Roland Müller Franziska von Westerholt Historischer Roman Drittes

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Roland Müller
Franziska
von Westerholt
Historischer Roman
Drittes Buch
Wer das Schwert nimmt,
soll durch das Schwert umkommen
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Und siehe,
einer von denen, die bei Jesus waren,
streckte die Hand aus und zog sein Schwert
und schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters
und hieb ihm ein Ohr ab.
Da sprach Jesus zu ihm:
Stecke dein Schwert an seinen Ort,
denn wer das Schwert nimmt,
der soll durchs Schwert umkommen.
Oder meinst du,
ich könnte meinen Vater nicht bitten,
dass er mir sogleich
mehr als zwölf Legionen Engel schickte?
Wie würde dann aber die Schrift erfüllt,
dass es so geschehen muss?
(Matthäus 26.51-54)
3
4
1.Kapitel
I
W
ährend Christian die morschen
Stufen der Kellertreppe hinunter stieg, schlug ihm Lärm
entgegen wie aus einer Trinkstube. Ist
das denn vernünftig, solch ein Spektakel
zu vollführen? Es musste immerhin
nicht jeder in der Stadt wissen, dass sie
sich jeden Dienstag kurz nach Einbruch
der Dunkelheit dort unten trafen! Der
junge Mann stieß eine nur angelehnte
Tür auf und betrat einen engen,
muffigen Lagerraum. Kisten und Ballen
ließen nur wenig Platz in der Mitte.
Dort stand eine Öllampe auf dem
Fußboden. Ihr schwacher, flackernder
Schein beleuchtete die vor Erregung
geröteten Gesichter einer Gruppe von
Bürgern. Sie benutzten die Kisten und
Ballen als Sitzgelegenheiten.
"Man kann euch bis zum Dom hin
hören!" rief Christian beim Eintreten.
"Ich dachte, wir wollen dem
ehrwürdigen Herrn Erzbischof eine
Überraschung bereiten."
"He, ho! Da bist du ja endlich! Hat
deine Liebste dich nicht fortgelassen?"
"Meine Liebste?" schrie er außer sich.
"Das muss ich mich fragen lassen?"
Tosendes Gelächter war die Antwort.
"Hereingefallen!" sagte Norbert, sein
etwa gleichaltriger Freund, und zog ihn
auf einen Platz neben sich. "Strafe muss
sein!"
"Erzählt mir lieber, warum ihr so
herumschreit!"
Ein Mann, welcher der Vater fast
aller anderen hätte sein können, ein
Kaufmann seiner Kleidung nach,
wandte sich ihm zu. Er saß erhöht auf
einer etwas größeren Kiste. Schon
dieser kleine Unterschied wies ihn als
den Führer der Gruppe aus. Es gab aber
noch mehr, was ihn auszeichnete. Mit
seinem Bart, auf dessen Pflege er große
Sorgfalt verwandte, folgte er einer
Mode, wie sie durch die Stauferkaiser
unter den Fürsten aufkam. Seine
dunklen
Augen
drückten
Entschlossenheit aus. Allerdings war er
ein eher ruhiger und bedächtiger
Mensch, einer, der mit Geduld auf seine
Gelegenheiten zu warten versteht.
"Wenn Erzbischof Gerhard morgen
im Dom die diesjährige Fastensynode
feierlich beendet, wird er die Stedinger
zu Ketzern erklären. Wir reden uns nun
die Köpfe heiß, was das für uns und
unsere Sache bedeutet."
Christian stieß einen Pfiff aus.
"Seid ihr euch sicher?"
"Du
kennst
doch
meine
Verbindungen zum Palast", sagte
Andreas, ein jüngerer Kaufmann, der
dem Älteren wie ein Sohn zu Füßen saß,
jedoch in Wahrheit mit ihm weder verwandt noch verschwägert war.
"Nun, so eine Ketzerpredigt ist kein
Kinderspiel. Die hält ein Mann wie
Gerhard nicht zum Spaß. Will
er ... Krieg?"
"Vielleicht!"
"Und wie gedenkt er das zu
begründen?"
"Die Bauern haben einen seiner
Dominikaner erschlagen, einen, der
ihnen wegen der verweigerten Zinsen
ins Gewissen reden wollte. Weißt du
noch nichts von dieser Sache?"
"Ich hielt es für ein Gerücht."
"Es ist aber wohl wahr."
Nun fielen sich die Männer, die schon
eingeweiht waren, gegenseitig ins Wort,
um Einzelheiten zu ergänzen.
"Angeblich haben sie jede zweite
Kirche verwüstet."
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"Gottesdienste, so wie sie sein
sollten, gibt es schon lange nicht mehr."
"Sie dulden sogar Wahrsagerinnen."
"Und an die Eide, welche sie dem
Erzbischof geleistet haben, halten sie
sich nicht."
Da verschaffte sich plötzlich Norbert
Gehör.
"Was
soll
denn das?
Kein
Gottesdienst,
Wahrsagerinnen,
Eidbruch! Seit wann glaubt ihr das, was
dieser Halunke verbreitet? Habt ihr
vergessen,
weshalb
wir
hier
zusammenkommen?! Gerhard ist ein
Kirchenfürst, wie ihn der Teufel sich
nicht besser wünschen könnte. Er bricht
seine Eide, noch ehe er sie schwört,
wenn es ihm einen Vorteil bringt. Für
den zählen nur Macht und Gold. Wieso
redet ihr mit seiner Zunge? Die
Stedinger sind unsere natürlichen
Freunde, weil sie seine Feinde sind."
Einige Zeit herrschte Stille im Keller.
Einige der Männer nickten und
schämten
sich
insgeheim,
dem
Erzbischof auf den Leim gekrochen zu
sein. Andere blickten skeptisch drein
und rangen noch um eine Meinung.
Schließlich ergriff der Ältere wieder das
Wort.
"Die Stedinger können nicht unsere
Freunde sein. Wir sind Bürger und sie
sind Bauern. Das ist ein Unterschied. Es
mag sein, dass sie uns zeitweilig
nützlich sind. Vielleicht lohnt sich sogar
(in einer bestimmten Lage) ein Bündnis
mit ihnen. Doch das sollten wir uns gut
überlegen."
Seine
ruhige,
überlegene
Art
verfehlte nicht die beabsichtigte
Wirkung.
"Das war sehr vernünftig, was der
Gottfried da gesagt hat", bestätigte
Andreas mit dem Eifer eines strebsamen
Schülers - und übersah das Lächeln, das
über die Gesichter der anderen huschte.
Während die Versammelten nun
wieder zu disputieren begannen, folgte
Christian seinen eigenen Gedanken. Es
war eine Eigenheit von ihm, dass er bei
politischen Fragen jede Aussage lange
im Kopf hin und her wälzte. 'Die Politik
ist eine Hure. Ein jeder treibt's mit ihr,
wie's ihm g'rad paßt.' Das war einer
seiner
Lieblingssprüche.
