Bedingungen für Zivilcourage

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Zivilcourage
Katharina Schmidt
„Je mehr Bürger mit Zivilcourage ein Land hat,
desto weniger Helden wird es einmal brauchen.“
Franca Magnani
Zivilcourage, was ist das – vielleicht Beherztheit, Charakter, Entschlossenheit,
Furchtlosigkeit, Haltung, Mut, Rückrad, Standhaftigkeit, Unerschrockenheit,
Mannhaftigkeit, Heroismus, Mumm, Schneid oder Traute? Was bewegt einen
Zuschauer dazu zum Helfer zu werden, obwohl er sehr wahrscheinlich mit Nachteilen
rechnen muss? Die aufgeführten Synonyme geben alle einen Einblick in das, was
Zivilcourage meint und was für unterschiedliche Facetten sie aufweist. Die Synonyme
umschreiben einen Begriff, für dessen Tatmotiv die Wissenschaft noch keine endgültige
Erklärung gefunden hat.
Im Folgenden wird versucht, dem Phänomen Zivilcourage näher auf die Schliche zu
kommen, Motive zu klären sowie eine Systematik vorzunehmen.
Zivilcourage – was ist das?
Für Zivilcourage gibt es viele Definitionen oder Versuche, das Phänomen in Worte zu fassen.
„Nach Nunner-Winkler (2002) müssen zwei Kriterien erfüllt sein, um ein Verhalten als
zivilcouragiert zu bezeichnen: Einerseits muss in der Handlung ein öffentliches Engagement
für demokratisch-zivilgesellschaftliche Grundwerte zum Ausdruck kommen, andererseits
muss die Handlung persönlichen Mut erfordern, also mit gewissen Risiken für die handelnde
Person vorhanden, verbunden sein.“ (Brandstätter, Frey und Schneider 2006). Im Brockhaus
(1998) heißt es kurz und bündig: „Zivilcourage, Mut, die eigene Überzeugung stets zu
vertreten.“ Auch Ostermann (1998) versucht sich an einer Definition: „Zivilcourage ist ein
mutiges, unerschrockenes Verhalten in der Öffentlichkeit und im Privaten…, ist eine
bürgerliche Tugend…, ist untrennbar mit dem Bürgerlichen verbunden und gehört zur zivilen
Gesellschaft.“ Der Duden definiert Zivilcourage als ein mutiges Verhalten, mit dem jemand
seinen Unmut über etwas, ohne Rücksicht auf mögliche Nachteile, gegenüber Obrigkeiten,
Vorgesetzten oder etwas anderem zum Ausdruck bringt.
Daran schließen sich spannende Fragen an: Warum nimmt jemand freiwillig Nachteile in
Kauf? Woher nimmt jemand den Mut? Was sind die Motive solcher zivilcouragierter
Verhaltensweisen? Der nächste Abschnitt beschäftigt sich mit der Beantwortung dieser
Fragen.
Die Tatsache, dass zivilcouragiertes Handeln mit einem mehr oder weniger großen Risiko für
die handelnde Person verbunden ist, hebt das Konzept der Zivilcourage vom Konzept der
Hilfeleistung deutlich ab (Fischer, Greitmeyer, Schulz-Hardt, Frey Jonas, Rudukha 2004).
Zivilcourage ist also riskant. Sie stellt eine große Herausforderung für den Einzelnen dar;
insbesondere dann, wenn man sich in einer Minderheitenposition befindet und gewissermaßen
„gegen den Strom schwimmt“ (vgl. Moscovici & Lage 1976).
