Zivilcourage Konzept

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„Ich wollte kein Zuschauer mehr sein….!
Martin Luther King
Willi Mernyi
Was ist Zivilcourage?
Unter Zivilcourage versteht man, öffentliches Handeln im Alltag, als sozialer Mut, als
Element der Zivilgesellschaft. Es geht um die alltägliche Meinungsfreiheit und um
das akzeptieren von Widerspruch und das Nicht-diskriminieren von Menschen die
sich für Recht und Gerechtigkeit einsetzen für den „aufrichtigen Gang“ und für die
Achtung der Menschenwürde.
Der Duden definiert Zivilcourage mit: mutiges Verhalten mit dem jemand seinen
Unmut über etwas, ohne Rücksicht auf mögliche Nachteile gegenüber Obrigkeiten,
Vorgesetzte oder Anderen zum Ausdruck bringt.
Nachgewiesen wurde das Wort erstmals 1835 im französischen als „courage civil,
den Mut des Einzelnen zum eigenen Urteil“. Interessanterweise war der erste
Deutsche, der nachweislich das Wort Zivilcourage gebraucht hat, der junge Bismarck
der im Jahre 1847 (erstmals berichtet 1864) einen nicht-militärischen Mut von einem
älteren Verwandten, der ihm bei der Debatte des preußischen Landtags hätte ihm
„beistehen sollen“. Er wandte sich zu seinem Verwandten hin und sagte: „Mut auf
dem Schlachtfeld ist bei uns Gemeingut, aber wir werden nicht selten finden, dass es
ganz achtbaren Leuten an Zivilcourage fehlt.“
Was ist nun der Unterschied zwischen Mut und Zivilcourage?
Mut ist im Bezug auf bestimmte Werte und Ziele eine wertneutrale oder sogar
ambivalente Tugend die sich auch für undemokratische oder moralisch verwerfliche
Zwecke einsetzen kann.
Hingegen Zivilcourage setzt sich für demokratische und humane Werte für legitime
Interessen ein. Zivilcourage ist daher ein wertorientiertes demokratisches Handeln
und eine besondere Form des öffentlichen Muts. Nicht jedes mutiges Verhalten im
Alltag und Politik ist daher mit Zivilcourage gleichzusetzen. Mut ist der umfassendere,
allgemeinere Begriff. Aber im zivilcouragierten Handeln ist immer Mut enthalten, aber
nicht umgekehrt.
So bedrückend die Zunahme von Gewalt als soziales Problem ist, so wird nur ein
Teil der aktiven Zivilcourage benötigt. Zivilcourage ist in vielen Lebensbereichen
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nötig. In der Schule, am Arbeitsplatz, im Privaten, in Vereinen, Parteien und
Interessensvertretungen.
„Mögen hätten wir schon wollen,
aber dürfen haben wir uns nicht getraut.“
Karl Valentin
Diese meist gewaltfreien Bereiche, werden leider in der Diskussion um Zivilcourage
vernachlässigt. Die Analyse und Förderung von Zivilcourage kann sich daher nicht
beschränken auf Konflikte auf vielfältige akute Notlagen und bei Drogensituationen in
denen spontan gehandelt werden muss. Die Zivilcourage ist eine anspruchsvolle,
eine sehr unbequeme Tugend. Auch in unserer Gesellschaft braucht es Zivilcourage
um offen seine Meinung zu sagen, um einzugreifen, um sich für andere einzusetzen
oder wenn man etwas verändern will.