Das
Misstrauen, das ohnehin zu seinen
charakteristischen Eigenschaften zählte,
trieb er auf diesem Gebiet besonders
weit. Er glaubte niemandem, seinen
Freunden ebenso wenig wie seinen
Gegnern.
Die
Stedinger
waren
die
Nachkommen holländischer Siedler.
Bremer Erzbischöfe hatten sie in der
ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts
mit
günstigen
Pachtbedingungen
herbeigelockt.
Damals
war
der
Landstreifen beiderseits der Weser noch
unfruchtbar
und
menschenleer.
Schilfartiger Rusch wuchs dort.
Mittendrin standen ein paar Eichen,
Erlen und Eschen. Schon bald zeigte
sich aber, dass der Boden, sobald man
ihn entwässert hatte, gute Feldfrüchte
hervorbrachte. Die Bauern kamen
innerhalb weniger Generationen zu
beträchtlichem
Wohlstand.
Dabei
hielten sie an den Traditionen aus der
Anfangszeit fest. Wie in ihrer Heimat
üblich, begrenzten sie die Parzellen
gerade und rechtwinklig. Die Dörfer
lagen in der Nähe der Deiche und waren
geschlossen wie Städte.
Das Leben in diesen neuen Dörfern
verlief lange Zeit friedlich. Die
Familien zahlten regelmäßig den (nach
wie vor niedrigen) Zins an den Bremer
Erzbischof und entrichteten bereitwillig
auch den Kirchenzehnt. Um die Wende
zum dreizehnten Jahrhundert bahnten
sich allerdings Auseinandersetzungen
an. Den Adligen in der Umgebung war
es ein Ärgernis, dass diese Bauern in
einem Großteil des Marschlandes eine
eigene Gerichtsbarkeit pflegten. Musste
ein solches Vorbild auf die Dauer nicht
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verderbliche Folgen nachziehen? Vor
allem Moritz, der machthungrige Graf
von Oldenburg, tat sich hervor. Ihm war
die Vogteigewalt über die dem
Erzbischof
unterstellten
Gebiete
übertragen. Doch das reichte ihm nicht.
Er mochte seine Macht nicht teilen,
schon gar nicht mit Bauern. Die volle
Feudalordnung forderte er - mit
Gewinn- und Willkommengeldern,
Meierrecht und Leibeigenschaft.
Im Jahre 1204 brach der Konflikt
offen aus. Moritz unterhielt damals zwei
Burgen in unmittelbarer Nähe des
Stedingerlandes - die Burg Lichtenberg
am linken Hunteufer und die Burg
Linnen bei Elsfleth. Die Bauern
verbitterte, dass von dort zahlreiche
Überfälle auf junge Bauernmädchen
ausgingen. Die Waffenknechte des
Grafen hatten leichtes Spiel, denn die
Dörfer lagen weit auseinander und die
Wege waren lang, zum Beispiel am
Sonntag beim Kirchgang. Immer wieder
forderten die Eltern der Opfer harte
Bestrafung der Schuldigen. Die Hauptleute aber machten mit ihren Knappen
gemeinsame Sache und beteiligten sich
selbst mit an den Vergewaltigungen.
Eines Nachts trafen sich etliche
entschlossene Männer am Brokdeich bei
Iprump und rüsteten sich zum Sturm.
Unter dem Vorwand, wieder einmal
Beschwerden vortragen zu wollen,
verschaffte sich eine Vorhut Einlass.
Die Besatzung am Tor wurde überwältigt. Dann brachen die anderen aus
dem Wald hervor. Nach kurzer Zeit
standen beide Burgen in Flammen. Die
Waffenknechte suchten das Weite sofern sie nicht erschlagen worden
waren. Unter dem Eindruck des
Handstreichs kam es zum allgemeinen
Aufstand. Moritz von Oldenburg, der
nicht hatte teilen wollen, verlor seine
Vogtei nun ganz.
Es sollte aber noch ärger werden. Ein
dem Erzbischof unmittelbar unterstellter
Geistlicher leistete sich einen üblen
Streich. Eine Bäuerin hatte ihm nach
der Beichte nur einen Pfennig gegeben.
Als Rache steckte er ihr beim nächsten
Abendmahl diesen Pfennig an Stelle der
Hostie in den Mund. Während des
Aufruhrs, den das auslöste, kam er zu
Tode. Der Bremer Erzbischof forderte
energisch
die
Auslieferung
der
Schuldigen. Die Stedinger indes wollten
sie selbst aburteilen. Am Ende waren
die Fronten derart verhärtet, dass die
Marschlandbauern aus Trotz alle
Zahlungen einstellten.
Der Bruch war vollzogen. Aus Angst
vor Vergeltung begannen die Stedinger
mit
dem
Bau
umfangreicher
Verteidigungsanlagen. An der Ochtum
entstanden ein gemauerter Graben
sowie ein Wall von der Höhe eines
Hauses mit einem Ausfalltor bei
Hasbergen. An der Weser und an der
Hunte wurden die Deiche mit
Verschanzungen bestückt. Im Norden
schränkten die widerspenstigen Friesen
die
Bewegungsfreiheit
feindlicher
Truppen ein. Lediglich Oststedingen
blieb weitestgehend schutzlos.
Schon bald mussten sich die neuen
Anlagen bewähren. Im Jahre 1207 griff
Erzbischof Hartwig II mit einem gut
gerüsteten Heer an. Die Oldenburger
unterstützen ihn. Der Kirchenfürst
erkannte aber nach ersten Scharmützeln,
dass er nur mit hohen Verlusten zum
Erfolg kommen konnte. Als die Bauern
ihm Geld anboten, brach er das
Unternehmen etwas überraschend ab.
Seitdem hatten die Bauern so etwas wie
einen eigenen Staat. Sie nannten ihn
Universitas
Stedingorum
Gemeinschaft der Uferanwohner. Dort
führten sie sogar ein eigenes Siegel.
Christian hatte bisher noch niemals
mit einem Stedinger gesprochen,
jedenfalls nicht wissentlich. Er kannte
nur die Sicht des Erzbischofs und der
Dominikanermönche. Letztere hatten
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vor einigen Jahren ihren ersten Konvent
in Bremen gegründet. Seitdem hetzten
sie mehr und mehr gegen die freien
Bauern von der Weser. Bei ihren
Predigten gingen sie sehr geschickt vor.
Den ungebildeten Leuten boten sie
haarsträubende
Geschichten
an,
behaupteten
zum
Beispiel,
die
Menschen dort behielten nach dem
Abendmahl die Hostie im Mund, um sie
dann auf den Misthaufen zu speien. Den
Kaufleuten, die lesen konnten und in
der Welt herumkamen, wiesen sie nach,
dass Ungehorsam gegenüber einem
Kirchenfürsten gleichzusetzen sei mit
Götzendienst, und der wiederum
Ketzerei bedeute.
Die Mönche mit den weißen Kutten
und schwarzen Mänteln kannten die
Bibel besser als die meisten Priester und
wussten auf jede Frage eine Antwort.
