Frankreich – Info Herausgeber: Französische Botschaft Presse- und Kommunikationsabteilung Pariser Platz 5 - 10117 Berlin [email protected] www.ambafrance-de.org Rede von Premierminister Manuel Valls vor der Nationalversammlung zur Ehrung der Opfer der Anschläge vom 7. bis 9. Januar 2015 Paris, 13. Januar 2015 (…) Die Terroristen haben Journalisten, Polizisten, französische Juden, Angestellte getötet, ermordet. Die Terroristen haben bekannte und unbekannte Menschen ermordet, die von vielfältiger Herkunft, Meinung oder Religion waren. Es ist die gesamte nationale Gemeinschaft, die davon betroffen ist. Ja, man hat Frankreich ins Herz getroffen. Diese 17 Menschenleben waren sowohl Gesichter Frankreichs als auch Symbole: der Meinungsfreiheit, der Lebendigkeit unserer Demokratie, der republikanischen Ordnung, unserer Institutionen, der Toleranz, der Laizität. Der Beistand, die Solidarität, entgegengebracht aus der ganzen Welt, von der Presse, von überall, von Menschen, die in zahlreichen Hauptstädten auf die Straße gegangen sind, von Staats- und Regierungschefs, all diese Unterstützung kann sich nicht täuschen; es ist der Geist Frankreichs, sein Licht, seine universelle Botschaft, die niedergeschlagen werden sollte. Aber Frankreich steht aufrecht. Es ist da, es immer da. (…) Wie jeder unter Ihnen, möchte ich erneut allen Opfern die Hochachtung der Nation aussprechen. Und die Marseillaise, die vorhin in diesem Plenum erklang, ist eine großartige Antwort, eine großartige Botschaft an die Verletzten, an die Familien, die einen unermesslichen Schmerz ertragen, an ihre Angehörigen, an ihre Kollegen. (…) Der Staatspräsident hat es heute Morgen mit starken Worten selbst gesagt: „Frankreich ist und bleibt an ihrer Seite.“ In dieser schweren Prüfung hat sich unser Volk versammelt. Es ist überall in Würde und Brüderlichkeit auf die Straße gegangen, um seine Treue zur Freiheit herauszuschreien und um unmissverständlich „Nein“ zu sagen zu Terrorismus, Intoleranz, Antisemitismus und Rassismus. Und im Grunde auch zu jeglicher Form von Resignation und Gleichgültigkeit. (…) Meine Damen und Herren Abgeordnete, wir dürfen zu keinem Zeitpunkt in unserer Wachsamkeit nachlassen. Mit Nachdruck möchte ich Ihnen als Volksvertretern und über Sie www.ambafrance-de.org 2 unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern sagen, dass die globale Bedrohung nicht nur immer noch existiert, sondern dass in Verbindung mit den Ereignissen der letzten Woche ernstzunehmende und große Risiken bestehen bleiben, in Form von eventuellen Komplizen oder Terrornetzwerken, von Befehlshabern des internationalen Terrorismus, von Cyberattacken. Die Drohungen, die Frankreich gegenüber ausgesprochen wurden, sind leider der Beweis dafür. Ich schulde Ihnen diese Wahrheit und wir schulden diese Wahrheit den Franzosen. Um uns dem zu stellen sind Militärs, Gendarmen und Polizisten auf dem gesamten Staatsgebiet mobilisiert. Es wurden insgesamt ca. 10.000 Soldaten zur Verstärkung einberufen und ich danke Ihnen dafür, Herr Verteidigungsminister, denn das ist beispiellos. Über 122.000 Einsatzkräfte stellen den permanenten Schutz von sensiblen Bereichen und öffentlichen Orten sicher. Die zusätzlichen Truppen dienen in erster Linie dem Schutz von jüdischen Schulen, Synagogen und Moscheen und werden es auch weiterhin tun. (…) Sind wir im Krieg? Die Frage ist eigentlich von geringer Wichtigkeit, denn die Terroristen des Dschihad, die uns an drei Tagen in Folge attackiert haben, lieferten ein weiteres Mal die grauenvolle Antwort. Man muss die Dinge immer beim Namen nennen: Ja, Frankreich ist im Krieg mit dem Terrorismus, dem Dschihadismus und dem radikalen Islamismus. Frankreich ist nicht im Krieg mit einer Religion. Frankreich ist nicht im Krieg mit dem Islam und den Moslems. Frankreich beschützt, und der Staatspräsident hat heute Morgen