Phenazin und 5,10-Dihydrophenazin 97 Phenazin und 5,10-Dihydrophenazin 7.4 Um die strukturbestimmten Eigenschaften von Phenazinmolekülen in supramolekularen Verbindungen besser verstehen zu können, wurden auch die beiden literaturbekannten CT-Komplexe des Phenazins mit 5,10- Dihydrophenazin (1 : 1 bzw. 3 : 1) in die Untersuchungen dieser Arbeit aufgenommen. Beschrieben sind von ihnen die IR- und UV/Vis-Spektren.[40,41] Angaben zur ESR-Aktivität sowie den Kristallstrukturen, mit Ausnahme des Pulverdiffraktogramms, sind nicht vorhanden. [32,77-80] Da auch die Struktur der zweiten Komponente in den Kokristallen, die des 5,10-Dihydrophenazins, bislang nicht beschrieben ist, wurde sie bestimmt und damit einer vergleichenden Diskussion zugänglich gemacht. 7.4.1 5,10-Dihydrophenazin 5,10-Dihydrophenazin kann durch Reduktion des Phenazins unter Schutzgas mit Natriumdithionit erhalten werden. Aus der unter Schutzgas durchgeführten Kristallisation in Methanol wurden kleine quadratische, hellgrüne Kristalle erhalten, deren Schmelzpunkt im abgeschmolzenen Röhrchen bei 315 °C liegt. Die signifikantesten IR-Banden in den selbst gemessenen Spektren sind die NH-Valenzschwingung bei 3383 cm-1 und die C-NH-C-Schwingung bei 1300 cm-1. Sie werden in der Literatur mit 3407 bzw. 3400 und 1300 cm -1 angegeben.[40,41] Das UV/Vis-Spektrum ist geringfügig kurzwelliger als das des Phenazins, die Bandenmaxima liegen bei 248 und 368 nm. Die Raumgruppe des 5,10-Dihydrophenazins ist Pbca. Im Kristallgitter liegt 5,10-Dihydrophenazin in der Butterfly-Struktur vor, wobei der Winkel zwischen den beiden Phenylringen mit 160.5° etwas gößer ist, als der des zentralen 1,4-Dihydropyrazinrings mit 154.3° (Abb. 7.4.1.1). Die Csp2-Nsp3-Bindungen haben typische Bindungslängen von 140.0/140.5 pm.[81] 98 Kapitel 7.4.1 Abb. 7.4.1.1: Butterfly-Struktur des 5,10-Dihydrophenanzins. Zwischen den 5,10-Dihydrophenazinmolekülen in Abbildung 7.4.1.2.a gibt es innerhalb der zickzackartigen Ketten starke H-Brücken mit einem NNAbstand von 333.3 pm ( = 173.1°). Interessant ist, daß jedes bifunktionelle 5,10-Dihydrophenazinmolekül nicht als zweifacher H-Brückendonor fungiert, sondern jeweils nur einmal als H-Donor und –Akzeptor. Zwischen den Phenylringen in einer Kette besteht ein kurzer Csp2-HCsp2-Kontakt von 253.4 pm ( = 169.3°) und ein längerer von 289.8 pm ( = 176.5°), (Abb. 7.4.1.2.b). a) b) Abb. 7.4.1.2: a) Anordnung der treppenartig, übereinandergestapelten Ketten des 5,10-Dihydrophenazins, die untereinander über N-HCsp2- und Csp2-HN-Wechselwirkungen verfügen; b) Csp2-HCsp2-Kontakte zwischen 5,10Dihydrophenazinmolekülen in den N-HN verbrückten Ketten. Phenazin und 5,10-Dihydrophenazin 99 Untereinander sind die treppenartigen Ketten jeweils um etwa einen Phenylring seitlich versetzt, so daß zwischen zwei Molekülen benachbarter Ketten eine N-HCsp2-Brücke mit 272.7 pm ( = 163.9°) und ein Csp2-HN-Kontakt mit 265.8 pm ( = 161.5°) ausgebildet werden können (Abb. 7.4.1.2.a). Die N-H-Gruppe des 5,10-Dihydrophenazinsmoleküls, die als starker H-Brückenakzeptor in der NHN-Brücke fungiert, ist also auch als Donor an einer schwächeren N-HCsp2Wechselwirkung beteiligt. Insgesamt tritt diese bifunktionelle Verbindung mit vier sie umgebenden 5,10-Dihydrophenazinmolekülen über zwei starke N-HN-Brücken, zwei schwächere N-HCsp2- und sechs schwachen