Vielleicht
hätte
auch
Christian
schließlich auf sie gehört, trotz seines
Misstrauens. Die Führer des Konvents
aber galten als Busenfreunde des Erzbischofs und der stand bei ihm auf der
Liste der fragwürdigen Leute ganz weit
oben. Wer es mit diesem Halunken
hielt, konnte nichts Gutes im Schilde
führen! So fühlte er sich auf die Seite
der Bauern gezogen, ohne dafür auch
nur
eine
einzige
stichhaltige
Begründungen nennen zu können. Um
sich
nicht
der
Lächerlichkeit
preiszugeben, hütete er sich davor, seine
Meinung in dieser Frage laut zu sagen.
Ansonsten war er freilich nicht so
zurückhaltend.
"Ich wette, er wird angekrochen
kommen, um sich Geld zu borgen",
mischte er sich in das Gespräch ein. "So
ein Feldzug, der kostet einiges."
"Und wir sollten das ausnutzen",
nahm Norbert den Faden auf.
Diesmal waren sich alle einig. Mit
seinen hochfliegenden Plänen geriet der
Erzbischof
in
eine
gewisse
Abhängigkeit von seinen Bürgern.
"Er muss entscheiden, ob er uns
niederhalten will oder die Stedinger",
sagte Gottfried.
"Wenn er die Bauern morgen zu
Ketzern erklären will, so hat er sich
bereits entscheiden."
Schon ergab sich aber ein neuer
Streitpunkt. Die Bürger konnten ihre
Hilfe nur dann teuer verkaufen, wenn
sie zusammenhielten. Wem aber konnte
man vertrauen? Die, welche hier im
Keller zusammenkamen, vertraten
keineswegs die Mehrheit. Sie hatten
nicht einmal Angehörige einflussreicher
Familien hinter sich. Doch sie waren
voller Ehrgeiz und ohne Furcht. In ihren
Träumen sahen sie Gottfried bereits als
Bürgermeister ins Rathaus einziehen.
Der Lagerraum weitete sich zu einem
Saal.
Die
Kisten
und
Ballen
verwandelten sich in Stühle aus schwarzem, kunstvoll beschnitztem Holz.
Es war stockdunkel, als Norbert und
Christian nach Hause gingen. Ohne ihr
Öllicht hätten sie den Weg nicht
gefunden. Norbert ging Christian
zuliebe einen Umweg. Nach den Versammlungen hielten sie das immer so.
Unterwegs redeten sie noch einmal
unter sich über die wichtigsten Themen.
Dabei stellten sie oft verblüfft fest, dass
sie ähnlich urteilten. Aber auch für die
persönlichen Gespräche war nun die
richtige Zeit.
"Nun verrate mir endlich, warum du
zu spät gekommen bist?"
"Ihr denkt euch da immer gleich was
rein! Der Alte hat mich nicht früher
fortgelassen."
"Du magst ihn nicht, deinen
Stiefvater!"
"Reden wir über etwas anderes!"
"Über Mädchen?"
Christian lachte gutmütig. Wenn
Norbert damit anfing, wurde er niemals
wütend. Er war sein Freund. Von ihm
fühlte er sich ernst genommen, immer.
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Vielleicht band das die beiden nun
schon seit Jahren aneinander.
"Ich werde meine Meinung nicht
ändern. Was sollte mich umstimmen?
Was kann einen Mann an einem Weib
reizen? Doch nur das Dingelchen
zwischen ihren Beinen. Nun, vielleicht
lässt sie dich mal ran. Schön! Aber nach
einem kleinen Moment ist alles vorbei.
Natürlich möchtest du's noch mal erleben. Klar! Du bist auf den Geschmack
gekommen. Nur leider hängen die
Trauben nun schon viel höher. Und so
geht das weiter. Für den kleinen
Moment am Abend musst du einen
ganzen Tag lang auf den Knien liegen.
Und dann kommen Kinder, die dir
nachts die Ohren voll plärren. Das nennt
man die Frucht der Liebe. Nicht wahr?"
"Oh nein! Hör auf! Du bist ein
hoffnungsloser Fall. Gott hat was falsch
gemacht, als er dich schuf."
"Nein, lach nicht! Es ist besser, allein
zu leben."
"Eines Tages hast du vielleicht alle
Männer überzeugt und es werden keine
Kinder mehr geboren. Wer aber soll
sich um dich kümmern, wenn du alt und
krumm bist?"
"Ein paar müssten sich opfern.
Vielleicht sollte man losen, so wie beim
Kriegsdienst. Aber nein! Es gibt ja noch
immer genug Dumme, die sich
freiwillig melden. Niemals werde ich
sie alle überzeugt haben."
"Du glaubst nicht an die Liebe ..."
"... die gibt's nur in den dummen
Gedichten der fahrenden Ritter."
"Aber überkommt es dich nicht
manchmal. Ich meine ..."
"Deshalb würdest du dich einem
Weib an den Hals hängen? Hast du
nicht zwei gesunde Hände?"
"Das wird ja immer schlimmer! He,
das ist Sünde!"
"Ist es nicht! Das Verbot steht im
Alten Testament und gilt nicht mehr."
"Wir sind angekommen. Hau bloß ab!
Du machst mich ganz wirr im Kopf."
"Den, der auf dem Pfade der Tugend
wandelt, vermag nichts zu verwirren."
Sie umarmten sich brüderlich und
gingen auseinander.
II
C
hristian hatte gehofft, sich
ungestört in seine Kammer
schleichen zu können. Für den
Verschlag, den er bewohnte, war das
Wort Kammer eigentlich schon eine
Übertreibung.
Oberhalb
einer
Tischlerwerkstadt im Winkel zwischen
einem Regal für Bretter und dem Dach
befand sich ein Zwischenraum, der
gerade ausreichte, dass ein erwachsener
Mensch
hineinkriechen
konnte.
Christian hatte sich dieses Heim selbst
ausgesucht. Immerhin war er dort oben
allein. Ein Vorhang aus alten, grob
zusammengenähten Säcken schirmte
ihn zur Werkstadt hin ab. Zog er ihn zu,
erfasste ihn ein trügerisches Gefühl,
dass es in dieser Welt etwas gab, was
ihm ganz allein gehörte, ein winziges
Reich, über das er regieren durfte.
Selbstverständlich besaß er auch
Schätze, die er in Verstecken
deponierte, Schriftstücke zumeist.
Schon war er an der Leiter. Noch ehe
er sie aber erklommen hatte, ließ ein
Licht ihn herumfahren. Hinter sich
gewahrte
er
Berthold,
seinen
Pflegevater. Der Tischlermeister war
ein kräftiger Mann Mitte Fünfzig. Sein
von dichten, graumelierten Haaren
umrahmtes
Gesicht
zerfurchten
zahlreiche Falten. Er wirkte sehr ehrbar
und erweckte dadurch rasch anderer
Leute Vertrauen. Zuweilen allerdings
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gab ihm eine geringe Änderung des
Mienenspiels plötzlich einen Zug von
Unnahbarkeit und Strenge, so auch
diesmal.
"Wo kommst du um diese Zeit her?"
fragte er.
