problem ergibt sich, wenn das Gerät senkrecht steht und im 17 Spielraum zusammen mit niedrigeren Geräten aufgebaut ist. Die besonders ehrgeizigen Kinder lassen dann gerne die Erfahrungsmöglichkeiten in niedrigeren Regionen aus, stürzen sich gleich auf dieses Gerät und klettern bis oben hin, wo sie dann stolz sitzen und Anerkennung für ihre Leistung erwarten. Dieses Gerät eignet sich ebenfalls auch für Ruhephasen. Es gibt Kinder, die in zwei Meter Höhe auf den Bauch liegend, die Arme nach unten baumelnd, einer Raubkatze gleich, eine Pause einlegen. 2.3.3. Die Hocker Die Hocker wirken, wie alle Geräte Elfriede Hengstenbergs, zunächst sehr unscheinbar und werden deswegen auch oft unterschätzt. Sie sind vierzig Zentimeter hoch und mit einer Sitzfläche, verflochten aus Bast und dünnen Querverstrebungen, versehen. Sie sind aufeinander stapelbar und auch sonst in allen Lagen zu verwenden. Die Kinder benutzen sie gerne, um sich hindurch zu schlängeln, sie aufeinander zu stapeln und auf ihnen in die Höhe zu klettern, sie aneinander zu reihen, sie mit Stangen oder Brettern zu verbinden, auf ihnen zu gehen und zu balancieren und sie als Rüstung zu benutzen etc. Da sie in sich etwas nachgeben, geraten sie beim Begehen etwas in Schwingung. So manches unachtsame Kind hat so auch schon schreckhafte Grenz-Erfahrungen sammeln können. Sie krabbeln, gehen im Bärengang oder stehend darüber. Mit ihnen wird Eisenbahn gespielt oder sie werden auch zum Ausruhen als Bett verwendet. 2.4. Die Rolle der Erwachsenen Die Erwachsenen haben die Rolle desjenigen, der Material bereitstellt, für eine anregende, vorbereitete Umgebung und für Sicherheit sorgt, also achtsam die Gerätschaften prüft, sich ansonsten aber zurückhält, genau beobachtet und Rückmeldungen gibt. „Der Erwachsene ist nicht Lehrer, sondern ermöglicht Lernen, ist ein Begleiter von Entfaltungsprozessen, kein Besserwisser und kein Richter. Er darf teilhaben und kann ermöglichen, weil er weiß, dass beim Kind das Entscheidende auf dem Weg passiert: Beim Spielen wachsen Kräfte, 18 Geschicklichkeiten, Erfahrung, Verstehen, die Sicherheit, das Selbstvertrauen und das Selbstbild“ (Tritschler 2004, 3). Auf Lob und Tadel wird bewusst verzichtet, weil vermieden werden soll, dass die Kinder aus Ehrgeizgefühlen und dem Streben nach Anerkennung aktiv werden und somit wieder nach außen gerichtet agieren, von sich selbst abrücken, statt aus sich heraus, um sich erfahren zu wollen. In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass Lob im Sinne von „das hast Du aber schön gemacht“ zu oberflächlich bleibt und die Kinder nicht wirklich zufrieden stellt. In der Hengstenberg-Arbeit wird Anerkennung durch genaue Beschreibungen dessen, was der Erwachsene wahr genommen hat, in einer einfühlenden, liebvollen Art und Weise rückgemeldet. „Seine Liebe zeigt sich im vertrauenden und eventuell schützenden Gegenwärtigsein und nicht in Lob und Tadel. Seine Sprache hat eine brückenschlagende Kraft. In dem, wie er spricht zeigt sich die Qualität seiner Beziehung. Wenn das Kind suchend findet, und er das Gefundene einfühlend in Worte überträgt, schenkt er dem Kind oft dessen eigene Erfahrung noch mal neu und ermutigt so zu weiterem schöpferischen Schaffen“ (Trischler 2004, 3). 2.5. Wirkungen für den Alltag Sowohl damals wie heute kann die Hengstenberg-Arbeit auf viele Erfolge verweisen und wirkt damit nachhaltig auf den Alltag der Kinder. Kinder, die schwere körperliche Haltungsschäden und Fehlstellungen hatten, wurden kuriert. Vertobte Kinder wurden ausgeglichen. Stotternde Kinder lernten wieder störungsfrei zu sprechen. Im folgenden werden konkrete Heilungserfolge der heutigen Zeit aufgeführt, um so die eindrucksvolle Wirkungsweise dieser Arbeit zu dokumentieren und zu würdigen. Zunächst wird die Verlaufsentwicklung zweier Kinder, mit denen die österreichische Ergotherapeutin Erika Beck (vgl. Ergotherapie Rehabiltation 2003) gearbeitet hat, geschildert. Anschließend wird die Entwicklung von Kindern beschrieben, die sich im Therapeutikum St. Johann des Heilpädagogen und Physiotherapeuten Uli Trischler (Vortrag 2004), der auf eine 36-jährige Berufserfahrung zurückblicken kann, neu entdecken und erleben durften. 19 2.5.1. Aus einer österreichischen Ergotherapiepraxis Peter, 10 Jahre, hat große Schulprobleme. Er kommt mit stark herabgesetztem Muskeltonus, traut sich sehr wenig zu und ist allgemein seelisch sehr entmutigt. Dann sieht er die an einer Leiter eingehängten Doppelbalancierstangen, beginnt Neugier zu entwickeln und startet einen Versuch der Annäherung, stolpert allerdings gleich und gibt sofort wieder auf. Er wird ermutigt, die Stangen auf den Boden zu legen und angeregt eine andere Körperposition als die stehende einzunehmen. „Für ihn war es eine ganz neue Erfahrung, etwas auf seine Art und in seinem Tempo probieren zu dürfen, ohne etwas richtig oder vor allem falsch zu machen“(Ergotherapie Rehabilitation 2003, 11). Daraufhin beginnt er rege zu werden, probiert, kombiniert Geräte, balanciert, hängt sich mit den Händen an die Stangen und die Leitersprossen und fand immer neue Bewegungsvariationen. Er wird immer mutiger und forscher. Wenn Leiter und Stangen in der vorbereiteten Umgebung des Spielraums fehlen, dann sorgt er gut für sich und fordert sie ein. In vielen Bereichen seines alltäglichen Lebens gibt er seine innere Haltung „Das kann ich ohnehin nicht“ auf. Die an ihn gestellten Aufgaben des täglichen Lebens kann er nun mit Neugier angehen und hat somit seine Erfahrungen aus dem selbstständigen Erforschen und Spielen in seinen Alltag integriert. Markus, 5 Jahre, wird von sehr verzweifelten Eltern gebracht. Er spielt und zeichnet nicht, ist meistens sehr laut und unzufrieden. Das ändert sich nur, wenn er draußen herumtoben darf. Obwohl motorisch geschickt, ist er jedoch so hektisch und unaufmerksam, dass er immer wieder stolpert. Er ist anfangs noch so wild und überschätzt sich, dass er Gefahr läuft, sich zu verletzen. „Er musste immer wieder seine Grenzen spüren. Fast nichts konnte ihm hoch und wild genug sein“ (ebenda, 12). Als die Stangen ganz hoch auf den Leitern liegen, und er langsam darüber balanciert, wirkt er das erste Mal sehr konzentriert. Er baut die Geräte bald selbst auf. Das fordert von ihm noch mehr Konzentration und Aufmerksamkeit, denn wenn sie nicht richtig eingehängt sind, kann er sein Spiel nicht weiter verfolgen. Zunehmend bemerkt er die Qualitätsunterschiede in seinem Handeln. Dadurch wird er überlegter und ruhiger. Diese neuen Erfahrungen nimmt er mit in seine Alltagssituationen. Seine Mitmenschen 20 reagieren nun auch anders auf ihn und er bekommt immer öfter positive Rückmeldungen. Dadurch verändern sich seine Beziehungen und somit verbessert sich seine Situation auch im sozialen Bereich. 2.5.2. Aus dem Therapeutikum St. Johann Ralph, 6 Jahre, kotet wieder ein. Nach bereits sieben Therapiestunden ist er wieder sauber. Lucia, 10 Jahre, kommt nach einem missglückten Suizidversuch ins Therapeutikum. Sie befindet sich in größter Schulnot. Nach einem halben Jahr kann sie die Schule wieder befriedigend bewältigen, lacht und singt wieder. Benjamin, 9,5 Jahre, traut sich nicht außerhalb zu übernachten. Nach wenigen Stunden werden sein Mut und sein Selbstvertrauen so geweckt, dass dies nun kein Problem mehr für ihn ist. Sebastian soll nach der Meinung der Lehrer auf die Förderschule. Nach einein halb Jahren der Nach-Entfaltung in Tritschlers Bewegungslandschaft kann er wieder dem Unterricht folgen und wird sogar zur Realschule wechseln. Larissa stottert schwer und hat solche Angst, dass sie sich kaum vom Boden lösen traut. Nach einem halben Jahr hat sie ihre innere Haltung „Das kann ich nicht“ aufgegeben und durch „das schaff ich“ ersetzt. Sie kann wieder leicht, flüssig und fließend sprechen. 2.5. Resümee Die Bedingungen, unter denen unsere Kinder heute aufwachsen, haben sich enorm verschlechtert, weil sie kaum noch draußen unbeaufsichtigt spielen dürfen. Freies Spielen im Sinne von forschen und experimentieren ohne Vorgaben ist kaum mehr möglich. Viele Kinder müssen sich drinnen in viel zu engen Wohnungen 21 aufhalten und sind dort der geballten Medienwelt ausgesetzt. Das hat enorme Auswirkungen auf „...die Wahrnehmung und Urteilsbildung über die gesetzmäßigen Ordnungen der Welt und des Körpers. Die Nahsinne Fühlen, Berühren und Tasten, Leibwahrnehmung, Gleichgewichts- und Bewegungssinn drohen zu verkümmern. Das Bewusstsein wird in die Fernsinne der Augen und Ohren gerissen und dort verkümmert“ (Tritschler 2004, 2). Angesichts dieser Einschätzung, die ich teile, hat die Wichtigkeit und Aktualität der Hengstenberg-Arbeit nicht an Bedeutung verloren. Sie bietet sowohl die Möglichkeit zur Prävention, als auch die der Nach-Ent-faltung. Wie deutlich geworden ist, hilft diese Form der Arbeit den Kindern bei der Bewältigung ihrer Aufgabe, nämlich dem Sich-Vertraut-Machen mit dem eigenen Körper, der als der Wohnort der Seele und des Geistes bezeichnet werden kann, und der sie umgebenden Welt. Wie heißt es bei Ute-Christiane Bräuer so schön auf die Pikler-Arbeit bezogen, sie ermögliche nicht nur das Vertrauen-Schöpfen im allgemeinen, sondern sie reiche bis zum Urvertrauen einerseits und andererseits schaffe