Marion Breiter Grundlagen weiblicher Sozialisation und Vergesellschaftung © Marion BREITER für: Netzwerk österreichischer Frauen- und Mädchenberatungsstellen, NORA 2003 Grundlagen weiblicher Sozialisation und Vergesellschaftung Erst die Frauenforschung setzte der im bürgerlichen Zeitalter als Modell entstandenen „naturhaften“ Verbindung eines biologischen Unterschieds von Frauen und Männern mit psychischen Wesensmerkmalen ein anderes Klassifikationsmodell entgegen: die Unterscheidung zwischen sex - das biologisch-anatomische Geschlecht (das inzwischen auch nicht mehr als eindeutig zuschreibbar gilt) - und gender - das sozial und kulturell erworbene geschlechtstypische Verhaltensset, ein Konglomerat aus Erwartungen, Emotionen, Einstellungen, Verhaltensweisen. Der Erwerb von gender wird als Teil des Sozialisationsprozesses betrachtet, wobei als Sozialisation der Prozess der Persönlichkeitsentwicklung in einer spezifischen sozialen und materiellen Kultur - in unserem Fall einer patriarchalen Kultur - bezeichnet wird. Christa Rohde Dachser (1991) definiert Patriarchat als eine Gesellschaftsform • • • in der das Geschlechterverhältnis durch ein Machtgefälle zugunsten von Männern charakterisiert ist in der alle Bereiche eine implizite oder explizite Geschlechterhierarchie aufweisen in der das Symbolsystem, die rechtlichen und sozialen Werte vorwiegend männlich repräsentiert sind (Militär, Wissenschaft, Kirche und Religion, Justiz, ...) Das bedeutet, dass weibliche Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten durch kulturelle Strukturen besonders eingeschränkt sind. Damit ist jede Frau in unserer Gesellschaft konfrontiert, und darauf beruht ein Grund-Prinzip von Frauenberatung - nämlich das Bewusstsein gemeinsamer Betroffenheit von Klientin und Beraterin - auch wenn die Möglichkeiten und Arten der Verarbeitung aufgrund individueller Unterschiede differieren. Feministische Therapie und Beratung setzt damit der individualisierenden Betrachtungsweise die ganzheitliche entgegen, die soziologische Erkenntnisse ebenso wie psychologische und analytische verbindet. Geschlechtsspezifische Sozialisation und Vergesellschaftung bringt ständig aufs neue die Grunddispositionen für geschlechtsspezifische Arbeitsteilung hervor- und diese wiederum bildet die Grundlage von zahlreichen Nachteilen für Frauen, z.B. in den Bereichen Erwerbsarbeit und Karriere, Einkommen und eigenständige Existenzsicherung, gesellschaftlicher Einfluss und Machtpositionen. © Marion BREITER für: Netzwerk österreichischer Frauen- und Mädchenberatungsstellen, NORA 2003 Grundlagen weiblicher Sozialisation und Vergesellschaftung Milieu- und lerntheoretischer Ansatz Milieutheoretische Studien, die besonders als Folge der 68er-Bewegung an Bedeutung gewannen und sich damals vor allem auf schichtspezifische Sozialisationsunterschiede bezogen, wurden von feministischen Wissenschaftlerinnen zur Klärung der Geschlechterdifferenz herangezogen. Sie erlaubten es, Erklärungsversuche zu überwinden, die die Ungleichheit der Geschlechtsrollen und die als geschlechtstypisch angesehenen Verhaltensweisen biologisch begründeten - nämlich mit unterschiedlicher Begabung und Vererbung. Stattdessen wurde erforscht, wie sich Belohnung und Bestrafung bestimmter Verhaltensweisen auf die Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit auswirkt. Allerdings wurden nun Menschen ausschließlich als Produkt ihrer sozialen Umwelt begriffen, als durch und durch formbar und erziehbar. Ursula Scheu (1977) und Elena Belotti (1975) gingen bei ihren Forschungen davon aus, dass zwar auf bewusster Ebene Eltern und Erziehungspersonen die Gleichbehandlung von Mädchen und Buben bejahten, aber dennoch unbewusst und unbeabsichtigt große Unterschiede in der Erziehung machten. Scheu und Belotti trugen Ergebnisse von Untersuchungen zusammen, die belegen, dass es bereits bei der Behandlung von weiblichen und männlichen Säuglingen signifikante Unterschiede gibt, obwohl dies von den Müttern auf bewusster Ebene abgelehnt wird: Mädchen werden demnach • • • • • • • seltener und kürzer gestillt als Buben, aber früher entwöhnt lernen früher selbständig essen werden früher zur Sauberkeit trainiert insgesamt wesentlich repressiver behandelt taktil weniger stimuliert in ihrer Motorik häufiger eingeengt vom 3. Lebens-Monat an stärker an die Erziehungsperson fixiert Scheu beschreibt, wie - als Folge dieser unterschiedlichen Behandlung - die Analyse des Spielverhaltens bereits bei 13 