Darum ist es auch hier notwendig sich die Frage zu stellen: „Wollen die Mächtigen
wirklich in allen Bereichen die Gesellschaft, das zivilcouragierte Handeln der
BürgerInnen/ArbeitnehmerInnen? Wollen sie es nur in der U-Bahn in der Schule oder
auch im privaten Bereich? Wird Zivilcourage auch im öffentlichen Leben und am
Arbeitsplatz gewünscht und gefördert?“
Andererseits müssen wir uns auch die andere Frage stellen: „Wollen die Menschen
überhaupt so mutig sein, sich zu wehren, sich für andere einzusetzen, wenn dies
erhebliche Nachteile für sie selbst bringen kann?“
Oft wird in Diskussionen zum Thema Zivilcourage eingewendet: „Das ist nicht
meines, Zivilcourage ist mir nicht angeboren. Es ist nicht eine meiner Eigenschaften.“
Zivilcourage ist auch keine „Eigenschaft“. Es ist viel angemessener Zivilcourage als
Handlungstypus anzusehen. Zivilcourage wird meistens so verstanden, dass es eine
dramatische Situation gibt (z.B. eine Belästigung oder Gewalt) die ein spontanes,
schnelles energisches Handeln erfordert. Zivilcourage oder sozialer Mut ist nicht nur
im „akuten“ einmaligen Bedrohens- oder Notsituationen gefragt, die meist unerwartet
entstehen und sofortiges Eingreifen erfordert.
Bei Zivilcourage kann es sich aber auch um ein Geschehen handeln, dass sich
wiederholt. Es kann sich um andauernde Problemsituationen und kritikwürdige
Zustände handeln.
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Das Konfliktpotenzial entsteht hier langsam und der Handlungsdruck baut sich
schrittweise auf. Diese Situationen und die dazugehörenden Reaktionen findet man
vor allem in organisierten Kontexten z.B. am Arbeitsplatz, in Institutionen, in Parteien
und Vereinen.
Orte von zivilcouragierten Handeln
Die wichtigsten sozialen Orte zivilcouragierten Handelns lassen sich unterteilen in:
(1) Die sogenannte private Sphäre
Familie, Freundeskreis
(2) Die berufliche Sphäre
Arbeitsplatz, Ausbildungsplatz
(3) Der allgemeine öffentliche Raum und die öffentlichen Transportmitteln
Straße,
U-Bahn,
Straßenbahn,
Bus,
Gasthäuser,
Hotels,
Zeltfeste,
Fußballstadien, etc.
(4) Der gesellschaftliche Raum
Privat, Parteien, Interessensvertretungen, staatliche Institutionen, private
Organisationen und Vereine
(5) Die „große Öffentlichkeit“
Zeitungen, Lokalzeitungen, Radio, Fernsehen, bis hin zu den ganz relevanten
Massenmedien als Ort für Berichte über Zivilcourage.
Situationen von zivilcouragierten Handeln
Zivilcouragiertes Handeln geschieht in Situationen, die dadurch gekennzeichnet sind,
dass ein Geschehen, das eine zentrale Wertüberzeugung oder die Integrität einer
Person verletzt.
Zivilcouragiertes Handeln ist ein aktive, verbales oder auch nonverbales Verhalten,
dass für andere sichtbar wird.
Wer Zivilcourage zeigt, zeigt auf, tritt heraus aus der Anonymität:
Ich exponiere mich mit meiner Person. Ich mache mein Anliegen deutlich. Ich bringe
meine Überzeugungen zum Ausdruck.
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Es kann aber auch heißen:
Ich kann alleine da stehen. Ich kann einsam werden.
„Je mehr Bürger mit Zivilcourage ein Land hat,
desto weniger Helden wird es einmal brauchen.“
Franca Magnani, Journalistin
Zivilcouragiertes Handeln ist meistens nun einmal öffentlich. D.h. außer den beiden
beteiligten ist es mindestens noch eine weitere Person anwesend.
Sind jedoch nur zwei Personen beteiligt so soll mutiges Handeln auch dann als
öffentlich gelten, wenn dritte oder Medien erst im Nachhinein erfahren. Mit
Zivilcourage handelt man zwar immer in aber nicht immer auch für eine bestimmte
Öffentlichkeit.
Der aktiven sichtbaren Zivilcourage, also dem Handeln gehen innere „unsichtbare“
Prozesse voraus. Die häufig erst später bewusst werden bzw. nur nachträglich zu
ermitteln sind. Die Wahrnehmung und Deutung der Situation, Gefühle, Gedanken,
die Überwindung von Hemmschwellen spielt sich alles in wenigen Augenblicken oder
Minuten ab. Oft wild durcheinander und verdichtet sich schließlich zu einer
Entscheidung: Ich greife ein. Ich sage etwas. Ich mache nichts, schau weiter zu oder
wende mich ab.