"Ich war bei Freunden", entgegnete
der junge Mann kurz.
Er kannte seinen Stiefvater gut genug,
um zu ahnen, was er dachte und was
folgen würde. Meister Berthold hatte
Lebensgrundsätze, denen er unerbittlich
folgte. Genau genommen waren das
nicht seine Grundsätze sondern die der
Zunft, welcher er angehörte. Oft nannte
er sie seine Heimat. Er sagte auch: "Von
ihr verstoßen zu werden, würde für
mich nicht weniger bedeuten, als euch
alle mit einem Schlag zu verlieren.". In
gewisser Hinsicht bewertete er die
Zunft sogar höher als die Familie. Kein
schlimmeres Vergehen konnten sich
seine Angehörigen zu schulden
kommen lassen, als ein solches, das bei
der Morgensprache im Zunfthaus
Aufsehen erregte (oder auch nur
geeignet schien, Aufsehen zu erregen).
"Was sind das für Freunde?“ wollte
er von Christian wissen. „Kenne ich
sie?"
"Nein!" versetzte dieser feindselig.
Hinter der Schulter des Meisters
tauchte das Gesicht seiner Frau auf. Sie
hieß Mathilde, wurde aber von allen nur
Mutter Hilde genannt.
"Wir haben uns Sorgen um dich
gemacht", sagte sie in der Hoffnung,
dadurch die Wogen zu glätten. Christian
wurde jedoch eher noch gereizter. Er
wünschte sich, dass sie ihn hin und
wieder in Schutz nähme. Hatte sie denn
nicht für ihn die Stelle der Mutter
eingenommen? Gewiss, gegen Meister
Berthold war nicht leicht anzukommen,
wenn es um seine Lebensgrundsätze
ging. War es aber wirklich unmöglich?
"Ich arbeite für euch und ich arbeite
nicht schlecht!“ rief er, nun schon
ernsthaft wütend. "Vorhin bin ich
geblieben, bis diese Truhe fertig war.
Nun also! Ihr könnt mir nicht vorwerfen, dass ich euch zur Last falle."
"Das behaupten wir doch gar nicht",
hielt ihm Berthold entgegen mit der
unerschütterlichen
Ruhe
eines
Menschen, der immer Recht hat. "Wir
haben aber Verantwortung für dich."
Der junge Mann schlug mit der
flachen Hand gegen die Leiter.
"Ich kann mein Leben selbst
verantworten. Vielleicht wäre es das
Beste, wenn ich auf Wanderschaft
ginge."
Entschlossen kletterte er zu seinem
Verschlag hinauf, kroch auf sein Lager
und zog den Vorhang zu. Nun fühlte er
sich besser. Allerdings hielt dieser
Zustand nur kurz an. Dann überkam ihn
das schlechte Gewissen. Warum
verhielt er sich seinen Pflegeeltern
gegenüber so? Er hatte doch allen
Grund, ihnen dankbar zu sein! Ohne sie
wäre er wahrscheinlich in einem dieser
schrecklichen Waisenhäuser gelandet.
Wer dort aufwuchs, konnte vom Leben
nicht mehr viel erwarten. Bei Meister
Berthold und Mutter Hilde entbehrte er
dagegen nichts. Sie zogen nicht einmal
ihren leiblichen Sohn Fritz vor.
Norbert hatte einmal gesagt: Du
wetterst gegen jedermann, weil du dich
selbst nicht magst. Dieser Satz
beschäftigte ihn seither. Manchmal
wollte er ihn nicht wahr haben und versuchte, ihn (zumindest für sich) zu
widerlegen - vergebens. Doch warum
mochte er sich selbst nicht leiden? Als
Kind hätte er geantwortet: Weil ich
nicht weiß, wer meine richtigen Eltern
sind. Zu keiner Familie zu gehören, war
für ihn damals ein böser Makel
gewesen. Er fühlte sich anderen
Kindern
gegenüber
zurückgesetzt.
Selbst diejenigen, deren Eltern eine
Krankheit
hinweggerafft
hatte,
beneidete er noch. Die konnten ihren
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Vater und ihre Mutter mit Namen
benennen und auf dem Friedhof
besuchen. Bei ihm lagen die Dinge
anders. Da gab es ein Geheimnis. Seine
Pflegeeltern wollten mit ihm darüber
nicht reden.
Mit dreizehn Jahren stellte er
Nachforschungen auf eigene Faust an und versprach sich davon eine
Aufwertung. In seinen Vorstellungen
tauchten Grafenfamilien auf, denen er
aus einem dunklen Grund abhanden
gekommen war. Entführungen bei
Nacht, Giftmorde, pikante Fehltritte.
Dann die große Enttäuschung am Ende,
über
die
ihn
nicht
einmal
hinwegtröstete, dass er tatsächlich auf
ein Verbrechen gestoßen war.
In der Obhut eines Nonnenklosters
der Zisterzienser lebte eine offenbar
geisteskranke Frau. Sie erledigte dort
die niederen Arbeiten. Mal sah man sie
beim Säubern der kleinen Kirche, mal
beim Ausmisten der Geflügelställe. Sie
war fleißig und deshalb durchaus
beliebt. Allerdings gelang es niemandem, mit ihr ins Gespräch zu kommen.
Sie weigerte sich sogar, den Beichtstuhl
zu betreten. Ihre Ängstlichkeit erinnerte
an das Verhalten eines kleinen Tieres.
Sie spürte mit all ihren Sinnen, wenn
sich ihr jemand näherte und war
jederzeit zur Flucht entschlossen. Man
nannte sie die scheue Anna.
Über diese Frau gab es eine
Geschichte. Um das Jahr 1212, zu jener
Zeit, als der jugendliche Stauferspross
Friedrich siegreich am Rhein entlang
zog und seinem welfischen Rivalen
Otto IV eine Stadt nach der anderen
entriss, als allenthalben Ritter und
Landsknechte zum Verdruss der arbeitenden Menschen umherstreunten, als
der Frieden zwar beschlossen aber noch
nicht durchgesetzt war, damals also
tobte eines bösen Tages nahe beim
Bremer Markt ein Trinkgelage. Ein
Dutzend
Anhänger
des
neuen
Herrschers wollten (inzwischen brotlos
geworden) ihrer Wege gehen. Zum
Abschied berauschten sie sich noch
einmal am Wein (gekauft von den
letzten Geldstücken in ihren Beuteln)
und an den alten Heldentaten (den tatsächlichen und den erfundenen). Als sie
am späten Nachmittag schon schwer
betrunken waren, kam unglücklicher
Weise ein Bürgermädchen in ihre Nähe.
Das zerrten sie in die Runde hinein - um
ein wenig Schabernack mit ihm zu
treiben. Einer der Männer aber wollte
mehr. Er schlug dem Mädchen die
Röcke hoch und vergewaltigte es vor
allen Leuten.
Es wäre ein Leichtes gewesen, den
Schuldigen zu ermitteln. An Zeugen
zumindest bestand kein Mangel.