Die Ziele, zu denen Zivilcourage aufgefordert ist, sind keine privaten, sondern orientieren sich
am Gemeinwohl, am Recht und an der Moral. Zivilcourage darf nicht dazu dienen, eigene
Interessen durchzusetzen. Sie ist nicht nur im politischen ereich von Nöten, sondern ebenso
oder vielleicht noch viel häufiger im Alltag. Ein Beispiel dafür ist die U-Bahn oder die
nächtliche Straße, wenn ausländische Menschen oder Schwächere belästigt oder sogar
niedergeschlagen werden. Zivilcourage ist nicht gleichzusetzen mit Märtyrertum; zum
Beispiel beim Auftreten einer großen Gruppe von bewaffneten Skinheads, gegen die ein
Einzelner mit dem puren Eingreifen nichts ausrichten kann, ohne selbst Opfer zu werden. Hier
wäre ein Anruf bei der Polizei sicherlich sinnvoller. Aber trotzdem ist Zivilcourage ohne Mut
und die Bereitschaft ein Risiko einzugehen, nicht zu haben. 
Bedingungen für Zivilcourage
Die Forschung zur Zivilcourage setzte in Deutschland erst circa 20 Jahre nach dem Ende der
Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus ein. Aus diesem Grunde ist es nicht weiter
verwunderlich, dass die Erforschung dessen, was wir Zivilcourage nennen, bis heute mehr
oder weniger eine Sache der Amerikaner und nicht der Deutschen gewesen ist.
Auf einige Ergebnisse unterschiedlicher Studien wird im Folgenden eingegangen.
Was macht denn jetzt aus einem Zuschauer einen Helfer?
Erste wichtige Ergebnisse liefern uns die Forschungsergebnisse zu prosozialem Verhalten.
Auf die Studien der Sozialpsychologen von Bibb Latané und John Darley von 1976 wird im
Weiteren näher eingegangen. Sie analysierten die Faktoren, die dafür verantwortlich sind,
dass Menschen in bedrohlichen Notfallsituationen häufig Hilfe unterlassen, selbst dann, wenn
andere bedroht oder sogar getötet werden. Damit es allerdings in diesen Fällen doch zu einer
Hilfeleistung kommt, sprechen Latané und Darley von mehreren „Hürden“, die zuvor
überwunden werden müssen.
Damit aus einem Zuschauer ein Helfender wird, muss Folgendes eintreten:
1. die Erkenntnis: Irgendetwas stimmt hier nicht!
2. die Interpretation der Situation: ein Mensch braucht Hilfe!
3. die Bereitschaft, Verantwortung für diese Hilfe zu übernehmen
4. die Wahl des geeigneten Hilfsmittels
5. die Entscheidung zu helfen und die Durchführung der Hilfsaktion
Im Umkehrschluss heißt das, wenn eine Person die Notlage, effektive
Handlungsmöglichkeiten, die persönliche Kompetenz einzugreifen und seine eigene
Verantwortung verneint, findet ein Eingreifen nicht statt.
Faktoren, die prosoziales Verhalten begünstigen, lassen sich danach gruppieren, ob sie eher an
die Person oder die Situation gebunden sind (Frey, Schäfer & Neumann 1999, Jonas &
Brandstätter 2004). Die im Anschluss aufgeführten Bedingungen, unter denen
zivilcouragiertes Handeln eher stattfindet, folgen dieser Unterteilung.
Situative Einflussfaktoren für Zivilcourage:
Eindeutigkeit der Situation: Für das Einschreiten in eine bestimmte Szene ist es wichtig,
wie eindeutig die Situation ist. Wenn beispielsweise ein Mann eine Frau in der U-Bahn
bedroht, kann das Gesehene auch als Streit zwischen einem Paar gedeutet werden. Die Polizei
rät in solchen Situationen, dass das Opfer für die Eindeutigkeit der Situation sorgen muss. In
unserem Beispiel könnte die Frau laut sagen: „Was wollen Sie von mir, lassen Sie mich los,
ich kenne Sie nicht.“
Anwesenheit anderer Personen: Das Abwälzen der Verantwortung wird in der Fachsprache
„Verantwortungsdiffusion“ betitelt. Es ist ein Erklärungsansatz dafür, dass die Bereitschaft zu
einer Hilfeleistung drastisch sinkt, wenn mehrere Personen gleichzeitig einen Notfall
beobachten (z. B. die anderen sind ja näher dran oder der sieht kompetenter und stärker aus
als ich, soll der sich doch darum kümmern). Bewertungs- und Versagensängste spielen in
diesem Zusammenhang ebenfalls eine große Rolle (z. B. dann stehe ich ja ganz dumm da,
wenn die Situation ja doch gar nicht so schlimm ist, wie ich gedacht habe).