sie in der tätigen Auseinandersetzung mit der direkten Umwelt des Kindes das nötige Weltvertrauen (vgl. Bräuer 2003), um sich sowohl innerlich autonom und integer, als auch offen und frei durch die Welt zu bewegen, sowie an des eigenen und deren Wohl mitwirken zu können. Die Hengstenberg-Pädagogik ist in der Lage „Verwahrlosungstendenzen“ von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen entgegen zu wirken, weil sie eine Atmosphäre und eine vorbereitete Umgebung schafft, in der sich der Mensch beachtet, wertgeschätzt und fähig fühlt, denn sie geht davon aus, das es keine Fehler gibt, sondern, dass etwas fehlt. Mit viel Raum, Zeit und Achtsamkeit ist es hier möglich, dass man sich selbst erfährt, selbst heraus bekommt was einem fehlt und so die Möglichkeit zur eigenen Nachentwicklung erhält. Darum ist diese Form der Pädagogik auch so wichtig für die Arbeit mit benachteiligten Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Eltern und Pädagogen, die es schaffen den Wert dieser Arbeit zu erkennen und deren Menschenbild und Ziele zu ihrer inneren Haltung werden lassen, können im Umgang mit den ihnen anvertrauten auffällig erscheinenden Kindern und Jugendlichen viel bewirken. Können sie miteinander vertraut werden, stellt sich eine konstruktive Beziehung her und die Entwicklung zu einer gesunden Persönlichkeit und Gesellschaft wird möglich 22 sein, denn man bedenke, in dieser Gesellschaft lebten noch nie so wenig Kinder und vor allem noch nie so wenig gesunde Kinder (vgl. Tritschler 2004). 3. Exkurs: Alfred Adlers Menschenkenntnis So heißt ein Buch von ihm, auf das ich mich; neben seinen Studien zur Individualpsychologie, im Folgenden zur Klärung und Definition der Begriffe Gemeinschaftsgefühl und Verwahrlosung beziehen werde. 3.1. Der Begriff Gemeinschaftsgefühl Aus der Sicht der Natur sei der Mensch ein minderwertiges Wesen, so Adler. Dieses sei nun permanent damit beschäftigt seine Unzulänglichkeiten auszugleichen und anzupassen, um damit seine Existenz in der Natur zu sichern. So hat der Mensch seine Seele entwickelt als das Organ des Denkens, Fühlens und Handelns. Seine Sprache kam hinzu, die nicht nötig wäre, wenn er alleine leben würde. Mit ihr die Logik, die das beschreibt was allgemeingültig ist. Hieraus entstanden die Bindemittel jeder Kultur, die auch vor deren Verfall schützen: Vernunft, Logik, Ethik und Ästhetik. Des Menschen Wollen, entstehe aus dem Willen, von der Unzulänglichkeit, dem Minderwertigen, zu einem Zustand des Vollwertigen, der Zufriedenheit, der Sättigung zu gelangen (vgl. Adler 1994, 40/41). Er versuche sein Leben lang dieses Minderwertigkeitgefühl zu kompensieren. „Der Mensch ist als einzelner minderwertig. Er kann nur in der Gruppe, in der Gemeinschaft überleben ... er ist nicht böse, sondern immer nur entmutigt; Ermutigung macht aus ihm wieder ein nützliches Mitglied der Gemeinschaft“ (Adler 1994, 12). Der Mensch unterliege dem Zwang zur Gemeinschaft. Er brauche eine Vielzahl von Dingen zum Überleben, die er durch eine entwickelte Arbeitsteilung der Gemeinschaft erhalten kann. Der Säugling könne alleine nicht existieren. Er brauche Ansprache und Geborgenheit durch seine primären Bezugspersonen, in der Regel die Mutter und der Vater. Dieses sogenannte Bonding, gerade in den ersten Lebensminuten und Stunden ist sehr entscheidend für seine körperliche, 23 seelische, geistige und soziale Entwicklung. Hier entstehen Weichen stellende Prägungen. Lebensschablonen, Lebenspläne, erste entscheidende Charakterzüge bilden sich heraus. Hat sich ein Kind mehr oder weniger zur Anpassung an die Gegenwart und Zukunft entschieden, bildet sich eine optimistische Natur heraus, die sich zutraut, die ihm gestellten Aufgaben zu lösen: Mut, Offenheit, Verlässlichkeit, Fleiß etc. sind dann die Eigenschaften. Traut sich ein Kind nicht zu seine Aufgaben zu lösen, entstehen in der Seele des Kindes Zaghaftigkeit, Schüchternheit, Verschlossenheit, Misstrauen und alle anderen Züge, mit denen sich der Schwache zu verteidigen sucht (vgl. Adler 1994, 36). Die Synapsenbildung im Gehirn wird in dieser Zeit wesentlich beeinflusst und die Verschaltungen im Gehirn entwickeln sich sehr rasant. Der Ausbau der seelischen Struktur der Menschen stamme aus der frühesten Kindheit. Das im Menschen angelegte Gemeinschaftsgefühl kann sich nur in einer wohlwollenden, einfühlsamen und feinfühligen Interaktion zwischen Mutter und Vater oder sie ersetzende Bezugspersonen auf der einen Seite und dem Säugling auf der anderen Seite entwickeln. Leben sei Bewegung, die aus dem inneren Konflikt des Menschen zwischen Gemeinschaftsgefühl und Minderwertigkeitsgefühl entstehe. Das sei das Bewegungsgesetz (vgl. Adler 1994, 12). „Nur die Bewegungslinie, in der sich die soziale Aktivität einer Persönlichkeit darstellen und empfinden lässt, gibt uns Aufschluss über den Grad der Verschmelzung eines Menschen mit den Forderungen des Lebens, der Mitmenschen, des Weltalls“ (Adler 1989, 15). Diese Bewegungslinie folge einer Mischung aus Gemeinschaftsgefühl und Streben nach persönlicher Überlegenheit. Gelinge diese Kompensierung des Minderwertigkeitsgefühls nicht, trete Entmutigung ein und das Gemeinschaftsgefühl bleibe unterentwickelt. Ein Individuum kann sich nur entwickeln, wenn es auch ein Gemeinschaftsgefühl entwickele. Ein guter oder schlechter Charakter werde immer aus der Sicht der Gemeinschaftswerte bestimmt (vgl. Adler 1994, 41). Charakter sei die Art und Weise, wie ein Mensch seiner Umwelt gegenüber steht – eine besondere Ausdrucksform seiner Seele, mit der die Aufgaben des Lebens bewältigt werden sollen. Er stehe immer im Zusammenhang zu seiner Umwelt 24 und in Verbindung zum Gemeinschaftsgefühl. Charakter sei ein sozialer Begriff (vgl. Adler 1994, 146). Adler sieht drei Hauptaufgaben des Lebens: Erstens Liebe, zweitens Beruf und drittens Gesellschaft. Durch diese Aufgaben versuche der Mensch seine Existenz zu sichern. Bei diesem Versuch bestätige er sein Gemeinschaftsgefühl und sein Geltungsstreben, das Streben nach Macht. Jede seelische Erscheinung müsse sowohl qualitativ, als auch quantitativ danach untersucht werden, in welchem Verhältnis Machtstreben und Erfüllung von Gemeinschaftsgefühl zu einander stehen. Diese Faktoren bedingen die Fähigkeit eines Menschen, inwieweit er sich in die den Menschen aufgezwungene Arbeitsteilung einfügen könne. Folgende Schwierigkeiten beeinträchtigen eine Entwicklung des Seelenlebens und beeinflussen die Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls: Misstrauen, Feindseligkeit dem Leben gegenüber, Hang zu Übertreibung und der ständige Blick auf die Schattenseiten des Lebens. Oftmals ist der Grund dafür auch in mangelnder Zärtlichkeit zu suchen oder auch im Gegenteil der Verzärtelung zu finden. Das Gemeinschaftsgefühl werde normalerweise in der Seele des Kindes bodenständig und verlasse den Menschen nur unter den schwersten krankhaften Ausartungen seines Seelenlebens. Der Mensch sei als Gemeinschaftswesen zu bezeichnen (vgl. Adler 1994, 50 ff.). Erziehung, so Adler, werde dann wirksam sein, wenn sie einfühlsam betrieben werde und an das Ursprünglichste im Menschen, das Gemeinschaftsgefühl, anknüpfe (vgl. Adler 1994, 65ff.). An der Erziehung zum Ehrgeiz dagegen könne die Entwicklung des Seelenlebens scheitern. Aus einem Minderwertigkeitsgefühl heraus versuchen sich die Kinder schon sehr früh Sicherheit, Geborgenheit, Geltung und Achtung zu erarbeiten. Neben der Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls entsteht hieraus parallel dazu das Streben nach Macht. Können Kinder von all dem nichts erreichen, fühlen sie sich zurück gesetzt. Dieses Gefühl, z.B. nicht zu genügen, kann sich ein ganzes Leben wie ein roter Faden durch ziehen. Dem Individuum selbst genügt dann vieles nicht, es ist nicht genügsam, kann nie genug kriegen und ist mit allem, wenn man es erst mal hat, auch schnell wieder unzufrieden (vgl. Adler 1994, 68ff.) Das Kräftespiel zwischen Erlangung von Gemeinschaftsgefühl und Streben nach Macht habe eine äußere Erscheinungsform, die Adler den Charakter eines Menschen nennt. 25 „Der Charakter eines Menschen ist uns nie Grundlage zu einer moralischen Beurteilung, sondern eine soziale Erkenntnis, wie dieser Mensch auf seine Umwelt wirkt und in welchem Zusammenhang er mit ihr steht“ (Adler 1994, 169). 3.2. Der Begriff Verwahrlosung Kinder sind sehr lange bemüht, das in ihnen angelegte Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln und ihr Minderwertigkeitsgefühl zu kompensieren. Gelingt dieser Ausgleich nicht, treffen sie immer wieder auf Ablehnung und erfahren keine Liebe, dann werden sie sich abwenden und der Verwahrlosungsprozess setzt ein. Adler geht davon aus, dass sich in den ersten Lebenstagen eines Menschen seine Lebensschablone bildet, sich also die Grundzüge eines Lebensplanes und auch seines Charakters herausbilden. Treten ihre Bezugspersonen nicht in einen liebevollen und gegenwärtigen Kontakt mit ihnen, werden ihnen die Fähigkeit zu Bindung und Kontakt erschwert. Diese Kinder „haben den Kontakt mit der Mitwelt nicht...ihr Zusammenhang mit den Menschen ist irgendwie dürftig, sie sind keine guten Mitspieler, sie fügen sich nicht leicht in die Gesellschaft ein...