Monate alten Kindern gravierende geschlechtsspezifische Unterschiede ergibt: Mädchen • suchten eher die Nähe der Mutter • sprachen mehr zu ihr hin • waren ängstlicher • motorisch weniger expansiv Mit zunehmendem Alter klafft demnach die Erziehung von Mädchen und Buben immer weiter auseinander, verstärkt durch geschlechtsspezifische Spielsachen und Kinderbücher und sichtbar am unterschiedlichen Handlungs- und Bewegungsspielraum, der Kindern zugestanden oder verwehrt wird. Scheu und Belotti berichten auch über zahlreiche Untersuchungen über geschlechtsspezifische Darstellung in Bilderbüchern und Schulbüchern, aus denen hervorgeht, dass • weibliche Figuren extrem unterrepräsentiert sind (1:11) © Marion BREITER für: Netzwerk österreichischer Frauen- und Mädchenberatungsstellen, NORA 2003 Grundlagen weiblicher Sozialisation und Vergesellschaftung • Mädchen signifikant häufiger im häuslichen, Buben dagegen im abenteuerlicheren, außerhäuslichen Bereich zu finden sind Mädchen eher als einzelne und Buben eher in Gruppen dargestellt werden Mädchen in passiven, Buben dagegen vorwiegend in aktiven Rollen dargestellt werden (Mädchen werden z.B. häufig "gerettet"). • • Auch neuere Untersuchungen bestätigen diesen Befund. Daniela Streb (1996) fasst verschiedene Forschungsberichte zusammen, die ergeben, dass z.B. im Kinderfernsehen nur 25% der Hauptfiguren weiblich sind und dass diesen, im Gegensatz zu den männlichen Personen, wenig zugetraut und viel geholfen wird. Auch die ModeratorInnen agierten geschlechtsspezifisch: Männer berichteten vorwiegend zum Thema Abenteuer, Tiere und Kultur, Frauen dagegen zum Thema Alltagsbewältigung, Kommunikation und Gefühle. Auch das Spielzeug von Mädchen und Buben unterscheidet sich massiv. Ein kurzer Besuch in einem Spielzeuggeschäft genügt, um sich davon zu überzeugen, dass Bubenund Mädchenspielzeug fast zwei verschiedene Welten darstellt. Bubenspielzeug ist im allgemeinen eher aktivitäts- und aggressionsfördernd, Mädchenspielzeug dagegen soft und kommunikationsfördernd. In einer deutschen Marktstudie wurde 1997 (Müller-Heisrath, Kückmann-Metschies 1998, S. 102ff) nachgewiesen, dass Mädchen nicht nur weniger sondern auch billigeres Spielzeug erhalten: auf sie entfallen nur 39% der Ausgaben. Buben haben wesentlich mehr Aktionsspielzeug (55% ihres Spielzeugs) und Fahrzeuge (34%). Dagegen haben Mädchen nur sehr wenig Aktionsspielzeug (2%) und wenig Fahrzeuge (4%), dafür liegen sie im Bereich Puppen und Plüschtiere ganz weit vorne. Marianne Grabrucker (1994) beschreibt in ihrem Buch "Typisch Mädchen...! Prägung in den ersten drei Lebensjahren" dazu zahlreiche Beispiele aus dem Leben mit ihrer Tochter vom Zeitpunkt der Geburt bis zu deren 3. Lebensjahr. Sie hatte in diesen Jahren Erlebnisse und Entwicklung ihrer Tochter genau beobachtet und reflektiert und kommt zu folgenden Annahmen über die Ursachen von Geschlechtsrollendifferenzen: • • • • • bewusste Vermittlung geschlechtsspezifischen Verhaltens durch erzieherische Maßnahmen (z.B. "ein Bub weint nicht", "ein Mädchen macht sich nicht schmutzig" etc.) unbewusste Vermittlung von Rollenerwartungen durch die Bezugspersonen (z.B. durch die Auswahl von Spielzeug und Aktivitäten, durch spontanes Verhalten etc.) Imitation geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen in der sozialen Umgebung des Kindes (Rollenmuster in der Familie, im Kindergarten, bei Bekannten, aber auch durch mediale Einflüsse wie Fernsehen, Plak ate etc.) Interpretierende Reaktionen von Erwachsenen (wenn Buben und Mädchen dasselbe tun, wird es trotzdem verschieden bewertet, z.B. Aggression) die Tatsache, dass vor allem Frauen für die Erziehung von beiden Geschlechtern verantwortlich sind (siehe auch: Der psychoanalytische Ansatz) Ein wichtiger Aspekt ist die Annahme, dass geschlechtsspezifische Verhaltensweisen und Einstellungen durch Imitation von Modellen, besonders im sozialen Nahfeld, gelernt werden. In Österreich werden die meisten Kinder bis zum 3. Lebensjahr hauptsächlich von ihren Müttern betreut und erzogen. Der Anteil der Väter unter den KarenzgeldbezieherInnen betrug 1998 1,33%. Durch dieses Arrangement verändert sich © Marion BREITER für: Netzwerk österreichischer Frauen- und Mädchenberatungsstellen, NORA 2003 Grundlagen weiblicher Sozialisation und Vergesellschaftung die Aufgabenteilung zwischen Frauen und Männern drastisch - auch bei Paaren, die ursprünglich eine partnerschaftliche Arbeitsteilung anstrebten. Die österreichische