Niemand aber mochte sich mit den
rauen Gesellen anlegen. Zudem hatte
Friedrich der Stadt ihre Privilegien noch
nicht bestätigt. Die Verurteilung eines
seiner Männer richtete da vielleicht
Schaden an. So hieß es plötzlich, man
wisse nicht genau, wer der eine
gewesen war, der dem Mädchen Gewalt
angetan hatte. Und weil man nicht
blindlings die Unschuldigen mit dem
Schuldigen in einen Topf werfen dürfe,
könne man (leider!) kein Verfahren
eröffnen.
Die
Waffenknechte
verschwanden für immer aus der Stadt.
Es hieß, sie hätten dem Rat ein Geschenk hinterlassen.
Das Mädchen bekam einen Sohn, den
sie nicht annahm. Nicht einmal die
Brust gab sie ihm. Anfangs versuchten
die Leute, sie mit Ermahnungen zu
ihren mütterlichen Pflichten zu drängen.
Doch die Vergewaltigung hatte ihr den
Verstand geraubt. Sie war ein
bedauernswertes Geschöpf, auf das man
nicht noch mehr einprügeln durfte.
Eines
Tages
nahmen
die
Zisterzienserinnen
sie
aus
Barmherzigkeit bei sich auf. Um den
Sohn kümmerten sich Verwandte. So
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wuchs Christian bei dem Tischler
Berthold und dessen Frau (der Mutter
Hilde) zu einem jungen Mann heran.
Durch seine Nachforschungen wusste
er freilich nur, dass die scheue Anna
seine Mutter war. Den Namen seines
leiblichen Vater erfuhr er nicht.
Vielleicht hieß er Egbert. Manche Leute
behaupteten das. Der Name seiner
Familie habe mit der Silbe West
begonnen. Das war aber leider kein sehr
nützlicher Hinweis. Jeder dritte Ort in
der Umgebung Bremens hieß "Süder...",
"Norder...", "Oster..." oder eben
"Wester...". Und warum sollte dieser
Egbert überhaupt aus der Umgebung
Bremens stammen? Im Grunde war das
eher unwahrscheinlich. Wie viele nach
Himmelsrichtungen benannte Orte
mochte es in der ganzen Welt geben?!
Christian versuchte erst gar nicht, sich
Klarheit zu verschaffen.
Angesichts der Umstände war
keineswegs selbstverständlich, dass
Christian im Leben einiges erreichte. Er
erlernte nicht nur das Tischlerhandwerk,
sondern erwarb zudem eine gewisse
Bildung. Meister Berthold war nicht
reich genug für den Luxus, den eine
Schule darstellte. (Auch sein leiblicher
Sohn Fritz kam nicht in ihren Genuss.)
Das verstoßene Kind der scheuen Anna
brachte sich größtenteils selbst bei, was
die Jungen aus den Kaufherrenfamilien
lernten. Gelegentlich bekam er auch
Unterricht von einem Mönch, mit dem
er durch die Vermittlung seines
Freundes Norbert Bekanntschaft schloss
und der sich seiner ohne jeden Lohn
annahm, weil ihn sein ungewöhnlicher
Eifer und seine überdurchschnittliche
Klugheit tief beeindruckten. Allerdings
stieß er auch auf Schwierigkeiten, denn
es wurde nicht gern gesehen, wenn jemand etwas wollte, was ihm seinem
Herkommen nach nicht zustand. Von
einigen bösartigen Schülern bezog er
Prügel, sobald sie ihn in der Nähe ihres
Klosters zu fassen bekamen.
Inzwischen konnte er recht gut Lesen,
Schreiben und Rechnen. Auch hatte er
gelernt, über die Wälle und Mauern
seiner Heimatstadt Bremen hinweg in
die Welt zu schauen. Er konnte
mitreden bei Gesprächen über die
großen Fürstenfamilien und wusste
Bescheid über deren Bedeutung für das
Reich. Schon verhältnismäßig zeitig
hatte er sich dabei eine eigene Meinung
gebildet - und zwar eine ziemlich
radikale, die ihn fast zwangsläufig an
eine politische Gruppe geraten ließ. Es
handelte sich nicht um Gewalttäter,
nicht um Verschwörer im engeren
Sinne, wohl aber um Leute, die mit den
bestehenden Verhältnissen unzufrieden
waren und die ihre Sache ernst nahmen,
die mehr wollten, als sich in muffigen
Kellern die Köpfe heiß zu reden.
Dass sie Waffen besaßen, sagte
allerdings noch nichts aus. Kaufleute
mussten sich gegen Räuber verteidigen
können, sobald sie die Stadt verließen.
Kaiserliche Erlasse erlaubten ihnen
darum das Tragen von Schwertern, was
selbstverständlich die Genehmigung
einschloss, das Fechten zu üben (in der
Regel bei zu bezahlenden Meistern).
Für die Handwerker galten zwar
(ebenso wie für die Bauern) wesentlich
strengere Bestimmungen, doch hielten
viele sich nicht daran. Selten wurde
jemand deswegen bestraft, und wenn
dann nur mit einem kleinen Bußgeld.
Christian bewahrte in seinem Verschlag
über der Tischlerwerkstadt ebenfalls ein
Schwert auf - und er konnte auch damit
umgehen. Er liebte die Fechtübungen,
denn sie gaben ihm die Möglichkeit,
ungestraft seine angestaute Wut
abzureagieren. Berserker nannten man
ihn im Scherz - nach den legendären, in
Bärenfelle gehüllten Kriegern des hohen
Nordens.
12
III
A
m Sonntag, dem 17. März 1230
hatte Erzbischof Gerhard II von
Bremen
aus
Anlass
der
Fastensynode
die
Bauern
des
Marschlandes an der Weser zu Ketzern
erklärt. Am darauf folgenden Dienstag
fand nur wenige hundert Meter vom
Dom entfernt eine denkwürdige
Versammlung statt. Zunächst hatte
nichts darauf hingedeutet, dass die
Ereignisse sich an diesem Abend derart
überstürzen sollten. Mit der Ketzerpredigt hatte in dieser Runde jeder
gerechnet. Auch bei der Begründung
war nichts Aufsehen erregendes gesagt
worden. Zwei der jungen Leute hatten
sich entschuldigen lassen, weil sie sich
von den Gesprächen wenig versprachen.
"Wir müssen abwarten", war die
Meinung der meisten. "In zwei oder drei
Wochen sehen wir klarer."
Gottfried nutzte die Gelegenheit, um
seine Stellung als Oberhaupt zu
festigen, und hielt eine lange Rede.
Andreas unterstrich seine Worte durch
eifriges Nicken und gelegentliche
Zwischenrufe. Die anderen hörten mehr
oder weniger interessiert zu oder
träumten vor sich hin. Allein die
Trägheit
verhinderte,
dass
die
Zusammenkunft schon zeitig endete und die meisten schon zu Hause
gewesen wären, ehe jene Kette von
Zufällen ihren Anfang nahm, welche
dem Abend eine Wendung zum
Schlimmen gab.
Mitten hinein in das Schweigen,
welches Gottfrieds Rede gefolgt war,
platzte Norberts jüngerer Bruder mit der
Nachricht.