“ (Adler 1989, 334). Durch die immer wieder erlebte Erfahrung eines unaufrichtigen oder gar fehlenden Kontaktes, mangelnder Geborgenheit, durch vermeintliche Bezugspersonen, die selbst sehr instabil sind und sich minderwertig fühlen, geraten sie in „die Rolle von Menschen, deren Gemeinschaftsgefühl Mangel gelitten, die den Zusammenhang mit den Menschen nicht gefunden haben, und sie sehen den Nebenmenschen als etwas Feindliches“ (ebenda, 334). Solche Kinder sind ständig in Alarmbereitschaft, sind misstrauisch und nutzen ihre Intelligenz und ihren Ehrgeiz sich einen Vorteil zu verschaffen. Sie entwickeln „feige List“ und eine gewisse „Gerissenheit“, die in alle ihre Beziehungen Einzug hält und mit der sie sich durch ihr Leben schlagen. Manche dieser Kinder besitzen nur mangelnde Intelligenz. Daran scheitern Versuche sie in kurzer Zeit in die Gemeinschaft zu integrieren. Die Mehrzahl der verwahrlosten Jugend jedoch ist intelligent bis hochintelligent und ist irgendwann an dem Gefühl des Scheiterns haften geblieben. Aus diesem Gefühl heraus wirkt die Verwahrlosung wie eine Rache an der Gesellschaft. Sie verleiht den Verwahrlosten Erleichterung und eine Art Erhöhung, die zum Erhalt eines Restes von Selbstwertgefühl beiträgt. Adler hat bei allen untersuchten Fällen folgende Merkmale bzw. Charakterzüge festgestellt: 26 - „...außerordentlich stark entwickelter Ehrgeiz, der im Inneren verschlossen bleibt - Empfindlichkeiten gegen Zurücksetzungen aller Art - Feigheit, die nicht im einfachen Davonlaufen besteht, wohl aber im Auskneifen des Lebens und seinen allgemeingültigen Forderungen...“ (ebenda, 330) Das Hauptdelikt, das diese Kinder und Jugendlichen begehen ist Diebstahl, der laut Adler ein Feigheitsdelikt ist (vgl. ebenda, 334). Adler plädiert für staatliche Einrichtungen, die nicht in erster Linie das Prinzip Strafe verfolgen, sondern diesen Menschen mit Mitgefühl begegnen. Nur über zurückgewonnenes Vertrauen können verwahrloste Menschen wieder Gemeinschaftsgefühl entwickeln. Dies erreiche man durch Personal, das die ihnen anvertrauten Menschen verständnis-, würde- und respektvoll behandelt. Demütigung und Entwertung dagegen wirkt kontraproduktiv, weil es deren alte Muster nur bestätige und verstärke. 3.3. Resümee Adler fordert Einrichtungen und Beratungsstellen, in denen einer Verwahrlosung von Kindern und Jugendlichen entgegen gewirkt werde, in denen durch eine anregende Umgebung und einfühlsame MitarbeiterInnen das Gemeinschaftsgefühl wieder geweckt und präventiv gearbeitet werde. Diese Einrichtungen müssen die verwahrlosten Menschen menschlich behandeln und sie wieder ins Leben zurückbringen. Das Personal muss Verständnis für die ihnen anvertrauten haben und sie würdevoll behandeln, nur so könnten die jungen Menschen erfahren, dass sie wertgeschätzt werden und so sei es möglich, das sich ein Gemeinschaftsgefühl entwickele. Durch Demütigung und Abwertung erfahren sie nur Bestätigung und Verfestigung ihrer alten Muster. Das gehe allerdings nur, wenn ihnen unsere Gesellschaft auch ernsthafte Perspektiven bieten würde. 27 4. Die Arbeit von August Aichhorn August Aichhorn arbeitete in Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Lehrer. Er setzte sich erfolgreich gegen die Einführung militärischer Erziehungsheime und damit auch gegen ein Erziehungswesen Österreichs auf militärischer Grundlage ein. Aus diesem Engagement heraus verließ er den Schuldienst und wurde Vorsitzender eines Ausschusses zur Einrichtung von Erziehungsheimen für Knaben. In diesem Zusammenhang ergab sich die Gelegenheit in einem alten Flüchtlingsheim seine Vorstellungen von Erziehung vernachlässigter und verwahrloster Jungen in die Tat um zu setzen. Er kam mit den psychoanalytischen Theorien Freuds in Kontakt. Sie gaben ihm das theoretische Rüstzeug für seine Erziehungspraxis. Aichhorn wurde in seinem bisherigen erzieherischen Handeln durch die Psychoanalyse bestätigt. Darüber hinaus bahnte sich eine gegenseitige fruchtbare Zusammenarbeit an. Freud sah seine Erkenntnisse in der erzieherischen Arbeit Aichhorns und damit an der Basis der Gesellschaft umgesetzt. Im vorliegenden Kapitel beziehe ich mich in erster Linie auf die beiden Bücher von Aichhorn Verwahrloste Jugend und Erziehungsberatung und Erziehungshilfe. In dem behandelten Kontext erarbeite ich die Begriffe Verwahrlosung und Übertragung als die zentralen Kategorien seiner Arbeit. Im Kontext meiner Arbeit sind sie von Bedeutung, weil es in der Erziehung darum gehen muss Begleitung und Umgebung von heranwachsenden Menschen heilsam und gewissermaßen vorbeugend zu gestalten. Gelingt dies nicht von Anfang an, werden also Menschen bereits im Säuglingsalter vernachlässigt und wächst sich dies zur Verwahrlosung aus, gilt es diesen Menschen mit Einfühlungsvermögen, Respekt und Vertrauen zu begegnen. Stellt sich so eine Gefühlsbeziehung her, d.h. können diese positiven Werte übertragen werden, ist eine Atmosphäre geschaffen, in der eine Nachentwicklung bzw. Nachreifung möglich ist. Aichhorn brachte diese Fähigkeit in die Arbeitsbeziehung mit seinen ihm anvertrauten Menschen ein. Durch die Art und Weise wie er fragte vermittelte er von Anfang an ein Gefühl des Verstanden-Werdens. Seine innere Einstellung war geprägt durch die Bereitschaft zum gegenseitigen Lernen. Er verstand sich als „unwissend“, lern- und erfahrbereit. Dadurch schuf er eine Vertrauensbasis. Hierin reiht er sich nahtlos in die Reihe von Pikler, Hengstenberg, Jacoby, Gindler und Adler ein. Übertragung sei, so Aichhorn, das wichtigste Werkzeug in der 28 Arbeit mit Menschen. Dies setze aber auch eine genaue Kenntnis der eigenen Persönlichkeit und eine andauernde Auseinandersetzung mit ihr voraus. Er empfahl daher die Analyse, um sich selbst zu erfahren. Er selbst machte eine Analyse. 4.1. Der Begriff Verwahrlosung Aichhorn versteht Verwahrlosung als einen Prozess, der sich in drei Phasen teilt: Erstens die Phase der Ausbildung einer Disposition zur Verwahrlosung, zweitens die Phase der latenten Verwahrlosung und drittens die Phase der manifesten Verwahrlosung. Ein junger Mensch, der sozial auffälliges Verhalten zeigt, bringe bereits eine Disposition zur Verwahrlosung durch Erbanlagen, frühkindliche Vernachlässigung oder durch labile, vermeintliche, nicht vorhandene oder ständig wechselnde Bezugspersonen mit. In der zweiten Phase werden die psychischen Mechanismen ausgebildet, die zu dissozialem Verhalten führen können. In dieser Phase wird von latenter Verwahrlosung gesprochen. Es bedarf dann nur noch eines Anlasses, z.B. eines weiteren traumatischen Erlebnisses, um die Verwahrlosung augenscheinlich, manifest werden zu lassen. Aichhorn geht davon aus, dass das traumatische Ereignis, das die dritte Phase der manifesten Verwahrlosung auslöst, nur der Schlusspunkt einer Reihe solcher Erlebnisse war. „Wir können davon ausgehen, dass das psychische Trauma das letzte Glied in einer Kette war, daß durch frühe Kindheitserlebnisse der Boden schon vorbereitet war“ (Aichhorn 1977, 45). Trauma wird von ihm in diesem Kontext als ein stark affektbeladenes Erlebnis definiert. Dabei wird die Psyche einem so hohen Reizzuwachs unterworfen und ihr plötzlich in einem so hohen Maße psychische Energie zugeführt, dass die zu Verfügung stehende Zeit nicht ausreicht, das Erlebte zu verarbeiten. Ebenso gelingt es nicht, den überreizten und stark angespannten Zustand wieder angemessen abzubauen. Das traumatische Erlebnis oder psychische Trauma kann dann in eine andauernde Neurose führen oder wie oben beschrieben die manifeste Verwahrlosung auslösen (vgl. ebenda 44). „Das psychische Trauma ist nur die 29 letzte der Ursachen, die in ihrer Gesamtheit die Verwahrlosung zustande bringen“ (Aichhorn 1977, 53). Die manifeste, handfeste Verwahrlosung, hat sich dann ausgebildet, wenn konkrete Verwahrlosungsäußerungen bzw. -symptome vorliegen wie z.B. Vagabundieren, der Schule fernbleiben, stehlen und ständiges Lügen (vgl. Aichhorn 1977, 44). Wie oben erörtert treten diese Symptome oftmals nach traumatischen Erlebnissen auf, wie z.B. dem Tod eines nahestehenden Menschen. Wenn dann die Verdrängung des Erlebten stattfindet, geht damit unter Umständen die Fortschreitung der Verwahrlosung einher (vgl. ebenda, 45). Die Ursache für Verwahrlosung muss nicht nur in seelischer und körperlicher Vernachlässigung liegen, sie kann auch im Gegenteil dessen in der Verzärtelung angelegt sein. Zärtliche Beziehungen zu Kindern sind normal. Gelingt es jedoch nicht diese während der Pubertät angemessen und ohne große Brüche abzulösen, können Neurosen oder gar Verwahrlosung die Folge sein. Kinder müssen die libidinösen Objekte innerhalb der Familie während der Pubertät aufgeben und diese gegen solche außerhalb der Familie ersetzen (vgl. ebenda 46). Verwahrlosung muss sich trotz der Veranlagung dazu nicht unbedingt auswachsen. Dazu gehört auch ein verwahrlostes Umfeld des Kindes: Die Außenwelt, in die es hineinwächst, die ersten Freunde, die Schule etc. Die Gefahren der Straße, die schlechte Gesellschaft usw. sind jedoch nur der Anlass dafür, das Ventil und nicht deren Ursache (vgl. ebenda, 38). Aichhorn geht davon aus, dass der psychoanalytisch geschulte Erzieher ein Interesse daran haben muss, die Ursachen für die latente