Von Machos und Weicheiern im Spiegel geschlechtergerechter Bildung und Erziehung. Eine historische, gegenwartsbezogene und perspektivische Betrachtung Oliver Holz EHSAL Europese Hogeschool Brussel, Belgien Männer Männer nehmen in den Arm, Männer geben Geborgenheit, Männer weinen heimlich, Männer brauchen viel Zärtlichkeit, oh Männer sind so verletzlich, Männer sind auf dieser Welt einfach unersetzlich Männer kaufen Frauen, Männer stehen ständig unter Strom, Männer baggern wie blöde, Männer lügen am Telefon, oh Männer sind allzeit bereit, Männer bestechen durch Entgelt und ihre Lässigkeit Männer haben’s schwer, nehmen's leicht, außen hart und innen ganz weich, werden als Kind schon auf Mann geeicht. Wann ist ein Mann ein Mann? Männer haben Muskeln, Männer sind furchtbar stark, Männer können alles, Männer kriegen 'nen Herzinfakt, oh Männer sind einsame Streiter, müssen durch jede Wand, müssen immer weiter Männer führen Kriege, Männer sind schon als Baby blau, Männer rauchen Pfeife, Männer sind furchtbar schlau, Männer bauen Raketen, Männer machen alles ganz genau. Männer kriegen keine Kinder, Männer kriegen dünnes Haar, Männer sind auch Menschen, Männer sind etwas sonderbar, oh Männer sind so verletzlich, Männer sind auf dieser Welt einfach unersetzlich. Wann ist ein Mann ein Mann? (auszugsweise Herbert Grönemeyer, „Männer“) Das Thema ‚Gender’ ist kein neues Thema! Der Umgang mit ihm jedoch schon. Auf unterschiedliche Weise wird dieser Thematik Ausdruck verliehen und wird sie der Öffentlichkeit vor Augen geführt. Dies kann wie im Liedertext von Herbert Grönemeyer in Form des „we are living the traditional way“ bzw. kritisch „pass dich dem gesellschaftlichen Klischee an“ sein, oder aber progressiv zum Ausdruck gebracht werden, wie es beispielsweise Ina Deter in ihrem Lied „Neue Männer braucht das Land, ich sprüh's auf jede Häuserwand“ singt. Man könnte diese Reihe mit Gerhard Schöne’s „Ein Junge weint nicht“ und vielen anderen Beispielen fortsetzen. Die gesellschaftlichen Entwicklungen in den vergangenen Jahren zeigen deutlich, dass Jungen zunehmend in Kritik und ins Blickfeld geraten. Ursächlich sind dafür u.a. verschwommene und verwässerte Rollendefinitionen, wodurch sich gleichermaßen die Anforderungen an Jungen gravierend verändert haben. Studien belegen, dass sich pädagogisches Fachpersonal auch von der Vorstellung trennen muss, dass Jungen keine oder nur wenige Entwicklungsprobleme aufweisen. Bei der Diskussion der Thematik ‚Genderpädagogik’ wird deutlich, welche tiefgreifende Bedeutung pädagogische Arbeit für und mit Jungen hat. Besonders interessant zeigt sich dieser Aspekt auch im gesellschaftlichen Kontext, da beispielsweise auf europäischer Ebene dieser Problematik in unterschiedlichem Maβe Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Die vorliegende Publikation ist eines der Projektergebnisse, das im Rahmen des dreijährigen COMENIUS 2.1-projektes „Kleine Helden in Not – Jungen auf der Suche nach ihren Identitäten“ entstand und in dem zehn Einrichtungen unterschiedlicher Art aus neun europäischen Ländern zusammen arbeiten. Die reichhaltige Diversität an Projektpartnern ermöglicht eine theoretisch fundierte und gleichermaßen praktisch orientierte Analyse der Gesamtthematik. Zweck und Ziel des Projektes ist, positive Erfahrungen ausgewählter europäischer Länder aufzubereiten und für Länder mit geringeren Erfahrungswerten in der pädagogischen Praxis nutzbar zu machen. In diesem Band liegen als Ergebnis des ersten Projektjahres die länderspezifischen Analysen zur Genderpädagogik der teilnehmenden Länder einerseits und eine vergleichende Studie zu diesen länderspezifischen Ergebnissen andererseits vor. Dieser einleitende Artikel soll das Anliegen der Genderpägagogik klären, wichtige Begriffe analysieren und Länderstudien die Thematik werden diese im gesamtgesellschaftlichen allgemeinen Aussagen im Kontext betrachten. länderspezifischen Die Kontext konkretisieren. 1. Ein Blick in die Vergangenheit und in die Gegenwart Wir sind in einem Jahrzehnt angelangt, das nicht nur aktive Mädchenarbeit erfordert. Wir müssen uns auch von der Vorstellung trennen, Jungen wiesen keine Entwicklungsprobleme auf und ein jungenspezifisches pädagogisches Handeln sei nicht erforderlich. Eine von Leistung geprägte Gesellschaft, die das ‚Abenteuer Kind’ immer mehr vernachlässigt, verlangt regelrecht nach Jungenarbeit. Wir erleben einen rasanten und permanenten Wandel unserer Gesellschaft. Ein größeres, aber auch verwässertes Spektrum an Werten und Normen, veränderte Kommunikationsstrukturen, differenzierte Organisationsformen in der Familie oder eine steigende Handlungsunfähigkeit in Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen und Familien zeichnen ein Bild dieses Veränderungsprozesses, der darüber hinaus durch Globalisierung, Schnelllebigkeit und dem Verlust von Nachhaltigkeit gekennzeichnet ist. Ursächlich dafür sind nicht nur Ereignisse wie die Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland, der Zerfall der Sowjetunion, der Sturz der osteuropäischen sozialistischen Systeme oder die Europäisierung im Allgemeinen, sondern auch die vehement steigende Freiheit von Kindern und Jugendlichen und die damit erhöhte Schwierigkeit ihrer Identitätsfindung. So wundert es nicht, dass