Kosten von zivilcouragiertem Eingreifen: Kosten können in diesem Fall eine Blamage, ein
Sich-Lächerlich-Machen, das Verlieren der sozialen Unterstützung, das Aufsichziehen des
Unmuts von Autoritäten bis hin zur Gefährdung des eigenen Lebens sein. Meistens gilt: je
höher die Kosten, desto geringer die Wahrscheinlichkeit des Eingreifens.
Öffentliche Meinung: Wenn in einem Land beispielsweise das Rufen von
ausländerfeindlichen Parolen tabuisiert wird, werden sich eher Menschen finden, die in diesen
Unrechtssituationen eingreifen. Personen die oft gegen Ungerechtigkeit eintreten, haben oft
den Ruf, sich überall einzumischen.
Vorbilder für Zivilcourage: Wenn eine Person zivilcouragiertes Verhalten aus ihrem
bedeutsamen Umfeld kennt oder vorgelebt bekommen hat, wird sie mit größerer
Wahrscheinlichkeit ebenfalls couragiert handeln.
Gerade ältere Studien kamen zu diesem Ergebnis: Eva Fogelmann (1998) befragte Menschen,
die während des Nazi-Regimes Juden schützten und retteten. Sie unterschieden sich auf das
Vielfältigste voneinander. Eines hatten sie aber alle gemeinsam: sie hatten „sehr ausgeprägte
humanistische Wertvorstellungen“; der Motor ihres Handelns waren die inneren Werte, die
sie in der Kindheit ausgebildet hatten. „Entsprechende Kindheitserfahrungen und –einflüsse
ziehen sich wie ein Leitmotiv durch die Geschichte der meisten Retter/innen. Der Psychologe
Mantell hat amerikanische Jugendliche befragt, was sie fähig machte, dem Druck Stand zu
halten und trotz der drohenden Gefängnisstrafe den Kriegsdienst in Vietnam zu verweigern
(Mantell 1972). Als besonders kennzeichnend für ihr Familienleben bezeichneten die
Jugendlichen u. a. Gewaltlosigkeit, Toleranz, gegenseitige Anteilnahme, Wärme und
unautoritäres Verhalten. „Viele Eltern waren politisch und sozial engagiert. Politik, soziale
Probleme, Krieg und individuelle Verantwortung wurden häufig diskutiert“. In den Familien
herrschten klare Wertvorstellungen, die die Eltern sich bemühten vorzuleben. Der
Erziehungsstil war überwiegend demokratisch.
Individualisierte Welt: Warum sollte ich helfen, wenn doch jeder für sich selbst
verantwortlich ist? Die positiv verstandene Individualisierung hat als unangenehme Rückseite
nicht selten die gedankliche Asozialität. Die soziologische Sichtweise auf dieses Merkmal
wäre die Anonymisierung in den Großstädten. Sie verführt zum Wegschauen.
Neben den äußeren („situationalen“) Umständen spielen verschiedene, bei der jeweiligen
Person liegende Faktoren eine Rolle. Die personalen Faktoren werden im weitern
benannt.
Wertehaltungen: Werte wie Solidarität, soziale Verantwortung, Hilfsbereitschaft und
Fürsorglichkeit sind der Person inne. Sie sind sozusagen als Haltung internalisiert. Wichtig ist
beispielsweise auch die Position der Retter/innen in der Geschwisterschar. Sie haben gelernt,
für jüngere Geschwister zu sorgen. Das würde bedeuten: Helfen wird gelernt, wird zu einem
Habitus und damit zu „habituellem Helfen“.
Persönlichkeitsmerkmale: Persönlichkeitsmerkmale wie geringe Ängstlichkeit, hohes
Selbstvertrauen und Empathiefähigkeit beeinträchtigen zivilcouragiertes Eingreifen.
