Sozialkompetenz/Zivilcourage kann man lernen

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Zivilcourage kann man lernen !
Unfaßbar, aber wahr: eine junge Frau wird in einer Hamburger S-Bahn vergewaltigt und keiner der
Fahrgäste hilft. Schweigend wird die Mißhandlung ignoriert. Die hohen S-Bahn Sitzlehnen versperren
die Sicht auf Täter und Opfer. Augenkontakt besteht nicht. Das scheint zu reichen, das scheint
Gewissensberuhigung genug zu ermöglichen, um nicht eingreifen zu müssen. "Misch Dich nicht ein",
"das geht Dich nichts an" spukte es durch die Köpfe der passiven Reisenden. Ein Extrembeispiel ?
Fakt ist: Das Wort Zivilcourage gilt nicht gerade als typisch deutsch. Das sollte sich ändern, denn
Hilfe wäre bei dieser jungen Frau so einfach gewesen: Am nächsten Bahnhof die Notbremse ziehen,
andere Fahrgäste direkt ansprechen und laut um Hilfe und Unterstützung bitten - vor allem: Sich nicht
bei der ersten Abfuhr bei der Suche nach Hilfe entmutigen oder gar frustrieren lassen, sondern
denken: "Ich engagiere mich für eine gute Sache! Ich versuche zu helfen! So bin ich! Das ist meine
Identität!".Und weiter: "Beobachten - Merken - Melden", so die Empfehlung der Polizei oder mit den
Worten des Hamburger Aufschreis für Zivilcourage: "Hinsehen - Hinhören - Handeln!"
Tatsache ist: Die Fähigkeit zur Zivilcourage schafft Selbstvertrauen. Man frißt eben nicht alles in sich
hinein. Und das tut gut! Zivilisation ist auf Zivilcourage und Anteilnahme angewiesen. Denn Opfer wird
man meist allein, nicht in der Clique! Zivilcourage bedeutet, sich bewußt und laut ins Leben
anderer (im positiven Sinne) einzumischen. Es bedeutet, den nächsten Bus oder Intercity zu
verpassen, zu spät zur Arbeit zu kommen, eventuell vor Gericht als Zeuge zu erscheinen, kurz:
Unruhe und Extraaufwand. Und auf den Dank der Umwelt sollte man nicht setzen. "Selbst Schuld"
lautet der Kommentar gegenüber einem Helfer, der ein blaues Auge davontrug. Zivilcourage scheint
uneigennützig. Man hat vordergründig nichts davon – scheinbar ein Mangel in unserer Kosten-NutzenGesellschaft.
Warum diese Passivität, dieses Defizit an Hilfsbereitschaft in einem Deutschland, das sich gleichzeitig
als "Spenden-Weltmeister" begreifen darf ? Folgende Gründe scheinen maßgeblich zu sein:
1. Die hohe Professionalität in Deutschland provoziert einen übertriebenen Glauben an die
Spezialistengesellschaft, in der ein Tatzeuge nicht einmal nach Hilfe telefoniert - weil er
staunend auf die wohl bald eintreffenden Spezialisten wartet, anstatt einzugreifen.
2. In der deutschen Medien- und Kommunikationsgesellschaft empfinden sich viele Menschen
am Bildschirm "zu Hause" und fühlen sich beim alltäglichen Konflikt "im falschen Film", so
ein Hilfeverweigerer im Nachgespräch.
3. Dazu kommt ein Zeitphänomen und das heißt: Cool sein, auch in Streßsituationen. Nur
keine Betroffenheit zeigen, sondern Selbstkontrolle demonstrieren. Auf jeden Fall: Keine
Fehler machen! Eine Zurückhaltung, die dem potentiellen Opfer kaum helfen kann.
4. Zivilcourage bedeutet klar Partei ergreifen für die Verlierer, für die Schwachen, die Opfer.
Die Wettbewerbs- und Ellenbogengesellschaft bewundert aber die Starken, die Gewinner, die,
die sich durchbeißen. Zu den Loosern zählt man sich ungern: "Ich weiß gar nicht, ob der
meine Unterstützung verdient hätte", so ein Hilfeverweigerer.
Resümee: Zivilcourage verlangt viel vom Individuum, zu aller erst die Überwindung des eigenen
Fluchtinstinkts, der uns in Konfliktsituationen signalisiert: "Hau schnell ab hier, das riecht nach
Ärger!"
