TIERSCHUTZ UND MENSCHENWÜRDE* (‘979) III Kein solches Argument gibt es gegen die Leidverursachung bei Tieren. Freude und Schmerz, Leiden und Wohlbefinden sind nicht »objektive« Tatsachen der Welt, die so etwas wie Sinn erst bekommen durch ihre Nützlichkeit oder Schädlichkeit für gegenwärtige oder kommende »Subjekte«. Sie sind vielmehr selbst Erscheinungsformen von Subjektivität. Sie sind nicht primär nützlich oder schädlich für irgend etwas, sondern die Worte »Nutzen« und »Schaden« haben überhaupt erst eine Bedeutung im Verhältnis zu solchen Zwecken wie Freude oder Wohlbefinden. Solche Zustände gehören gar nicht der Welt der Mittel an, sondern der Welt der Zwecke. Von Freude »hat man nichts«, und zwar deshalb, weil »etwas von etwas haben« letzten Endes nur heißen kann: Freude daran haben. Sittlichkeit heißt zuerst und vor allem: freie Anerkennung der Subjektivität, auch wo es nicht die eigene ist. Nun beginnt dort, wo Schmerz beginnt, Subjektivität, also das Inkommensurable, mit keinem Wert aus dem Bereich des Nutzens Verrechenbare. Wo tierische, das heißt apersonale, Subjektivität in unsere Verantwortung gegeben ist, da ist es konstitutiv für die Menschenwürde, diese freie Anerkennung solcher Subjektivität zu vollziehen. Die Parole »Tierschutz ist Menschenschutz« ist zwar nicht falsch, aber oberflächlich. Nicht das eigene Interesse, sondern die Selbstachtung ist es, die uns gebietet, das Leben dieser Tiere, wie kurz oder lang es sein mag, artgemäß und ohne die Zufügung schweren Leidens geschehen zu lassen. Gerade, weil Tiere ihr Leiden nicht in die höhere Identität eines bewußten Lebenszusammenhangs integrieren und so »bewältigen« können, sind sie dem Leiden ausgeliefert. Sie sind sozusagen im Schmerz nur Schmerz, vor allem, wenn sie nicht durch Flucht oder Aggression auf diesen reagieren können. Solche Schmerzzufügung beziehungsweise artwidrige Tierhaltung kann nicht gegenüber irgendeinem anderen Nutzen des Menschen als dem der Vermeidung vergleichbarer Schmerzen oder der Lebensrettung aufgerechnet werden. Wirtschaftliche Vor- und Nachteile dürfen hier gar nicht in Anschlag gebracht werden und wissenschaftliche Forschungsinteressen nur insoweit, als sie unmittelbar auf Lebensrettung oder auf Vermeidung vergleichbarer Schmerzen gerichtet sind. Denn auch wissenschaftliche Interessen finden ihre Grenzen an den allgemeinen Normen der Sittlichkeit und Menschenwürde. Auch bei wissenschaftlichen Tierversuchen im Dienste menschlicher Gesundheit ist jedoch dreierlei zu beachten: 1. Es darf sich nicht um Versuche handeln, die der größeren Unschädlichkeit von Genußmitteln dienen - also zum Beispiel Tabakwaren oder Kosmetika, welche ihrerseits nicht lebensnotwendig sind. Es widerspricht der Menschenwürde, solchen Genuß mit schweren Leiden von Tieren zu bezahlen. Ein Indiz dafür ist, daß es jedem normal empfindlichen Menschen den Genuß verderben würde, wenn er den Akt der Entrichtung dieses Preises gleichzeitig mit ansehen müßte. Nur die systematische Verheimlichung ermöglicht überhaupt das Vergnügen. 2. Es müssen gleichzeitig zu solchen Versuchen alle Anstrengungen unternommen werden, Ersatzwege für deren Ablösung zu finden. Nach allen Kenntnissen psychologischer und soziologischer Gesetzmäßigkeiten werden solche Anstrengungen im erforderlichen Maße nicht gemacht, solange die abzulösende Praxis nicht deutlich als eben noch geduldetes Provisorium charakterisiert ist. Solange noch große neue Institute errichtet, Gebäude aufgestellt und Planstellen eingerichtet werden, die ausschließlich dem Zweck der Tierversuche dienen, ist es klar, daß hierfür auch die Opfer weiterhin rekrutiert werden. Alle Maßnahmen, die dazu dienen, die Praxis von Tierversuchen komfortabel auf Dauer zu stellen, sind unvereinbar mit dem entschiedenen Verfolgen des Zieles, sie überflüssig zu machen. 