http://www.prof-jens-weidner.de/ Zivilcourage kann man lernen ! Unfaßbar, aber wahr: eine junge Frau wird in einer Hamburger S-Bahn vergewaltigt und keiner der Fahrgäste hilft. Schweigend wird die Mißhandlung ignoriert. Die hohen S-Bahn Sitzlehnen versperren die Sicht auf Täter und Opfer. Augenkontakt besteht nicht. Das scheint zu reichen, das scheint Gewissensberuhigung genug zu ermöglichen, um nicht eingreifen zu müssen. "Misch Dich nicht ein", "das geht Dich nichts an" spukte es durch die Köpfe der passiven Reisenden. Ein Extrembeispiel ? Fakt ist: Das Wort Zivilcourage gilt nicht gerade als typisch deutsch. Das sollte sich ändern, denn Hilfe wäre bei dieser jungen Frau so einfach gewesen: Am nächsten Bahnhof die Notbremse ziehen, andere Fahrgäste direkt ansprechen und laut um Hilfe und Unterstützung bitten - vor allem: Sich nicht bei der ersten Abfuhr bei der Suche nach Hilfe entmutigen oder gar frustrieren lassen, sondern denken: "Ich engagiere mich für eine gute Sache! Ich versuche zu helfen! So bin ich! Das ist meine Identität!".Und weiter: "Beobachten - Merken - Melden", so die Empfehlung der Polizei oder mit den Worten des Hamburger Aufschreis für Zivilcourage: "Hinsehen - Hinhören - Handeln!" Tatsache ist: Die Fähigkeit zur Zivilcourage schafft Selbstvertrauen. Man frißt eben nicht alles in sich hinein. Und das tut gut! Zivilisation ist auf Zivilcourage und Anteilnahme angewiesen. Denn Opfer wird man meist allein, nicht in der Clique! Zivilcourage bedeutet, sich bewußt und laut ins Leben anderer (im positiven Sinne) einzumischen. Es bedeutet, den nächsten Bus oder Intercity zu verpassen, zu spät zur Arbeit zu kommen, eventuell vor Gericht als Zeuge zu erscheinen, kurz: Unruhe und Extraaufwand. Und auf den Dank der Umwelt sollte man nicht setzen. "Selbst Schuld" lautet der Kommentar gegenüber einem Helfer, der ein blaues Auge davontrug. Zivilcourage scheint uneigennützig. Man hat vordergründig nichts davon – scheinbar ein Mangel in unserer Kosten-NutzenGesellschaft. Warum diese Passivität, dieses Defizit an Hilfsbereitschaft in einem Deutschland, das sich gleichzeitig als "Spenden-Weltmeister" begreifen darf ? Folgende Gründe scheinen maßgeblich zu sein: 1. Die hohe Professionalität in Deutschland provoziert einen übertriebenen Glauben an die Spezialistengesellschaft, in der ein Tatzeuge nicht einmal nach Hilfe telefoniert - weil er staunend auf die wohl bald eintreffenden Spezialisten wartet, anstatt einzugreifen. 2. In der deutschen Medien- und Kommunikationsgesellschaft empfinden sich viele Menschen am Bildschirm "zu Hause" und fühlen sich beim alltäglichen Konflikt "im falschen Film", so ein Hilfeverweigerer im Nachgespräch. 3. Dazu kommt ein Zeitphänomen und das heißt: Cool sein, auch in Streßsituationen. Nur keine Betroffenheit zeigen, sondern Selbstkontrolle demonstrieren. Auf jeden Fall: Keine Fehler machen! Eine Zurückhaltung, die dem potentiellen Opfer kaum helfen kann. 4. Zivilcourage bedeutet klar Partei ergreifen für die Verlierer, für die Schwachen, die Opfer. Die Wettbewerbs- und Ellenbogengesellschaft bewundert aber die Starken, die Gewinner, die, die sich durchbeißen. Zu den Loosern zählt man sich ungern: "Ich weiß gar nicht, ob der meine Unterstützung verdient hätte", so ein Hilfeverweigerer. Resümee: Zivilcourage verlangt viel vom Individuum, zu aller erst die Überwindung des eigenen Fluchtinstinkts, der uns in Konfliktsituationen signalisiert: "Hau schnell ab hier, das riecht nach Ärger!" Aber Zivilcourage