Spontaneität geht häufig einher mit Zivilcourage. Gehört aber nicht notwendig dazu.
Sozialer Mut kann genauso überlegt, geplant und organisiertes Handeln sein (ganz
besonders am Arbeitsplatz, in Institutionen und im politischen Bereich).
Zivilcouragiertes Handeln passiert unter Risiko d.h. man hat auch mit Nachteilen zu
rechnen.
Tatsächlich handeln sehr viele mit Zivilcourage ohne dass sie einen Erfolg erwarten,
ohne dass sie mit Anerkennung rechnen können.
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Karl Marti hat es so formuliert:
„Wo kämen wir hin,
wenn alle sagen würden,
wo kämen wir hin –
und niemand ginge, um zu sehen, wo wir hin kämen,
wenn wir nur gingen.“
Zivilcourage im „Privaten“
Aber auch in der Familie und unter FreundInnen können Situationen entstehen, in
denen mutiges Eintreten für die legitimen Belange Anderer oder bestimmte
demokratische Werte gefragt ist.
Es erfordert oft mehr Mut einen Freund oder Verwandten zu widersprechen als einen
„Feind“.
Ingeborg Bachmann spricht da von der „Tapferkeit vor dem Freund“ und meint damit
nicht Nähe sondern Distanzierung um der eigenen Wahrheit Willen.
Doch Jugendliche wie Erwachsene bringen oft diesen Mut zu dieser Art von
Tapferkeit nicht auf, weil sie an eine starke Bindung an die Familie, an die
Gemeinschaft, an „ihre“ Gruppe, an die „Kumpels“ an ihre „Clique“ empfinden.
Ob unsichtbar oder sichtbar besteht häufig ein starker Gruppendruck sich an die
Norm weitgehend vorbehaltloser Solidarität zu halten. Man/Frau wird verletzt, läuft
Gefahr nicht mehr zur Gruppe zu gehören.
Loyalitätskonflikt und Isolationsängste behindern dann diesen Widerstand.
Vor allem Jugendliche berichten immer wieder von Situationen in denen es darum
geht einen Freund oder einer Freundin beizustehen. Aber kann man das Handeln zu
Gunsten ausgewählter meist nahe stehender Personen auch als Zivilcourage
bezeichnen. Zivilcourage kann sozial umfassend (inklusiv) sein oder kann auch
selektiv (exklusiv) sein.
Zivilcourage
oder
sozialer
Mut
der
sich
an
allgemeinen
humanen
und
demokratischen Werten orientieren sollte (muss aber nicht) gegenüber jedermann
und „ohne Ansehen der Person“ geübt werden. Natürlich kann, wer mit Zivilcourage
handelt, seine Solidarität auf die beschränken die ihm/ihr nahe stehen.
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Zivilcourage und Widerstand
Die Grenzen zwischen Zivilcourage, gewaltfreien politischen Aktionen, ziviler
Ungehorsam und Protest einerseits und Widerstand andererseits sind nach
Ausgangsbedingungen, Zielsetzung und Vorgehen besonders im politischen Bereich
teilweise fließend.
Arthur Kaufmann hat das sehr eindrucksvoll in seiner Schrift „Widerstand der kleinen
Münze“ niedergeschrieben:
„Man unterschätze nicht die Bedeutung solchen kleinen Widerstandes. Dieser kleine
Widerstand muss beständig geleistet werden, damit nicht eines Tages wieder der
große Widerstand erforderlich wird. Dieser große Widerstand fordert große Opfer, er
kostet möglicherweise das Leben. Der kleine Widerstand, also der Widerstand, der in
der Demokratie möglich und notwendig ist, der kostet Mut und Zivilcourage. Aber
auch das ist, wie man täglich erfährt, gar nicht so wenig. Die Möglichkeiten solcher
Akte des Neinsagens sind Legion: Misstrauen gegenüber den Mächtigen; Mut zu
offener Kritik; Neinsagen zum Unrecht, auch und gerade, wenn es „von oben“
kommt; Nichtmitmachen an als unheilvoll erkannten Aktionen, auch wenn man sich
so Sympathien verscherzt. Wer all die gering achtet, der möge einmal überlegen, ob
sich das nationalsozialistische Unrechtsregime so fest hätte etablieren können, wenn
eine Mehrheit des Volkes rechtzeitig den erforderlichen Bürgermut aufgebracht
hätte“.