Soziologin Katharina Novy beschreibt dieses Arrangement kurz und prägnant: "Seine Familienpläne, ihre Berufspläne werden auf unbestimmte Zeit zurückgesteckt, während man sich gegenseitig versichert, eine partnerschaftliche Aufteilung zu wollen." (2001, S. 42). Mit steigender Kinderzahl verstärkt sich das berufliche Engagement der Väter, die Beteiligung an Haushaltsarbeiten nimmt noch weiter ab (Keddi, Seidenspinner, 1991). Kinder lernen dadurch, dass Frauen in erster Linie für Familien- und Hausarbeit, für pflegende und sorgende Tätigkeiten, Männer dagegen für die außerhäusliche Berufsarbeit und fürs Geldverdienen zuständig sind. Sie lernen die unterschiedlichen Rollenzuweisungen und Bewertungen kennen. Katharina Novy hat den Einfluss der interfamiliären Arbeitsteilung auf die Vorstellungen 10-12jähriger Kinder von ihrer Zukunft als Mütter oder Väter untersucht (1998). Die wichtigsten Ergebnisse ihrer Untersuchung: • • • • • • • mit einer Ausnahme herrscht in allen untersuchten Familien eine geschlechtstypische Arbeitsteilung, die Frauen sind für die Familienarbeit zuständig, die Männer konzentrieren sich auf die Berufswelt. Die Väter sind nicht für den Alltag der Kinder zuständig, sondern für Freizeit und für Außergewöhnliches. Das macht sie trotz ihrer häufigen Abwesenheit für die Kinder attraktiv - auf Kosten der ständig präsenten Mutter. Die Hausarbeit der Mutter ist für die Kinder selbstverständlich. Diese Arbeitsteilung wirkt sich entscheidend auf die Zukunftsvorstellungen der Kinder aus. Mädchen haben bereits in diesem Alter die Selbstverständlichkeit weiblicher Verantwortung für Haushalt und Familie verinnerlicht und beziehen sie in ihre Ausbildungs- und Berufswünsche ein. Die Buben erwähnen Versorgungsarbeiten in ihrer Vorstellung vom zukünftigen Familienleben überhaupt nicht. Die Wünsche der Mädchen an die gemeinsame Haushaltsführung mit einem zukünftigen Partner sind bescheiden. Er soll er ein bisschen mithelfen. Geteilte Verantwortung wird nicht angedacht. Katharina Novy stellt darüber hinaus den Zusammenhang zwischen weiblicher Armut und weiblicher Sozialisation her (2001). Sie beschreibt, wie geschlechtsspezifische Sozialisation Frauen potentiell in Richtung Armut und Armutsgefährdung führt- indem sie einerseits eine Grundlage der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung und damit der ökonomischen Abhängigkeit und Schlechterstellung von Frauen bildet und andererseits geschlechtsstereotype Erwartungen und Einstellungen hervorbringt, die Frauen im Berufsleben benachteiligen. Daran hat auch die Tatsache wenig geändert, dass Frauen inzwischen bildungsmäßig mit Männern gleichgezogen haben. Die grundsätzliche ökonomische Schlechterstellung ist auch bei gut ausgebildeten Frauen zu beobachten. Sie reicht von niedrigeren Einkommen über entsprechend niedrige Absicherung durch Arbeitslosenunterstützung und Notstandshilfe bis zu den noch niedrigeren Pensionen. (siehe dazu die Studie des BMSG "Geschlechtsspezifische Disparitäten", 2002) © Marion BREITER für: Netzwerk österreichischer Frauen- und Mädchenberatungsstellen, NORA 2003 Grundlagen weiblicher Sozialisation und Vergesellschaftung Psychoanalytischer Ansatz Die Sexualität der Frau und das Frauwerden findet in einem Spannungsfeld zwischen Beschränkung und Grenzüberschreitung, zwischen Lust und Last statt, Sexualität ist für Frauen „Fessel und Entfesselung zugleich“ (Alice Schwarzer 1982). Dabei erschweren gesellschaftliche Rollenerwartungen den Frauen und Mädchen, sich positiv mit ihrer Sexualität auseinander zu setzen. Auch die Wissenschaft - allen voran Freuds Theorie der weiblichen Sexualität - hat das ihre zu diesen Schwierigkeiten beigetragen. Vor allem sein Theoriegebäude ist inzwischen von feministischen Analytikerinnen eingehend analysiert und kritisiert worden: Christa Rohde-Dachser1 beispielsweise hat in ihrem Buch „Expedition in den dunklen Kontinent“ Freuds Texte über die Weiblichkeit einer Tiefenanalyse unterzogen. Sie fasst seine Thesen zur Weiblichkeit zusammen und arbeitet die unbewussten Botschaften daraus hervor: Freuds Thesen über die Weiblichkeit: • • • • • • • von Geburt an sind Jungen und Mädchen "männlich", d.h. aktiv. Erst wenn das Mädchen seine Penislosigkeit entdeckt beginnt sein schwerer Weg in die Weiblichkeit - Enttäuschung über körperliche Unvollkommenheit, Gefühle von Wertlosigkeit und "Kastration". Die Schuld daran gibt das Mädchen der Mutter. Daher wendet es sich enttäuscht von ihr ab und dem