hat auch etwas zu bieten, nichts Materielles, vielmehr die Gewißheit, etwas Gutes getan zu haben, stolz in den Spiegel schauen zu können. Zivilcourage ist eine moralisch hoch einzustufende Handlungskompetenz mit einem großen Vorteil: Menschen mit Zivilcourage beschreiben sich selbst als selbstbewußt und durchsetzungsstark. Vor allem, sie nutzen diese Eigenschaften dann auch positiv in Privatleben und Beruf. Einfach formuliert: Zivilcouragierte Menschen sind erfolgreicher, denn sie beziehen Position – auch im Konfliktfall. Und das macht doch Hoffnung ! Mut zum Handeln -- Zivilcourage kann man lernen Von Barbara Weichs Hamburg/München (ddp). Der Mut, die eigene Meinung auch gegen Widerstände zu vertreten - so definiert Langenscheidts Fremdwörterbuch Zivilcourage. Die meisten Menschen verstehen unter dem Begriff aber etwas anderes: "Sie setzen couragiertes Handeln gleich mit Eingreifen, den Täter platt machen und sich selbst eventuell auch Verletzungen zuziehen, weil sie der Situation nicht gewachsen waren", erklärt Günther Hansen, Leiter des Hamburger Vereins "Initiative Schutz vor Kriminalität". Der Grund hierfür liege darin, dass zwar Zivilcourage von der Politik gefordert werde, die Menschen aber keine Idee haben, was damit gemeint sei. "In unserer Gesellschaft lernt man einfach nicht, was couragiertes Handeln auszeichnet." Meistens genügt es, und da sind sich Experten einig, sich ohne direktes Eingreifen in die Konfliktsituation solidarisch mit dem Opfer zu zeigen, dem Täter deutlich machen, dass die Umstehenden sein Verhalten nicht dulden. So einfach das klingt, so schwer sind diese Forderungen aber in die Tat umzusetzen. "Werden Menschen mit beunruhigenden Situationen konfrontiert, läuft im Kopf ein immer gleiches Muster ab: 'Hier riecht's nach Ärger, bloß schnell weg!'", sagt Jens Weidner, Professor für Erziehungswissenschaften und Kriminologie in Hamburg. Wer statt dessen couragiert Handeln möchte, müsse bewusst gegen diesen natürlichen archaischen Fluchtwunsch ankämpfen. "Zivilcourage praktizieren heißt, die eigene Angst unterdrücken, sich Ärger aufhalsen oder auch mal den Bus verpassen", erläutert Weidner. Stelle man sich aber schwierigen Konfliktsituationen, steige das Selbstvertrauen und man erfahre, dass solches Handeln nicht an einen Zwei-Meter-Mann gebunden ist. Eine weitere Ursache für Zurückhaltung liegt in der Angst vieler, eine Situation nicht richtig einschätzen zu können. "Streiten ein Mann und eine Frau in der U-Bahn, wirkt das wie eine private Auseinandersetzung", sagt Katharina Kiel, Mitarbeiterin und Trainerin bei der "Initiative Schutz vor Kriminalität". Viele hätten Hemmungen sich einzumischen und dächten 'Die bitten mich ja gar nicht um Hilfe' oder 'Die anderen beobachten das auch, die könnten doch helfen'. Die Verantwortung werde so weiter geschoben. Außerdem, so die Expertin, darf die Angst vor einer peinlichen Situation nicht unterschätzt werden: "Sobald Sie aufstehen, ziehen Sie alle Blicke auf sich. Werden Sie dann abgewiesen, stehen Sie als Blöder im Mittelpunkt." Diese Schmach, erläutert auch Weidner, hemmt viele Menschen in unserer erfolgsorientierten Gesellschaft: "Zivilcourage bedeutet eine Abkehr von unserem Kosten-Nutzen-Denken, man ergreift Partei für einen Looser, hat keinen Gewinn davon und bekommt oft nicht einmal Dank dafür." Außerdem zeigten Studien, dass in Deutschland ein übertriebener Glaube an Spezialistentum herrsche. "Passiert irgendwas, denken die Leute häufig, dass Zuständige wie zum