Kinder und Jugendliche einen viel komplizierteren Erziehungs- und Sozialisationsprozess durchlaufen, als das vor einigen Jahren noch der Fall war. Ein Blick in die pädagogische Praxis verdeutlicht dies eindrucksvoll: Das professionelle Handeln von Lehrer/innen, Erzieher/innen und Eltern ist immer häufiger durch Unsicherheit und Unzufriedenheit gekennzeichnet. Gab es vor Jahren noch detailliertere und verbindlichere Zielstellungen, so implizieren heutige Erziehungs- und Bildungsvorstellungen so allgemeine Ziele wie soziale Kompetenz, Mündigkeit, Emanzipation und lebenslange Lernfähigkeit – die dazu führen, dass in einem Dschungel von Verwirrungen und Kontroversen Unklarheiten und Unzufriedenheiten fast logische Folgen sind. Immer mehr Kinder und Jugendliche machen was sie wollen – was zwar einerseits für eine wachsende Demokratisierung spricht, andererseits aber auch zu mehr Grenzüberschreitungen und Orientierungslosigkeiten führt. Die Unsicherheiten liegen daher nicht ausschließlich beim pädagogischen Personal, sondern ebenso bei Kindern und Jugendlichen ohne sie dafür in die Pflicht zu nehmen. Es ist eine Kluft zwischen Ansprüchen und Realitäten entstanden, beispielhaft aufgegriffen anhand der in den Jahren 2000, 2003 und 2006 durchgeführten international vergleichenden OECD-Bildungsstudie PISA (Programme for International Student Assessment) an der 32 (2000), 40 (2003) bzw. 57 (2006) Länder weltweit 15-jährige Probanden hinsichtlich ihrer Kompetenzen im Lesen, in Mathematik sowie den Naturwissenschaften testeten. Beispielsweise schnitt die Bundesrepublik Deutschland derart schlecht ab, dass fortan vom ‚PISA-Schock’ die Rede war. Es gab auch in keinem anderen Land einen so signifikanten Zusammenhang von mangelnder Leistung und sozialem Hintergrund (Einkommen der Eltern). Darüber hinaus sind die Ergebnisse auch höchst bedeutsam für das Anliegen der geschlechtergerechten Bildung und Erziehung, denn: Die getesteten Jungen schnitten entschieden schlechter ab als die Mädchen. Sind also Jungen die Sorgenkinder unserer Gesellschaft? Das Bild vom ‚starken Mann’ scheint längst überholt, die Werbebranche macht dies eindrucksvoll deutlich: Jungen und Männer stehen als potenzielle Werbeträger für Kleidung, Kosmetik oder Haushalt den Mädchen und Frauen kaum mehr nach. Im Gegenteil: es scheint sich der Trend durchzusetzen, dass das ‚starke Geschlecht’ zunehmend für etwas wirbt, was vor einigen Jahren noch als verpönt galt. Jungen und Männer manifestieren sich in der Werbung als Menschen, die für Schönheit, Stil, Geschmack und Gesundheit stehen. Das aber ist nur die eine Seite, die andere impliziert Konflikte: Konflikte mit sich selbst, mit dem unmittelbaren Nachbarn und der Gesellschaft im Allgemeinen. Und genau diese Konflikte führen zu Erscheinungen wie Magersucht, Bulimie und selbstverletzendem Verhalten, die in unserer Gesellschaft längst nicht mehr nur Mädchen und Frauen vorbehalten sind. Ein Blick auf verschiedene wissenschaftlich fundierte Studien und Statistiken zeigt beispielsweise, dass: • Jungen bei internationalen Schulleistungsmessungen entschieden schlechter abschneiden als Mädchen; • Erscheinungen wie Magersucht, Bulimie und selbstverletzendes Verhalten Jungen und Mädchen gleichermaßen betreffen; • Sprach-, Lese- und Schreibstörungen bei therapeutisch entschieden häufiger auftreten als bei vergleichbaren Mädchen; • Jungen viermal so oft stottern wie Mädchen; behandelten Jungen • Verhaltensauffälligkeiten und Gewaltbereitschaft viel häufiger bei Jungen als bei Mädchen anzutreffen sind; • Jungen die Schule öfter ohne Abschluss verlassen als Mädchen; • geistige Behinderungen, frühkindlicher Autismus u.a. Verhaltensstörungen ebenfalls viel häufiger bei Jungen als bei Mädchen auftreten etc. Ein erschreckendes Bild! Wo aber liegen die Ursachen, dass es zu einer solchen Entwicklung kam und Jungen „auf der Suche nach Männlichkeit“ (Schnack; Neutzling 2003) – wie Schnack und Neutzling vor Jahren treffend formulierten – zunehmend scheitern? Ist die von Mädchen und Frauen so oft eingeklagte Emanzipation nun vielmehr von Jungen und Männern zu fordern? Jede Epoche der Menschheitsgeschichte war durch eine bestimmte Vorstellung über die Rolle und das Verhalten des Mannes in der Gesellschaft und durch das Zusammenleben von Männern und Frauen geprägt. Als das Zusammenleben von meist mehreren Generationen unter einem Dach noch die dominierende Familienform war, bestand die Aufgabe von Männern vorrangig darin, Verantwortung zu übernehmen und alle wichtigen Entscheidungen zu treffen: Als Familienoberhaupt hatte ein Mann eine meist vielköpfige Familie zu versorgen und diese auch nach außen zu vertreten. Für diese Aufgaben war es nicht notwendig, besonders emotional zu sein. Das zeigt sich auch in der Erziehung der Söhne: Schon sehr früh mussten sie schwere Arbeiten auf dem Hof übernehmen und wurden deshalb nach Erziehungszielen wie Disziplin, Stärke und Härte erzogen. Gefühle zeigen sowie emotionale Nähe und Wärme galt für Väter und Söhne eher als ein Zeichen von Schwäche. Diese Vorstellungen von Männlichkeit existieren teilweise noch immer, wobei sie sich allmählich und auch schichtspezifisch wandeln. Männer aus der Ober- und Unterschicht neigen beispielsweise mehrheitlich zu traditionellen Rollenmustern, wo