Vater zu. Von nun an begehrt das Mädchen den Penis des Vaters. Dieser Peniswunsch verwandelt sich später in den Wunsch nach einem Kind, am liebsten einen Knaben (Penisträger). Nur deshalb genießt die Frau ihre Mutterschaft. Der Penisneid der Frau bleibt ihr in der Regel ein Leben lang erhalten. Weiblichkeit bedeutet Passivität und schwache sexuelle Konstitution. Daher besitzt die Frau auch nur eine geringe Sublimationsfähigkeit (Umwandlung von sexuellen Wünschen in kulturelle Leistung) und beschränkt ihre Interessen auf das enge soziale Beziehungsgeflecht, in dem sie lebt sowie auf die Erfüllung der damit verbundenen Alltagsaufgaben. Der Mann handelt, die Frau reagiert. Weiblichkeit ist identisch mit (erworbener) Passiv ität. Rohde-Dachsers Thesen über die unbewussten kindlichen Knaben-Fantasien, die hinter diesen Ideen stecken: • • • 1 Für meine Mutter - und später für meine Frau- bin ich der einzige. Sie braucht mich, nicht umgekehrt. Sie hat nichts, worum ich sie beneiden müsste. Sie ist ohne Begehren. Deshalb wird sie auch nie nach einem anderen verlangen. Sie lebt nur durch mich- und nicht umgekehrt. Alles was sie dabei erleidet, ist nicht meine Schuld, denn sie will es so. Daher brauche ich nie zu befürchten. zum passiven Objekt ihrer Liebe oder ihres Begehrens zu werden oder ihre Liebe teilen zu müssen. Ich brauche keine Angst zu haben, dass sie mit ihrer Situation unzufrieden sein könnte und ihre Interessen aktiv auf etwas anderes richtet als auf meine Person, denn an kulturellen Leistungen ist sie nicht interessiert. Rohde-Dachser 1992, S.56ff © Marion BREITER für: Netzwerk österreichischer Frauen- und Mädchenberatungsstellen, NORA 2003 Grundlagen weiblicher Sozialisation und Vergesellschaftung Mithilfe tiefenhermeneutischer Textanalyse dechiffriert Rohde-Dachser Freuds Theorien Zug um Zug als unbewusste Knabenfantasien über Mädchen und Frauen, als Produkt knabenhafter Egozentrik und als männliche Angst-Abwehr gegenüber Frauen. Auf diesen Zusammenhang hat bereits 1926 Karen Horney, eine amerikanische Analytikerin aufmerksam gemacht. Sie gilt als eine der ersten feministischen Kritikerinnen Freuds. Horney stellte u.a. fest, dass es nicht die angebliche Überlegenheit des Penis sei, die dazu führe, dass Mädchen sich anders entwickeln, sondern die Entdeckung ihrer unterlegenen gesellschaftlichen Stellung. Sie stellte die Frage in den Raum, warum nicht eher Buben auf die Fähigkeit der Frauen eifersüchtig seien, ein Kind zu gebären und zu stillen. Die psychoanalytische Theorie wird jedoch immer noch dazu benützt, ein bestehendes ungleiches Machtverhältnis als anatomisches Schicksal auszugeben und dadurch zu festigen. Inzwischen gibt es aber auch auf dem Gebiet der Naturwissenschaften Erkenntnisse, die Freuds Ideen über die Passivität der weiblichen Natur ins Gegenteil verkehren. Nathalie Angier etwa - eine amerikanische Naturwissenschaftlerin und Wissenschaftsjournalistin beschreibt in ihrem Buch "Frau - Eine intime Geographie des weiblichen Körpers" (2000) sehr ausführlich, in wie hohem Ausmaß die weibliche Physiologie die männliche an Komplexität, Aktivität und Bedeutung übertrifft. Feministische Analytikerinnen wie Dorothy Dinnerstine (1979) und Nancy Chodorow (1985) haben vor allem die Tatsache, dass meistens Frauen die ersten Bezugspersonen im Leben der Menschen unseres Kulturkreises sind, ins Zentrum ihrer tiefenpsychologischen Studien gestellt. Sie sehen diese Tatsache durchaus als Problem. Denn die Mutter wird vom Baby als allmächtige Person empfunden, die vollkommenes Wohlbefinden aber auch vollkommene Frustration spenden kann. Es ist ihr ausgeliefert und entwickelt dadurch ambivalente Gefühle nicht nur gegenüber seiner Mutter sondern gegenüber Frauen im allgemeinen. Die Folge: Männer wie Frauen möchten diese Art der Machtausübung einer Frau als Erwachsene nicht mehr erleben. Die Machtausübung von Männern erscheint häufig beiden Geschlechtern erträglicher. Das könnte einer der Gründe für die "gläserne Decke" sein, an die Frauen im Lauf ihrer Berufskarriere besonders häufig stoßen. Chodorow beschreibt als weitere Folge des weiblichen Erziehungsmonopols, wie wichtig für Buben die Abtrennung von der Mutter und damit Abgrenzung zum Lebensthema wird- und im Gegensatz dazu für Mädchen die Identifikation mit der Mutter und Gefühle der Verbundenheit (siehe auch: Weibliche Kompetenzen) Die Schule als sexistische Sozialisationsinstanz - zur Koedukationsdebatte Ende der 70er-Jahre und