Der immer neue alte Schrecken

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Sic et Non. Zeitschrift für philosophie und kulur.
Im Netz. www.sicetnon.org
Der immer neue alte Schrecken
Zur Diskussion nach dem Folter-Skandal von Abu Ghureib
von Helmut Dahmer (Wien)
Die Bilder-Trophäen, die im Frühjahr 2004 aus dem Bagdader Gefängnis Abu Ghureib um die Welt gingen, zeigen Szenen, wie sie uns aus den Büchern des Marquis
de Sade (oder aus Pasolinis Film „Salò oder die 120 Tage von Sodom“) bekannt
sind. Sie machen uns schaudern, vor allem, weil wir ahnen, daß es sich dabei nur
um die Spitze eines Eisbergs handelt; und sie machen uns angst, weil sie an ein
weltweites Inferno gemahnen, dessen Existenz wir nicht wahrhaben wollen. In der
Barbarei, vor der die großen Sozialisten gewarnt haben, sind wir längst angekommen. Seit dem ersten Weltkrieg ist die Tortur, die Optimisten wie Victor Hugo im
ausgehenden 19. Jahrhundert in Europa schon für „ausgerottet“ hielten, von der Peripherie in die Zentren der kapitalistischen Entwicklung zurückgekehrt. Und wie die
jährlichen Berichte von amnesty international zeigen, wird sie in mehr und mehr
Staaten praktiziert und toleriert. Besonders Oppositionelle werden von den Schergen
der Regime, die sie bekämpfen, nach Möglichkeit durch Folter entwürdigt und gebrochen, ehe sie umgebracht werden. Stalin ließ seine Gegner aus der alten Leninschen
Partei so lange prügeln und quälen, bis sie in den großen Schauprozessen öffentlich
die absurdesten „Geständnisse“ ablegten. In den zwölf langen Jahren der Hitlerdiktatur wurde nicht nur in den „wilden“ Lagern der SA und in den Konzentrationslagern,
sondern ebenso in den Gestapo-Quartieren und auf den Polizeiwachen gefoltert.
Kein Vertreter der Zeitgeschichte hat es bisher gewagt, eine Monographie über die
„Folter im ›Dritten Reich‹“ zu schreiben und zu veröffentlichen. Und so nimmt es nicht
wunder, daß sich ausgerechnet in Deutschland kürzlich zwei Drittel der Befragten für
die Folterung von Terroristen und Kidnappern aussprachen. Seit Hitler rechnen die
Menschen im Stillen mit allem und wollen es zugleich nicht wahrhaben. Das bringt
sie dazu, das Grauen, das anderen angetan wird, zu tolerieren, und das stempelt sie
zu Bürgern unseres barbarischen Zeitalters. Zu den Menschen, die in der Barbarei
schon heimisch geworden sind, gehören auch die „good American boys and girls“,
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die es in den Irak verschlug und die sich nun für ihre schrecklichen „Spiele“ mit den
ihnen ausgelieferten Gefangenen in Abu Ghureib verantworten sollen. Unter ihnen ist
der Oberfeldwebel Ivan Frederick, der weder in der Schule, noch während seiner
Ausbildung jemals etwas von der „Genfer Konvention“ gehört hat (und sich nun, wo
es für ihn und seine Opfer zu spät ist, auf eigene Faust im Internet darüber zu informieren sucht). Längst ist klar, daß diese gräßlichen Kids nicht auf eigene Faust handelten. Ihre Kommandeure hatten ja den Auftrag, die im kubanischen Stützpunkt
Guantánamo – einem „rechtsfrei“ gehaltenen Raum im Hinterhof der Vereinigten
Staaten – mit „Taliban“-Gefangenen angestellten Experimente in Bagdad zum Wohle
der freien Welt zu reproduzieren. Darüber, wie weit die Kette der Verantwortung
denn wohl hinaufreichte, wird offiziell noch lange gerätselt werden. Inoffiziell ist das
Rätsel längst gelöst: Die Kommandokette reichte von der Hölle von Abu Ghureib bis
in den Himmel von Washington. Jeder Zeitungsleser weiß, daß Bushs Verteidigungsminister Donald Rumsfeld die Terrorisierung gefesselter Häftlinge mit bissigen
Hunden für ein probates Mittel hält und nichts dabei findet, wenn Leute, die als „Terroristen“ verdächtigt werden, sich viele Stunden lang die Beine in den Leib stehen
müssen.