hingegen die kleine Gruppe der Männer der Mittelschicht sich bewusster zu den geschlechtsbezogenen Rollenvorgaben reflektiert. Heute wird als positive Charaktereigenschaft bewertet, wenn ein Mann seine Gefühle zeigen kann und auch seiner Familie gegenüber emotional offen ist. Dennoch sind traditionelle Vorstellungen präsent: Übernimmt ein Vater die Erziehungszeit für Kinder, gilt er eher als Ausnahme und wird von anderen Männern, aber auch Frauen, schon einmal fragend angeschaut und vielleicht sogar belächelt. Die Idee, ein Mann sei eher für ‚härtere’ Aufgaben zuständig, ist so tief im Denken verankert, dass sich das Bild des Mannes nur sehr langsam verändert. Aber ist das noch zeitgemäß? Der Anthropologe Gilmore beschreibt aus historischer Sicht die komplexe Rolle des Mannes als ‚Imperative Triade’, deren drei Komponenten der Erzeuger, der Versorger und der Beschützer sind. Im Bild des Erzeugers sind vor allem sexuelle Aktivität und Potenz wesentliche Merkmale. Die Anzahl der gezeugten Kinder, insbesondere der Söhne, gilt auch heute noch – beispielsweise im islamischen Raum – als Statusmerkmal. Je mehr Kinder ein Mann zeugt, desto mehr Anerkennung gebührt ihm von der Gesellschaft. In vielen europäischen Ländern wurde Familien mit vielen Kindern lange Zeit hohes Ansehen zuteil. Kinderlosigkeit galt als Schande und wurde oft mit geistlicher Unreinheit in Verbindung gebracht. Frauen, die keine Kinder bekommen konnten, waren aus der Gesellschaft teilweise ausgeschlossen und degradiert. Heute hat sich gerade dieser Aspekt sehr gewandelt. Wer viele Kinder hat, erscheint als asozial und unmodern – einer der Hauptgründe, weshalb das Bild des Erzeugers dem Bild des Liebhabers gewichen ist, das vor allem von Zärtlichkeit und Empathie geprägt ist. Das Bild des Versorgers erfüllt das Klischee, dass der Mann arbeitet, während die Frau mit den Kindern zu Hause bleibt. Neben der Versorgung der Familie mit Geld sind Arbeit und Leistung für den Mann Orte und Elemente der Anerkennung und der Bestätigung. Wenn er etwas geleistet hat, fühlt er sich in der Regel stark. Besonders deutlich wird dieser Aspekt gerade bei arbeitslosen Männern. Es ist für sie schwer zu akzeptieren, dass möglicherweise die Frau die Familie versorgt, mehr Leistung erbringt und gar über ein höheres Einkommen verfügt – Folge der über Jahrhunderte lang zugewiesenen und eingeübten gesellschaftlichen Rollen. Auch gegenwärtig ist es eher untypisch, dass der Mann die Erziehungszeit mit seinen Kindern in Anspruch nimmt oder als Hausmann zu Hause bleibt. Das dritte Bild impliziert den Mann als Beschützer. Frauen suchen sich meist größere Männer, weil sie sich bei ihnen geborgener und sicherer fühlen. Männer wiederum haben gelernt oder werden ermuntert, einen sogenannten Beschützer„instinkt“ auszuleben. Wer dies leistet, gilt als tapfer und mutig, was wiederum zu einer Bestätigung beiträgt: Ein Mann ist stark und nicht schwach. Ein wenig Sensibilität ist willkommen, aber schwach will und soll ein Mann nicht sein. Ein ähnliches Modell beschreibt Falkenburg (1999). Hier gibt es ebenfalls drei Formen von Männlichkeit: die Ernährermännlichkeit, die Erzeugermännlichkeit und die Beschützermännlichkeit. Zum Aspekt des Ernährers fügt Falkenburg hinzu, dass durch die Alleinversorgung der Familie durch den Mann der Frau ihre finanzielle Abhängigkeit verdeutlicht wird. Weiterhin erklärt er, dass der Mann durch Erwartungshaltungen der Frau und der Gesellschaft auch unter Druck gerät, eine angesehene Stellung mit hohem Gehalt innezuhaben. Zur Männlichkeit des Erzeugers schreibt er ergänzend, dass heute nicht mehr die Anzahl der gezeugten Kinder, sondern die der eroberten Frauen Wichtigkeit erlangt hat. Auch hier ist der Wandel vom Erzeuger hin zum Liebhaber ersichtlich. Außerdem gilt der Erzeuger nur dann als männlich, wenn er heterosexuell veranlagt ist. Homosexualität schränkt diese Form der Männlichkeit in hohem Maße ein und ist in unserer Gesellschaft noch immer ein Diskussionsgrund. Die Beschützermännlichkeit unterstützt das Ungleichverhältnis zwischen Mann und Frau. Würde die Frau nicht als schutzbedürftig und damit geringer gelten, bräuchte der Mann auch kein Beschützer zu sein. Alle drei Formen der Männlichkeit untermauern, die sogenannte hegemoniale Männlichkeit, die durch die Überordnung der Männer über Frauen und Mädchen sowie einigen Gruppen von Jungen und Männern entsteht (Falkenburg 1999, S. 18ff). Connell (1999), der den Begriff der hegemonialen Männlichkeit geprägt hat, verdeutlicht, dass Hegemonie „sich auf die gesellschaftliche Dynamik [bezieht], mit welcher eine Gruppe eine Führungsposition (…) einnimmt und aufrechterhält. (…) Hegemoniale Männlichkeit kann als jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis definiert werden, welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen gewährleistet“ (Connell 1999, S. 98). Weiterhin vertritt er die Meinung, dass diese Hegemonie eine bewegliche Tatsache ist, die davon abhängt, inwieweit sie in Frage gestellt wird oder sich ihre äußeren Bedingungen verändern. Sielert (1993) stellt zusammenfassend fest, dass sich Männlichkeitsideale seit den frühen 1980er Jahren verändert bzw. um emotionale Tugenden erweitert haben und dass das Bild vom Mann an einigen Stellen brüchig