Verwahrlosung zu ergründen, denn nur so sei Heilung möglich. „Die Ursache aufdecken heißt die Kräftekonstellation auffinden, die zur latenten Verwahrlosung geführt hat“ (ebenda, 39). Je mehr die Neigung zu Verwahrlosungsäußerungen behoben wird, desto größer ist auch der Abbau der latenten Verwahrlosung. Dies geht einher mit einer Änderung der Ich-Struktur. „Die Verwahrlosungserscheinungen bzw. -äußerungen sind nur die Symptome eines nicht mehr sozial gerichteten Kräfteablaufes im Individuum“ (ebenda, 43). Bevor es dazu kam, war die Psyche bereits so vorgebildet, dass von einer latenten Verwahrlosung auszugehen ist. Hier liegen bereits die Verwahrlosungsmechanismen vor, die nur noch auf einen Anlass warten, um in Gang zu kommen. Die Verwahrlosung tritt nun deutlich sichtbar in 30 Erscheinung. Die latente Verwahrlosung wird nun manifest und stellt den Zustand dar, der allgemein als Verwahrlosung bezeichnet wird. Wenn man weiß, wie die latente Verwahrlosung entstanden ist, hat man die Ursache für die Verwahrlosung ergründet. Um die subjektive Verwahrlosungsursache festzustellen, ist es notwendig sich unter allen Umständen eindeutig auf die Seite des Verwahrlosten zu stellen. Drückt sich eine Verwahrlosungserscheinung in Gewalt an anderen aus und handelt es sich hierbei um momentane Affektausbrüche, ist auch diese als ein manifestierter Verwahrlosungszustand zu verstehen. „Oder in dynamischer Ausdruckweise, dass der psychische Kräfteablauf nicht mehr die soziale Richtung einhält“ (ebenda, 65). Beispielsweise kann sich Liebe in Hass verwandeln, um das Ich des Betroffenen zu schützen (vgl. ebenda 71). Dann kann bewusster Hass mit all seinen möglichen Auswirkungen als Sicherung dafür verstanden werden, dass eine unbewusste, ungelöste erotische Bindung, nicht aus dem Unbewussten hervorbricht. 4.2. Ausheilen in der Übertragung Aichhorn definiert Übertragung als die Herstellung der Gefühlsbeziehungen zwischen Helfer und zu Helfendem. An dieser Stelle wird dies so allgemein formuliert, weil sich die Übertragung in allen helfenden Berufen herstellen lässt und die Terminologie Aichhorns nicht mehr zeitgemäß ist. Er definiert in engerem Sinne Übertragung als die Gefühlsbeziehung zwischen Fürsorgeerzieher und Fürsorgeerziehungszögling ( vgl. Aichhorn 1977, 82 ). Fehlt beispielsweise der Vater in der Familie und sind die Beziehungen in einer Familie dadurch aus dem Lot gekommen, kann ein Helfer bewusst in die Übertragungsrolle des Vaters gehen. Wird diese von den Akteuren in der Familie angenommen, kann dies zur Entlastung aller Beteiligten und zu einer ausgewogenen Balance in den sozialen Beziehungen führen. So konnte in einem von Aichhorn genannten Beispiel, ein der Schwester gegenüber gewalttätiger Junge, Aichhorn in der Vaterrolle annehmen und mit ihm die Ursachen und Zusammenhänge seines unangemessenen Verhaltens erörtern. Die Mutter fühlte sich entlastet durch regelmäßige Gespräche und konnte so ihre abwertende 31 Haltung dem Jungen gegenüber korrigieren. Der Junge konnte die aus der Vateridentifikation übernommene Vaterrolle ( der Vater fehlte in dieser Familienkonstellation ) verlassen und war dadurch ebenfalls entlastet. Die Schwester spürte den atmosphärischen Wandel in der Familie und änderte ihr zänkisches Verhalten, so dass schon nach kürzester Zeit die Gewaltattacken des Jungen nachließen und dann ganz aus blieben. Er stand sich dann auch nicht mehr selbst im Wege in Bezug auf seine Ausbildung, die er nun wieder aufnehmen konnte, mit dem Ziel sie auch abzuschließen (vgl. ebenda 77ff.). In diesem Beispiel ist es gelungen väterliche Gefühle, die sich durch Mitgefühl, Geduld, und Respekt ausdrückten, auf den Sohn und Bruder in der Familie zu übertragen. In der Gegenübertragung wurden diese Gefühle auch beim Erzieher tatsächlich ausgelöst. So entstand für die Zeit der Arbeitsbeziehung eine authentische Gefühlsbeziehung zwischen Begleiter und Begleiteten. Die Übertragung war in vollem Umfange hergestellt. In dieser Zeit konnten sich die Beziehungen zwischen allen beteiligten Familienmitgliedern neu formieren. Das System der Familie ordnete sich in einer geheilten Struktur neu. Der Symptomträger der gestörten Familienverhältnisse, der verhaltensauffällige Junge, fühlte sich in dieser Zeit verstanden und geborgen. In dieser Atmosphäre konnte er sein Verhalten ändern. Wenn mögliche Rückfälle soweit ausgeheilt sind, dass sie für das Gesamtsystem Familie verträglich und verarbeitbar werden, zieht sich der Erzieher bzw. Berater behutsam aus der Übertragungsrolle zurück. 4.3. Resümee Die Neigung zu Verwahrlosungsäußerungen zu stoppen ist in der Regel die Aufgabe von Erziehungshilfen. Gelingt ihr dabei auch der Abbau der latenten Verwahrlosung, hat sie ihre Aufgabe zufriedenstellend gelöst. Das Verwahrlosungssymptom ist nicht gleichzusetzen mit der Verwahrlosung selbst. Unsere Gesellschaft begnügt sich in der Regel mit der Beseitigung der Symptome durch Strafe. Jedoch verstärkt Strenge in der Regel die Hass- und die Racheneigung, wenn sie zunächst auch ins Unterbewusstsein verschoben wird. Man wundert sich dann über hohe Rückfälligkeitsraten und übersieht, dass 32 lediglich psychische Zustände erzeugt werden, in denen dissoziale Äußerungen unterdrückt gehalten werden. Ein Kind beginne sein Leben als asoziales bzw. dissoziales Wesen.6 Es bestehe auf der direkten Erfüllung seiner primitiven Wünsche, ohne die Wünsche und Forderungen seiner Umwelt zu berücksichtigen (vgl. Aichhorn 1977, 10). „Je jünger es ist, desto weniger vermag es auf die Erfüllung der Wünsche aus seinem Triebleben zu verzichten und den Notwendigkeiten, die sich aus dem Zusammenleben mit anderen ergeben, zu entsprechen“ (Aichhorn 1977, 12). Wie in Kapitel 1 dieser Arbeit beschrieben, weisen die Kinder im Budapester Kinderheim Lóczy von Anfang an einen hohen Grad an sozialem Verhalten auf. Durch die Erfahrungen im Lóczy konnte nachgewiesen werden, dass bereits im Säuglingsalter unter Heimbedingungen, durch eine Sattheit an Kontakt in der Beziehung von Kind und betreuender Bezugsperson sowie einer anregenden, vorbereiteten Umgebung selbst bei schwerst traumatisierten Säuglingen und Kleinkindern veranlagte und/oder sozial bedingte Dissozialität erfolgreich behandelt wird. Somit kann dissoziales Verhalten erst gar nicht zum Ausbruch kommen und einer Verwahrlosung vorgebeugt werden. Nach Aichhorn lernt das Kind durch reale Frusterlebnisse erst nach und nach sich Triebeinschränkungen aufzuerlegen. Dadurch lernt es den Erfordernissen seiner Umwelt nachzukommen. So wird es sozial. Dieser Auffassung nach gelingt ein friedliches und soziales Miteinander nur über Frust und Verzicht. Der Mensch muss lernen mit Situationen, die ihm Unlust bereiten fertig zu werden, so Aichhorn. Auch hier zeigt die Art und Weise im Umgang mit den Kindern im Lóczy, dass es auch anders möglich ist. Auch hier werden Grenzen gesetzt, jedoch von Anfang an in einer Atmosphäre der gegenseitigen Achtung und Wertschätzung. Es werden Grenzen gesetzt ohne Grenzen zu verletzen. Es entstehen also auch hier Unlusterlebnisse, die aber von den Kindern altersangemessen verarbeitet werden können ohne, dass sie sich verletzt fühlen. Die Eigeninitiative des Kleinkindes, ja schon des Säuglings auf dem Wickeltisch ist gefragt und wird nicht ignoriert. Die Kinder entdecken in dieser Situation schon sehr früh ihre Lust an der Mitarbeit, 6 Dem Autor dieser Arbeit ist bewusst, dass die Ausdrücke asoziale bzw. dissoziale Wesen im heutigen Diskurs nicht mehr gebraucht werden. Der begriff Dissozialität wird verwendet. Darüber hinaus soll an dieser Stelle betont werden, dass sowohl Alfred Adler, als auch August Aichhorn die Begriffe asozial bzw. dissozial nicht in einem diskriminierendem Sinne benutzt haben. 33 statt zu trotzen und sich zu verweigern. Es kommt zu keinen erheblichen Beziehungswechseln und Beziehungsabbrüchen. Aichhorn selbst praktizierte mit den ihm anvertrauten, verwahrlosten Jugendlichen einen von Einfühlungsvermögen und Respekt geprägten Umgang. Er steigt so, wenn auch viel später, in einen „Miteinander-Vertraut-WerdenProzess“ (vgl. 1. Kapitel dieser Arbeit) ein, um den Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine Nachreifung, bzw. Nachentwicklung zu ermöglichen. Gewalt lehnt er kompromisslos als Mittel der Erziehung – wie Emmi Pikler auch - ab. Damit möchte er mögliche Re-Traumatisierungen der zu Betreuenden vermeiden. Nach Aichhorn geht es in der Entwicklung vom Säugling zum Erwachsenen, ähnlich wie in der Evolution vom Primitiven zum zivilisierten Menschen, um die Erlangung einer primitiven Realitäts- bzw. Kulturfähigkeit, sprich der Anpassung an die Erfordernisse der jeweiligen Gesellschaft (vgl. Aichhorn 1977, 12). Ich vermute dass Aichhorn, obwohl er, wie Emmi Pikler auch, zeitgleich und in der selben Stadt wirkte, sich nicht vorstellen konnte, dass man schon mit Säuglingen vorbeugend und psychische Traumata ausheilend arbeiten kann. Bedauerlicherweise gab es offenbar keine Kontakte zwischen der Wiener Psychoanalyse und den Kinderärzten der Wiener Kinderklinik, in der Emmi Pikler ihre ersten Erfahrungen sammelte. Andernfalls wäre sicher eine interessante, der Sache einer humanen, freien Pädagogik und der Schaffung einer friedlichen und gerechten Gesellschaft dienliche Zusammenarbeit entstanden. 