Aber Zivilcourage hat auch etwas zu bieten, nichts Materielles, vielmehr die Gewißheit, etwas Gutes
getan zu haben, stolz in den Spiegel schauen zu können. Zivilcourage ist eine moralisch hoch
einzustufende Handlungskompetenz mit einem großen Vorteil: Menschen mit Zivilcourage
beschreiben sich selbst als selbstbewußt und durchsetzungsstark. Vor allem, sie nutzen diese
Eigenschaften dann auch positiv in Privatleben und Beruf. Einfach formuliert: Zivilcouragierte
Menschen sind erfolgreicher, denn sie beziehen Position – auch im Konfliktfall. Und das macht doch
Hoffnung !
Mut zum Handeln -- Zivilcourage kann man lernen
Von Barbara Weichs
Hamburg/München (ddp). Der Mut, die eigene Meinung auch gegen Widerstände zu vertreten - so
definiert Langenscheidts Fremdwörterbuch Zivilcourage. Die meisten Menschen verstehen unter dem
Begriff aber etwas anderes: "Sie setzen couragiertes Handeln gleich mit Eingreifen, den Täter platt
machen und sich selbst eventuell auch Verletzungen zuziehen, weil sie der Situation nicht gewachsen
waren", erklärt Günther Hansen, Leiter des Hamburger Vereins "Initiative Schutz vor
Kriminalität". Der Grund hierfür liege darin, dass zwar Zivilcourage von der Politik gefordert werde,
die Menschen aber keine Idee haben, was damit gemeint sei. "In unserer Gesellschaft lernt man
einfach nicht, was couragiertes Handeln auszeichnet." Meistens genügt es, und da sind sich Experten
einig, sich ohne direktes Eingreifen in die Konfliktsituation solidarisch mit dem Opfer zu zeigen, dem
Täter deutlich machen, dass die Umstehenden sein Verhalten nicht dulden.
So einfach das klingt, so schwer sind diese Forderungen aber in die Tat umzusetzen. "Werden
Menschen mit beunruhigenden Situationen konfrontiert, läuft im Kopf ein immer gleiches Muster ab:
'Hier riecht's nach Ärger, bloß schnell weg!'", sagt Jens Weidner, Professor für
Erziehungswissenschaften und Kriminologie in Hamburg. Wer statt dessen couragiert Handeln
möchte, müsse bewusst gegen diesen natürlichen archaischen Fluchtwunsch ankämpfen.
"Zivilcourage praktizieren heißt, die eigene Angst unterdrücken, sich Ärger aufhalsen oder auch mal
den Bus verpassen", erläutert Weidner. Stelle man sich aber schwierigen Konfliktsituationen, steige
das Selbstvertrauen und man erfahre, dass solches Handeln nicht an einen Zwei-Meter-Mann
gebunden ist.
Eine weitere Ursache für Zurückhaltung liegt in der Angst vieler, eine Situation nicht richtig
einschätzen zu können. "Streiten ein Mann und eine Frau in der U-Bahn, wirkt das wie eine private
Auseinandersetzung", sagt Katharina Kiel, Mitarbeiterin und Trainerin bei der "Initiative Schutz
vor Kriminalität". Viele hätten Hemmungen sich einzumischen und dächten 'Die bitten mich ja gar
nicht um Hilfe' oder 'Die anderen beobachten das auch, die könnten doch helfen'. Die Verantwortung
werde so weiter geschoben. Außerdem, so die Expertin, darf die Angst vor einer peinlichen Situation
nicht unterschätzt werden: "Sobald Sie aufstehen, ziehen Sie alle Blicke auf sich. Werden Sie dann
abgewiesen, stehen Sie als Blöder im Mittelpunkt." Diese Schmach, erläutert auch Weidner, hemmt
viele Menschen in unserer erfolgsorientierten Gesellschaft: "Zivilcourage bedeutet eine Abkehr von
unserem Kosten-Nutzen-Denken, man ergreift Partei für einen Looser, hat keinen Gewinn davon und
bekommt oft nicht einmal Dank dafür."