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Seit dem Beginn der Neuzeit haben sich empfindsame Seelen und räsonnierende
Intellektuelle gegen die Folter ausgesprochen. Aufgeklärte Monarchen haben sich im
18. und im 19. Jahrhundert mitunter solche Argumente zu eigen gemacht und sogar
die Abschaffung der „peinlichen Befragung“ in ihren Ländern verfügt. Vom Vormarsch der Folter im 20. Jahrhundert überwältigte Zeitgenossen hingegen tendieren
dazu, die historischen Berichte über Folter in der Antike und im neuzeitlichen Europa,
in prämodernen außereuropäischen Kulturen und in zeitgenössischen lateinamerikanischen Diktaturen (Guatemala, Brasilien, Chile, Argentinien, Perú...) dahingehend
auszulegen, daß es sich bei der Lust am Quälen um etwas handelt, das in der
menschlichen Natur liegt. Über die Menschennatur aber hat die moderne Anthropologie (von Herder über Nietzsche zu Freud und Plessner) herausgefunden, daß sie
„nicht festgestellt“ ist, daß also unsere Antriebs- oder Wunschenergien sowohl von
spezifischen Objekten (Zielen) als auch von spezifischen Handlungen „abgekoppelt“
sind, mit dem Ergebnis, daß die Antriebe selbst „luxurieren“, während die „Objekte“
der Triebbefriedigung erst (kulturell) definiert und die Handlungsweisen (in Sozialisationsprozessen) erlernt werden müssen. Darum ist „der“ Mensch weder gut noch bö-
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se, weder ein Engel noch ein Teufel, sondern formbedürftig und formbar. Erst im Verlauf seiner schwierigen Geschichte ist er zu dem geworden, was er für uns heute
„ist“. Wie die Lebensgeschichte eines Menschen kennt auch die Kulturgeschichte
Fortschritte und Rückschritte, Wiederholungen, Stagnationszeiten und auch das definitive Scheitern. Dieser schwierige Bildungsprozeß wird durch das jeweilige Resultat, das er hervorbringt, verdeckt. Der menschliche Leib ist keineswegs nur ein Vehikel der Selbsterhaltung oder ein Instrument der Arbeit, sondern vor allem ein Lusthaus und ein Schmerzenskeller. Er ist reiz- und quälbar, und die Menschen aller Kulturen waren in der Erfindung von Qualen ebenso findig wie in der von neuen Lüsten.
Wir sind zu allem imstande, unsere Natur setzt uns da keine Schranken. Schranken
setzt nur die jeweilige Kultur, die die luxurierenden Antriebe strukturiert und „bewirtschaftet“. Eine jede Ökonomie ist auch eine Ökonomie des Leibes, eine Ökonomie
der Liebe und des Todes, der Erotik und der Destruktion. Unsere unspezifisch gewordenen Bedürfnisse bedürfen der Strukturierung; keine Befriedigung ist ohne vorangehende Deutung, Bewertung und Formierung möglich. Und auch den strukturierten Bedürfnissen sind wir nicht ausgeliefert; wir können (und müssen) zu ihnen Stellung nehmen, von ihnen Abstand nehmen, sie kultivieren oder vergällen, sie um- und
ablenken... Die meisten Herrscher und Möchtegern-Herrscher kultivieren die Grausamkeit gegenüber den ihnen Unterworfenen, und sie qualifizieren sich dadurch
zugleich gegenüber Untertanen und Feinden als nicht quälbare „Übermenschen“. Die
Angehörigen beliebiger Wir-Gruppen grenzen sich (vor allem im Krisenfall) gern