geworden ist. Aber er ist auch der Meinung, dass das grundlegende Bild vom starken, harten Mann noch immer vorhanden ist. Um es zu verändern, bedürfe es der Veränderung des gesellschaftlichen Denkens (Sielert 1993, S. 23). Welches Modell man auch favorisiert, die imperiale Triade hat ihren legitimen Anspruch weitestgehend verloren. Gegenwärtig werden beispielsweise gerade in der beruflichen Sozialisation auch immer mehr Kompetenzen wie Flexibilität, Kreativität oder Empathie – und damit in erster Instanz weibliche Attributionen - verlangt. Dies verdeutlicht, dass die fortschreitende Emanzipation der Frau stark am Bild des dominanten Mannes gerüttelt hat und die Forderungen nach sensiblen, einfühlsamen und emotionalen Männern laut wurde und lauter wird. ‚Das männliche Geschlecht’ reagiert oft mit Unsicherheit, Abwehr, Bedrohung und Angst. Das traditionelle Männlichkeitsbild gerät mehr und mehr in Konflikt mit den gegenwärtigen, gesellschaftlichen Anforderungen und Ansprüchen. Die Suche der Jungen und Männer nach einer neuen Männlichkeit und neuen Identitäten erklärt sich auch aus diesem Hintergrund. 2. Sozialer Wandel der Geschlechterrolle Die Gesellschaft prägt den Menschen durch geltende Werte, Normen und Verhaltensmuster. Sozialisationsprozesse und Identitätsfindung von Kindern und Jugendlichen geschehen nie losgelöst von gesellschaftlichen Umständen und Ereignissen. Diese gesellschaftlichen Einflüsse bilden neben biologischen Ursachen (die hier nicht analysiert werden sollen) eine Erklärungsebene für Probleme und Auffälligkeiten. Vordergründig hat die Emanzipation der Frau als ideologischer Stolperstein der Männer dazu beigetragen. Das scheinbar unerschütterliche Bild der Männer wurde besonders durch die zweite Frauenbewegung der ausgehenden 1960er Jahre erstmals in Frage gestellt. Hoffmann (1994) beschreibt sie beispielsweise als „die wichtigste Ecke in einem ‚dynamischen Dreieck’, dessen beide anderen Ecken von der Männerbewegung und von der Schwulenbewegung gebildet werden (Hoffmann 1994, S. 29)“. Er sieht die Ursachen für die Entstehung der Frauenbewegung, deren Beginn auf das Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre des 20. Jahrhunderts geschätzt wird, u.a. in der Französischen Revolution sowie der Aufklärung. Die bürgerliche Revolution führte zu der Erklärung der Menschenrechte, in denen auch die Gleichheit und Freiheit aller Menschen festgehalten waren. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts versuchten Frauen immer wieder diese einzufordern. In den Grundgesetzen und Verfassungen unterschiedlicher europäischer Länder wurden die „universalen Menschenrechte ausdrücklich auf Mann und Frau bezogen“ (ebenda S. 31). Allerdings konnte dieser Anspruch nicht verwirklicht werden, was durch die großen Unterschiede zwischen Männern und Frauen immer deutlicher wurde. Das heißt nicht, dass diese Differenzen nicht schon vorher existiert hätten, aber in dieser Zeit spitzte sich die Situation zu. Das wurde besonders durch die „Zunahme der weiblichen Erwerbstätigkeit und die erhöhte Bildungs- und Berufqualifikation (…) bei Frauen; [die] Veränderungen der familiären Situation (…); die Entstehung neuer Anspruchshaltungen und Freiheitsräume auf der Grundlage einer weitgehenden Absicherung materieller Bedürfnisse, einer verlängerten Adoleszenz, von mehr Freizeit, eines breiteren Informations- und Bildungsangebotes usw.; die Umwertung von kulturellen Werten und Verhaltensstandards“ deutlich (ebenda S. 31). Die Frauenbewegung als ideologischer Stolperstein für Männer setzte sich fort. Ziel der Frauenbewegung war u.a. das Umstürzen von „konkreten, von männlichen Monopolen geprägte Lebensformen. (ebenda S. 46)“ Frauen verschafften sich Zugang zu Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen, steigerten die weibliche Erwerbsarbeit, schalteten sich in die Politik ein, kurz: sie erkämpften sich „die Gleichberechtigung auf ökonomischem, politischem, sozialem und kulturellem Gebiet“ (Bründel; Hurrelmann 1999, S. 158). Doch welche Folgen hatte die Frauenbewegung für das männliche Geschlecht? Seit den 1950er Jahren entwickelte sich zunehmend ein Bild vom Mann, das der imperativen Triade nicht mehr bzw. immer weniger gerecht wurde. Das Männerbild geriet ins Wanken, indem Frauen in ‚Herrschaftsbereiche’ der Männer, wie Bildung, Politik und das Arbeitsleben eindrangen. Damit mussten Jungen und Männer einen Bereich ihrer Identifikation und Identität teilen bzw. abgeben. Während es den Frauen vor allem darum ging, eigene Erfahrungen machen zu können und gleiche Chancen wie Männer zu erhalten, fühlten Männer ihren Status in Frage gestellt. Timmermann (1998, S. 47ff) stellt fest, dass Männer eine Reihe von Ängsten haben. Sie sehen sich einerseits durch die Forderungen der Frauen nach anderen, bisher als unmännlich geltenden Seiten wie Zärtlichkeit, Verständnis und Einfühlungsvermögen unter Druck gesetzt. Andererseits gelingt ihnen der Ausgleich zwischen konkurrenzbetonter Berufswelt und auf Beziehung basierender Familienwelt nicht. Außer der Ernährermännlichkeit sind Männer auch in der Kindererziehung und Haushaltsführung gefordert, was vorher in den Aufgabenbereich der Frauen fiel. Mit der Emanzipation der Frau hat sich auch das männliche Ideal gewandelt. Die Frauen und die Gesellschaft selbst erwarten, dass Jungen und Männer nicht nur das starke Geschlecht sind, sondern dass sie auch emotionale Seiten zeigen können. Auch wenn die Emanzipation das Männerbild hinterfragt und auch teilweise aufgeweicht hat, ist die klassische Aufgabenverteilung, in welcher der Mann arbeitet und die Frau die Kindererziehung zu Hause übernimmt, noch immer weit verbreitet. Das bietet den Männern weiter die Gelegenheit, auf bestimmten Gebieten zu dominieren. Vor allem auf politischem Terrain sind in erster Linie Männer vertreten. Auch in den Führungsebenen von großen Unternehmen und Konzernen arbeiten nach wie vor viele Männer - Frauen hingegen bekommen selten die Chance, ein solches Amt zu führen. 