Wissen darüber, was man tun soll und was nicht, Verhaltensroutinen: In Notsituationen
muss der Helfer über relevantes handlungsbezogenes Wissen und Verhaltensroutinen
verfügen, damit ein promptes Reagieren auf das Wahrgenommene erfolgen kann.
Menschliche Verbundenheit: Wenn die Personen, die beherzt eingreifen werden mit den
Opfern eine menschliche Verbundenheit vereint, findet unter höherer Wahrscheinlichkeit eine
Rettungsaktion statt. Die menschliche Verbundenheit kann entweder persönlich erfahren
worden (z. B. Freundschaft mit dem Opfer) oder ein moralischer Impuls sein (z. B. Empathie
oder Gewissen).
Abenteuerlust und soziales Außenseitertum: Die Verfasser älterer Studien nennen zwei
weitere Eigenschaften der Helfer, die das Bild des moralisch motivierten Helfers scheinbar
beeinträchtigen; nämlich Abenteuerlust und soziales Außenseitertum.
Am Ende der Aufzählung ist wichtig zu erwähnen, dass zivilcouragiertes Verhalten immer ein
Zusammenspiel vieler Faktoren ist.
Zusammenhang zwischen Zivilcourage und Demokratiepädagogik
Demokratie beinhaltet Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit, Fairness, Toleranz gegenüber
Andersartigkeit, Solidarität, Verantwortung – aber ebenso Intoleranz gegenüber Verletzung
dieser Grundwerte gehören dazu. Zivilcourage ist eine demokratische Tugend. Die Idee der
Tugenden entstammt der Zeit der römisch-griechischen Antike.
Zivilcourage ist „eine genuin demokratische Verhaltensweise, d. h. ohne Amt und ohne
öffentlichen Auftrag, allein im Rahmen der Vernunft und der Sittlichkeit gegen die Lüge und
das Unrecht einzutreten“ (Ostermann 1998). Aber verstehen unter Vernunft und Sittlichkeit
alle Menschen das Gleiche?
Es wird davon ausgegangen, dass Zivilcourage erlernbar ist. Deshalb sind in den vergangenen
Jahren viele Trainingsprogramme entstanden, die sich genau mit diesem Aspekt beschäftigen,
z. B. im Rahmen des BLK-Programms „Demokratie lernen & leben“.
Ansätze zur Förderung von Zivilcourage sind ein zentraler Aspekt der Demokratiepädagogik.
Demokratiepädagogik zielt im Wesentlichen darauf ab, dass Menschen sich einerseits in
ihrem Handeln von demokratischen Werten leiten lassen und andererseits auf Verletzungen
derer angemessen reagieren.
Ein Ansatzpunkt der Demokratiepädagogik besteht darin
1. Menschen dafür zu sensibilisieren, wo Verletzungen ethisch-moralischer Standards
einer Demokratie verletzt werden und
2. Personen Wissen darüber vermitteln, was man in konkreten Situationen tun soll und
was nicht.
Das Bemühen, eine gefestigte Identität zu entwickeln, sie auch zu leben, das eigene Denken,
Fühlen und Tun in Einklang mit den Normen und Werten der Gesellschaft zu bringen, ist ein
lebenslanger Prozess der Persönlichkeitsentwicklung.
Ein Zitat von Gernot Böhme (1997) schließt diese Kapitel ab: „ Der Wille zur moralischen
Existenz verbindet sich, so seltsam das klingen mag, mit der griechischen Idee der Areté, nach
der Gutsein heißt: besser sein. Auch heute verlangt eine moralische Existenz, anders zu sein,
besser zu sein als die Vielen, auszubrechen aus dem, was geschieht. Moralität beginnt mit
dem Widerstand.“
Beispiele für Zivilcourage
„Nichts erfordert mehr Mut und Charakter, als sich im offenen
Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein!“
Kurt Tucholsky
Beispiele für Zivilcourage gibt es viele – einige, die für großes Aufsehen gesorgt haben und
andere, die im Stillen stattgefunden haben.