durch Pogrom, Folter und Massaker von denen ab, die sie als Nicht-Zugehörige ausschließen. Kinder, die selbst von Erwachsenen abhängig sind, lieben grausame
Spiele mit Tieren, deren Wohl und Wehe ganz von ihnen abhängt. Die Lust, die die
Folterer aus der Folter ziehen, resultiert aus dem Machtgewinn, aus der praktischen
Bestätigung ihrer Übermacht. Macht besteht, wie Nietzsche erkannt hat, wesentlich
darin, straflos ein fühlendes Lebewesen, eine autonome Person so zu traktieren, als
handele es sich um ein fühlloses Ding. Der Genuß dieser Macht liegt darin, ein wehrloses Opfer auf der Grenze zwischen Leben und Tod vor sich herzutreiben und es
schließlich vom Leben zum Tode zu befördern. Das Foltern ist eine Möglichkeit, die,
wie vieles andere, in unserer „Natur“ liegt; doch wie wir uns dazu stellen, hängt von
uns ab, ist Sache unserer „zweiten“, der kulturellen Natur. In Gesellschaften wie der
unseren, in der ein Fünftel der lebenden Menschen in irdischen Paradiesen lebt und
ein anderes Fünftel in irdischen Höllen vegetiert, erscheint die Folter als ein beinahe
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unentbehrliches Herrschaftsmittel, als eine Institution wie der Krieg, der Staat oder
das Geld. Institutionen funktionieren nur, wenn die Menschen, die in ihrem Rahmen
leben, Dispositionen ausbilden, die sie instandsetzen, als (widerstrebende) Träger
dieser Institutionen zu fungieren. Bei den gesellschaftlichen Institutionen und ihrem
Gegenstück, den individuellen Motivationen, handelt es sich nicht um Naturtatsachen, sondern um sozial- und lebensgeschichtlich entstandene Strukturen, die prinzipiell änderbar sind. Über kulturelle Verpönungen sind im Laufe der Zeit die religiösen Menschenopfer und der Kannibalismus erst eingeschränkt und dann abgeschafft
worden, in den fortgeschrittensten Gesellschaften ist die Lust am öffentlichen oder
geheimen Zerstückeln von Menschen umgeschlagen in den Ekel daran. Daß die Folter eine menschenmögliche Praxis ist, liegt auf der Hand (auch wenn es von Menschenfreunden gern geleugnet wird). Daß wir unter günstigen Voraussetzungen imstande sind, auf das Ausleben dieser Möglichkeit und auf die Institutionalisierung
dieser Praxis zu verzichten, ist freilich ebenso unverkennbar. Die Folter ist keineswegs zu allen Zeiten und gegenüber allen Menschen praktiziert worden; es gab lange Perioden, in denen die Herrschaftssicherung ohne Folter auskam, und es gab
stets auch privilegierte Gruppen, die von Folter verschont blieben. Unsere und die
auf uns folgende Generation hat es in der Hand, die Folter nachhaltig zu ächten und
Institutionen zu schaffen, die die Durchbrechung des in uns nur schwach verankerten
Verbots, anderen Böses zuzufügen, ahnden, ja, dieses Verbot zu einem neuen, starken, progressiven Tabu ausgestalten. Wir müssen den Kampf der Aufklärer gegen
die Folter wieder aufnehmen. Dieser Kampf ist am leichtesten von den Oasenländern
aus zu führen, in denen die Folter zur Ausnahme geworden ist und in denen eine
freie Debatte über die Funktion der Folter und die Möglichkeiten ihrer Abschaffung
eröffnet werden kann.