5. Eigene Erfahrungen Ich arbeite seit zweieinhalb Jahren im Betreuten Wohnen für Jugendliche und junge Erwachsene bei LICHTBLICK, Stiftung der Evangelischen Marienkirchengemeinde zu Hanau. Die Einrichtung arbeitet in der Jugendhilfe, beauftragt durch die regionalen Jugendämter im Rahmen der Hilfe zur Erziehung auf der Grundlage des KJHG ( Kinder- und Jugend Hilfe Gesetz ). Die Institution verfügt sowohl über acht Plätze im Betreuten Wohnen für junge Erwachsene nach KJHG § 41 in Übergangswohnungen für ein, zwei und drei Personen, als auch über acht Plätze für Jugendliche, Mädchen und Jungen, ab 16 Jahren in einer außengeleiteten Wohngruppe nach §§ 19, 30, 34, 35, 35a. 34 Nachdem oben die Struktur der Einrichtung kurz geschildert wurde, wird im Folgenden zunächst auf die Verwahrlosungssymptome der Jugendlichen eingegangen. Anhand der oben erarbeiteten Kategorien Gemeinschaftsgefühl, Verwahrlosung, Übertragung, Nachentwicklung bzw. Nachreifung wird mit zwei exemplarisch geschilderten Fällen der Zusammenhang zwischen der präventiv, sowie nachentfaltend wirkenden Pikler- und Hengstenberg - Pädagogik und der erzieherischen Arbeit mit benachteiligten jungen Menschen herausgestellt. 5.1. Verwahrlosungssymptomatik Die jungen Menschen, die zu LICHTBLICK kommen leiden alle unter Verwahrlosungssymptomen wie sie in Kapitel drei und vier dieser Arbeit beschrieben wurden: Gewaltproblematik Aggressionsattacken gegen Sachen und andere Menschen, autoaggressives Verhalten Bildungsproblematik Schulabbrüche, keine Schulabschlüsse Drogenproblematik Cannabis-, Partydrogen-, Alkoholkonsum Finanzproblematik Mangelnde Fähigkeit zur Geldeinteilung, Hang zur Verschuldung Wohnproblematik Mangelnde Wohnfähigkeit, Gruppenfähigkeit Vagabundierproblematik zeitweises Leben auf der Straße, Mitwohnen bei anderen Justizproblematik viele sind bereits wegen Körperverletzung, Diebstahl und Betrug aufgefallen und verurteilt bzw. befinden sich aktuell in Verfahren Schwangerschaftsproblematik Junge Frauen werden minderjährig schwanger kurz bevor sie eine Bildungsmaßnahme antreten wollen Den meisten von ihnen wurden bereits psychiatrische Diagnosen erteilt: In der Regel Schizophrenien, Persönlichkeitsstörungen, Depressionen. Bevor sie zu LICHTBLICK kamen, war ihre letzte Station oftmals die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Davor durchliefen sie bereits viele Pflegefamilien, In-Obhutnahme-Stellen, Heime und Jugendgefängnisse bis die meisten von ihnen schließlich ein Leben auf der Straße vorzogen. Der Kontakt zu ihren Herkunftsfamilien ist entweder ganz abgebrochen oder vorübergehend unterbrochen. Manchmal bestehen auch noch lose, konflikthafte 35 Bindungen zur Mutter oder dem Vater. Die Eltern leben in der Regel getrennt. Manchmal ist ein Elternteil bereits gestorben oder selbst ein Pflegefall. LICHTBLICK ist für die meisten die letzte Chance, noch als Jugendliche den Wendepunkt zu schaffen, um sich selbst und einen von Zufriedenheit geprägten, sowie anerkannten Platz in der Gesellschaft zu finden. 5.2. Zwei Beispiele Die beiden folgenden Fälle wurden ausgewählt, um durch sie die vielfältige Problematik an Verwahrlosungssymptomen zu verdeutlichen und anhand ihrer Beispiele zu zeigen wie eine Ausheilung durch die Methode der Übertragung möglich ist. In der Herstellung von Gefühlsbeziehungen in der Arbeitsbeziehung entsteht eine nachholende, nachentfaltende Entwicklung, die es dem jungen Menschen möglich macht, alte, schmerzhafte Erfahrungen erneut zu durch leben, wieder Vertrauen zu schöpfen und so mit der Zeit auch wieder den Bezug zur gesellschaftlichen Realität herstellen und die anstehenden alltagspraktischen Anforderungen erledigen zu können. In der Jugendhilfe bei LICHTBLICK wird geschlechtsbezogen im Sinne einer „Nachbeelterung“ gearbeitet, d.h. die jungen Menschen werden in der Regel von einer männlichen und einer weiblichen Bezugsperson begleitet. In der Regel findet sich die Hengstenberg- und Pikler - Pädagogik in der Arbeit mit benachteiligten jungen Menschen in der inneren Haltung der sozialen Begleiter wieder. Sie ist geprägt durch ungeteilte Gegenwärtigkeit, Achtsamkeit, Aufmerksamkeit und Respekt im Kontakt mit den jungen Menschen. Die in der Regel schon frühkindlich traumatisierten und verwahrlosten Jugendlichen und jungen Erwachsenen reagieren sehr empfindlich auf Störungen in der Beziehung zu ihren Betreuern, nachdem sie lange gebraucht haben sich überhaupt auf eine Gefühlsbeziehung mit ihnen einzulassen. Jede, die eigenen Impulse nicht mehr kontrollieren könnende, affektgeladene Reaktion ist als Hinweis für eine Regression zu sehen. Agieren die jungen Menschen so, sind sie nicht in der Lage angemessenen zu reagieren. Sie handeln mit Verhaltensmustern aus der Kindheitsphase. Die Pikler-Arbeit ist deswegen von großer Bedeutung, weil mit ihrer Hilfe den Jugendlichen nachholende 36 Entwicklung im Sinne einer Bewusstwerdung der alten Muster, sowie eines Kennen-Lernens und Erfahrens von neuen Verhaltensmustern möglich gemacht werden kann. Direkt und nicht mehr Methode wirksam „nur“ nachholend, sondern vorbeugend kann diese werden, wenn junge Mütter schon während der Schwangerschaft auf ihre neue Rolle als Mutter vorbereitet werden. Hier besteht die Möglichkeit zur Durchbrechung von generationsübergreifenden und immer weiter gegebenen, gestörten Verhaltensmustern. Im ersten Beispiel handelt es sich um einen mittlerweile 19-jährigen jungen Mann aus Eritrea, der seit dreieinhalb Jahren in der Jugendhilfemaßnahme ist. Im zweiten Beispiel handelt es sich um eine achtzehnjährige junge Frau, die mit siebzehn Jahren schwanger wurde und sich seit einem halben Jahr in Betreuung befindet. Im November 2004 hat sie einen Sohn auf die Welt gebracht. Die Namen der beiden jungen Menschen wurden aus Datenschutzgründen geändert. 5.2.1. Jonathan S. Jonathan S. wird im Jahre 1985 in Eritrea geboren. Er hat eine zwei Jahre jüngere Schwester. Sein Vater stirbt eines gewaltsamen Todes im eritreischen Befreiungskampf als Jonathan drei Jahre alt ist. Seine Mutter bringt die beiden kleinen Kinder in ein Flüchtlingslager, markiert sie mit einer Rasierklinge am Oberarm, damit sie die Kinder nach ihrer Rückkehr wieder erkennt und beteiligt sich selbst an dem Unabhängigkeitskampf für Eritrea. Zwei Jahre später begibt sie sich auf die Flucht mit ihren Kindern. Nach einer Odyssee durch verschiedene Länder erreicht sie schließlich Deutschland, wo sie politisches Asyl erhält. Jonathan wird mit 7 Jahren eingeschult. Zu dieser Zeit spricht er kaum Deutsch. Seine Leistungen in den ersten vier Schuljahren sind trotzdem ausreichend. Dann setzt eine Phase des Fernbleibens von der Schule ein, bis Jonathan nach der 7. Klasse die Schule ganz abbricht. In den folgenden Jahren entzieht er sich erfolgreich der Schulpflicht. In diese Phase fallen auch die ersten eskalierenden Konflikte mit seiner Mutter. Sie sucht Hilfe beim Jugendamt. Jonathan wird in Obhut genommen und 37 durchläuft von seinem 13. bis zu seinem 15. Lebensjahr vier verschiedene Heime. Mit 15 Jahren verbüßt er das erste Mal eine zweiwöchige Jugendarreststrafe. Er hält es nirgends länger aus, kann nicht wirklich ankommen. In den Zwischenzeiten, nachdem er aus Heimen weggelaufen ist, versucht er wieder zu Hause zu leben. Die Mutter wirft ihn erneut hinaus, dann lebt er zeitweise auf der Straße oder wohnt bei Bekannten. Im Januar 2001 kommt Jonathan zu LICHTBLICK. Zu diesem Zeitpunkt ist er 15 Jahre und 4 Monate alt. Er wird vom Jugendamt als selbstständig und motiviert genug eingeschätzt in einer außengeleiteten Wohngruppe leben zu können. Jonathan wirkt im Gespräch nervös, kann keinen Blickkontakt halten und spricht sehr undeutlich und leise. Man kann ihn kaum verstehen. Trotzdem macht er zunächst einen motivierten Eindruck. Jonathan gibt an, hier seine Chance nutzen zu wollen. Jedoch kann er sich anfangs kaum an Termine halten. Zu Beginn lebt er mit zwei anderen Jugendlichen zusammen. Schon sehr bald eskaliert die Situation. Jonathan tritt einen Mitbewohner zusammen, nachdem er provoziert wird. Es kommt in der Folge immer wieder zu Handgreiflichkeiten. Putz- und Spülpläne werden nicht eingehalten, wobei Jonathan noch am häufigsten seine Dienste erledigt. Er nimmt zu dieser Zeit auch noch Drogen. Er raucht Marihuana und experimentiert mit synthetischen Drogen sowie Pilzen. Damit er den Hauptschulabschluss nach machen kann, wird versucht ihn in eine schulische Maßnahme durch das Arbeitsamt einzugliedern. Dieser Versuch scheitert wegen zu hoher Fehlzeiten. Auch eine Anbindung an die tagesstrukturierenden Angebote von LICHTBLICK, wie Fahrradwerkstatt, Kochgruppe, Beschäftigungsprojekt, Montagsfrühstück, Jugendtreff und JungeMännertreff scheitern. Wegen der Eskalation in der Wohngemeinschaft, wird Jonathan nach einem Jahr in eine Ein-Zimmer-Übergangswohnung verlegt. Hier fühlt er sich wohl, kann ankommen, hält seine Räumlichkeiten in Ordnung, kauft für sich ein und beginnt auch regelmäßiger die Termine mit seinen Betreuern einzuhalten. Er beginnt sich auf eine Arbeitsbeziehung einzulassen. Außerdem nimmt er nun teilweise Gruppenangebote an. Er