ebenfalls daran erinnert, Frankreich beschützt, wie es das immer getan hat, alle seine Mitbürgerinnen und Mitbürger - die, die glauben, ebenso wie die, die nicht glauben. Mit Entschlossenheit und Besonnenheit wird die Republik dem Terrorismus die stärkste Antwort geben, die unnachgiebige Härte unter Achtung dessen, was wir sind, ein Rechtsstaat. (…) Die beste Antwort auf den Terrorismus, der genau das zerstören will, was wir sind, nämlich eine große Demokratie, ist das Recht, ist die Demokratie, ist die Freiheit, ist das französische Volk. Die Antworten auf diese terroristische Bedrohung gibt die Republik innerhalb ihrer Grenzen und wird dies auch weiterhin tun. Sie wird diese Antworten auch dort geben, wo sich Terrorgruppen organisieren, um uns anzugreifen, uns zu bedrohen, das gilt für unsere Interessen wie für unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger. (…) Der Staatspräsident hat entschieden, unsere Präsenz an der Seite unserer Verbündeten mit der Operation Barkhane zu stärken. Das ist eine große Anstrengung, die Frankreich insbesondere im Namen Europas und dessen strategischer Interessen unternimmt. Eine kostspielige Anstrengung. Die Solidarität Europas gehört auf die Straße, sie gehört auch in die Budgets an unserer Seite. Eine unausweichliche Anstrengung. Und was für ein schönes Bild am vergangen Sonntag, die Staatschefs, die Regierungschefs, den Staatspräsidenten, den Präsidenten von Mali, Ibrahim Boubacar Keita, Arm in Arm zu sehen. Auch das war die beste Antwort, um zu sagen, dass wir keinen Religionskrieg führen, aber ja, wir führen einen Kampf für Toleranz, für Laizität, für Demokratie, für Freiheit und für souveräne Staaten (…). Lehren ziehen, das bedeutet zunächst, sich bewusst zu werden, dass sich die Situation ständig ändert und dass die Inlandsnachrichtendienste und die für die Terrorbekämpfung zuständigen Justizbehörden regelmäßig verstärkt werden müssen. An dieser Stelle möchte ich auch die Arbeit unserer Nachrichtendienste würdigen. (…) Fünf Mal in zwei Jahren haben sie es geschafft, angriffsbereite Terrorgruppen außer Gefecht zu setzen. 3 In Frankreich wie in allen europäischen Staaten ist die Zahl der Personen, die sich im internationalen Dschihadismus wiedererkennen, 2014 stark angestiegen. Schon bei der Verabschiedung des Gesetzes gegen den Terrorismus im Dezember 2012 habe ich gesagt, dass es in Frankreich Dutzende potenzielle Mohammed Merahs gibt. Die Zeit hat diese Diagnose auf dramatische und schonungslose Weise bestätigt. (…) Wir werden die nötigen Mittel bereitstellen, um dieser neuen Lage gerecht zu werden. In Sachen Sicherheit sind Personalressourcen von essentieller Bedeutung. Das haben wir seit 2012 umgesetzt. (…) Aber man muss noch weiter gehen und ich habe den Innenminister gebeten, mir innerhalb einer Woche, Vorschläge zur weiteren Verstärkung zu machen. Das betrifft vor allem das Internet und soziale Netzwerke, die wie noch nie zuvor genutzt werden, um zu rekrutieren, Kontakte zu knüpfen und die notwendige Technik zu erwerben. (…) Im Laufe des Jahres starten wir außerdem die Überwachung von Fluggastdaten verdächtiger Personen. Das erfolgt durch das PNR-System. Die französische Kontrollplattform wird ab September 2015 einsatzbereit sein. Es bleibt, eine vergleichbare Maßnahme auf europäischer Ebene zu ergreifen. Ich appelliere an das Europäische Parlament, sich des Ausmaßes der Herausforderung endlich bewusst zu werden und, wie wir es zusammen mit allen Regierungen schon seit zwei Jahren fordern, diese unabdingbare Maßnahme zu ergreifen. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren! Meine Damen und Herren, das Phänomen der Radikalisierung findet sich auf dem gesamten Staatsgebiet wieder. Man muss also überall aktiv werden. Der im April 2014 verabschiedete Aktionsplan erlaubt es, Verwaltungs- und Präventivmaßnahmen zu erneuern. Das OnlineMeldeportal ist besonders von Familien in Anspruch genommen worden. So konnten zahlreiche Ausreisen verhindert werden. (…) Das Phänomen der Radikalisierung entwickelt sich im Gefängnis weiter, das wissen wir, Sie haben es selbst gesagt. Das ist nichts Neues! Die Justizvollzugsbehörde verstärkt übrigens die Arbeit ihrer eigenen Informationskanäle in enger Zusammenarbeit mit dem Innenministerium. Auch dort müssen wir unsere Anstrengungen erhöhen. In den Gefängnissen arbeiten Imame sowie Geistliche aller Glaubensgemeinschaften. Das ist normal! Aber wir brauchen einen klaren Rahmen für diese Arbeit. Wir müssen auch eine wirkliche Professionalisierung vorantreiben. Schließlich wird vor Ende des Jahres auf der Basis der seit Herbst gesammelten Erfahrungen im Gefängnis von Fresnes die Überwachung von als radikalisiert eingestuften Häftlingen in speziellen Unterkünften innerhalb der Strafvollzugsanstalten organisiert. (…) Ich habe den Innenminister und die Justizministerin gebeten, die rechtlichen Voraussetzungen für die Einführung einer neuen Datenbank zu prüfen. Dann müssen sich Personen, die in Zusammenhang mit terroristischen Handlungen verurteilt sind oder sich terroristischen Kampfgruppen angeschlossen haben, polizeilich anmelden und sich einer Kontrollpflicht unterziehen. (…) Über die gesetzgebenden Texte hinaus werden all diese Vorschläge (…) dem Parlament vorgelegt und dort debattiert. Meine Damen und Herren Abgeordnete, die tragische Prüfung, die wir gerade durchlebt haben, prägt unser Land und unser Bewusstsein. Doch müssen wir in der Lage sein, jedes Mal schnell eine weitsichtige Diagnose des Zustands unserer Gesellschaft und ihrer Bedürfnisse zu erstellen. Das sind die Debatten, die zu führen wir ganz offensichtlich Gelegenheit haben werden. (…) Das erste Thema, das ganz klar erörtert werden muss, ist der Kampf gegen den Antisemitismus. Wie die Geschichte gezeigt hat, ist erwachender Antisemitismus das Symptom für eine Krise der Demokratie, eine Krise der Republik. (…) Antisemitische Taten nehmen in Frankreich auf 4 inakzeptable Weise zu. (…) Es gibt diese ungeheure Sorge, diese Angst, die in der Menge am Samstag vor dem koscheren Supermarkt an der Porte de Vincennes oder am Sonntagabend in der Synagoge La Victoire alle gespürt, ja gefühlt haben. Wie kann man hinnehmen, dass in Frankreich – vor zwei Jahrhunderten das Land der Befreiung der Juden, aber vor 70 Jahren auch ein Land des Martyriums der Juden – wie kann man da hinnehmen, auf den Straßen Rufe wie „Tod den Juden“ zu hören? (…) Wie kann man es hinnehmen, dass Franzosen ermordet werden, weil sie jüdisch sind? Wie kann man hinnehmen, dass Landsleute, dass ein tunesischer Bürger, den sein Vater nach Frankreich geschickt hatte, damit er in Sicherheit ist, beim Brotholen für den Sabbat stirbt, weil er jüdisch ist? Das ist nicht hinnehmbar, und der nationalen Gemeinschaft, die vielleicht nicht ausreichend reagiert hat, unseren jüdischen französischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern sage ich, dass wir das diesmal nicht hinnehmen können, dass wir uns auch hier erheben und die richtigen Schlüsse daraus ziehen müssen. Es gibt einen Antisemitismus, der historisch genannt wird und der viele Jahrhunderte zurück reicht. Es gibt aber auch diesen neuen Antisemitismus, der in unseren Städten entstanden ist, gefördert durch das Internet, das Satellitenfernsehen, das Elend, durch die Verabscheuung des Staates Israel; einen Antisemitismus, der den Hass auf alles Jüdische und alle Juden predigt. Man muss das sagen, man muss es deutlich aussprechen, um diesen nicht hinnehmbaren Antisemitismus zu bekämpfen! Und wie ich bereits Gelegenheit hatte zu sagen: Ohne die Juden Frankreichs wäre Frankreich nicht mehr Frankreich. Und es ist an uns allen, diese Botschaft laut und vernehmbar zu verkünden. Das