"Vater ist gefangen genommen
worden. Du musst sofort nach Hause
kommen."
Der zehnjährige Knirps war gänzlich
aufgelöst vor Aufregung. Je mehr
Fragen er beantworten sollte, desto
mehr kam er durcheinander.
"Waren es die Knechte des
Erzbischofs?"
"Ich glaube."
"Glaubst du es oder weißt du es?"
"Es ging alles so schnell. Du sollst
nach Hause kommen. Mutter hat mich
geschickt."
Norbert konnte sich das nicht
erklären. Sein
Vater war ein
vorsichtiger und rechtschaffener Mann.
Niemals hatte er sich in die Politik
eingemischt. Von dem, was sein Sohn
an den Dienstagabenden trieb, wusste er
nichts. Welchen Grund sollte es geben,
ihn gefangen zu setzen? Wollte der
Erzbischof den Vater für den Sohn
büßen lassen? Eine Blutwoge schoss
Norbert in den Kopf, als ihm diese
Deutung in den Sinn kam. Das wäre
eine Ungeheuerlichkeit!
"Gerhard will uns herausfordern!"
rief er.
Andere pflichteten ihm bei. Ein Wort
ergab das andere und schon bald hieß
es:
"Wir dürfen uns das nicht gefallen
lassen. Lasst uns zu seinem Palast
ziehen!"
Doch das war nicht die Meinung
aller.
"Besonnenheit ist die Mutter des
Erfolges",
sagte
Gottfried
philosophisch. "Gerade wenn er uns
herausfordern will, dürfen wir nicht die
Ruhe verlieren. Denkt an unser
eigentliches Ziel!"
"Und was wird solange aus meinem
Vater?" hielt Norbert ihm aufgebracht
entgegen. "Behältst du auch dann noch
deine Ruhe, wenn ihn der Erzbischof
zur Hinrichtung führen lässt?"
"Recht hat er!" schrie Christian durch
das aufbrandende Stimmengewirr. "Je
mehr wir uns gefallen lassen, desto
härter springt er mit uns um."
"Was wollt ihr denn erreichen vor
dem Palast?" warf Andreas ein.
Er wurde sofort niedergeschrieen.
"Aus
deinen
Worten
spricht
Geheimbündlern die größte überhaupt
denkbare Beleidigung darstellt.
"Verräter!"
Keiner wusste hinterher, wer es
ausgesprochen hatte. Niemand bekannte
sich dazu. Es war sogar unklar, welche
der beiden Parteien die Schuld traf. Eine
Rolle spielte das ohnehin nicht mehr.
Das Wort stand fortan zwischen ihnen.
Wie ein Axthieb hatte es die Gruppe
auseinander gehauen.
"Wer zu mir hält, der folge mir
nach!" rief Norbert und führte seine
Anhänger die Kellertreppe hinauf auf
die Straße.
An diesem Tage war nichts mehr zu
bewerkstelligen. Schon brach die
Dunkelheit herein. Am folgenden
Morgen aber trafen sich die jungen
Leute wieder. Sie zogen zum Dom und
riefen dabei Losungen, die sich
teilweise auf die Verhaftung bezogen,
teilweise auf allgemeine, seit langem
populäre Forderungen. Zu ihrer
Überraschung blieben sie nicht lange
allein. Aus den Gassen strömten ihnen
Dutzende Menschen zu, Lehrburschen
und Gesellen, Kinder und gestandene
Männer, arme Hunde in zerrissenen
Kitteln und Meister, denen lange Mäntel
ein würdiges Aussehen verliehen. Der
Zug war so bunt, dass er lustig gewirkt
hätte ohne die gewalttätigen Sprüche.
Erzbischof Gerhard regierte die Stadt
mit harter Hand und hatte im Laufe der
Jahre fast alle Bevölkerungsgruppen
gegen sich aufgebracht. Die Kaufleute
empörten sich über neue Burgen an der
Weser, die sie als Bedrohung
empfanden, und über Zölle, die in alten
Verträgen
nicht
vorkamen.
Die
Handwerker stöhnten über neue
Steuern. Die Ratsmitglieder sahen sich
gedemütigt durch die Selbstherrlichkeit
des Kirchenfürsten. Die Bettler waren
vom Domplatz vertrieben worden. Ein
Tropfen hatte gereicht, das Fass zum
Überlaufen zu bringen.
Feigheit."
Durch den Raum verlief plötzlich
eine scharfe Trennlinie. Auf der einen
Seite fanden sich Gottfrieds Anhänger
zu einer Phalanx zusammen. Ihnen
gegenüber standen die Hitzköpfe, die
kämpfen
wollten.
Dass
es
Meinungsunterschiede in der Gruppe
gab, das war nichts Unbekanntes.
Niemand aber hatte bisher für möglich
gehalten, dass der Graben schon so tief
war. Unüberwindlich wurde er, als ein
böses Wort fiel, ein Wort, das unter
14
Kurz vor dem Markt kam dem Zug
ein Bote entgegen gerannt. Der schrie
mit greller Stimme:
"Geht nach Hause! Er ist längst
wieder frei. Hört ihr denn nicht? Er ist
frei! Es war ein Missverständnis. Er
bekommt sogar eine Entschädigung."
Den Zug, der sich da seinen Weg zum
Dom bahnte, konnte er damit nicht
aufzuhalten. Die meisten
Leute
rätselten, worauf sich seine Worte
eigentlich bezogen, und Norbert dachte
gar nicht daran, sie aufzuklären und
womöglich zu beschwichtigen.
"Er hat ihn frei gelassen, um dem
Aufruhr den Wind aus den Segeln zu
nehmen", knurrte er. "Wenn die Lage
sich beruhigt hat, sperrt er ihn wieder
ein."
Wie eine Brandungswelle schlug der
Zug über dem Boten zusammen, riss ihn
ein Stück mit und schleuderte ihn dann
gegen eine Hauswand. Erst auf dem
Platz vor dem gewaltigen Westwerk des
Doms kehrte ein wenig Ruhe ein. Ohne
dass es jemand geplant hatte, fanden
sich mehrere Redner, die nacheinander
unter großem Beifall verschiedene Forderungen der Bremer Bürger vortrugen.
Christian
hörte
einige
Zeit
aufmerksam zu, dann aber langweilte er
sich zunehmend, weil die Redner sich
zu wiederholen begannen und weil ihm
das Gesagte größtenteils sowieso nicht
neu war. Eine Reihe Wappen lenkte ihn
ab. Sie zierten über ihm die Wand eines
dem Erzbischof gehörenden Hauses.
Erst vor wenigen Tagen hatte der
Kirchenfürst
sie
anlässlich
der
Fastensynode erneuern lassen, so dass
sie nun mit kräftigen Farben in der
Sonne leuchteten.
Neben Gerhards prächtigem Wappen
war jenes des Grafen von Oldenburg
angebracht, zweifellos nicht zufällig.
Den
goldenen
Untergrund
durchschnitten waagerecht zwei rote
Zickzacklinien. Diese Ammerländer
Linien gingen auf eine Sage zurück.