3. Genderpädagogik Im anglo-amerikanischen Raum hat die Debatte um ‚Sex’ und ‚Gender’ Tradition. Ende der 1990er Jahre schwappte diese Debatte auch auf Europa über, wobei festgestellt werden kann, dass diese sprachliche Differenzierung ein wesentlicher und tragender Bestandteil in der Fachdiskussion und Wahrnehmung dieses Phänomens wurde. Nachdem in den meisten europäischen Ländern der Forderung nach koedukativer Bildung und Erziehung vor vielen Jahrzehnten entsprochen wurde, geriet in den vergangenen Jahren erneut eine geschlechtsspezifische bzw. geschlechtergerechte Hinterfragung differenzierter Aspekte ins Blickfeld. Dies spiegelt sich in Familie, schulischen und außerschulischen Einrichtungen ebenso wider, wie beispielsweise in der politischen Diskussion. Aus all diesen in die Kritik geratenen Erwartungshaltungen hat sich eine (mittlerweile nicht mehr ganz) neue erziehungswissenschaftliche Teildisziplin entwickelt, die Geschlechter- oder Genderpädagogik. Sie beschäftigt sich insbesondere mit typischem Rollenverhalten von Frauen und Männern und untersucht diese psychologisch und soziologisch, um aus den Befunden Möglichkeiten und Konsequenzen für pädagogisches Handeln abzuleiten. Eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien zeigt, dass die Genderpädagogik mittlerweile zu einem umfassenden Gegenstand der Forschung geworden ist. Ihre Ergebnisse lieferten neue Erkenntnisse über das Verhalten und das Verhältnis von Männern und Frauen, und gerade der Wandel der Männerrolle wird wissenschaftlich analysiert. So wurde zum Beispiel festgestellt, dass sich schon aus dem physischen Bau des männlichen Gehirns Unterschiede zur Frau ergeben, die Einfuss auf Entwicklung und Verhalten haben. Der Begriff ‚Gender’ wird auch in der deutschen Wissenschaftssprache benutzt, um deutlich hervorzuheben, dass man sich auf das soziale Geschlecht bezieht. Mit dieser neuen Perspektive wurde die eher monoton erscheinende Forschung abgelöst, die vordergründig der Frage nach festgeschriebenen Unterschieden zwischen den Geschlechtern nachging. Entgegengesetzt wurde dieser bloßen Unterschiedssuche eine ‚Historisierung’ und ‚Dekonstruktion’ der Bedingungen des geschlechtlichen Unterschiedes. Geforscht wurde seitdem nicht mehr nur einseitig nach der Suche von Unterschieden, sondern nun auch nach der Entwicklung von Geschlecht und damit auch der Entwicklung von Identität. Lange Zeit wurde ‚Geschlecht’ in den Sozialwissenschaften als zugeschriebenes Kennzeichnen behandelt, folglich als etwas, dass der sozialen Praxis grundsätzlich entzogen und als natürliche Gegebenheit bestimmt ist. Fundiert nachgewiesen wurde jedoch, dass ‚Geschlecht’ einem historischen Wandel unterworfen war. Was folglich jeweils als ‚männlich’ bzw. ‚weiblich’ galt, war durch historische Bedingungen veränderbar. Es bestand kein Zweifel daran, dass die Zweigeschlechtlichkeit als solche selbst allem Gesellschaftlichen vorausgesetzt wurde. Erst die feministische Theoriedebatte und die empirische Frauenforschung haben ein Bewusstsein dafür entstehen lassen, dass ‚Geschlecht’ für die sozialwissenschaftliche Analyse nicht einfach nur eine natürliche Gegebenheit darstellt, sondern selbst dem entgegen gesellschaftlich produziert wird. Eine solche Sichtweise auf die Geschlechterverhältnisse unterstellt, dass ‚Geschlecht’ im alltäglichen Handeln immer wieder neu konstruiert wird. Generell wird der Blick darauf gelenkt, dass soziale Strukturen und Institutionen in der sozialen Praxis durch das Handeln der sozialen Subjekte entworfen, konstruiert und reproduziert werden. Die Thematisierung von ‚Geschlecht’ ist in wissenschaftlichen Untersuchungen wie auch in der täglichen Interaktion in allen denkbaren gesellschaftlichen Bereichen determiniert und bringt folgende thematische und kommunikative Konsequenzen mit sich: • ‚Geschlecht’ wird meist als Differenzereignis thematisiert, d.h. Männlichkeit und Weiblichkeit werden als essentiell verschiedene Konzepte diskutiert • ‚Geschlecht’ wird in einer polarisierenden Perspektive, vornehmlich als sich gegenseitig ausschließende Charaktereigenschaften von Männern und Frauen betrachtet • Mit der Zuordnung und der Benennung von ‚Geschlecht’ ist eine Hierarchisierung in Status, Position und biografischen Möglichkeiten verbunden • Mit der Thematisierung von ‚Geschlecht’ werden Stereotypen und Geschlechterbilder abgerufen und im Zusammenhang mit gesellschaftlichen (Glaubens-)Systemen definiert • ‚Geschlecht’ wird mit der Prämisse der Vergeschlechtlichung von Arbeit verknüpft – denn Geschlecht wird in unterschiedlichen