Jedes Jahr werden wieder Menschen gesucht, die für zivilcouragiertes Verhalten
ausgezeichnet werden sollen. Das „Bündnis der Vernunft gegen Gewalt und
Ausländerfeindlichkeit“, „Der Zivilcouragepreis“ des CSD e.V., der Preis für Zivilcourage
von Toto-Lotto Niedersachsen, der Ludwig-Beck-Preis für Zivilcourage sowie der „GandhiPreis für Zivilcourage und gewaltfreie Veränderung“ stehen beispielhaft für eine Vielzahl an
zu vergebenen Preisen.
Dabei muss der Blick gar nicht so weit in die Ferne schweifen. Beispiele aus dem Alltag, die
jederzeit wieder passieren können (vgl. Brandstätter, Frey und Schneider 2006):
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Eine Anwohnerin hört beim Fensterputzen Schläge und Schreien eines Kindes aus der
Nachbarwohnung. Die Frau ist beunruhigt und klingelt kurzerhand bei den Nachbarn.
Ein Schüler beobachtet seit längerem, wie ein Mitschüler ständig gemobbt, teilweise
sogar körperlich angegriffen wird. Beim erneuten Angriff stellt er sich zwischen die
Bande und seinen Mitschüler, mischt sich ein und meldet anschließend den Vorfall der
Direktorin.
Fahrgäste einer U-Bahn bekommen mit, wie zwei Rechtsradikale einen
dunkelhäutigen Mann belästigen. Daraufhin steht eine Passantin auf und fragt den
angegriffenen Mann, ob er sich neben sie setzen will.
Eine Kollegin des Teams wird seit einiger Zeit vom Rest des Teams gemieden und
ausgeschlossen. In der nächsten Teambesprechung spricht ein Kollege das Problem
an.
Nachts in der Unterführung wird eine junge Frau von drei betrunkenen Männern
belästigt. Ein vorbeigehender Passant alarmiert die Polizei und beobachtet bis zum
Eintreffen dieser das Geschehen aus einiger Entfernung, damit er, wenn nötig, selbst
noch eingreifen kann.
Aber auch in der Geschichte lassen sich immer wieder Beispiele für zivilcouragiertes Handeln
finden: bekannt geworden sind die Aktionen der „Weißen Rose“ in der Zeit der
nationalsozialistischen Diktatur oder das Bemühen Martin Luther Kings gegen die Apartheid
in den USA. Die Gefahren, denen sich der Einzelne aussetzen musste, waren unterschiedlich
groß. Wer im Dritten Reich Juden versteckte, musste in Kauf nehmen, bei der Entdeckung
selbst Opfer zu werden. Aber auch in der DDR hatten Personen, die sich der Regierung
widersetzten mit sehr unangenehmen Repressalien zu rechnen; Ausgrenzung, Entzug der
eigenen Kinder, Verhaftung oder Berufsverbot waren gängige Maßnahmen. Die Teilnahme an
den Montagsdemonstrationen erforderte anfangs viel Mut. Erst als die Gruppe größer wurde,
sank die Gefahr für den Einzelnen.
Ein Brief einer 16jährigen Schülerin, die in der DDR in einem Brief an ihre Direktorin die
Wehrerziehung verweigerte, schrieb:
„ Wehrerziehung ist ein Pflichtfach und Nichtteilnahme gilt als unentschuldigtes Fehlen.
Trotzdem habe ich mich dazu entschlossen, an diesem Unterricht nicht teilzunehmen. Ich
habe versucht, die Gründe für meine Entscheidung zu formulieren und bitte um eine offene
Aussprache in der Klasse. Ich meine, dass der Frieden heutzutage nicht mehr mit Waffen zu
sichern ist. Er ist mit zunehmender Rüstung sogar gefährdeter. Sie führt die Menschheit mit
jedem Tag näher ihrem Untergang entgegen, wenn nicht einer wagt auszubrechen und seine
wirkliche Stärke darin zeigt, den ersten Schritt zur Abrüstung zu tun. Wehrunterricht ist für
mich mit der Erziehung zum Frieden nicht vereinbar. Eine solche Ausbildung weckt ein
Freund-Feind-Denken und damit Hass gegen Menschen. Statt Zeit durch das Üben von
Marschieren und Geben von Kommandos zu vergeuden, sollten wir uns damit beschäftigen,
was zu tun möglich ist, einen Krieg zu verhindern: so zum Beispiel ein Fach
Friedenserziehung in der Schule einzurichten.