Anfang der 80er-Jahre wurde die spezielle Bedeutung der koedukativen Schule als Vermittlungsinstanz von Geschlechtsrollenstereotypen untersucht. Die Ergebnisse führten zur- bis heute bestehenden- „Koedukationsdebatte“. Koedukation- seit dem 19. Jahrhundert von der damaligen bürgerlichen © Marion BREITER für: Netzwerk österreichischer Frauen- und Mädchenberatungsstellen, NORA 2003 Grundlagen weiblicher Sozialisation und Vergesellschaftung Frauenbewegung wegen der erwarteten qualitätsvolleren Ausbildungsmöglichkeiten für Mädchen gefordert- wurde nunmehr als Einrichtung kritisiert, die Mädchen besonders auf 3 Ebenen diskriminiert: - Auswirkungen von Erwartungshaltungen Dagmar Schultz (1988) berichtet über amerikanische Untersuchungen, aus denen beispielsweise hervorgeht, dass LehrerInnen in gemischten Klassen Schüler für offener, aktiver, interessierter und brillanter halten als Schülerinnen. Mädchen gelten dagegen als disziplinierter, angepasster, fleißiger, aber weniger brillant und zu weniger „großen“ Leistungen prädestiniert. Da Erwartungshaltungen im Sinne von self fulfilling prophecies tatsächlich Wirkung entfalten können, sind sie als gravierende Nachteile für die Entwicklung von Mädchen zu sehen. - Auswirkungen von Interaktion In Ilse Brehmers Buch (1982) werden Studien beschrieben, die aufzeigen, dass LehrerInnen Buben signifikant stärker beachten als Mädchen, sie einerseits zwar häufiger ermahnen und tadeln, andererseits aber auch öfter aufrufen, loben und Kontakt zu ihnen suchen. Im Schnitt bekommen Buben demnach ca. 70 % der Aufmerksamkeit von LehrerInnen. Ähnliches ergab auch eine Untersuchung im Universitätsbereich zum Diskussionsverhalten in gemischten StudentInnen-Gruppen: weibliche Studierende wurden signifikant häufiger ignoriert und übersehen als männliche. - Auswirkungen von Berufs- Vorbildern im Hinblick auf das Lernen durch Imitation und Identifikation ist als weiterer benachteiligender Aspekt z.B. die Tatsache zu sehen, dass der Großteil der leitenden Positionen im Schulbereich von Männern besetzt ist und dass mit zunehmender Qualifizierung der Anteil der Frauen am Lehrpersonal sinkt. Das bedeutet, dass mit zunehmendem Qualifikationsgrad den Mädchen immer weniger weibliche Vorbilder zur Verfügung stehen. Mädchen erleben oft bereits in der Volksschule die gleiche Hierarchie wie zu Hause: als Bezugsperson eine Frau Lehrerin - als übergeordnete Instanz und Autorität ein Herrn Direktor. In diesem Licht betrachtet war das Ergebnis der Untersuchung von Kreienbaum und Kauermann-Walters (1988) über die Studienwahl von Studentinnen an 3 deutschen Universitäten nicht unerwartet: 61% der Frauen, die Informatik studierten und 32% der Frauen, die Chemie und Informatik studierten, hatten ihr Abitur an einer Mädchenschule gemacht. Angesichts der geringen Zahl von Mädchenschulen (nur 14% aller Abiturientinnen besuchten eine solche) ist dies ein äußerst bemerkenswertes Ergebnis, aus dem geschlossen werden kann, dass ein geschlechtshomogenes Schulsystem die Schul- und Beruflaufbahnen von Mädchen zu ihren Gunsten beeinflusst. Auch in Österreich konnte ein positiver Zusammenhang zwischen dem Maturaabschluss in einer Mädchenschule und der Wahl eines mathematisch-technischnaturwissenschaftlichen Studienzweiges nachgewiesen werden (Jungwirth, 1993). Die soziale Schichtzugehörigkeit spielte dagegen nur eine untergeordnete Rolle. Dagegen ergab eine weitere Studie, dass Buben in Bubengymnasien signifikant häufiger sprachlich-literarische bzw. gesellschafts-wissenschaftliche Fächer belegen als in koedukativen Schulen, wo dies offenbar als Mädchenangelegenheit gilt (Baumert, 1992). Diese Ergebnisse werden dahingehend interpretiert, dass koedukative Schulen geschlechts-rollenkonformes Verhalten wesentlich stärker fördern als © Marion BREITER für: Netzwerk österreichischer Frauen- und Mädchenberatungsstellen, NORA 2003 Grundlagen weiblicher Sozialisation und Vergesellschaftung geschlechtshomogene Schulen- obwohl es sich bei letzteren häufig um konfessionelle Schulen handelt. Als Konsequenz dieses problematischen Effektes wird von manchen Kritikerinnen entweder die Rückkehr zur Geschlechtertrennung im Schulsystem gefordert, von anderen zumindest die Gründung von (feministischen) Mädchenschulen als Zusatzangebote im Bildungssystem, bei gleichzeitiger Reform des Koedukationssystems. Ulrike Teubner (1998)- Professorin für Sozial- und Kulturwissenschaften in Darmstadt beschäftigt sich darüber hinaus mit der Idee spezieller Fachbereiche oder sogar Hochschulen für Frauen. Sie bezieht sich auf die 84 Frauenuniversitäten in den USA, deren Geschichte sich seit den 90er-Jahren wieder als Erfolgsstory darstellt: „Es hat sich herumgesprochen, dass Absolventinnen aus Frauenhochschulen außergewöhnlich erfolgreich und zufrieden im Beruf sind, dass sie im Verhältnis zu den Absolventinnen der gemischten Hochschulen in bezug auf die Verdienste und Karrieren in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft überdurchschnittlich gut abschneiden.