Formen der geschlechtlichen Arbeitsteilung geschaffen und bestätigt Unter Berücksichtigung dieser Aspekte wundert es nicht, dass das traditionelle Leitbild des Mannes zum Problem wird. 4. Jungenpädagogik und Jungenarbeit Jungenarbeit wurde sehr lange als Ergänzung zur Mädchenarbeit gesehen, da die Ursprünge in der Mädchenarbeit liegen und somit anfangs kaum eigene Ideen und Konzepte vorlagen. Viele Methoden und Themen wurden von den Mädchen auf die Jungen übertragen, was zur Folge hatte, dass Jungenarbeit nicht richtig greifen konnte und somit stets als Variation von Mädchenarbeit gesehen wurde. Doch mittlerweile ist eine selbstständige Jungenarbeit entstanden, die eigene, viel diskutierte Ansätze und Formen hat und als Konzept der geschlechtsspezifischen Pädagogik akzeptiert ist. Dass, wie lange Zeit von den Feministinnen kritisiert wurde, „Jugendarbeit als Jungenarbeit“ (Rauschenbach 2002, S. 83) betrieben wurde, wird durch die Entwicklung der Jungenarbeit als Bestandteil der Jugendarbeit relativiert, um ein Gleichgewicht zwischen Jungen- und Mädchenarbeit als gleichberechtigte Komponenten herzustellen. Ziel der Arbeit mit Jungen soll niemals sein, die Errungenschaften der Frauenbewegung und der Mädchenarbeit aufzuheben oder zu zerstören, sondern als weitere Entwicklung innerhalb der Gesellschaft Jungen anzunehmen, zu verstehen und verändern. Es ist wichtig, Bezug zur Männerarbeit zu nehmen, da Jungenarbeit aus der Männerbewegung entstanden ist und Jungen zu Männern werden und die Männerarbeit somit die Fortführung der Jungenarbeit ist. „Ziel [der Jungenarbeit] sei es, den heranwachsenden männlichen Jugendlichen die gesellschaftspolitischen Ziele und die Männlichkeitsvorstellungen der Männerbewegung schmackhaft zu machen.“ (Hoffmann 1994, S. 49) Doch auch die Schwulenbewegung hat durch die „Normalisierung emotional fundierter Männerbeziehungen“ (ebenda S. 90) die Jungenarbeit beeinflusst, da sonst die Selbstverständlichkeit der Körpererfahrungen, die in der Jungenarbeit gemacht werden, nicht so ausgeprägt oder gar nicht vorhanden wäre. Auch Winter beschreibt Jungenarbeit in ihrer Anfangsphase als „Reflex auf Mädchenarbeit“ (Winter 1996, S. 379). Die Orientierung der Jungenarbeit an der Mädchenarbeit ist bis heute ein Kritikpunkt geblieben, da noch immer der Vorwurf besteht, keine eigenen Ideen und Zusammenhänge entwickelt zu haben. Vor allem der Streit um die Art der Jungenarbeit, sei es antisexistische, emanzipatorische, reflektierende oder kritische, flammt unter den Jungenarbeitern immer wieder auf und Winter kritisiert, dass gleich zu Beginn der Arbeit durch die Selbstdarstellung einzelner Pädagogen die Pädagogik aus dem Blick geraten sei. Doch mittlerweile sind sich die Pädagogen einig, von Jungenarbeit dann zu sprechen, „wenn Männer mit Jungen geschlechtsbezogen pädagogisch arbeiten“ (ebenda S. 379). Möser und Lampe (2002) definieren Jungenarbeit als die „geschlechtsbezogene Arbeit von Männern mit Jungen“, wobei Jungenarbeit einen Teilaspekt von Jungenerziehung, d.h. der geschlechtsbezogenen Erziehung, darstellt. Doch innerhalb der Jungenerziehung gibt es eine weitere Komponente: die Jungenpädagogik, welche die geschlechtsbezogene Arbeit von Männern und Frauen mit Jungen meint. Möser und Lampe sind der Ansicht, dass Frauen ihre Gedanken, Einstellungen und Ziele ebenso für die Arbeit mit Jungen nutzen und Bedingungen zum Gedanken- und Erfahrungsaustausch schaffen können (Möser; Lampe 2002). Sturzenhecker (2002) versteht Jungenarbeit nicht als Methode, sondern als Sichtweise bzw. als ein „interpretatives Modell, mit dem die Handlungsweisen und Probleme von Jungen gedeutet werden“ (Sturzenhecker; Winter 2002, S. 5). So beschreibt er Jungenarbeit als geschlechtsbezogene pädagogische Arbeit erwachsener Männer (Fachkräfte) mit Jungen. Auf der einen Seite orientiert sich die Arbeit mit Jungen an den „Potenzialen des Junge- und Mannseins“, auf der anderen Seite an den konfliktreichen Seiten der Männlichkeit und der Kritik daran. Deshalb brauchen Jungenarbeiter ein Bewusstsein sowie Kenntnisse der Problemlagen von Jungen und Männern in der Gesellschaft und ein entsprechendes fachliches Wissen zur Thematisierung und Umsetzung (ebenda S. 9). Doch nicht die Definition des Begriffs „Jungenarbeit“ ist strittig, sondern die Ansatzpunkte der Arbeit. So lassen sich in der Fachliteratur verschiedene Arten von Jungenarbeit finden, wobei jeder Vertreter einen Geltungsanspruch seiner Interpretation erhebt. In diesem einführenden Text sollen diese Ansätze jedoch ausschließlich genannt sein: • Geschlechtsreflektierende Jungenarbeit • Antisexistische Jungenarbeit • Mytho-poetische Jungenarbeit • Patriarchatskritische Jungenarbeit • Reflektierende Jungenarbeit • Emanzipatorische Jungenarbeit Wie bei den Ansatzpunkten der Jungenarbeit werden auch Modelle, Methoden und Arbeitsprinzipien, wie das Variablenmodell nach Winter und Neubauer; Aktion, Reflexion und Kommunikation etc. unterschieden. Auf diese sei an dieser Stelle auch lediglich verwiesen, da sie bei den länderspezifischen Analysen detaillierter zurückkommen werden. Die Jungenpädagogik hat in den letzten Jahren fußgefasst. Nicht nur als ein „Anhängsel“, das aus der Mädchenpädagogik hervorgegangen ist, sondern als eine eigenständige erziehungswissenschaftliche Teildisziplin, die über eigene Zielstellungen, eigene Konzepte und mittlerweile auch unterschiedlichste Erfahrungen verfügt. 