haben wir nicht gemacht. Wir haben uns nicht genug empört! Und wie kann man hinnehmen, dass in manchen Schulen nicht gelehrt werden kann, was die Shoah war? Wie kann man hinnehmen, dass ein Kind von sieben, acht Jahren seinem Lehrer auf die Frage, wer sein Feind sei, antwortet: „der Jude“? Wenn man die Juden Frankreichs angreift, so greift man Frankreich an und das universelle Bewusstsein, vergessen wir das nie! (…) Die Justiz muss gegenüber den Hasspredigern unerbittlich sein! Ich sage das hier in der Nationalversammlung mit Nachdruck! (…) Der andere drängende Punkt ist der Schutz unserer muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Auch sie sind besorgt. In den letzten Tagen wurden wieder unzulässige, inakzeptable Taten gegen Muslime verübt. (…) Der Islam ist die zweitgrößte Religion Frankreichs. Er gehört zu Frankreich. Und unsere Herausforderung, nicht nur in Frankreich, sondern in der ganzen Welt besteht darin zu zeigen: Die Republik, die Laizität, die Gleichheit zwischen Männern und Frauen sind vereinbar mit allen Religionen in unserem Land, die den Grundsätzen und Werten der Republik zustimmen. Doch diese Republik muss die größte Entschlossenheit, die größte Unnachgiebigkeit gegenüber jenen unter Beweis stellen, die im Namen des Islam versuchen, eine Decke aus Blei über manchen Stadtvierteln auszubreiten und mit Hilfe von illegalen Geschäften und religiösem Radikalismus eine Ordnung durchzusetzen, in der die Frau vom Mann beherrscht wird und der Glaube über die Vernunft siegt. (…) Es ist nicht eine Debatte zwischen dem Islam und der Gesellschaft. Es ist vielmehr eine Debatte innerhalb des Islam; eine Debatte, die der Islam in Frankreich in den eigenen Reihen führen muss, mit Unterstützung der Religionsverantwortlichen, der Intellektuellen, der Muslime, die uns seit mehreren Tagen sagen, dass sie Angst haben. Ich sagte bereits, dass ich, wie Sie alle, französische Freunde muslimischer Konfession und Kultur habe. Einer meiner engsten Freunde sagte mir neulich, und er hatte dabei Tränen und Trauer in den Augen, dass er sich schäme Muslim zu sein. Nun, ich will nicht mehr, dass es in unserem Land Juden gibt, die Angst haben. Und ich will nicht, dass es Muslime gibt, die sich schämen. Denn die Republik ist brüderlich, sie ist großzügig und sie ist für jeden da. Die Antwort auf die Nöte unserer Gesellschaft muss stark und entschlossen lauten: die Republik und ihre Werte. 5 Die Werte, das sind in erster Linie die Laizität als Garant für Einheit und Toleranz. Laizität lernt man natürlich in der Schule; die Schule ist eine ihrer Bastionen. Dort haben alle Kinder der Republik unabhängig von ihrem Glauben und ihrer Herkunft Zugang zu Bildung, Wissen und Kenntnissen. (…) Laizität – weil sie das Herz der Republik und folglich der Schule ist. (…) Laizität, ja Laizität – die Möglichkeit, zu glauben oder nicht zu glauben. Die Erziehung zu Grundwerten muss mehr denn je – auch das ist die Antwort – Frankreichs Kampf sein, angesichts des Angriffs, den wir erlebt haben. (…) Im Grunde zählt nur eines, nämlich dem Geist vom 11. Januar 2015 treu zu bleiben. Diesem Augenblick, in dem Frankreich nach dem Schock „Nein“ gesagt hat in dieser spontanen Bewegung nationaler Einheit. (…) Frankreich – das ist der Geist der Aufklärung. Frankreich – das ist das demokratische Element. Frankreich – das ist die tief verwurzelte Republik. Frankreich – das ist eine unbeugsame Freiheit. Frankreich – das ist die Eroberung der Gleichheit. Frankreich – das ist der Durst nach Brüderlichkeit. Frankreich – das ist auch diese so einzigartige Mischung aus Würde, Frechheit und Eleganz. Dem Geist des 11. Januar 2015 treu bleiben heißt auch, diese Werte in sich zu tragen. (…) Wir werden, so hoffe ich, diesen Geist wie ein glühendes Feuer schüren und uns auf die Kraft seiner einigenden Botschaft stützen. (…)