Das Johannes-Evangelium schildert, wie Jesus sich am Tag vor seinem Tod seinen Jünger zuwendet. Die sogenannten „Abschiedsreden“ sind erst nach Ostern literarisch gestaltet so gestaltet worden. Es ist nicht der historisch belegbare Buchstabe, es ist der Geist, der sich in diesen Worten ausdrückt, der den jungen Christengemeinden nach Ostern vertrauenswürdig und überlieferungswert geworden war in der Weise, wie er das Geschehene beschreibt und deutet. In der Gestalt Jesu vor Ostern haben die ersten Christen sich vom auferstandenen Christus in ihrer eigenen Gegenwart angesprochen gewusst. In der Gestalt der Jünger vor Ostern haben sie sich selbst erkannt. Darum sind diese Worte in der Kirche als kostbar wertgeschätzt und überliefert worden. Einen Abschnitt aus den „Abschiedsreden Jesu“ hören wir heute als Predigttext. Aus dem Evangelium nach Johannes im 16. Kapitel. Jesus sagt: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen. Da sprachen einige seiner Jünger untereinander: Was bedeutet das, was er zu uns sagt: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen; und: Ich gehe zum Vater? Da sprachen sie: Was bedeutet das, was er sagt: Noch eine kleine Weile? Wir wissen nicht, was er redet. Da merkte Jesus, dass sie ihn fragen wollten, und sprach zu ihnen: Danach fragt ihr euch untereinander, dass ich gesagt habe: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen? 2 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll zur Freude werden. Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde ist gekommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist. Auch ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen. Und an jenem Tag werdet ihr mich nichts fragen. Johannes 16, 16 (17-19) 20-23a Liebe Gemeinde, 1. schon andere, die über diesen Text zu predigen hatten, haben sich gefragt, wie das zusammenpasst: am Sonntag Jubilate, dem Sonntag der Freude, die Rede von „Weinen und Klagen und einer Traurigkeit, die sich erst in der Zukunft noch zur Freude wandeln soll.“ Johann Sebastian Bach hat eine Kantate für diesen Sonntag Jubilate geschrieben. Bedrängnis, Gefährdung, Not, Sorgen, Klagen und Leiden setzt er darin eindrücklich in Szene. Passt das mit der Aufforderung Jubilate zusammen? Die Fragen nach Bedrängnissen, nach Tod und Leben, nach Leid und Erlösung, sind unter den jungen Christengemeinden nach Ostern nicht wie auf einer Liste zu klärender Dinge endlich abgehakt. Sie bleiben im 3 eigenen Leben bedrängend auch dort, wo Menschen von Ostern herkommen und mit der Gewissheit der Auferstehung Jesu leben. 2. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet weinen und klagen, ... ihr werdet traurig sein ... Das ist bis heute Realität. Jeder und jede von uns weiß etwas davon zu erzählen. Menschen sind unter uns, die in der vergangenen Woche von einem nahen Menschen Abschied nehmen mussten, ... ... andere, die der plötzliche Tod einer Nachbarin, einer Freundin und Bekannten überfallen hat. Und auch da, wo wir nicht mit dem Tod konfrontiert sind, wo nicht ein Mensch gestorben ist, leben wir mit Abschieden, die weh tun können. Das Ende einer langen Beziehung, das Zerbrechen einer Freundschaft, das erzwungene Verlassen der Heimat, der Abschied der Kinder aus dem Elternhaus, die Einschränkungen und Behinderungen, die eine Krankheit oder das Alter mit sich bringen, Veränderungen, die wir nicht aktiv betreiben, sondern zu nächst erleiden und irgendwie verarbeiten müssen. Auch Übergänge in Lebensalter und – situationen können sind mit Abschieden verbunden, die durchaus schmerzlich sein können. 3. Ihr werdet weinen und klagen, ... ihr werdet traurig sein ... 4 Wie gut, wenn das sein darf! Was hier manchem wie eine lapidare Feststellung klingen mag, hat einen ganz hohen Wert. Wie wichtig ist es, dass Trauer anerkannt wird. „Ja, Du hast Grund zu klagen und traurig zu sein und zu weinen.