5. Ein Blick in die Praxis und eine mögliche Zukunft Es wurde bereits deutlich, dass das Bild des Mannes von heute ambivalent ist und zum Problem wird. Eltern tun sich schwer in der Erziehung ihrer Jungen, Lehrer wissen nicht mehr ein noch aus und die Jungen selbst versuchen sich in machohaftem Gehabe, um stark zu wirken. Aber richtig gelingen will es ihnen nicht. Konflikte, die aufgrund der Vielzahl von Leitbildern und Erwartungshaltungen an Jungen auftreten, betreffen unterschiedliche Personenkreise. Es entstehen nicht nur problematische Aspekte für Jungen, Männer und Väter, sondern auch für Geschwister, Mütter und Pädagogen. Obwohl signifikante Erkenntnisse aus der Medizin oder der Psychologie zeigen, dass Mädchen von Geburt an einen Reifungsvorsprung haben, den sie eine Zeit lang beibehalten und der sie weniger anfällig für Krankheiten und Verletzungen macht, gehen viele Eltern – Mütter wie Väter – mit ihrem männlichen Nachwuchs so um, als sei er robuster und widerstandsfähiger. Bereits in der Kinderzimmereinrichtung spiegeln sich die elterlichen Erwartungshaltungen wider: Ein Jungenzimmer ist meist durch Kletterwand, Höhle, Fahrzeuge oder Konstruktionsspielzeug gekennzeichnet. Vielleicht hat es damit zu tun, dass viele Spiele von Jungen meist wilder und grobmotorischer sind als die von Mädchen. Jungen werden von ihren Eltern oft an Verhaltensweisen herangeführt, die es kaum erlauben, Schwäche oder Nachgiebigkeit zu zeigen. Tun sie es doch, werden sie – weil sie weinen oder sich bei Angriffen nicht zur Wehr setzen – als ‚Memmen’ oder ‚Heulsusen’ bezeichnet. Für Eltern stellt sich daher die Frage: Wie erziehen? Lehren sie ihre Söhne die Fähigkeit, Gefühle zu zeigen, oder sollen am Ende gefühllose, ignorante Kerle dabei herauskommen? Wie einen geeigneten Mittelweg finden zwischen dem ‚harten’ und ‚weichen’ Jungen? Diese Aufgabe ist nicht nur schwierig, sondern äußerst brisant. Denn oftmals werden Probleme der Kinder auf die Erziehung durch die Eltern zurückgeführt. Eine Vermeidung von Erziehungsfehlern liegt also im Interesse der Eltern. Doch nicht nur Eltern, sondern auch Jungen selbst befinden sich in einem Zwiespalt der Gefühle: Wie verhalte ich mich nun richtig? Darf auch ich in der Öffentlichkeit weinen? Kann ich meine Schwächen offen zeigen? Zähle ich zu den ‚Harten’ oder zu den ‚Weichen’? Unsicherheiten über Unsicherheiten, die mit (Schein-)Identitäten nicht zu beheben sind. Jungen hadern zwischen Ansprüchen von Eltern, von Gleichaltrigen und Erwartungen an sich selbst. Sich einzuschätzen und das eigene Verhalten zu beurteilen, haben viele Jungen jedoch nicht gelernt – und wie auch, wenn die Frage nach den richtigen Verhaltensweisen selbst durch die Eltern nicht eindeutig geklärt werden kann. Das eigene Verhalten als positiv oder negativ zu bewerten, zieht sich durch alle Altersstufen. Auch erwachsene Männer werden mit Erwartungshaltungen konfrontiert: Wurden sie als Jungen in ihrer Kindheit dazu erzogen, stark zu sein, nicht zu weinen, sich zu wehren, verlangen ihre Freundinnen oder Frauen nun, dass sie Emotionen zeigen und sich ihre Schwächen eingestehen können. Diese Unsicherheit der Männer setzt sich in der Vaterrolle fort, denn erneut stehen sie vor der Entscheidung, welche Verhaltensweisen denn nun die richtigen für ihre Kinder sind und wo sie konsequenterweise bei der Erziehung ihrer Söhne ansetzen sollten. Die Verunsicherung von Männern - fast Programm! Hinsichtlich der intentionalen Jungenarbeit ergeben sich auch für Pädagogen Schwierigkeiten. Diese beginnen beim Vorsatz der Gleichbehandlung beider Geschlechter und enden in der Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Eigenheiten. Schon der Reifungsvorsprung der Mädchen fordert - auf derselben Altersstufe - notwendigerweise einen differenzierten Umgang mit Jungen und Mädchen. Doch welcher Pädagoge könnte diesen unterschiedlichen Umgang angemessen bewerkstelligen? Der kindliche Drang nach Gleichberechtigung blockiert viele Versuche. Gerade deshalb scheint es einmal mehr nötig, spezifische Möglichkeiten zu finden, um Jungenarbeit zu fördern. Schließlich sind Widersprüche zur elterlichen Erziehung ein weiteres Problem für Pädagogen: Hat ein Junge von seinen Eltern gelernt, in bestimmten Situationen nicht zu weinen, so wird ihn der Pädagoge vielleicht dazu animieren, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Aber werden das die Eltern tolerieren? Jungen, Männer, Väter, Mütter, Pädagogen: Alle, denen diese Probleme bewusst sind, suchen nach Lösungen und hilfreichen Antworten, mit den Konflikten umgehen zu können. Dabei stößt man auf ein bekanntes, beliebtes und gern vertretenes Ideal des 20. Jahrhunderts: die Gleichberechtigung. Vor allem vom Feminismus vorangetrieben entstand die Meinung, Männer und Frauen müssten gleichgestellt werden, weil sie gleich seien – mit gleichen Möglichkeiten zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit, gleichen Chancen bei der Berufswahl und genereller Gleichbehandlung. Jungen und Mädchen sollen gleiche Fähigkeiten entwickeln und mal schwach, mal stark sein. Mädchen sollen mit Autos spielen und einen Beruf