Beispiel ein Einsatzkommando der Polizei oder das Rote Kreuz schon zu Hilfe kommen werden", sagt Weidner. Viele meinen auch, sie sehen Dreharbeiten für einen Actionfilm und der Fernsehkommissar biegt gleich um die Ecke. Doch die meisten Menschen unterließen nicht aus böser Absicht Hilfe: "Sie sind ganz einfach von der Situation überrascht." Neben dem natürlichen Fluchtwunsch müssten zwei weitere kulturelle Normen überwunden werden. "Schon als Kind bekommen wir ja immer wieder gepredigt, dass man sich nicht einmischen und in der Öffentlichkeit produzieren soll", weiß der Erziehungswissenschaftler. Wer also couragiert Handeln möchte, muss zuerst diese Prägungen überdenken und ablegen. "Viele Menschen glauben, dass in Konfliktsituationen nur Gewalt eine Lösung bringe", erklärt Hansen, der zusammen mit seiner Partnerin Kiel seit 1984 Anti-Gewalt-Trainings anbietet. "Unser Ziel ist es hingegen, den Seminarteilnehmern Strategien aufzuzeigen, wie sie helfen können, ohne Gewalt anzuwenden und sich selbst in Gefahr zu bringe." Selbstverteidigungsseminare sind in den Augen der beiden Experten nicht das geeignete Training: Sie könnten zwar positive Signale für die Körpersprache setzen, die eingeübten Griffe würden aber im entscheidenden Moment oft vergessen werden. "Viele wiegen sich in trügerischer Selbstsicherheit", sagt Kiel. Die Seminare der beiden Trainer setzen andere Schwerpunkte. In Rollenspielen schlüpfen die Teilnehmer in Opfer- und Täterrolle, analysieren ihre Ängste, schulen ihre Wahrnehmung für brenzlige Situationen und üben richtiges Verhalten. "Unser Tipp: Schaffen Sie Öffentlichkeit", rät Dieter Mutz, stellvertretender Kommissariatsleiter der Münchner Präventionsdiensstelle. "Erheben Sie Ihre Stimme und bieten Sie dem Opfer an, dass es sich neben Sie setzen kann, wenn es belästigt wird. Sind Sie selbst das Opfer, sprechen Sie Passanten an und weisen Sie daraufhin, dass Sie belästigt werden oder treten Sie aus der Gefahrenzone heraus." Den Angreifer bringe man meist aus dem Konzept, wenn man ihn darauf hinweist, dass die Polizei schon informiert und unterwegs sei. Das Ziel dieser Maßnahmen ist laut Mutz, die Situation für den Täter unübersichtlich zu machen, sein Drehbuch zu unterbrechen, ihn zu stören. "Signalisieren Sie dabei aber immer aus einer gewissen räumlichen Distanz heraus, dass Sie das Geschehen bemerkt haben", empfiehlt der Kriminalhauptkommissar. So konfrontierten sich Helfer nicht direkt mit dem Täter, sondern nehmen eine neutraler Position ein, und können auch schneller fliehen. Ausnahme sei, wenn sich das Opfer bereits in einer lebensgefährlichen Situation befinde, weil es zum Beispiel am Boden liegt und mit Tritten malträtiert wird. "Sprechen Sie andere Umstehende an und greifen Sie ein", sagt Mutz. Grundsätzlich zeigen extrovertierte Menschen eher Zivilcourage als andere. "Sie haben meist eine lautere Stimme und weniger Scheu, in der Öffentlichkeit aufzufallen", erläutert Kriminologe Weidner. Wer rund 80 Prozent Einfühlungsvermögen plus 20 Prozent positive Aggression und Biss habe, erfülle die besten Voraussetzungen für Zivilcourage. Wichtig sei es außerdem, Kindern ein Vorbild zu geben und ihre Wahrnehmung für kritische Situationen zu schärfen. Positive Signale setzt in den Augen Weidners auch die Bewegung der political correctness: "Treten wichtige Peronen des öffentlichen Lebens als eine Art Lautsprecher der Nation mit der Aufforderung zum Handeln auf, fühlen sich viele Menschen tatsächlich davon angesprochen."