Zivilcourage und Nationalsozialismus
Eine besondere Situation im Hinblick auf Handlungsspielräumen der Öffentlichkeiten,
ergibt sich in autoritären und hoch repressiven Zusammenhängen.
So geriet etwa im Nationalsozialismus zivilcouragiertes Handeln, dass die eng
gesetzten Grenzen des Systems überschritt und von den Offiziellen als politisch
unannehmbar eingestuft wurde zum politischen Widerstand.
Von Menschen die Widerstand geleistet haben oder andere gerettet haben, von
mutigen Einzelaktionen gegen Behörden oder Funktionäre, von Aktivitäten in
Fabriken oder in der Rüstungsproduktion hat man erst Jahre oder Jahrzehnte
danach erfahren. Meist erst nach dem Zusammenbruch des Systems, also wenn die
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Gefahr vorüber ist. Aber selbst dann, ist die öffentliche Anerkennung dieses
zivilcouragierten Handelns, wenn überhaupt oft erst spät und halbherzig.
Denn dieses mutige Handeln in einer Zeit als die große Mehrheit angepasst lebte
oder im positivsten Fall „mitlief“, löste später bei anderen Scham oder Schuldgefühle
aus und wird dann von diesen abgewehrt, angezweifelt oder sogar abgewehrt.
Wenn wir heute das Verhalten von Frauen und Männer charakterisieren die im
Nationalsozialismus anderen Menschen Hilfe leisteten, Aktivitäten gegen den
Nationalsozialismus setzten oder in den Widerstand gingen erscheint der Begriff
Zivilcourage auf den ersten Blick wenig treffend. Jeder der sich bei so einer Aktivität
erwischt wurde, wurde beschuldigt, verfolgt, entwürdigt und bestraft und hatte dies
nur allzu oft mit dem Tode zu bezahlen.
Wir haben es im Nationalsozialismus wahrscheinlich mit dem extremsten Fall von
zivilen Mut zu tun. In einem Ausnahmezustand par Excellence.
Die Bevölkerung war einer nahezu unausweichlichen Kontrolle der Blockwarte und
Amtswalter ausgesetzt und das subjektive Gefühl der Angst in einer Atmosphäre
totaler Überwachung und totaler Rechtsunsicherheit ist nicht zu unterschätzen. Die
Maßlosigkeit mit welcher der Nationalsozialismus vor allem während des Krieges
Handlungen von relativ geringer krimineller Bedeutung verfolgte, führe zum Klima der
Bedrohung. Die Furcht war real und begründet.
Es gibt eine Vielzahl von Untersuchungen, die sich mit Menschen befassen die hier
unter Einsatz ihres Lebens anderen Menschen vor dem sicheren Tod im
Nationalsozialismus retteten. Einen sozialwissenschaftlichen Ansatz wählte der
amerikanische Politologe Manfred Wolfson für eine in Zusammenarbeit mit dem
Frankfurter Institut für Sozialforschung durchgeführte Untersuchung über Retter in
Deutschland. Er leistet 1965 sicherlich Pionierarbeit auf diesem Gebiet. Er wollte
Werte und moralische Maßstäbe der Hilfeleistenden beleuchten die es ihnen
ermöglichten, einem totalitären System „unmanipulierbar“ zu bleiben und sich
Zwängen zu widersetzen. Wolfson`s Hypothese war, dass die Retter ihr Handeln an
positiven Vorbildern orientierten und sie eine nicht autoritäre Erziehung genossen.