erlernen, Jungen sollen mit Puppen spielen und den Haushalt führen. Mädchen sollen zum Fußball gehen dürfen und Jungen zum Ballett. Dieses Ideal der Gleichberechtigung beruht offensichtlich auf der Vorstellung (und wurde entsprechend kritisiert), dass geschlechtstypische Verhaltensweisen allein durch Konditionierungen entstehen: Verhalten wird erlernt und von der Gesellschaft geprägt, Jungen und Mädchen ahmen vorgelebtes Verhalten nach und sind deshalb so wie sie sind; dieser Erkenntnis verdanken wir unzählige Erziehungsratgeber. Zweifellos wurde Wesentliches für die Gleichberechtigung von Jungen und Mädchen getan – doch können die oben benannten Konflikte damit gelöst werden? Ist die Lösung, Jungen genauso zu behandeln wie Mädchen? Es besteht wohl Zweifel daran oder verlangt das 21. Jahrhundert nach einer neuen Strategie? Denn trotz aller Bemühungen jeglicher Erziehenden sieht es auf den Schulhöfen von Grundschulen noch immer so aus, dass Jungen eher herum toben und sich prügeln, Mädchen in der Ecke stehen und sich Geheimnisse zu flüstern. Jungen bauen die Hütten, Mädchen richten sie ein. Mädchen machen sich hübsch, Jungen machen sich schmutzig. Warum beobachten wir immer wieder diese Verhaltensweisen, wenn wir doch so bemüht sind, dass Jungen und Mädchen sich möglichst gleich verhalten? Warum sieht die Realität meist anders aus, als jegliche theoretische Vorstellung von sich prügelnden Mädchen und strickenden Jungen? Es kann festgestellt werden, dass ein so verstandenes Ideal der Gleichberechtigung nicht für jeden Konflikt die Lösung ist. Sicher: ohne die Tradition der Gleichberechtigung wäre die Gesellschaft nicht dort, wo sie heute steht, mit vielfach gleichen Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten für Männer und Frauen. Wenn aber Jungen auf der Suche nach (ihrer) Männlichkeit und ihren Identitäten sind, stehen solche Gleichberechtigungsideale auch im Wege. Was vielmehr hilft, ist die Beachtung und Wertschätzung der Zweigeschlechtlichkeit. Sie impliziert, dass Jungen und Mädchen von Natur aus viel mehr verschieden sind und deshalb auch unterschiedliche Verhaltensweisen entwickeln. Der unterschiedliche Aufbau des Gehirns bei Jungen und Mädchen ist nur ein Beispiel und Grund für ihre unterschiedliche Art und Weise des Denkens. Auch hormonelle Vorgänge, die bei Männern und Frauen bekanntlich verschieden sind, beeinflussen unsere Verhaltensmuster. Es soll nun nicht behauptet werden, dass unser Verhalten nicht äußerlich beeinflussbar ist. Selbstverständlich ahmen wir vorgelebtes Verhalten nach und werden von Gesellschaft und Kultur geprägt. Aber eben nicht nur. Denn der stete Wunsch nach Gleichberechtigung blendet auch und läßt vorhandene Unterschiede leicht übersehen. Die jahrelange Debatte darüber, wie Jungen sein müssen und was Erziehende tun können, hilft nicht weiter. Denn es rückt immer deutlicher in den Vordergrund: Jungen müssen mit ihrem geschlechtstypischen Verhalten angenommen werden, mit all ihren Stärken und Schwächen, mit ihren Fähigkeiten und Unfähigkeiten. Dazu hilft das Modell der Zweigeschlechtlichkeit, denn man kann Jungen und Mädchen nicht gleich betrachten und behandeln, es verwirrt sowohl Betrachter als auch die Kinder und Jugendlichen. Wichtig ist allerdings, dass Jungen die Andersartigkeit von Mädchen, aber dennoch deren Gleichwertigkeit begreifen. Das kann gelingen, wenn Jungen sich in ihrer männlichen Rolle gut fühlen dürfen, ohne Mädchen oder andere Jungen wie Behinderte, Farbige usw. abwerten zu müssen. Zu dieser Entwicklung brauchen sie vertrauensvolle Eltern und Pädagogen an ihrer Seite, die ihre Fragen beantworten, sensibel mit ihren Problemen umgehen und im besten Fall ein brauchbares Vorbild sind. Die sich augenblicklich stark ausbreitende Soziale Jungenarbeit kann hierzu eine große Hilfe sein. Vielleicht kann so der Konflikt ‚Macho versus Weichei’ gelöst werden: Jungen und Männer können ‚JungeSein’ bzw. ‚MannSein’, Erziehende kommen mit ihrer ‚Erziehungsaufgabe’ besser zurecht und wir verstehen, warum es auf den Schulhöfen in der Pause so ist wie es ist... Literatur- und Quellenverzeichnis Brandes, Holger; Bullinger, Hermann (Hrsg.): Handbuch Männerarbeit. Weinheim: Psychologie Verlags Union 1996 Bründel, Heidrun; Hurrelmann, Klaus: Konkurrenz, Karriere, Kollaps. Männerforschung und der Abschied vom Mythos Mann. 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Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH 2000 Sielert, Uwe: Jungenarbeit. Praxishandbuch für die Jungenarbeit Teil 2. 2. Auflage. Weinheim, München: Juventa Verlag 1993 Sturzenhecker, Benedikt: Arbeitsprinzipien aus der Jungenarbeit. 2002 In: Sturzenhecker; Benedikt; Winter, Reinhard (Hrsg.): Praxis der Jungenarbeit. Modelle, Methoden und Erfahrungen aus pädagogischen Arbeitsfeldern. Weinheim, München: Juventa Verlag 2002, S. 37-62 Sturzenhecker, Benedikt; Winter, Reinhard: Und sie bewegt sich doch, die Praxis der Jungenarbeit. 2002 In: Sturzenhecker, Benedikt; Winter, Reinhard: Praxis der Jungenarbeit. Modelle, Methoden und Erfahrungen aus pädagogischen Arbeitsfeldern. Weinheim, München: Juventa Verlag 2002, S. 7-12 Timmermann, Evelyn: Das eigene Leben leben. Autobiographische Handlungskompetenz und Geschlecht. 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