“ Und genauso wichtig ist es, sich selbst das zuzugestehen. Früher haben wir einander beim Verlust eines Angehörigen ein Trauerjahr zugestanden, äusserlich erkennbar durch die in diesem Jahr getragene dunkle Kleidung. Die Kleidung müssen wir nicht mehr tragen, aber die Zeit müssen wir uns zugestehen – und manchmal auch die Hilflosigkeit aushalten und auf zu schnellen und darum billigen Trost verzichten. Dass wir das zulassen, dass es sein darf, dass ich traurig bin und leide, das kann wichtig und etwas sehr Gutes sein, dass ich als trauernder Mensch einen Platz habe und die Trauer in mir einen Platz hat. 4. In der kirchlichen Ordnung der Predigttexte sind einige Verse in diesem Abschnitt ausgeklammert. Vielleicht weil sie zu verwirrend klangen? Es gibt da ein verwirrtes Gespräch unter den Jüngern, in das sich dann Jesus einschaltet. Ich finde das ganz spannend: Jesus hatte gerade gesagt: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen. Da sprachen einige seiner Jünger untereinander: Was bedeutet das, was er zu uns sagt: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen; und: Ich 5 gehe zum Vater? Da sprachen sie: Was bedeutet das, was er sagt: Noch eine kleine Weile? Wir wissen nicht, was er redet. Es kann sein, dass „die kleine Weile“ eine ganze Weile länger dauert. In bestimmten Situationen des Lebens kann „eine kleine Weile“ eine ganze Ewigkeit sein. Die Jünger – hier noch vor (!) dem drohenden Verlust doch schon von der Nachricht betroffen – sind verwirrt. Ein Verlust kann uns verwirren. Wir sind dann nicht ganz zurechnungsfähig. Wir können uns unter Umständen nicht selbst sortieren. Was jemand sagt, erreicht uns nicht. Da sind wir angewiesen darauf, dass Menschen uns nicht für verrückt halten; und Verständnis aufbringen. 5. Da merkte Jesus, dass sie ihn fragen wollten, und sprach zu ihnen: Danach fragt ihr euch untereinander, dass ich gesagt habe: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen? Trotz der Verwirrung finde ich es schön, wie Jesus die Menschen hier anspricht. Er merkt: Sie würden ihn gern fragen, wovon Er eigentlich spricht. Sie trauen sich aber nicht. Von seiner Seite aus bleibt Jesus mit ihnen im Gespräch. Ein Gespräch kann, wie es hier scheint, erst einmal nichts ändern. Es nimmt die Trauer nicht weg. Es ändert die Verhältnisse nicht und 6 macht den Grund der Traurigkeit nicht ungeschehen. Und doch geschieht sehr viel in einem Gespräch! Im Sprechen fange ich an, meine Gedanken und mich selbst ein wenig zu sortieren. Ich fange an, ein klein wenig Abstand zu gewinnen. Und irgendwann beginne ich, wieder ein wenig Freiraum zu empfinden zu Entscheidungen und zum Handeln. Wie gut, wenn ich die Möglichkeit habe, mit Menschen zu sprechen. Das Evangelium stellt uns die Jünger Jesu vor Augen, um uns zu sagen: Auch Ihr könnt in ein Gespräch mit Ihm, mit dem Herrn finden! Auch Ihr könnt seine Stimme hören. Im Gottesdienst, in der Feier des Abendmahls, in Liedern und Gebeten, in der Stille ... sind Erfahrungen möglich, von Gott persönlich gemeint und angesprochen zu sein. Wer sich im Gottesdienst darin übt, seine Stimme zu hören, wird sie auch im eigenen Alltag hören ... Dass die Jünger den Herrn nicht verstehen und dann verwirrt sind ... es hält sie nicht ab, die Fragen weiter zu bewegen – vor Ihm und im Bewusstsein Seiner Gegenwart. In diese Moment trägt sie noch nicht ein Wissen, wie es weiter geht, sondern das Vertrauen in eine Beziehung. 6. Wir wissen nicht, wovon er redet. 7 Wie kann aus Trauer wieder Freude werden, auf den Tod eine Auferstehung folgen, eine dunkle Lebensphase wieder ins Helle führen, ein Abschiedsschmerz sich wandeln in etwas Leichteres, mit dem ich leben kann ... ? Wir wissen nicht, wovon er redet. Jesus gebraucht ein Bild, um ihnen ein wenig weiter zu helfen: Wenn eine Frau ein Kind zur Welt bringt, hat sie Schmerzen. Manchmal kann das auch eine ganze Weile dauern. Die Frau hat das Gefühl, das hört nie wieder auf, das schaffe ich nicht ... Wenn das Kind gesund zur Welt gekommen ist, dann ist die Freude so groß. Und in der Freude über diesen kleinen Menschen tritt der Schmerz, den sie durchlitten hat, in den Hintergrund. Das Bild hilft noch nicht zum Wissen. Das ist klar. Aber vielleicht zu einer Ahnung davon, dass es sich lohnen kann, zu vertrauen. 