Die Auswertung seiner Interviews mit rund 100 Frauen und Männern in der
Bundesrepublik Ende der 60er-Jahre ergab ein ganz anderes Ergebnis.
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Nur ein ganz kleiner Teil der Befragten gab an, dass sie sich bewusst an Vorbildern
(aus der Familie, Geschichte oder Literatur) orientiert haben. Rund 75% der
Befragten waren in einem autoritären Elternhaus aufgewachsen und hatten ihren
Eltern
kaum
widersprochen.
Sie
nannten
unterschiedlichste,
vielgestaltige,
humanistische, religiöse und politische Werte als Beweggrund ihres Verhaltens.
Eine Fragestellung, die über den Ansatz von Wolfson hinausgeht, entwickelte die
Psychologin Ludewig-Kedmi im Rahmen der nachträglichen Auswertung des von
Wolfson erhobenen Materials in den 70iger Jahren. Sie fragte nach der
Entscheidungsfindung von Personen die überlegten ob sie unter eigener Gefährdung
helfen sollten. Diese standen, vor einem klassischen Moraldilemma. Einerseits der
Wunsch eine verfolgte Person zu unterstützen aber andererseits das legitime
bestreben die eigene Person und die eigene Familie nicht zu gefährden.
Das Ergebnis der Untersuchung brachte ganz eindeutig heraus, dass die Mehrheit
die halfen, Menschen versteckten, also diese sogenannten „Retter“, nichts als
„gewöhnliche“ Deutsche waren, die weder über besondere finanzielle Mittel oder
über große Wohnungen noch eine besondere Bildung und wichtige Kontakte
verfügten. Die Mehrheit der Helfer (zwei Drittel) waren Frauen. Ein Widerstand der
Jahrzehnte lang wenig beachtet wurde.
Auch andere Forschungsprojekte rechtfertigen die Skepsis die man gegenüber
Theorien hat, die eine Retterpersönlichkeit konstruieren wollen.
Die Retter sind Teil einer Gesellschaft. Sie wurden nicht als solche geboren oder
erzogen, sie waren nicht die besseren Menschen. In vielen Fällen gerieten sie in
Situationen in denen sie sich zum zivilen Mut entschieden und damit mit
Erfindungsreichtum und Ausdauer über sich selbst hinauswuchsen.
Unter den Rettern gab es Menschen die aus religiösen und politischen
Zusammenhängen halfen und die ihre Verbindungen, ob sie katholisch waren, in
sozialdemokratischen Milieu oder in kommunistischen Widerstandskreisen zur
Rettung von Menschen einsetzten. Interessant ist aber, dass die Hälfte sagt: „Sie
habe geholfen weil sie darum gebeten wurden.“
Ein wichtiges Phänomen ist, um Hilfe gebeten zu werden. Ein sogenanntes
„Reaktives Handeln“:
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Als Ida Plüer im Januar 1945 an die Tür eines evangelischen Pfarrhauses in der
Nähe des hessischen Fritzlar klopfte, gewährten die Pfarrfrau und der Pfarrer, der
Unbekannten Unterschlupf. Zwar gab sich die Jüdin, die in „Mischehe“ lebte und kurz
zuvor die Aufforderung erhalten hatte, sich zum Abtransport in ein Arbeitslager
einzufinden, als Flüchtling aus Ostpreußen aus, ihre Gastgeber waren sich aber über
Identität ziemlich sicher. Der Pfarrer und seine Frau, ein Ehepaar mit vier Kindern im
Ater von vier bis 13 Jahren, handelten in dieser Situation beherzt und mutig. Sie
versteckten die Untergetauchte bis Kriegsende und haben ihr damit das Überleben
ermöglicht.
Ein Jahr nach der Auszeichnung des Ehepaares als „Gerechte unter den Völkern“
durch die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem richtete eine Frau, deren
jüdische Großeltern in den 30er-Jahren zufällig gegenüber dem besagten Pfarrhaus
gewohnt hatten, ein Schreiben an die israelische Gedenkstätte, in dem sie ihr
Befremden über diese Ehrung zum Ausdruck brachte. Nach ihren Aussagen habe
der Pfarrer in keiner Weise protestiert, als während der Pogromnacht am 9./10.