Csp2-HCsp2-Kontakten in Wechselwirkung. Es stellt sich die Frage, ob 5,10-Dihydrophenazin nur durch Packungseffekte an den Stickstoffatomen sp3-hybridisiert ist, oder ob dies auch der Grundzustand in Lösung bzw. in der Gasphase ist. Die ab initio-Rechnung (B3LYP/6-31G*) ergibt zunächst eine minimale Stabilisierung der ButterflyStruktur, mit Dipolmoment ( = 0.68 D), von –0.33 kcalmol-1 gegenüber der planaren. Unter Einbeziehung der Nullpunktskorrektur sowie bei 298 K und 1 bar ist die planare Struktur wieder die günstigste Konformation. Insgesamt sind die Energieunterschiede nicht größer als 0.5 kcalmol-1. Die Wechselwirkungen im Kristall scheinen diesen Energieunterschied zu kompensieren, so daß die Stickstoffatome des 5,10-Dihydrophenazins aus der planaren sp2- in die gewinkelte sp3-Hybridisierung übergehen. 7.4.2 Das Phenazin und 5,10-Dihydrophenazin (1 : 1) tiefblaue Pulver dieses CT-Komplexes bildet sich schon beim Zusammengießen der äquimolaren, unter Argon getrennt dargestellten 100 Kapitel 7.4.2 Lösungen beider Verbindungen. Der Schmelzpunkt des Kokristalls befindet sich mit 232 °C zwischen denen der beiden Einzelkomponenten. Die Lage und Strukturierung der Bande der NH-Valenzschwingung hat sich im Kokristall stark verändert. Die scharfe Bande bei 3383 cm -1 im Spektrum des 5,10Dihydrophenazins ist beim Kokristall breiter und zu kleineren Wellenzahlen auf 3261 cm-1 erniedrigt. Die C-NH-C-Schwingung bei 1300 cm-1 und auch die C=C-Valenzschwingungsbande bei 1611 cm-1 des 5,10-Dihydrophenazins sind im IR-Spektrum des Kokristalls weiterhin vertreten.[40] Das UV/VisA-Spektrum des Kokristalls unterscheidet sich im Vis-Bereich deutlich von denen der Einzelkomponenten. Ab 450 nm bis weit über 1000 nm erstreckt sich eine intensive CT-Bande, die ihr Maximum bei 681 nm besitzt (Abb. 7.4.2.1).[41] Unter Bestrahlung (Hg/Xe-Hochdrucklampe, 1 kW, UG5-Filter) verändert sich das Spektrum nicht. Abs. 1.0 0.8 0.6 0.4 0.2 0.0 300 400 500 600 700 800 [nm] Abb. 7.4.2.1: UV/VisA-Spektren: — Kokristall aus Phenazin und 5,10-Dihydrophenazin (1 : 1) und — Phenazin in Kaliumbromid. Die unbestrahlten sowie die bestrahlten Kristalle sind diamagnetisch. Die von Gehrke[82] untersuchte Kristallstruktur mit der Raumgruppe I2 weist sehr interessante Eigenheiten auf. Obwohl der Kristall zu gleichen Teilen aus Phenazin und 5,10-Dihydrophenazin besteht, wird in der asymmetrischen Einheit nur ein halbes 5,10-Dihydrophenazinmolekül gefunden. Diese Phenazin und 5,10-Dihydrophenazin 101 Fehlordnung der N-H-Wasserstoffatome wird durch eine Domänenfehlordnung im Kokristall verursacht. In beiden Domänen sind die Phenazin- und 5,10-Dihydrophenazinmoleküle über N-HN-Brücken, deren NN-Abstand 307.6 pm ist, verknüpft ( = 163.0°). Dabei befinden sich die H-brückengebundenen planaren Moleküle nicht in einer Ebene, sondern sind jeweils an der H-Brücke um 68.0° gegeneinander verdreht (Abb. 7.4.2.2). Die linearen X-förmigen Ketten treten über eine kurze Csp2-H-Brücke, deren Abstand 262.2 pm beträgt, mit einem Phenylring eines 5,10-Dihydrophenazinmoleküls in einer benachbarten Ketten in Wechselwirkung ( = 143.2°). Abb. 7.4.2.2: Ausschnitt aus der Struktur des 1 : 1-Kokristalls aus Phenazin und 5,10-Dihydrophenazin mit Sicht auf die X-förmigen Ketten in Blickrichtung der aAchse. Die coplanaren Moleküle direkt übereinanderliegender Ketten