Während des Fürstenaufstandes gegen
König Heinrich IV im Jahre 1073
gerieten Graf Huno von Ammerland
und
sein
Sohn
Friedrich
in
Gefangenschaft. Beide sollten einem
Löwen vorgeworfen werden. Friedrich
aber sprach: "Lasst uns nicht so
unritterlich sterben, edler König! Ich
will mit dem Untier kämpfen, damit
sich zeigt, ob Gott unseren Tod will
oder nicht." Diesem Ansinnen konnte
sich Heinrich nicht widersetzen.
Friedrich stieg also in den Käfig und
schaffte, was niemand für möglich
gehalten hatte - er besiegte den Löwen.
Tief gerührt sagte daraufhin der König:
"Gottes Wille geschehe! Ich schenke dir
und deinem Vater die Freiheit. Zugleich
entbinde
ich
euch
und
eure
Nachkommen von allen Lehnspflichten,
ausgenommen denen, die ihr dem Reich
schuldet." Diese Kaiserfreiheit ging von
den Ammerländer Grafen auf die
Oldenburger Herrscher über.
Mit dem Wappen der Wildeshausener
war keine Geschichte dieser Art
verbunden. Drei rote Rosen leuchteten
auf silbernem Grund. Die Hallermunder
Rosen waren erst durch die Mutter des
regierenden
Grafen
in
das
Hoheitszeichen hinein gelangt. Das
Wappen wirkte weniger edel als das der
Oldenburger, obgleich sich die Künstler
viel Mühe gegeben hatten, eben diesen
Eindruck nicht entstehen zu lassen.
Die Tafel der Bruchhausenern
verwirrte ein wenig. Sie war in vier
Felder aufgeteilt und im Wechsel
silbern und rot gefärbt. Die roten
Abschnitte bestanden aus jeweils drei
Streifen,
die
sich
durch
verschiedenartige senkrechte Striche
voneinander abhoben. Das Rot wies auf
die Oldenburger hin, das Silber auf die
Wildeshausener. Christian wusste, dass
zwischen den drei Grafenhäusern
verwandtschaftliche
Beziehungen
15
bestanden. Daraus ergaben sich
verschiedene Ansprüche, die schon etlichen mehr oder minder ernsthaften
Auseinandersetzungen als Vorwand
gedient hatten. Die Bruchhausener
waren die jüngste Linie. Ihr Wappen
brachte vermutlich zum Ausdruck,
worauf ihre Politik hinauslief: Sie
wollten sich so lange wie möglich alle
denkbaren Wege offen halten. Obwohl
sie sich innerhalb der Reihe ganz am
Ende wieder fanden, träumten sie
zweifellos davon, eines Tages die letzte,
die einzige Linie zu sein. Und so
schloss sich der Reigen zum Kreis, denn
Huno von Ammerland, jener Graf aus
dem elften Jahrhundert, den die Sage
bis zur Unkenntlichkeit verklärte, er
hatte seine Macht (angeblich!) noch mit
niemandem teilen müssen.
Geschrei riss Christian jäh aus seinen
Gedanken. Er reckte sich hoch und sah,
dass vorn am Domportal Waffenknechte
aufmarschiert waren. Wenn es einen
besonderen Anlass dafür gab, hatte er
ihn verpasst. Die Männer des
Erzbischofs hielten Speere quer vor den
Körper und rückten langsam vor. Noch
blieben die Auseinandersetzungen frei
von Gewalt. Die Bürger stießen
Beschimpfungen aus und stemmten sich
gegen die Speere. Die Knechte folgten
mit versteinerten Gesichtern ihren
Befehlen. Da der Platz vor dem Dom
nicht regelmäßig geformt war, wurden
die zurückweichenden Menschen an
zwei Stellen gegen die Mauern
vorspringender
Häuser
gedrückt.
Männer versuchten, ihre Frauen und
Kinder zu schützen. Es entstand eine
Gegenbewegung. Die Gesichter der
Knechte verzerrten sich nun vor
Anstrengung. Die Speere bogen sich
wie Gerten - bis drei von ihnen
nacheinander krachend zerbrachen.
Einem Gesellen bohrte sich ein umher
fliegender Splitter in den Arm.
Wenige Augenblicke später war vor
dem Portal des Doms die Hölle los. Die
Knechte, die sich von der aufgebrachten
Menge nun ernsthaft bedroht fühlten,
prügelten
mit
dicken
Knüppeln
blindlings auf die Leute ein. Dabei
trafen sie junge Raufbolde ebenso wie
wehrlose Frauen, die nicht rechtzeitig
ausweichen konnten. Das wiederum
heizte die Stimmung unter den Bürgern
an. Während die einen entsetzt durch
die Gassen zu entkommen versuchten,
legten es die anderen darauf an, die
Kette der Knechte zu durchbrechen.
Christian und Norbert gerieten dabei
immer weiter nach vorn. Als die ersten
Steine flogen, standen sie mitten unter
denen, die am meisten zum Kampf
entschlossen waren. Die Männer des
Erzbischofs dachten nur noch an ihre
eigene Sicherheit. Sie standen im
Halbkreis Schulter an Schulter direkt an
der Portaltreppe und bemühten sich, mit
ihren Schilden Kopf und Brust zu
schützen. Das Holz zerfaserte unter den
Steinen, die wie ein Hagelschauer
niederprasselten.
Es
war
völlig
ungewiss, wie lange sie noch
standhalten würden. Für einen Moment
öffnete sich einer der großen Türflügel
und es tauchte das kreideweiße Gesicht
eines Priesters auf. Man musste mit dem
Schlimmsten rechnen.
Der Platz hatte sich inzwischen
weitgehend geleert. Nur die Knechte
waren noch da und die jungen Männer,
die in irrsinniger Wut nur noch daran
dachten, ihnen den Garaus zu machen.
Da plötzlich sprengten von rechts her
Reiter heran. Die veränderten das
Kräfteverhältnis schlagartig und aus den
Angreifern wurden Gejagte.
"In die Gassen hinein können sie uns
nicht folgen!" schrie Norbert und packte
Christian am Arm.
Sie hörten Hufschläge unmittelbar
hinter sich und rannten um ihr Leben.
Ein dicker Pflock vor einem Gasthof
16
rettete sie. Der Reiter flog über sie
hinweg und ehe er wenden konnte,
entkamen
sie
über
die
Umfassungsmauer eines städtischen
Gutshofes.
"Das war verflucht knapp", keuchte
Norbert und ließ sich entkräftet auf den
Boden fallen.
"Ob sie uns erkannt haben?" fragte
Christian.
Sein Freund zuckte mit den
Schultern.
"Das werden wir bald merken."
17
IV
C
hristian erwachte durch ein
Geräusch, das er sich nicht erklären konnte. Er lauschte in die
Dunkelheit hinein. Vielleicht hatte er
geträumt. Da aber war es wieder!
Jemand warf kleine Steine gegen die
Hauswand und zwar genau an jene
Stelle, wo sich sein Verschlag befand.