nimmt am Montagsfrühstück, dem Jugendtreff und dem Junge-Männertreff teil. In Zusammenarbeit mit dem Arbeitsamt wird versucht Jonathan ein zweites Mal in eine schulische Maßnahme zu integrieren. Auch hier schafft er es nicht 38 pünktlich zu erscheinen, fehlt sehr häufig und fällt durch wenig Ausdauer, niedrige Konzentrations- und geringe Konfliktfähigkeit auf. In Zusammenhang mit der Konfliktfähigkeit ist zu vermuten, dass auch der unterschiedliche kulturelle Hintergrund eine Rolle spielt. Jonathan fühlt sich durch die geringsten Anlässe in seinem Stolz verletzt, was zu zwischenmenschlichen Blockaden führt und für seine Ausbildungs- und Arbeitsbiographie zunächst schwer überwindbare Hürden darstellt. Ein Betriebspraktikum bricht er deshalb schon am zweiten Tag ab. Ein zweites Praktikum schließt er erfolgreich und mit guten Rückmeldungen ab. Was ihn allerdings wieder sehr demotiviert ist, dass er vom Maßnahmeträger in die Gruppe der Analphabeten eingruppiert wird, d.h. er kann im ersten Jahr noch nicht den Hauptschulabschluss erlangen. Nach erneuten häufigen Fehlzeiten wird er auch aus der zweiten schulischen Wiedereingliederungsmaßnahme für benachteiligte Jugendliche ausgegliedert. Mittlerweile befindet sich Jonathan im zweiten Jahr bei LICHTBLICK. Er fällt nunmehr unter die Zuständigkeit des Jugendamtes Frankfurt, weil seine Mutter dorthin verzogen ist. Die Mutter zieht zu ihrem Freund, mit dem sie einen weiteren Sohn bekommt. Dass Jonathan nun einen kleinen Bruder hat, freut ihn. Dieser Übergang verläuft reibungslos. Auch hier trifft er auf verständnisvolle und angemessen Grenzen setzende Mitarbeiter, die mit den Betreuern von LICHTBLICK in konstruktiver und transparenter Weise zusammenarbeiten. Jonathan kann in der Betreuungsmaßnahme bleiben und erfährt so keinen weiteren Bruch. Dies führt zu einer weiteren Steigerung des Vertrauens in der Arbeitsbeziehung mit ihm und stört nicht den Prozess seines wachsenden Selbstvertrauens und Selbstwertgefühls. Nachdem er im Frühjahr 2003 vom zuständigen Arbeitsamt in Hanau als vorläufig nicht mehr vermittelbar eingestuft wird, sucht und findet er selbst eine neue Berufseingliederungsmaßnahme in Offenbach. Diese dritte Chance ergreift er sehr motiviert. Trotz der auch hier auftretenden Schwierigkeiten, kann er die Maßnahme annehmen und beendet sie im Frühjahr 2004 mit dem Hauptschulabschluss. Danach nimmt sich Jonathan wieder eine Auszeit, ruht sich auf dem Erreichten aus. Das führt zu enormen Druck von Seiten des Jugendamtes. Erst unter diesem Druck, gelingt es ihm im letzten Moment eine überbetriebliche Ausbildungsstelle 39 als Zweiradmechaniker zu finden. Diese beginnt er im September 2004. Zeitgleich hat er eine Aushilfsarbeit bei einer Tankstelle begonnen. Er scheint sich zur Zeit nicht mehr zu sträuben und wagt gleich auf zwei Ebenen Schritte ins Arbeitsleben. Parallel dazu wurde Jonathan in mehreren Justizverfahren wegen Körperverletzung, Sachbeschädigung, Schwarzfahrens und Eigentumsdelikten begleitet, in deren Verlauf er eine hohe Zahl an Arbeitstunden ableisten musste, sich finanziell verschuldete und ein weiterer Jugendarrest aussteht. Weiterhin wurde Jonathan, weil er mittlerweile deutscher Staatsbürger ist, in der Wehrpflichtfrage begleitet. Hier hat sich herausgestellt, dass er durch die Tauglichkeitsstufe drei, in die er bei der Musterung kategorisiert wurde, durch den letzten Erlass vom Oktober 2004, weder Zivil- noch Wehrdienst ableisten muss. In der Wohnungsfrage hat er sich soweit verselbstständigt, dass er mittlerweile eigenen Wohnraum bezogen hat. Das Ende der Betreuungsmaßnahme bei LICHTBLICK ist für April 2005 anvisiert. Im folgenden werden die wesentlichen Entwicklungshemmnisse Jonathans skizziert und zusammenfassend die erfolgreiche soziale Begleitung Jonathans analysiert. Jonathan nimmt von Männern angeleitete Angebote offenbar besser an, als von Frauen betreute. Im betreuten Wohnen lässt er die Termine mit der Kollegin häufiger ausfallen, als die mit dem Kollegen. Die ersten beiden Wiedereingliederungs-Maßnahmen wurden von Frauen betreut. Hier fand offenbar eine negative Übertragung statt. Scheinbar verarbeitete Jonathan mit den Kolleginnen stellvertretend für seine Mutter schmerzhafte Erlebnisse seiner Kindheit. Dies könnte ein Grund für seine Blockaden sein. Er selbst gibt an, lieber von einem Mann betreut zu werden. Hier stellt sich eine positive Übertragung her, weil er die nicht erlebte Vaterbeziehung nachholen möchte. Kann ein Kollege sich auf diese Gefühlsbeziehung einlassen, setzt das bei Jonathan positive Energien frei und er ist eher in der Lage alltagspraktische Dinge umzusetzen. Diese Übertragung hat sich offensichtlich über drei männliche Betreuer hergestellt: aktuell über mich, seinen Begleiter bei LICHTBLICK und davor über die beiden Kollegen des Jugendamtes und der Jugendgerichtshilfe des Main40 Kinzig-Kreises, die ihn in die Maßnahme zu LICHTBLICK vermittelten. Fortgesetzt hat sie sich auch in der dritten oben erwähnten Berufseingliederungsmaßnahme und in der überbetrieblichen Ausbildungsstelle, wo er überwiegend von Männern angeleitet und betreut wurde bzw. wird. Frauen akzeptiert und toleriert er, solange sie sich im Hintergrund halten und nicht zu dominant werden, was offensichtlich mit grenzüberschreitenden Erlebissen in seiner Mutterbeziehung und seinem kulturellen Hintergrund zu tun hat. Zur Erinnerung: den Vater verliert er schon sehr früh mit drei Jahren. Es darf vermutet werden, dass der männliche Part in der Erziehung durch seine aktive Teilnahme am eritreischen Befreiungskampf auch schon in seinen ersten drei Lebensjahren real kaum präsent war. Ein anderer Grund für seine Entwicklungshemmnisse liegt offenbar in nicht verarbeiteten traumatischen Ereignissen in Zusammenhang mit Krieg und Flucht. Er selbst gibt an, dazu über keine bewusste Erinnerung zu verfügen. In Gruppenzusammenhängen kann er sich nur schwer konzentrieren: entweder er flüchtet nach innen, d.h. er dissoziert, indem er lust- und freudvolle Vorstellungen phantasiert, oder er flüchtet, in dem er mit dem Handy spielt, dem Statussymbol schlechthin. Damit kann er Unlusterlebnisse gleichzeitig kompensieren. Ein weiteres Vermeidungsverhalten besteht darin, dass er erwarteten Unlustsituationen, wie zum Beispiel Schulunterricht fern bleibt. Am Beispiel von Jonathan kann auch sehr gut beobachtet werden, dass sein Gemeinschaftsgefühl nie ganz verloren ging. Selbst in der für ihn unerträglichen Wohngruppe ist er es, der ab und zu Gemeinschaftsaufgaben übernimmt. Durch die stattgefundene Übertragung wurde er in die Lage versetzt auch in anderen Lebensbereichen sein in ihm wohnendes Gemeinschaftsgefühl wieder aufleben zu lassen. Obwohl bei Jonathan sechs von sieben der oben aufgeführten Verwahrlosungssymptome fest zu stellen sind, kann von einer bis zu diesem Zeitpunkt gelungenen Nach-Entwicklung gesprochen werden. Jonathan ist ein gutes Beispiel dafür, wie ein junger Mensch auch in späteren Jahren noch nach reifen, sowie sich sozial integrieren kann. Sein Beispiel zeigt auch wie ein junger Mann damit beginnt, bewussten Zugang zu seinen Gefühlen her zu stellen und sich so zu einer autonomen, integren Persönlichkeit zu entwickeln, wenn ihm 41 ausreichend Zeit, Raum und eine ihm zugewandte Umgebung zur Verfügung gestellt wird. 5.2.2. Birte D. Birte kommt, mit siebzehn Jahren, im April 2004 zu LICHTBLICK. Sie wird durch das Jugendamt des Main-Kinzig-Kreises direkt aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie Herborn übergeleitet, wo sie 9 Wochen verbrachte. Dort sucht sie selbst Zuflucht, nachdem sie es zu Hause nicht mehr ausgehalten hat. Sie verletzt sich selbst und verfällt in Phasen tiefer Depressionen. Das sind Symptome, die auch ihre Mutter aufweist. Birte hat zwei jüngere Brüder im Alter von 13 und 15 Jahren, für die sie sich sehr verantwortlich fühlt. Schon in früher Kindheit wird sie mit in die Erziehung der jüngeren Brüder einbezogen. Der Vater ist seit 10 Jahren an Multiple - Sklerose erkrank. Er geht mit seiner Krankheit sehr defensiv um und benutzt diese, um die gesamte Familie zu terrorisieren. Seit einigen Jahren ist er ans Bett gebunden und wird als Pflegefall zu Hause von seiner Frau und seiner Tochter gepflegt. Diese ernten von ihm keinen Dank, sondern im Gegenteil abwertende Kommentare. Birte besitzt daher große Kompetenzen im Pflegen von Menschen und einen hohen Grad an Frustrationstoleranz. Die Mutter ist schon seit Jahren wegen Magersucht und selbstverletzendem Verhalten (Ritzen) in psychiatrischer Behandlung. Jedes einzelne Familienmitglied hat einen eigenen Betreuer beim Jugend- bzw. Sozialamt. Es wird an der Auflösung dieses krank machenden Familiensystems gearbeitet. Die Mutter möchte in eine eigene Wohnung ziehen, der Vater soll in einem Pflegeheim leben, wogegen er sich sperrt. Die Kinder sollen in Maßnahmen der Jugend- und Erziehungshilfe integriert werden. Die beiden Jungen können sich nur schwer lösen, Birte zwar anfangs auch, doch sie scheint reif für den Ablösungsprozess vom Elternhaus . Als Birte zu LICHTBLICK kommt, ist dieser Prozess in vollem Gange. Manchmal macht Birte das Jugendamt für das Auseinanderfallen der Familie verantwortlich. 