“ 2 Dementsprechend stark steigt die Zahl der Bewerbungen für einen Studien-Platz an Frauen-Hochschulen. Ähnliche Erwägungen bilden die Basis für die Konzepte der österreichischen Fr auen- und Mädchenberatungsstellen. Auch hier wird davon ausgegangen, dass aufgrund zahlreicher positiver Effekte Frauen und Mädchen in solchen Zentren besser gefördert werden als in gemischt-geschlechtlichen Gruppen und Beratungseinrichtungen: • • • • • weniger Festlegung auf einschränkende Rollenstereotype mehr Beachtung einzelner Frauen und ihrer Beiträge bessere Möglichkeiten der Selbstfindung und Selbstwahrnehmung Wertschätzung und gezielterer Einsatz sozialer Kompetenzen für Frauen positives Rollenmodell Sprache als sexistische Sozialisationsinstanz „Nichts wird als so unwesentlich bezeichnet und gleichzeitig so erbittert bekämpft wie geschlechtergerechte Sprache“ 3. Der Sprache als dem Transportmittel gesellschaftlicher Werte und Normen kommt große Bedeutung zu, da sie auf unbewusster Ebene auf unsere Geisteshaltung einwirkt. Die Schweizer Linguistin Senta Trömel-Plötz (1982) hat sich speziell mit diesem Gebiet beschäftigt. Sie definiert Sprache als sexistisch, wenn sie • • 2 3 Frauen und ihre Leistung unsichtbar macht und ignoriert (was z.B. durch die Verwendung von männlichen Bezeichnungen für Frauen geschieht- so können etwa „100 Tänzer“ auch „99 Tänzerinnen und 1 Tänzer“ meinen) Frauen vorwiegend in Abhängigkeit von und Unterordnung zu Männern beschreibt Teubner 1998, S.244 Kargl/Wetschanow/Wodak 1997 S. 12 © Marion BREITER für: Netzwerk österreichischer Frauen- und Mädchenberatungsstellen, NORA 2003 Grundlagen weiblicher Sozialisation und Vergesellschaftung • • Frauen nur in stereotypen Rollen zeigt und ihnen so über das Rollenstereotyp hinausgehende Interessen und Fähigkeiten abspricht Frauen demütigt und lächerlich macht. Diskriminierend wirkt weiters geschlechtstypisches Gesprächsverhalten: Trömel-Plötzs Untersuchungen (1982) haben ergeben, dass Männer ... • • • • • sich in gemischten Gesprächsgruppen häufiger zu Wort melden längere Redezeiten beanspruchen andere häufiger unterbrechen von Männern und Frauen bei der Entwicklung ihrer Gedankengänge unterstützt werden aber ihrerseits Frauen bei der Entwicklung ihrer Gedanken nicht durch aktives Zuhören unterstützen. Weibliche Kompetenzen Zunehmend rücken jedoch die speziellen Kompetenzen, die Frauen als Folge von spezieller Sozialisation und Vergesellschaftungs-Leistungen erwerben, in den Blickpunkt. Zum Beispiel im Management-Bereich ist immer öfter von den weiblichen sozialen Kompetenzen die Rede, nun - zumindest theoretisch - immer mehr Anerkennung erfahren (Helgesen, 1995). Auch Senta Trömel-Plötz (1996) berichtet in ihrem Buch „Frauengespräche - Sprache der Verständigung“ über zahlreiche Untersuchungen, die ergeben, dass Frauen aufgrund ihrer besseren konversationellen und sozialen Fähigkeiten in den unterschiedlichsten Berufen bessere Ergebnisse erzielen als Männer bei der gleichen Tätigkeit: etwa als Schöffinnen bei Gericht (fairer und weniger emotional), als Oberschwestern gegenüber Ärzten (bessere Information der PatientInnen, therapeutisches Zuhören etc.), als Managerinnen (interaktiver und motivierender), als Systemanalytikerinnen (effizienter), als Team-Mitglieder (sachlicher, kooperativer, weniger rivalisierend)... Eine von Trömel-Plötz zitierte Untersuchung ergab bereits 1979, dass Psychotherapeutinnen mit geringer Praxiserfahrung (2-6 Jahre) bessere Erfolgsraten haben als entsprechende männliche Therapeuten (Howard, Orlinsky, 1979). Sie erzielten genauso gute Ergebnisse wie weibliche und männliche TherapeutInnen mit viel Berufserfahrung. In eigenen Untersuchungen konnte Trömel-Plötz vielfältige konversationelle Kompetenzen von Frauen und ihre Ähnlichkeit zu therapeutischen Interaktionen herausarbeiten: • • • • • • unterstützende Fragen stellen das Thema weiterentwickeln Bedürfnisse von GesprächspartnerInnen