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Zu allen Zeiten haben Befürworter der Folter „gute Gründe“ vorgebracht, warum es
unabdingbar sei, Menschen zu quälen. Auch daraus ersieht man, daß es nicht einfach „in der Natur der Menschen“ liegt, andere lustvoll zu ruinieren, sondern daß sie
auch dafür Rechtfertigungen brauchen. Ein Blick auf die Geschichte der Folter lehrt,
daß die historischen Rechtfertigungen der Folter wechseln, die Praxis selbst sich aber kaum ändert. Inquisitoren hatten das „Seelenheil“ von Ketzern und Hexen im Auge, wenn sie sie dazu zwangen, sich die Hirngespinste der Theologen zu eigen zu
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machen und für das Protokoll abscheuliche Verbrechen und sexuelle Abenteuer mit
dem Satan zu erfinden. Stalins Henker zwangen alte Revolutionäre, das Wahnsystem des „Vaters der Völker“ zu bestätigen, indem sie sich als Spione im Dienste Hitlers oder des Mikado outeten. Die „Geständigen“ landeten dann allemal auf dem
Scheiterhaufen oder im Erschießungskeller der Lubjanka. Die Verfolger jagen das
„Böse“, das sie selbst in sich tragen, in Gestalt des Bösen, das sie anderen zuschreiben, und sie versuchen, es zu vernichten, indem sie selbst zu Quälteufeln und
Massenmördern werden. Diese Jagd findet kein Ende. Darum ist die Folter ein
Selbstzweck. Bei den anderen „Zwecken“, die jeweils vorgeschoben werden, um ihren Einsatz zu „legitimieren“, handelt es sich entweder um imaginäre oder sie werden
durch das „Mittel“ der Folter zunichte gemacht. So, wie in früheren Zeiten die „Juden“
als Brunnenvergifter und „Rassenschänder“, die „Hexen“ als Vieh- und Menschenverderber, die „Trotzkisten“ als Volksfeinde gejagt wurden, so heftet sich heute der
Verfolgungswahn der Verfolger an „Terroristen“ mit der Bombe im Schuh und dem
Pilotenschein in der Tasche und an „Araber“, die eine Prise Plutonium im Gepäck
haben könnten. Unablässig sind die Folterer auf der Suche nach sich selbst als dem
eigentlichen „Verbrecher“, und diese Jagd geht ins Maßlose und Unendliche – wie
die Kriege gegen die „Ungläubigen“ und die gegen die „Terroristen“.
*
Unser Interesse ist, zu verhindern, daß sich die Schrecken des 20. Jahrhunderts
wiederholen oder gar potenzieren. Darum ist es Zeit für ein minimales Aktionsprogramm der Weltbürger des 21. Jahrhunderts. Zu den wenigen Punkten eines solchen
Programms wird die unbedingte Ächtung und Verweigerung von Folter und Massaker
gehören, weil Folter und Massaker jedes Ziel zunichte machen, zu dessen vermeintlicher Beförderung sie eingesetzt werden. Die internationalen Deklarationen und
Konventionen gegen Folter und Massaker sind einstweilen nur die „feierliche Ergänzung“ einer Welt, in der Folter und Massaker an der Tagesordnung sind. Sollen diese
kontrafaktischen Deklamationen in unsere Praxis übersetzt werden, dann müssen
Millionen von Eltern und Lehrern die Verhinderung von Folter und Massaker zu ihrer
Sache machen. Sie müssen aufhören, diese Untaten furchtsam zu beschweigen oder sie (in geheimem Einverständnis mit dem Schrecken, der andere trifft) für „unvermeidlich“ zu erklären. Stattdessen sollen sie in Familien und Schulen ihren Abscheu vor den barbarischen Praktiken bekunden und durch ihr Beispiel die heran-
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wachsende Generation lehren, sich in die Opfer, in alle Opfer, einzufühlen. In Schulen und Universitäten, in Polizeischulen, Militärakademien und Kasernen muß die
Verpönung von Folter und Massaker gelehrt werden, muß im besonderen über die
Geschichte der Folter und über die Folgen der Folter für Opfer und Täter informiert
werden. Jeder Polizist und jeder Soldat muß speziell auf die Verweigerung von Folter
und Massaker (statt nur allgemein auf Vaterland und Verfassung) vereidigt werden.
Die Beteiligung an oder die Duldung von Folter und Massaker müssen mit dem
höchsten Strafmaß geahndet werden. Wir müssen endlich dazu übergehen, diejenigen, die für Folter und Massaker verantwortlich sind, vom Verteidigungsminister bis
zum Handlanger, vom Gefängnisdirektor bis zum ärztlichen Gutachter, öffentlich anzugreifen und zu diskriminieren. Um ein Minimalprogramm gegen die Barbarei
durchzusetzen, brauchen wir ein neues Bündnis der denkenden und leidenden Menschen. Und wenn es Institutionen gibt, die sich ohne Folter und Massaker nicht aufrechterhalten lassen, dann müssen wir auf die Abschaffung dieser Institutionen hinarbeiten.
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