bilden eine offset face-to-face-Anordnung, so daß die Pyrazin-Centroide mit 623.4 pm relativ weit voneinander entfernt sind. 102 Kapitel 7.4.3 7.4.3 Phenazin und 5,10-Dihydrophenazin (3 : 1)[83] Der violette Kokristall scheidet sich als Pulver beim Zusammengießen der beiden entsprechend zusammengesetzten methanolischen, unter Argon dargestellten, Lösungen ab. Beim Umkristallisieren der im Verhältnis von 3 : 1 aus Phenazin und 5,10-Dihydrophenazin bestehenden Kokristalle aus Methanol unter Schutzgas wurden kleine Nadeln erhalten. Der Schmelzpunkt ist mit 218 °C niedriger, als der des 1 : 1-Komplexes, da auch der Anteil der niedrigschmelzenden Komponente zugenommen hat. Das IR-Spektrum entspricht dem des 1 : 1-Komplexes. Unterschiede gibt es nur bei den Intensitäten einiger Banden. Das Maximum der CT-Bande dieses Kokristalls liegt bei 552 nm (Abb. 7.4.3.1). In der Literatur wird es mit 555 nm angegeben.[41] Die verbleibenden Banden im Spektrum liegen bei 250 und 375 nm mit Schultern bei 272 und 324 nm. Abs. 1.0 0.8 0.6 0.4 0.2 0.0 300 400 500 600 700 800 [nm] Abb. 7.4.3.1: UV/VisA-Spektren: — 3 : 1-Kokristall aus Phenazin und 5,10- Dihydrophenazin und — Phenazin in Kaliumbromid. Die Raumgruppe des Kokristalls ist P1, d.h. das Kristallgitter ist zentrosymmetrisch. Die Zusammensetzung von 3 : 1 ergibt sich aus der Verknüpfung von drei übereinandergestapelten Phenazinmolekülen über ein fast senkrecht zwischen diesen Stapelabschnitten stehendes 5,10- Phenazin und 5,10-Dihydrophenazin 103 Dihydrophenazinmolekül Molekülebenen Zuordnung von beider (Abb. 7.4.3.2). Verbindungen Phenazin und Der beträgt Winkel zwischen 68.9°. 5,10-Dihydrophenazin Die kann den eindeutige über die charakteristischen C-N-Bindungslängen erfolgen. In den Molekülstapeln liegen sie um 134 pm und in den dazu senkrecht stehenden Molekülen bei 138.3 bzw. 139.3 pm. Im 5,10-Dihydrophenazin ist die C-Nsp3-Bindungslänge 140.7 bzw. 140.0 pm und im Phenazin 133.9 bzw. 134.2 pm.[38] Das Außergewöhnliche dieser Struktur ist, daß hier drei Phenazinmoleküle in Dreierpäckchen über das in diesem Kokristall auf jeder Seite dreizähnige 5,10Dihydrophenazin fixiert werden (Abb. 7.4.3.2). Insgesamt gehen also sechs HBrücken vom 5,10-Dihydrophenazin aus. Es bildet auf jeder Seite zwei Csp2HN- und eine N-HN-Brücke zu sechs Phenazinmolekülen aus. Die beiden Csp2-HN-Brücken sind 258.3 bzw. 248.0 pm lang ( = 138.1°/149.4°) und der HN-Abstand in der N-HN-Brücke beträgt 227.6 pm ( = 174.1°, dNN = 313.2 pm). Da die HH-Abstände in der tridentalen Einheit des 5,10- Dihydrophenazins zu gering für die --Abstände der Phenazinmoleküle sind, werden diese über stärker gewinkelte C-HN-Brücken gebunden. Innerhalb der Phenazinstapel werden aus drei Phenazinmolekülen bestehende Untereinheiten gebildet, zwischen denen jeweils ein Inversionszentrum liegt. 104 Kapitel 7.4.3 Abb. 7.4.3.2: Seitliche Ansicht auf die aus drei Phenazinmolekülen bestehenden Untereinheiten in den Phenazinstapeln und auf Motiv I zwischen den 5,10Dihydrophenazinmolekülen. Obwohl die molekulare Erkennung über mehrzähnige Rezeptormoleküle im Bereich der Selbstorganisation und in der Supramolekularen Chemie mit großem Interesse untersucht wird, basiert die überwiegende Anzahl der literaturbeschriebenen Strukturen auf starken H-Brücken.