erkennen und schützen Komplimente und Respektsbezeugungen äußern Unterlassung dominanter Sprechakte Vermeidung und Auflösung von Dominanzgesten © Marion BREITER für: Netzwerk österreichischer Frauen- und Mädchenberatungsstellen, NORA 2003 Grundlagen weiblicher Sozialisation und Vergesellschaftung • • • • • • Kooperation signalisieren Gegenseitigkeit und Solidarität herstellen Mitgefühl und Unterstützung signalisieren Gleichheit herstellen und Statusunterschiede auflösen Flexibilität Kritik annehmbar formulieren Aufgrund dieser Kompetenzen seien Frauen tatsächlich begabte Psychotherapeutinnen und Beraterinnen. Als Ziel von Gesprächen zwischen Frauen bezeichnet Trömel-Plötz: „(…) etwas Gemeinsames produzieren, eine Verständigung über etwas, sei es Zusammenarbeit zu einem bestimmten Zweck, sei es gleiche Meinung, seien es gleiche Gefühle. Diese Gemeinsamkeit, diese Verständigung kann nur unter bestimmten Bedingungen hergestellt werden, nicht durch Zwang, nicht durch Autorität, nicht durch Unterdrückung. Nur mit gegenseitigem Respekt, nur unter Gleichen, nur mit Nähe, Symmetrie, Großzügigkeit, Fairness“ 4. Dies stimmt mit den Erkenntnissen feministischer Analytikerinnen (Chodorow, 1978/85) überein, die die besondere Fähigkeit vieler Frauen, zwischenmenschliche Verbindungen herzustellen, als Folge der Tatsache sehen, dass Mädchen als frühe Hauptbezugsperson ein gleichgeschlechtliches Wesen - ihre Mutter - haben. Mit ihr identifizieren sie sich und stellen damit die erste intensive Beziehung zwischen „Gleichen“ her. Dagegen lernen Buben aufgrund derselben Tatsache - von einer weiblichen Bezugsperson, der Mutter, aufgezogen zu werden - Trennen, Wahrnehmen von Unterschieden und Autonomiestreben. Die Basis weiblicher Identitätsbildung ist daher Bindung, die Basis männlicher Identitätsentwicklung dagegen Trennung. Das bedeutet, dass auch die Schwachstellen gegensätzlich sind: Frauen haben Schwierigkeiten mit Autonomie und Individuation, Männer dagegen mit Beziehungen. Die Entwicklungspsychologie-Konzepte, die das Erlangen von Autonomie als zentralen Wert ansieht, erscheinen somit an männlicher Realität orientiert zu sein. Die männliche Entwicklung wurde als Maßstab verwendet, der die weibliche Entwicklung, für die Beziehung und Verbindung zentral ist, als defizitär begreift. Das Konzept der weiblichen Beziehungsstärke, das den männlichen Entwicklungskonzepten gegenübergestellt wurde, ist vor allem in den USA entwickelt worden: Jean Baker Miller (1978/86), Janet Surrey, Judith Jordan, Alexandra Kaplan u.a. erarbeiteten im Stone Center for Developmental Services and Studies am Wellesley College (einer Frauen-Universität) ein psychologisches Modell weiblicher Persönlichkeitsentwicklung, das sie „self-in-relation“ nannten. Demnach bleiben Frauen in einem Kontext von Verbindungen mit anderen, bauen darauf auf und entwickeln sich in diesem Kontext. Ihr Selbstgefühl begründet sich darauf, dass sie fähig sind, Beziehungen mit anderen einzugehen und aufrechtzuerhalten. Carol Gilligan (1984) fand in ihren Untersuchungen über moralische Urteile heraus, dass Fürsorglichkeit, Schutz und Verantwortung häufiger in moralische Entscheidungen von 4 Trömel-Plötz 1996, S.31 © Marion BREITER für: Netzwerk österreichischer Frauen- und Mädchenberatungsstellen, NORA 2003 Grundlagen weiblicher Sozialisation und Vergesellschaftung Frauen einfließen, während für Männer eher unpersönliche, verallgemeinerbare Richtwerte wie Rechte und Gerechtigkeit wesentlich sind. Bis zu Gilligans viel beachteter Untersuchung galt auch hier, dass Frauen aufgrund einer - männlich definierten - Skala in ihren Moralvorstellungen als unreifer eingestuft wurden. Gilligan löste mit ihren Arbeiten aber auch eine erneute - auch in feministischen Kreisen kontroversielle Debatte über die Zulässigkeit der Verknüpfung von Eigenschaften und Fähigkeiten mit dem biologischen Geschlecht aus. Denn obwohl in den beschriebenen Ansätzen, die weibliche Andersartigkeit sichtbar machen, diese als positive eigene Qualität begriffen werden, laufen sie Gefahr, von biologistischer Argumentation vereinnahmt zu werden. Differenz zwischen Frauen Es gibt jedoch auch Kritik an der Gender-Forschung: es liege ihr ein systematischer Fehler zugrunde- indem nämlich vor allem die psychologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern beforscht werden und nicht die Dimensionen der Gleichheit. Es gibt Theoretikerinnen, die der Auffassung sind, dass die Unterschiede