Aufgabe von Schülern sollte es sein, ihre geistigen Fähigkeiten für die Aufklärung der
anderen einzusetzen. Wir sind in der Lage, Werke von Wolfgang Borchert, Dietrich
Bonhoeffer, Berta v. Suttner, Thomas Mann, Carl v. Ossietzky, Erich Kästner, den
Geschwistern Scholl zu lesen und zu verstehen. – Wir sollten Zeichen setzen. Darum trage ich
auch den Aufnäher >Schwerter zu Pflugscharen<…“
An ihren Freund schrieb die Schülerin: „Nun, nachdem ich mich durch diesen Brief an die
Direktoren selbst befreit habe von dem Gefühl der Feigheit, so lange geschwiegen zu haben
und den bequemeren Weg zu gehen, habe ich etwas Selbstachtung zurück gewonnen. Ich habe
es nun einmal richtig ausgesprochen, dieses >Nein<.“ (Singer 1992, 14).
Auch in der Kunst, Musik sowie Literatur finden sich zahlreiche Beispiele für Zivilcourage.
Literatur:
Böhme, Gernot: Ethik im Kontext. Über den Umgang mit ernsten Fragen. Frankfurt 1997
Brandstätter,V.; Frey, D.; Schneider, G.: Zivilcourage in Theorie und Training als Beitrag zur Werteverwirklichung und
Demokratieverständnis. In: Edelstein, W.; Fauser, P. (Hrsg.): Beiträge zur Demokratiepädagogik. Eine Schriftenreihe des BLK-Programms
„Demokratie lernen & leben“. Berlin 2006
Der Brockhaus in fünfzehn Bänden. Fünfzehnter Band. Vis – Zz. Leipzig – Mannheim 1998
Der Duden. Mannheim, Wien, Zürich 1990
Fischer, P.; Greitmeyer, T.; Schulz-Hardt, S.; Frey, D.; Jonas, E. & Rudukha, T. Zivilcourage und Hilfeverhalten: Der Einfluss negativer
sozialer Konsequenzen auf die Wahrnehmung prosozialen Verhaltens. Zeitschrift für Sozialpsychologie, 35, 61-66. 2004
Fogelmann, E.: „Wir waren keine Helden“. Lebensretter im Angesicht des Holocaust. München 1998
Frey, D.; Schäfer, M. & Neumann, R.: Zivilcourage und aktives Handeln bei Gewalt unter Kindern und Jugendlichen. Göttingen 1999
Latané, B.; Darley, J.M.: Help in crisis: Bystander response to an emergency. Morristown 1976
Mantell, D. M.: Familie und Aggression. Frankfurt/M. 1972
Moscovici, S. & Lage, E.: Studies in social influence III: Majority vs. Minority influence in a group. European Journal of Social Psychology.
6. 1976
Nunner-Winkler, G.: Zivilcourage als Persönlichkeitsdisposition – Bedingungen der individuellen Entwicklung. In: E. Feil in
Zusammenarbeit mit K. Homann und G. Wenz (Hrsg.): Zivilcourage und demokratische Kultur. Sechste Dietrich Bonhoeffer Vorlkesung.
München 2001
Ostermann, Ä.: Zivilcourage – eine demokratische Tugend: Test für die Demokratiefähigkeit einer Gesellschaft. In: Hessische Stiftung
Friedens- und Konfliktforschung Frankfurt. HSFK-StandPunkte 1/1998.
Singer, Kurt: Zivilcourage wagen. Wie man lernt, sich einzumischen. München 1992
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