42 Das Jugendamt ist ihr Lieblingsfeindbild, auf das sie vieles projiziert, wenn sie selbst keine Verantwortung übernehmen möchte. Sie hat aber auch real einige enttäuschende Erfahrungen mit dem Jugendamt durchlebt. Als Sie zu uns kommt, setzt der Übertragungsprozess zu mir mit dem ersten Händedruck ein. - Ein entschlossener, fester Händedruck, mit Blickkontakt, begleitet von einem vorsichtigen, noch etwas skeptischen Lächeln. Im Kontakt mit mir ist sie offen und von Anfang an bereit ihre Probleme selbst in die Hand zu nehmen. Sie ist sehr feinfühlig für Ungerechtigkeiten, bemerkt und verbalisiert jedes Verhalten meinerseits, dass sie an ihren Vater erinnert: „Du bist wie mein Vater!“ Sie macht einen neugierigen, und lern- und erfahrungsbereiten Eindruck. Birte kann gut für sich sorgen, wenn sie persönliche Ansprache braucht. Sie arbeitet bei der Erstellung eines Non-Selbstverletzungs-Vertrages und bei der Bewältigung von Alltagsproblemen wie Geldeinteilung sowie Konflikten mit Mitbewohnern konstruktiv mit. Der Einstieg in die Arbeitsbeziehung mit meiner Kollegin verläuft nicht ganz so reibungslos. Hier finden zunächst einige heftige Auseinandersetzungen statt. Es ist davon aus zu gehen, dass sich hier die Mutterübertragung ausgewirkt hat. Mittlerweile arbeitet Birte auch mit ihr konstruktiv zusammen. Sie bezieht zunächst ein Zimmer in einer Zwei- Zimmer-Übergangswohnung, die sie sich mit einer anderen jungen Frau teilt. Birte bricht die Schule aus gesundheitlichen und sozialen Gründen nach der Hälfte der neunten Klasse ab und schafft es zunächst nicht, den Abschluss an einer Schule für Lernhilfe zu machen. An dieser Schule genoss sie aufgrund ihrer sozialen Kompetenz und ihrer schulischen Leistungen bei Mitschülern und Lehrern hohes Ansehen. Sie wurde von ihrer Klasse zur Klassensprecherin gewählt und sammelte durch diese Funktion viel Erfahrung als Konfliktschlichterin. Durch ihre schnelle Annahme der Hilfe bei LICHTBLICK und ihre Stabilisierung ist sie auch in der Lage sich eine Praktikumstelle zu suchen, die vom Staatlichen Schulamt und ihrer Schulleitung als Voraussetzung genannt wird, trotz des letzten halben Jahres Fehlzeit den Abschluss zu bekommen. Nachdem diese ersten Probleme geregelt sind, liegt der Arbeitsschwerpunkt in der Begleitung während der Schwangerschaft und der Vorbereitung auf ihre Rolle als Mutter. Auch in diesem Zusammenhang verhält sich Birte so konstruktiv und 43 kooperativ, dass man leicht vergessen kann, warum sie sich eigentlich in einer Erziehungshilfemaßnahme befindet. Sie hört einen Vortrag von Anna Tardos. Beeindruckt von dem großen Wickeltisch mit Seitenteilen, an denen sich die Kinder hochziehen können, beginnt sie mit dem Bau eines solchen Wickelaufsatzes, wie er im Lóczy verwendet wird. Wir unterstützen sie in der Aufsuchung von Ärzten, Hebammen, Geburtsvorbereitungskursen, Beratungsstellen, Geburtsstationen, dem Kontakt Herstellen und Halten zu Familienmitgliedern, dem Beantragen von Geldern, den Einkäufen von Kindermöbeln, Kinderkleidung und sonstigen Utensilien, die für die Schwangerschaft und eine gut vorbereiteten Umgebung für den Säugling von Bedeutung sind. Sie bittet um Hilfe beim „Nestbau“. Birte richtet dem ankommenden Erdenmenschen ein eigenes Zimmer ein, denn sie konnte in der Zwischenzeit in die Mutter-Kind-Wohnung umziehen. Sie selbst schläft im Wohnzimmer. Das zeigt, dass sie zu Gunsten ihres Babys verzichten kann. Birte hat es zwischenzeitlich auch geschafft, sich soweit von der Herkunftsfamilie zu lösen, dass sie sich nicht so verantwortlich und manchmal auch schuldig für das Geschehen in ihrer Herkunftsfamilie fühlt. Wir unterstützen sie darin diesen Wandel einerseits zu akzeptieren, andererseits den Kontakt zu Eltern und Brüdern nicht ganz abbrechen zu lassen. Ihre Mutter ist in der Zwischenzeit ausgezogen. Der Vater lebt in einem Pflegeheim. Ihr jüngster Bruder lebt bei der Mutter. Der mittlere Bruder ist ebenfalls in eine Jugendhilfeeinrichtung in Hanau gezogen. Birte schafft es auch Kontakt zum Kindesvater auf der Elternebene herzustellen und sich von ihm abzugrenzen, als dieser wieder eine Beziehung zu ihr beginnen möchte. Der junge Mann lebt auch in einer Jugendhilfeeinrichtung in Ostdeutschland. Ihn hat sie in der Psychiatrie kennen gelernt. Am 11.11.2004 bringt sie ihren Sohn Marc auf die Welt. Das Jugendamt hat die Absicht sie kurz vor der Geburt in ein Mutter-Kind-Heim zu verlegen. Von Seiten des Amtes wird aufgrund der Biografie und der schwierigen Kindheit von Birthe befürchtet, sie könne die neue Situation nicht bewältigen. Birthe schaltet einen Anwalt ein und erkämpft sich so das Recht bei LICHTBLICK zu bleiben. Die junge Mutter bewältigt den Konflikt mit dem Jugendamt und findet sich in ihre neue Rolle als Mutter ein. Sie ist offen für eine Begleitung von Mutter und Kind im Sinne der Pädagogik von Emmi Pikler. 44 5.3. Resümee In beiden Beispielen wird sehr anschaulich deutlich wie die beiden jungen Menschen die Gefühlsbeziehungen, die eigentlich ihren Eltern gelten und, die sie als Kinder nicht ausleben konnten, auf ihre BetreuerInnen übertragen. Die BetreuerInnen sind in der Lage die Gegenübertragung zu zulassen und zu reflektieren. So ist eine Arbeitsbeziehung hergestellt worden, die es den schon in ihrer frühen Kindheit traumatisierten jungen Menschen möglich macht, einerseits ihren erlittenen Schmerz zu bearbeiten und andererseits ihre aktuellen Alltagsprobleme in Angriff zu nehmen. In diesem Prozess wird ihnen die Zeit und der Raum zur Verfügung gestellt, den sie als kleine Kinder nicht hatten. Es ist der Zeit-Raum, den jeder Mensch benötigt, um seinen eigenen, ganz individuellen Rhythmus und das entsprechende Tempo zu finden, um wachsen und reifen zu können. Das ist nötig, um keinen Entwicklungsschritt zu überspringen. Es ist davon auszugehen, dass die sogenannten benachteiligten Jugendlichen, eine ganze Reihe dieser Entwicklungsschritte auslassen mussten. Das ist sicher ein Grund für ihre Benachteiligung bzw. Verwahrlosung. Auch wenn dies insgesamt unbewusste Vorgänge sind, so kann man sie sich bewusst machen und sie als Instrument einsetzen, indem ein pädagogisches Team in kollegialen Beratungen und Supervisionen Übertragung und Gegenübertragung immer wieder analysiert und reflektiert. 45 6. Schlusswort Welche Bedingungen brauchen Kinder und Jugendliche damit sie das in ihnen vorhandene Gemeinschaftsgefühl nicht verkümmern lassen, sondern es im Gegenteil am Leben erhalten und entwickeln können? Zu den Begriffen Gemeinschaftsgefühl bzw. Gemeinschaftsfähigkeit und Eigenverantwortlichkeit heißt es im Kinder- und Jugendhilfegesetz, dass in Kindertageseinrichtungen eigenverantwortlichen „die und Entwicklung gemeinschaftsfähigen des Kindes zu Persönlichkeit einer gefördert werden“ soll (KJHG § 22, Laewen, Klein und Groß 1999). Leider liegen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander, so dass viele Kinder und Jugendliche das Netz von Schulen und sozialen Einrichtungen durchlaufen, ohne die bis dahin früh erlebte Vernachlässigung wenigstens etwas kompensiert oder sich im besten Falle sogar nachentwickelt zu haben. Wir stehen einem Heer von Jugendlichen und jungen Erwachsenen gegenüber, die schon früh traumatisiert, die Anforderungen des Schulsystems nicht schaffen, ohne Schulabschluss auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance haben und in der Regel spätestens mit dem vollendeten 18. Lebensjahr aus der Jugendhilfe in die Sozialhilfe wandern. Dafür ist der ökonomische Druck auf das Sozialsystem verantwortlich. Viele Beteiligte in dieser Dynamik fühlen sich dem nicht gewachsen. Es kommt zu Schulabbrüchen, Maßnahmeabbrüchen, Beziehungsbrüchen und die jungen Menschen erfahren das ihnen wohlbekannte Muster und die Bestätigung ihres Misstrauens. Manche LehrerInnen und ErzieherInnen haben das erkannt und bemühen sich zumindest zu einzelnen der zu begleitenden Kindern und Jugendlichen eine Beziehung herzustellen. Sie lassen sich mehr oder weniger bewusst auf die Übertragungsdynamik ein. Sie sind jedoch insgesamt oft überfordert damit und erhalten in dieser Haltung auch zu wenig Rückhalt und Unterstützung. Die fortwährenden Kürzungen der öffentlichen Sozialhaushalte setzen, trotz bzw. wegen der PISA-Studie, oftmals gerade da an, wo zusätzliche Unterstützung in der Beziehungsarbeit geleistet werden könnte: z.B. in der Schulsozialarbeit, in schulischen, sowie beruflichen Wiedereingliederungsmaßnahmen und in Einzelintegrationsmaßnahmen. Stattdessen wird investiert in Eliteschulen und Frühförderung im Sinne von Fachkenntnissen (PC- und 46 Fremdsprachenkenntnisse) schon im Vorschulalter. Es besteht offenbar kein Interesse an einer Breitenbildung, Prävention und nachholenden Entwicklung im Sinne einer frühen, sich selbst erfahrenden und bildenden, begleitenden, den Kompetenzen des Säuglings und Kleinkindes Respekt entgegenbringenden Erziehung. Die zeitlichen Ressourcen und die finanziellen Mittel, die dazu nötig wären, sind eine zukunftsträchtige Investition, die wesentlich weniger Mittel verschlingen würde, als die an Symptomen und Modeerscheinungen ansetzende Bildung- und Sozialpolitik dies immer wieder praktiziert. Gelänge es stattdessen der strukturellen