innerhalb eines Geschlechts größer sind als die zwischen den Geschlechtern. So auch Helga Bilden (1991), die auf die Gefahr hinweist, dass durch die Beschäftigung mit geschlechtsspezifischer Sozialisation die Unterschiede zwischen den Geschlechtern immer wieder aufs neue festgeschrieben werden. Andererseits trägt jedoch eine Ideologie der "Gleichheit" der Geschlechter dazu bei, die tatsächlich bestehenden Differenzen zu verschleiern und zum Wahrnehmungsproblem der einzelnen Person zu erklären. Spätestens seit Angela Davis’ klassischem Buch „Women, Race and Class“ (1981) gewinnt die Benennung der Unterschiede zwischen Frauen verschiedener sozialer Schicht, Rasse, Ethnizität, Religion etc. zunehmend an Bedeutung. Dazu Gerda Lerner, eine Pionierin der historischen Frauenforschung in den USA: „Die Schwierigkeit, auf die man stößt, wenn man Rasse, Klasse, Ethnizität und Geschlecht als Mittel der Analyse einführt, besteht darin, dass man anscheinend jedes Problem um endlose Variationen vermehrt, ohne größere analytische Klarheit zu erzielen. Dennoch: wenn man Unterschiede ignoriert, verzerrt man die Realität. Wenn man die Machtverhältnisse, die auf Unterschieden aufbauen, ignoriert, bekräftigt man sie im Interesse derer, die die Macht innehaben.“ 5 Sie betont die Verbindung der Unterdrückung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts und aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer anderen diskriminierten Gruppe. So sind etwa schwarze Frauen in Amerika zweifach ausgebeutet, ebenso wie z.B. Frauen ethnischer Minderheiten oder Migrantinnen in Österreich. Lerner plädiert dafür, die Wechselwirkung der verschiedenen Aspekte des Systems patriarchalischer Herrschaft stärker zu beachten. Denn die intellektuelle Konstruktion getrennter Systeme für Unterdrückungsmechanismen aufgrund von Rasse, Klasse, Ethnizität etc. macht die Unterordnung von Frauen zwangsläufig zu einem nebensächlichen - anstelle eines querschnittsmäßigen - Problems. 5 Lerner 1993, S. 60f © Marion BREITER für: Netzwerk österreichischer Frauen- und Mädchenberatungsstellen, NORA 2003 Grundlagen weiblicher Sozialisation und Vergesellschaftung Eines der Grundprinzipien von Frauenberatung - die gemeinsame Betroffenheit von frauen-feindlichen Strukturen - müsste daher eigentlich um den Aspekt des sich BewusstMachens von Unterschieden zwischen Frauen ergänzt werden. Vergesellschaftung und Mittäterschaft Frigga Haug als Vertreterin der „Kritischen Psychologie“ erweitert den Begriff der Sozialisation um die Dimension „Vergesellschaftung“. Damit ist das selbsttätige Verarbeiten von und Sich-Positionieren in vorgefundenen Strukturen gemeint, die für Frauen und Männer unterschiedliche Lebensentwürfe und Rollen vorsehen. Frauen bauen sich ihren eigenen Platz im bestehenden, sie benachteiligenden System und bauen dieses dadurch weiter aus. Sie beschreibt als Ergebnis ihrer Forschungsarbeiten mithilfe der Kollektiven Erinnerungsarbeit den Sozialisationsprozess als „widersprüchlich, zerreißend, widerständig- selbst wenn er bloß Anpassung an vorgegebene Strukturen zu sein scheint. Entwicklung muss als Kampf, Anstrengung und Bedürfnisbefriedigung zugleich gefasst werden.“ 6 Sie schlägt dafür den Begriff der „widerständigen Anpassung“ vor. Die eigene Aktivität von Frauen im Zuge des Sich-Einbauens in vorgefundene, sie benachteiligende Strukturen bezeichnet die Philosophin Christina Thürmer-Rohr (1992) als „Mittäterschaft“- Agieren mit dem Täter. Sie betont den Aspekt, dass frauenfeindliche Strukturen nur weiter existieren können, weil Frauen sie mittragen. Der positive Aspekt in diesem Denkansatz besteht in der Konzentration auf die Frau als Subjekt und in der Betonung der Eigen-Aktivität im Gegensatz zur Hilflosigkeit der OpferRolle. Diese Eigen-Aktivität birgt auch verstärkt die Möglichkeit der Veränderung von Denken und Handeln in sich. Frauen könnten sich entschließen, Strukturen, die sie benachteiligen, nicht mehr mitzutragen. 6 Haug 1990, S. 181 © Marion BREITER für: Netzwerk österreichischer Frauen- und Mädchenberatungsstellen, NORA 2003 Grundlagen weiblicher Sozialisation und Vergesellschaftung Literatur: Angier, Nathalie (2000): Frau - Eine intime Geographie des weiblichen Körpers. München. Baker Miller, Jean (1978/1986): Toward a new Psychology of Women. Boston. Baumert, Jürgen (1992): Koedukation oder Geschlechtertrennung. In: Zeitschrift für Pädagogik, 38, I, S. 83-110. 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