Außerdem zeigten Studien, dass in Deutschland ein übertriebener Glaube an Spezialistentum
herrsche. "Passiert irgendwas, denken die Leute häufig, dass Zuständige wie zum Beispiel ein
Einsatzkommando der Polizei oder das Rote Kreuz schon zu Hilfe kommen werden", sagt Weidner.
Viele meinen auch, sie sehen Dreharbeiten für einen Actionfilm und der Fernsehkommissar biegt
gleich um die Ecke. Doch die meisten Menschen unterließen nicht aus böser Absicht Hilfe: "Sie sind
ganz einfach von der Situation überrascht." Neben dem natürlichen Fluchtwunsch müssten zwei
weitere kulturelle Normen überwunden werden. "Schon als Kind bekommen wir ja immer wieder
gepredigt, dass man sich nicht einmischen und in der Öffentlichkeit produzieren soll", weiß der
Erziehungswissenschaftler.
Wer also couragiert Handeln möchte, muss zuerst diese Prägungen überdenken und ablegen. "Viele
Menschen glauben, dass in Konfliktsituationen nur Gewalt eine Lösung bringe", erklärt Hansen, der
zusammen mit seiner Partnerin Kiel seit 1984 Anti-Gewalt-Trainings anbietet. "Unser Ziel ist es
hingegen, den Seminarteilnehmern Strategien aufzuzeigen, wie sie helfen können, ohne Gewalt
anzuwenden und sich selbst in Gefahr zu bringe." Selbstverteidigungsseminare sind in den Augen der
beiden Experten nicht das geeignete Training: Sie könnten zwar positive Signale für die
Körpersprache setzen, die eingeübten Griffe würden aber im entscheidenden Moment oft vergessen
werden. "Viele wiegen sich in trügerischer Selbstsicherheit", sagt Kiel.
Die Seminare der beiden Trainer setzen andere Schwerpunkte. In Rollenspielen schlüpfen die
Teilnehmer in Opfer- und Täterrolle, analysieren ihre Ängste, schulen ihre Wahrnehmung für brenzlige
Situationen und üben richtiges Verhalten. "Unser Tipp: Schaffen Sie Öffentlichkeit", rät Dieter Mutz,
stellvertretender Kommissariatsleiter der Münchner Präventionsdiensstelle. "Erheben Sie Ihre
Stimme und bieten Sie dem Opfer an, dass es sich neben Sie setzen kann, wenn es belästigt wird.
Sind Sie selbst das Opfer, sprechen Sie Passanten an und weisen Sie daraufhin, dass Sie belästigt
werden oder treten Sie aus der Gefahrenzone heraus."
Den Angreifer bringe man meist aus dem Konzept, wenn man ihn darauf hinweist, dass die Polizei
schon informiert und unterwegs sei. Das Ziel dieser Maßnahmen ist laut Mutz, die Situation für den
Täter unübersichtlich zu machen, sein Drehbuch zu unterbrechen, ihn zu stören. "Signalisieren Sie
dabei aber immer aus einer gewissen räumlichen Distanz heraus, dass Sie das Geschehen bemerkt
haben", empfiehlt der Kriminalhauptkommissar. So konfrontierten sich Helfer nicht direkt mit dem
Täter, sondern nehmen eine neutraler Position ein, und können auch schneller fliehen. Ausnahme sei,
wenn sich das Opfer bereits in einer lebensgefährlichen Situation befinde, weil es zum Beispiel am
Boden liegt und mit Tritten malträtiert wird. "Sprechen Sie andere Umstehende an und greifen Sie
ein", sagt Mutz.
Grundsätzlich zeigen extrovertierte Menschen eher Zivilcourage als andere. "Sie haben meist eine
lautere Stimme und weniger Scheu, in der Öffentlichkeit aufzufallen", erläutert Kriminologe Weidner.
Wer rund 80 Prozent Einfühlungsvermögen plus 20 Prozent positive Aggression und Biss habe, erfülle
die besten Voraussetzungen für Zivilcourage. Wichtig sei es außerdem, Kindern ein Vorbild zu geben
und ihre Wahrnehmung für kritische Situationen zu schärfen. Positive Signale setzt in den Augen
Weidners auch die Bewegung der political correctness: "Treten wichtige Peronen des öffentlichen
Lebens als eine Art Lautsprecher der Nation mit der Aufforderung zum Handeln auf, fühlen sich viele
Menschen tatsächlich davon angesprochen."
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