3. Die Maßstäbe für das »unumgängliche Maß« an Leiden müssen neu gesetzt werden, und zwar so, daß dieses »Nur-Leid-Sein« des Tieres nicht den wesentlichen Teil seines Lebens definiert. Das Entstehen von Subjektivität in Form bloßen Schmerzes geschieht dann und wann von Natur als dunkles Schicksal. Ihre bewußte Produktion zu einem wie immer gearteten Nutzen ist mit dem Gedanken der Menschenwürde unvereinbar. Eine letzte Forderung muß noch genannt werden, die sich aus der Würde des Menschen ergibt. Es wurde oben gesagt, die Würde gründe darin, daß der Mensch sich über seine Interessenperspektiven zu einer Perspektive unparteiischer »Gerechtigkeit« erheben kann. Das heißt nun nicht, daß wir deshalb aufhören würden, Wesen mit subjektiven Interessen zu sein. Diese Interessen können mit der Forderung unparteiischer »Herrschaft« im Einzelfall stark kollidieren. In solchen Fällen ist es wiederum ein Anzeichen für den Besitz von Gewissen, wenn man die eigene Befangenheit bemerkt, in Rechnung stellt und deshalb die Entscheidung im Konfliktfall abgibt. Leider wird bis heute in Sachen des Tierschutzes gegen diese elementare Pflicht der Selbstachtung systematisch verstoßen. Die legitimen Interessen von Wirtschaft, Landwirtschaft und Wissenschaft sind mit denen der Tiere, die von ihnen in Dienst genommen werden, unvermeidlich in potentiellem Konflikt. Der Tierschutz schränkt die Interessen-befriedigung innerhalb dieser Bereiche potentiell ein. Es ist daher unsinnig, den Tierschutz ausgerechnet in einem Ministerium anzusiedeln, in welchem das dominierende und legitimerweise leitende Interesse dem Tier nur unter dem Aspekt seines Nutzens für den Menschen gilt, nicht aber der zu diesem Aspekt quer stehenden, selbst einen ganz anders gearteten »Nutzen« und »Schaden« definierenden Subjektivität des Tieres, die uns als solche gerade nicht nützt, sondern allenfalls freut, und die wir anzuerkennen haben. Für »Anerkennung« zuständig sind die Ministerien des Inneren und der Justiz. Wenn wir davon ausgehen, daß es sich um eine Anerkennung handelt, die nicht eine Rechts-beziehung konstituiert, sondern die sittliche Substanz der »öffentlichen Ordnung« betrifft, so kann der Ort des Tierschutzes eigentlich nur das Innenministerium sein. Und schließlich ist es zwar verständlich, aber nicht in einem ehrenvollen Sinn, wenn experimentierende Forscher darauf bestehen, daß sie selbst in »Ethik-Kommissionen«, die über Zulässigkeiten von Tierversuchen entscheiden, die Mehrheit besitzen. Warum? In der Humanmedizin scheinen solche Ethik-Kommissionen in der Tat etwas sehr Fragwürdiges zu sein, weil sie dem Arzt eine Verantwortung abnehmen, die wesentlich zu seinem Arztsein gehört. Er ist als Arzt ja selbst dem Wohl des Patienten verpflichtet. Der Tierexperimentator ist als solcher so wenig primär dem Wohl des Tieres verpflichtet wie der gewerbsmäßige Tierhalter. Er müßte deshalb als sittliches Wesen selbst fordern, daß die Frage der Zulässigkeit seiner Versuche durch Menschen entschieden wird, die nicht durch das primäre Interesse am Versuch und seinen Ergebnissen bestimmt und deshalb insofern nicht befangen sind. Gleiches gilt für die institutionalisierte Wissenschaft. Sie, zum Beispiel die Deutsche Forschungsgemeinschaft, kann in Fragen dieser Art niemals als unparteiischer Berater und Schiedsrichter auftreten, da sie hier wesentlich Partei ist. Tierische Verhaltensforschung ist zwar von großer Bedeutung für die Erkenntnis dessen, was artgemäßes Leben, tierisches Wohlbefinden ist und welche Faktoren beim Schmerz eine Rolle spielen. Aber die Anerkennung dieser Größen, die Anerkennung tierischer Subjektivität als ein - wenngleich nicht unbedingter - »Zweck in sich selbst«, der unserer Zweckverfolgung, auch der wissenschaftlichen, Grenzen setzt, diese Anerkennung ist ein Akt der Freiheit, ein Akt der praktischen, nicht der theoretischen Vernunft. Wissenschaftler haben hier, wie schon Kant sah, anderen Menschen nichts voraus. Und insofern es gerade ihre Interessen sind, die beschränkt werden, muß ihr Urteil sogar gegenüber dem anderer Menschen zurückstehen. Es würde sie als Menschen deshalb ehren, wenn sie selbst sich für befangen erklärten und die Rolle des Richters in eigener Sache von sich wiesen.