November 1938 etwa 50 Ortsansässige des 900-Seelendorfs über das Haus der
einzigen jüdischen Familie des Dorfes herfielen und die Bewohner schwer verletzten.
Der Geistliche habe sich vielmehr abgewandt und sein Haus verschlossen. Die
Schreiberin ist der Auffassung, dass das (vermutete) Versagen des Pfarrers im
November 1938 eine Auszeichnung für sein Handeln im Januar 1945 nicht
rechtfertige. Die Antwort der Gedenkstätte Yad Vashem macht dagegen deutlich,
dass die Ehrung als „Gerechter“ nicht voraussetzt, dass sich eine Person
durchgängig mutig verhalten hat, sondern auch ein einmaliges couragiertes
und risikobereites Handeln, das zur Rettung eines Menschen beitrug,
gewürdigt wird.
Mehr als die Hälfte der dokumentierten Rettungen kam zustande, weil die Juden, die
gewillt waren, sich der Deportation zu entziehen die Initiative ergriffen und ihre
nichtjüdischen Freunde und Bekannten, ehemalige Patienten, Geschäftspartner und
Kunden, manchmal auch völlig Unbekannte, direkt um Hilfe baten.
Wir kennen aber auch das Gegenteil dieses Verhaltens:
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Ein Vorfall in den USA in den 60er-Jahren fand große Beachtung. Es war die
Ermordung von Kitty Genovese in New York, der von 38 Zeugen beobachtet wurde.
Kitty war Ende zwanzig und gerade am Heimweg in den New Yorker Stadtteil
Queens. Sie wurde auf offener Straße überfallen und umgebracht. 38 Zeugen
beobachteten den Überfall und ihre Ermordung.
Die New York „Times“ veröffentlichte auf ihrer Titelseite einen langen Artikel über die
Unmenschlichkeit
und
Passivität
der
38
ZuschauerInnen.
Es
herrschte
Unverständnis, dass niemand von den 38 ZeugInnen eingeschritten ist. Die
Darstellung dieses Falles konzentrierte sich immer darauf, dass niemand etwas
unternommen hatte obwohl 38 Personen zugesehen hätten. In Wirklichkeit ist es
leider so, dass niemand helfend eingegriffen hatte, weil es so viele Beobachter
gegeben hatte.
Wenn mehrere potentielle Helfer da sind, verringert sich die Verantwortlichkeit jedes/r
Einzelnen von ihnen.
Die „non-helping bystanders“ oder „Soziale Hemmung durch die Anwesenheit
Anderer“ oder „Die Gaffer“
In zahllosen Experimenten wurde nachgewiesen, wenn sich zwei einander
unbekannte Personen sich etwa einer Unfallstelle nähern und die eine Person
ignoriert offensichtlich den Unfall dann vermittelt diese passive Verhaltensmodell die
Situationsnorm die heißt: „Ein Eingreifen ist nicht erforderlich.“
Die Verantwortlichkeit für die Situation verflüchtigt sich mit der Anzahl der
Anwesenden (die sich nicht kennen).
Dieses Phänomen treffen wir immer wieder bei Beispielen, wenn es um Zivilcourage
geht. Ein Berufsschüler hat das einmal sehr treffend ausgedrückt mit dem Satz:
„Normalerweise hätte schon jemand eingreifen müssen!“
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Etwas philosophischer hat es Theodor Adorno formuliert, der vor der fast unlösbaren
Aufgabe sprach:
„Weder von der Macht der Anderen,
noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.“
Damit aus unbeteiligten Zuschauern Helfer werden, bedarf es fünf Stufen:
(1) Die Erkenntnis: Irgendetwas stimmt hier nicht!
(2) Die Interpretation: Hier braucht ein Mensch Hilfe!
(3) Die Bereitschaft: Ich will und ich kann es!
(4) Die Wahl der geeigneten Hilfsmittel
(5) Die Durchführung der Hilfsaktion
In all diesen fünf Punkten hilft ein Training in Zivilcourage.