[84] Die hier beschriebene Struktur zeigt eine neuartige tridentale Erkennung mit einigen Besonderheiten. Erstens werden drei H-Brücken von den auf einer Molekülseite befindlichen Donorgruppen zu drei Molekülen ausgebildet und zweitens sind neben der starken N-HN-Brücke noch zwei schwache C-HN-Brücken beteiligt.[85] Für den nur über N-HNBrücken gebunden Kokristall der beiden Verbindungen würde eine Zusammensetzung von 1 : 1 erwartet, die auch tatsächlich realisiert wird (Kap. 7.4.2). Ein weiterer interessanter Aspekt dieser Struktur ist die seitliche Verschiebung der beschriebenen Untereinheiten (Abb. 7.4.3.2). Der Grund für diese Versetzung liegt in der relativen Anordnung der Wasserstoffatome an der kurzen Molekülseite (H2,3,8,9) nebeneinander liegender 5,10- Dihydrophenazinmoleküle (Abb. 7.4.3.2, Motiv I). Bekannte Wechselwirkungen zwischen Aromaten sind die face-to-face- und die edge-to-face-Stapelung.[14,37,86] Die hier beschriebene Struktur enthält edge-to-edge-Wechselwirkungen zwischen aromatischen Systemen und wurde unseres Wissens bisher nicht beschrieben.[83] Die Suche in der Cambridge Structural Database (CSD) führte zu einer kleinen Anzahl von Strukturen, die dieses Motiv enthalten.[87] Da eine Beteiligung dieser Wasserstoffatome an elektrostatischen Wechselwirkungen nicht unbekannt ist, könnten sie auch hier an der Ausbildung dieses Motivs mitwirken. Das in der Butterfly-Struktur kristallisierende 5,10-Dihydrophenazin ist im Kokristall in die planare Konformation übergegangen. An ihm werden auf jeder Seite der Molekülebene zwei zusätzliche 280.8 und 293.0 pm lange Csp2- Phenazin und 5,10-Dihydrophenazin 105 HN-Kontakte ( = 145.6°, 149.7°) beobachtet (Abb. 7.4.3.3). Ausgebildet werden sie von den beiden Wasserstoffatomen an der kurzen Molekülseite des mittleren Phenazinmoleküls in den Dreierpäckchen. Abb. 7.4.3.3: Csp2-HN-Kontakte, der Wasserstoffatome an der kurzen Molekülseite des mittleren Phenazinmoleküls in den Untereinheiten zu 5,10Dihydrophenazinmolekülen. Das Beispiel dieser Struktur zeigt eine außergewöhnlich effektive Nutzung aller zur Verfügung stehenden intermolekularen Wechselwirkungen. Jedes 5,10Dihydrophenazinmolekül ungewöhnlich hohe benachbarten H-Brücken, sechs hat eine für Koordinationszahl, organische denn Molekülen edge-to-face es tritt Verbindungen mit über und und zwei vierzehn sechs edge-to-edge- Wechselwirkungen in Kontakt. 7.4.4 Vergleichende Betrachtungen der Strukturen Durch die Wahl der bei der Kristallisation eingesetzten Verhältnisse beider Verbindungen kann die Zusammensetzung in den Kokristallen und damit die 106 Kapitel 7.4.4 Struktur bestimmt werden. Im 1 : 1-Kokristall wird die Struktur von N-HNBrücken und -Stapelwechselwirkungen dominiert, während im 3 : 1-Kristall neben diesen Wechselwirkungen auch viele schwächere Csp2-HN-Brücken die Struktur mitbestimmen. Die zusätzliche Mitwirkung dieser von 5,10-Dihydrophenazin ausgehenden Csp2-HN-Brücken ermöglicht die Koordination von drei Phenazinmolekülen statt einem, wie im 1 : 1-Kokristall. Eine weitere Besonderheit, die die Struktur des 3 : 1-Kokristalls beinhaltet, sind die bisher nicht beschriebenen edge-to-edge-Wechselwirkungen zwischen Wasserstoffatomen aromatischer Systeme. Die Gesamtheit dieser schwachen Wechselwirkungen im 3 : 1-Kokristall ermöglicht die ungewöhnlich hohe Anzahl von vierzehn, dem 5,10-Dihydrophenazin benachbarten Molekülen.