7. Manchmal bringe ich selbst das Vertrauen noch nicht auf. Ein anderer, der meinen Kummer nicht weg redet, aber das Vertrauen hat, dass darin ein Weg möglich ist, kann mir eine Hilfe sein ... so wie es damals den Jüngern eine Hilfe war, das Jesus sich in das Schweigen und das Klagen-Fragen-Nichtverstehen eingeschaltet hat. Später hat Er mit Ihnen das Abendmahl gefeiert und sie ermutigt, dies weiter zu tun gerade durch die Krise der Trennung hindurch. Auch das Abendmahl beantwortet wohl nicht die Fragen. Aber es hilft in eine Beziehung hinein, in der ich Vertrauen gewinnen kann. 8. 8 „Ach, Sie haben keine Angst vor dem Sterben?“ Ein Pfarrkollege (der ev. Pfarrer Martin Fricke) hat ein Interview ausgegraben, das der, WDR2-Moderator Uwe Schulz mit der 90jährigen Schwester Agnella im Kloster Mariendonk führte. Er hatte die Schwester gefragt: „ Sie haben keine Angst vor dem Sterben?“ Schwester Agnella, die er als klein und zerbrechlich schildert und sterbenskrank, antwortet: „Nein, obwohl ich mit der Todesangst auf die Welt gekommen bin. Ich war klein, rothaarig, überaus zart und sensibel und fast ständig in Angst. Ich versteckte mich vor Besuchern, die zu uns kamen. Ich hatte einfach Angst vor allem, das nicht zu meiner unmittelbaren Umgebung gehörte. Und selbst beim Spiel `Räuber und Gendarm´ stand ich in meinem Versteck wahre Todesängste aus – am ganzen Leibe zitternd. Ich war vielleicht zehn, wir hatten Verwandte auf dem Eichsfeld in Thüringen, wo wir in der Sommerfrische immer hinfuhren, und ich vermute, dass es da passiert ist.“ „… dass sich das Mädchen, das Sie damals waren, von seiner Angst befreien konnte?“ „Eines Tages trat die Vernunft auf den Plan: `Warum gehst du nicht einfach hinaus aus deinem Versteck und lässt dich fangen? Das wäre doch nicht halb so schlimm wie diese Angst.´ Gedacht – getan! Ich bin rausgegangen, und von dem Augenblick an hatte ich eine unglaubliche Freiheit. In der Rückschau kann ich sagen: Ich war danach an nichts mehr gebunden. Ich liebte das Leben, aber ich hing an nichts mehr. Das ist die Grundhaltung meines Lebens.“[1] „Und was möchten Sie denen, die nach Ihnen sind und kommen werden, hinterlassen: eine Botschaft, einen Hinweis, ein Beispiel?“, fragt Uwe Schulz Schwester Agnella zum Abschied. „Das, was ich auch 9 mir selber sage“, entgegnet sie: „`Furchtsame Seele, hab keine Angst. Geh hinaus aus deinem Versteck – und lass dich fangen!´ Das ist die innere Freiheit der Liebe.“[2] Hans Dieter Hüsch dichtet seinen eigenen Psalm darauf. Mit ihm möchte ich schließen: Ich bin vergnügt, erlöst, befreit. Gott nahm in seine Hände meine Zeit, mein Fühlen, Denken, Hören, Sagen, mein Triumphieren und Verzagen, das Elend und die Zärtlichkeit. Was macht, dass ich so fröhlich bin in meinem kleinen Reich. Ich sing und tanze her und hin vom Kindbett bis zur Leich. Was macht, dass ich so furchtlos bin an vielen dunklen Tagen. Es kommt ein Geist in meinen Sinn, will mich durchs Leben tragen. Was macht, dass ich so unbeschwert und mich kein Trübsal hält, weil mich mein Gott das Lachen lehrt wohl über alle Welt. Ich bin vergnügt, erlöst, befreit. Gott nahm in seine Hände meine Zeit, mein Fühlen, Denken, Hören, Sagen, 10 mein Triumphieren und Verzagen, das Elend und die Zärtlichkeit. Der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserm Herrn und Bruder. Amen. [1] Uwe Schulz, Nur noch eine Tür. Letzte Gespräche an der Schwelle des Todes, Basel 2014, S. 102f. [2] Uwe Schulz, Nur noch eine Tür, a.a.O., S. 110.