Bei den ersten beiden Punkten, schärft es die Wahrnehmung und in den Punkten
drei bis fünf liefert es ganz konkrete Kompetenz.
Wenn zum Beispiel SchülerInnen, LehrerInnen, BetriebsrätInnen Trainings in
Zivilcourage absolviert haben, ist das subjektive Sicherheitsgefühl bei den
TeilnehmerInnen größer und steigert natürlich die Bereitschaft zur Zivilcourage.
Gerade zu Punkt drei, die Frage: „Will ich eingreifen?“, wird oft im inneren Prozess
mit JA beantwortet. Aber der zweite wesentliche Teil: „Kann ich auch eingreifen?“,
wenn hier kein klares ja aus dem inneren Prozess kommt, wird meist nicht erfolgreich
eingegriffen.
Untersuchungsergebnisse zeigen, dass Zivilcouragetrainings:
1. In die subjektive Sicherheit der TeilnehmerInnen erhöht
2. Die subjektive Kompetenz steigert
3. Das Handlungsrepertoire in kritischen Situationen vergrößert
Das Training in Zivilcourage
In der Regel lernen SchülerInnen Zivilcourage nicht in der Schule – allenfalls trotzt
der Schule.
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Gewalttätige Jugendliche und Jugendliche die anfällig sind für rechtsextreme
Einstellungen haben elementare Sozialisationsdefizite. Diese Defizite zeichnen sich
durch drei Punkte aus:
(1) ein niedriges Selbstwertgefühl
(2) mangelnde Ich-Stärke
(3) mangelnde Empathiefähigkeit – also Mitgefühl
(4) unzureichende Übernahme von sozialer Verantwortung
Soziale Kompetenzen die diesen Menschen fehlen sind Einfühlungsvermögen und
Mitgefühl.
Das heißt sich in die Lage eines Anderen versetzen und die Dinge auch aus seiner
Sicht sehen können (wir würden Perspektivenwechsel dazu sagen).
Es braucht also:
(1) Artikulations- und Argumentationsfähigkeit
(2) Konflikte produktiv austragen bzw. sie nicht vermeiden
(3) Selbstsicherheit im Auftreten gegenüber Anderen
(4) Reflexionsfähigkeit (d.h. über eine aktuelle Situation nachdenken, das
Vergangenen verarbeiten und mit der Gegenwart in Verbindung zu bringen)
Für ein Training in Zivilcourage besteht grundsätzlich die Schwierigkeit, dass
Situationen die Zivilcourage erfordern, nicht vorweg zu nehmen sind.
Zivilcouragiertes Verhalten ist im Detail kaum zu planen. Ein Training ist daher sehr
stark auf die bisherigen Erfahrungen der Teilnehmenden angewiesen um präventiv
auf mögliche Situationen vorzubereiten. Im Training wird den TeilnehmerInnen
verdeutlicht, dass nicht Konflikte an sich das Problem sind, sondern erst die
Austragungsform und Bearbeitung Gewalt stärken oder Gewalt abwenden können.
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Der thematische Ablauf eines Trainings besteht aus folgenden aufeinander
aufbauenden Schritten:
(1) Was heißt Zivilcourage?
(2) Situationen in denen Zivilcourage gefragt ist (Brainstorming, Rollenspiele,
usw.).
(3) Welche Werte sind uns in unserem Leben wichtig? (Wertediskussion)
(4) Wann, wie und wo werden individuelle Werte bedroht?
(5) Was kann dann getan werden (Zivilcourage – wie geht denn das)?
Der Gegensatz von Liebe ist nicht Hass,
Der Gegensatz von Hoffnung ist nicht Verzweiflung,
Der Gegensatz von geistiger Gesundheit und gesundem Menschenverstand ist nicht
Wahnsinn
Und der Gegensatz von Erinnerung ist nicht Vergessen,
Sondern es ist nichts anderes als
Jedes Mal die Gleichgültigkeit.
Friedensnobelpreisträger Eli Wiesel
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