Gewalt der schon frühen, emotionalen und sozialen Vernachlässigung und Verwahrlosung mit Liebe, Gegenwärtigkeit, Gelassenheit, Gewaltlosigkeit, Zeit und Raum, und einer Grenzen setzenden Pädagogik zu begegnen, wäre die Chance zur Nachentfaltung und Nacherziehung für alle Beteiligten gegeben. Ich beziehe uns aus dem Helfersystem hier bewusst mit ein, denn ich habe den Eindruck, dass viele KollegInnen zwar andere erziehen wollen, sich selbst aber nicht mit einbeziehen, also an ihrer Persönlichkeit nicht arbeiten wollen. Mit der Bereitschaft auch sich selbst in Frage zu stellen, sich ständig zu reflektieren und dies in die Arbeitsbeziehung einzubringen, steht und fällt die Arbeit mit Menschen. Ich teile die Auffassung Aichhorns, dass die Übertragung das wichtigste pädagogische Werkzeug ist. Sie kann aber nur praktiziert werden, wenn die eigene Persönlichkeit kennengelernt und sich mit ihr auseinander gesetzt wird. Davor fürchtet sich so mancher Kollege und so manche Kollegin. Die interessantesten Vorbilder für die uns anvertrauten Menschen sind BegleiterInnen, die, um mit Heinrich Jacoby zu sprechen, den Mut haben zu stolpern. Heinrich Jacoby ein Lehrer von Elfriede Hengstenberg hat diese permanente Nacherziehung und die Bereitschaft und den Mut zu Stolpern für die Lehrer gefordert und in Kursen mit ihnen schon in den 50er Jahren daran gearbeitet. Er rät zum bewussten Stolpern. Nur daraus könne man lernen und er empfiehlt Stolperlisten anzulegen, in denen der Erwachsene seine Fehltritte im Kontakt mit Kindern und Jugendlichen aufliste, um so einen immer bewussteren Umgang zu finden, denn keiner sei frei von Fehlern, nur wer Angst habe Fehler zu begehen, bewege sich nicht mehr, erstarre. So sei keine Entwicklung oder Nachentfaltung möglich (vgl. Jacoby 1989, 11/34). 47 Fallen will gelernt sein. Die jungen Menschen lernen daraus, dass ihre BegleiterInnen keine perfekten Übermenschen sind, dass sie sich auch Fehler erlauben dürfen und, dass nur so Lernen entsteht. Fehler sind kein Grund zur Scham, sie zeigen lediglich an, dass etwas fehlt. Die jungen Menschen schauen neugierig hin, wie ihre Bezugspersonen Krisen meistern, wie sie mit ihren Gefühlen, die dabei entstehen umgehen. Mit scheinbaren Perfektionisten, die das Risiko scheuen und ihre wahren Gefühle verbergen, können sie wenig anfangen. Schon ein Kleinkind, das stehen und gehen lernt, weiß um die Bedeutung des Fallens, Stolperns und des Ausbalancierens des Gleichgewichts. Nur wenn es das alleine lernen darf, ohne dass übergriffig ein- und dazwischen gegriffen wird, bekommt es ein Gefühl zu sich selbst und entwickelt schon sehr früh Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl. Jeder Entwicklungsschritt ist anders, in jedem Augenblick wird neu gelernt. Lässt man Menschen eigene Erfahrungen machen, haben sie das Gefühl eigenständig wachsen zu dürfen. Babys, Kleinkinder, Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene, Erwachsene, Menschen im mittleren Lebensabschnitt, alte Menschen – alle haben die gerade für sie anstehenden Lebensaufgaben zu bewältigen. experimentieren kann, wenn man bevormundet behandelt wird, wird man sich entmündigt Wenn man darin nicht und grenzüberschreitend fühlen. Alle in dieser Arbeit miteinander in Verbindung gebrachten Pädagogen und Psychoanalytiker Gindler, Jacoby, Pikler, Hengstenberg, Adler und Aichhorn - haben mit ihrem Lebenswerk Akzente gesetzt für einen menschenwürdigen Umgang der Menschen miteinander. Welche Einflüsse führen dazu, dass Kinder bereits im Säuglingsalter nur schwer in Kontakt kommen können mit ihren Bezugspersonen? Was brauchen die Erwachsenen um die dafür nötige feinfühlige Kommunikation auf zu nehmen? Wenn Kinder respektvoll, gewähren lassend und angemessen Grenzend setzend begleitet und nicht schon auf dem Wickeltisch die ersten Machtkämpfe angezettelt werden, sondern sie von ihren ersten Atemzügen an ernst genommen, nicht bevormundet und übergangen werden, dann sind wichtige Voraussetzungen geschaffen für die Herausbildung einer feinfühligen Kommunikation zwischen Erwachsenen und Kindern. Schaffen wir es nicht eine Umgebung und einen Alltagsrhythmus her zu stellen, die eine von Achtsamkeit und Gegenwärtigkeit geprägte Beziehung zwischen 48 Kindern und Erwachsenen ermöglichen, haben schon die Säuglinge den Eindruck, dass ihre Initiative und ihre Mitarbeit nicht von Interesse sind. Manche von ihnen nehmen grenzüberschreitende und abweisende Botschaften ihrer Mitwelt zum Anlass sich nach und nach abzukapseln und abzuwenden. Erwachsene, die das erkennen, beginnen bereits damit ihre innere Haltung zu ändern und wenden sich alleine schon dadurch aufmerksamer ihren Kindern zu. So wird es möglich sein auch im hektischen Alltag eine Struktur zu schaffen, in denen Erwachsenen ihren Kindern mit voller Aufmerksamkeit begegnen können. Zeit, Raum, Achtsamkeit, Gegenwärtigkeit und Geduld brauchen sowohl Erwachsene, als auch Kinder und Jugendliche in diesem Prozess. Kindern soll die Möglichkeit gegeben werden zu selbständigen, autonomen und integren Persönlichkeiten heran zu reifen. „Die Höchste Aufgabe der Erziehung besteht darin, ein einheitliches Individuum hervorzubringen, das dem Leben als Ganzem gewachsen ist. Der Idealist ist ebenso wie der Spezialist nicht am Ganzen sondern nur an einem Teil interessiert. Einheitlicher Zusammenschluß kann nicht stattfinden, solange man nach einem idealen Schema für sein Handeln strebt; und die meisten Lehrer haben als Idealisten die Liebe verbannt, sie haben ein trockenes Hirn und ein hartes Herz. Will man ein Kind beobachten, so muß man aufmerksam, wachsam und seiner selbst bewusst sein; dies erfordert jedoch weit höhere Intelligenz und Zuneigung, als wenn man es nur ermutigt, einem Ideal zu folgen“ (Krishnamurti, keine Jahresangabe, 23) 49 Bibliographie Adler, Alfred Praxis und Theorie der Individualpsychologie Fischer Verlag, Frankfurt 1989 Adler, Alfred Menschenkenntnis Fischer Verlag, Frankfurt 1994 Aichhorn, August Verwahrloste Jugend V Aichhorn, August Erziehungsberatung und Erziehungshilfe R Gindler, Elsa Von ihrem Leben und Wirken, Christians Verlag, Hamburg 2002 Jacoby, Heinrich Erziehen, Unterrichten, Erarbeiten Christians Verlag, Hamburg 1989 Jacoby, Heinrich Jenseits von begabt und unbegabt Christians Verlag, Hamburg 1994 Jacoby, Heinrich Musik: Gespräche – Versuche 1953 - 1954 Christians Verlag, Hamburg 2003 Kallo, Eva u.a. Von den Anfängen des freien Spiels, Pikler - Gesellschaft, Berlin 1992 Krishnamurti, Jiddu Autorität und Erziehung Humata Verlag, Bern, keine Jahresangabe Hengstenberg, Elfriede Entfaltungen, (Herausgeberin Ute Strub) Arbor Verlag Heidelberg, 1993 Pikler, Emmi u. a. Miteinander Vertraut werden Arbor Verlag, Freiamt, 1994 Pikler, Emmi Friedliche Babys – Zufriedene Mütter Herder Verlag, Freiburg,1982 Pikler, Emmi Lasst mir Zeit Pflaumverlag, München 1992 Wild, Rebecca Freiheit und Grenzen-Liebe und Respekt Mit Kindern Wachsen Verlag, Freiamt im Schwarzwald, 2000 50 Zeitschriften und Artikel: Bulletin der Sensory Awarness Foundation, 1985 Elfriede Hengstenberg, Her life and work, Bulletin der Sensory Awarness Foundation Erinnerungen an Elsa Gindler, P. Zeitler Verlag, München, 2000 Ergotherapie Rehabilitation Bewegungsarbeit nach Elfriede Hengstenberg 03 / 2003 von Erika Beck Zeitgeist 4 / 2001 Mysterium Geburt - Vom Trauma zur Erfüllung von Thomas Röttcher und Marc-Steffen Kraft Mit Kinder wachsen 10 / 2003 Beziehung und Pflege - Texte zum Ansatz von Emmi Pikler – von Kerstin Brausewetter Mit Kinder wachsen Spezial / 2003 Von den Händen des Erwachsenen von Anna Tardos Mit Kinder Wachsen 1 / 2004 Auf dem Wickeltisch - Texte zum Ansatz von Emmi Pikler von Kerstin Brausewetter Mit Kinder wachsen 4 / 2004 Die Bedeutung emotionaler Sicherheit für die Gehirnentwicklung von Gerald Hüther Theorie und Praxis der Sozialpädagogik (TPS) Spektrum 7 / 2003 Nahrung für eine achtsame Gesellschaft - Das Konzept Emmi Piklers setzt auf Beziehungsaufbau von Anfang anvon Ute Christiane Bräuer TPS 2 / 2004 Die hausgemachte Lernunlust - Wie nicht erkannte Begabungen verkümmern können – von Katrin Ströbel Kiga heute 7-8 / 1999 Die Grundhaltung ist entscheidend von Erika Kazemi-Veizari Klein und Groß 9 / 1999 Alien Kind – das unbekannte Wesen - Neue Forschungen über das Kind und seine Aneignung der Weltvon Hans-Joachim Laewen Klein und Groß 5 / 2004 Verstand hat mit stehen zu tun von Elisabeth C. Gründler 51 Psychologie heute 10 / 2001 Zuwendung, Ordnung, Eigenständigkeit - Das Erziehungskonzept der Emmi Pikler von Elisabeth Gründler Psychologie Heute 6 / 2001 Der Forscher im Kind von Thomas Saum-Aldhoff Zentrum für integrative Körpertherapie und Humanistische Psychologie Frankfurt 9 / 2001 Projekt / Kolloquium „Von Anfang an“ Ausschreibungspapier „Start ins Leben“ von Ute Christiane Bräuer / Margret von Allwörden / Anja Schlosser Andere Quellen: www.kindergarten paedagogik.de 6 / 2002 Das Bewegungsprojekt SpielRaum für Bewegung von Andrea von Gosen Email: [email protected] Film: Lóczy – wo kleine Menschen groß werden Vortrag 2004 Der Beitrag von Elfriede Hengstenberg für die Kinder von heute von Uli Tritschler7 7 Mir vorliegender bisher nicht gehaltener öffentlicher Vortrag 52