Das konnten nur Zeichen sein, die ihm
galten. Flink zog er sich an und glitt
lautlos die Leiter nach unten. Meister
Berthold und Mutter Hilde schliefen
fest und hörte ihn nicht, als er hinaus
auf die Straße trat. Dort erwartete ihn
Norbert.
"Was ist? Warum kommst du um
diese Zeit hierher?"
"Der
Erzbischof
will
ein
abschreckendes Beispiel. Es gibt eine
Liste mit Namen."
"Und da stehen wir drauf?"
"Verschwinden wir nicht noch in
dieser Nacht aus der Stadt, werden wir
festgenommen."
Christian blickte sich unwillkürlich
nach dem Haus um. Hätte ihn am Tag
zuvor jemand gefragt, was ihn daran
binde, wäre ihm nicht viel eingefallen.
Doch nun, da er so plötzlich
aufgefordert wurde, auf und davon zu
gehen, ohne sich
von seinen
Pflegeeltern verabschieden zu können,
da zögerte er. Norbert erriet seine
Gedanken.
"Du kannst nur wählen zwischen
Wald und Kerker."
"Es ist also sicher, dass ..."
"Mir fällt das Fortgehen noch
schwerer als dir, denn ich habe meine
leiblichen Eltern noch und verstehe
mich gut mit ihnen."
"Wie viele sind wir?"
"Zwölf. Wir treffen uns außerhalb der
Stadt auf freiem Feld. Kleine Gruppen
kommen unauffälliger nach draußen."
Christian
hatte
nicht
viel
einzupacken. Die Kleidung, die er nicht
auf dem Leib trug, verschnürte er zu
einem Bündel. Ein paar kleine
Gegenstände, mit denen angenehme
Erinnerungen
verknüpft
waren,
verstaute er in einem Beutel. Dort
kamen auch die Münzen hinein, die
seine Ersparnisse darstellten. Am
Schluss holte er sein Schwert aus dem
Versteck.
Die Wälder jener Zeit waren keine
behaglichen Orte. Die Ortschaften mit
ihren Feldern, Weiden und Gärten
bildeten Inseln innerhalb eines Meeres
gewaltiger Bäume und undurchdringlichem Gestrüpp. Unbefestigte
Wege, kaum breit genug für einen
beladenen Wagen, verbanden die
Flecken miteinander. Ohne zwingenden
Grund drang niemand in die Wildnis
ein. Dort teilten sich die Tiere und die
Kobolde die Herrschaft.
Waren die Wälder schon tagsüber
unheimlich, so erst recht in der Nacht.
Die vor den Häschern des Erzbischofs
geflohenen jungen Männer schwiegen
vor Unbehagen. Wenigstens gab es
unter ihnen jemanden, der sich ein
wenig auskannte. Sein Großvater hatte
einst bei einem Grafen als Jäger seinen
Lebensunterhalt
verdient.
Jeder
klammerte sich nun fest an der
schwachen Überzeugung, dass der
Führer den Weg tatsächlich wisse.
Selbst nahe liegende Fragen legte sich
niemand vor. Was waren die
Geschichten wert, die ein alter Mann an
den langen Winterabenden seinem
Enkel erzählte? Was hatte sich verändert in den zurückliegenden dreißig Jahren?
Die erste Nacht war schrecklich. Als
aber die Sonne aufging und den
schwarzen Schleier von den Dingen
nahm, da sah die Welt schon wieder
18
freundlicher aus. Die Bürgerssöhne
richteten
sich
gegenseitig
mit
respektlosen Scherzen auf. Sie trugen
Waffen bei sich. Sie waren jung und
kräftig. Um sie herum wimmelte es von
Tieren, die sich zum Essen eigneten.
Warum also sollte ihnen vor der
Zukunft bange sein?
Bis zum Nachmittag schlugen sie sich
durch das Dickicht, bis sie eine Stelle
erreichten, die ihnen zum Errichten
eines Lagers geeignet schien. Das
Unterholz war weniger dicht als
anderswo. Die nächsten Siedlungen
lagen hinreichend weit entfernt. Bei
einer Versammlung wurden die
dringendsten Arbeiten verteilt. Norbert
und drei andere gingen auf Jagt und
kochten. Christian leitete eine Gruppe,
die einen freien Platz schuf und mit dem
Bau eines Holzhauses begann.
Mehrere Wochen lang arbeiteten alle
buchstäblich bis zum Umfallen. Selbst
kleine Fortschritte waren nur unter
unsäglichen Mühen zu erreichen. Sie
hatten zu wenig geeignetes Werkzeug,
um die riesigen Bäume zu fällen und zu
zerlegen. Außerdem gab es niemanden,
der sich auf den Hausbau verstand.
Christian, der als Tischler dieser Arbeit
noch am nächsten stand und ein
gewisses Vertrauen genoss, bewunderte
die Geduld seiner Gefährten angesichts
seiner zahlreichen Irrtümer. Das Dach
war erst beim dritten Versuch dicht und
stabil.
Nach und nach richteten sie sich
leidlich ein. Besondere Ansprüche
stellten sie nicht. Sie hatte reichlich zu
Essen. Allein das war ein guter Grund,
Gott zu danken. Ein klarer Bach ganz in
der Nähe versorgte sie mit Wasser.
Sogar einen Bienenstaat hatten sie sich
inzwischen
eingefangen.
Selbstverständlich mussten sich alle an
Regeln halten, um so mehr, da sie sich
nicht zur Wahl eines Anführers
entschließen mochten. Noch immer
stimmten sie ab, sobald es etwas zu
entscheiden galt. Diese Art des
Zusammenlebens gefiel ihnen. Je länger
sie sich bewährte, desto mehr sahen sie
darin ein Beispiel für die Zukunft aller
Menschen.
Allerdings durften sie in ihrer Idylle
niemals aus den Augen verlieren, dass
sie außerhalb der Gemeinschaft der
rechtschaffenen Leute standen, dass
vieles, was sie taten, jeglichem Gesetz
nach als Verbrechen galt. Der Wald
mitsamt den Tieren darin gehörte
jemandem (auch wenn sie nicht wussten
wem). Wilderer und Diebe wurden
aufgeknüpft. Wären sie in Bremen
geblieben, hätten sie für den Aufruhr
vor dem Dom vielleicht eine viel
mildere Strafe erhalten. Sie konnten
sich noch so tief in der Ödnis
verstecken, irgendwann musste ihnen
jemand auf die Spur kommen. Tausend
Zufälle waren als Verräter denkbar.
Zudem würden sie eines Tages
gezwungen sein, jemanden nach
Bremen zu schicken, um Dinge zu
besorgen, die sich beim besten Willen
mitten im Wald nicht herstellen ließen.
Bei einer der Versammlungen hatte
Norbert vorgeschlagen, eine Wache
aufzustellen. Doch er war nicht
durchgedrungen damit, wohl weil die
meisten alle Gedanken an mögliche Gefahren gern verdrängen wollten. So traf
es sie völlig unvorbereitet, als sie einige
Tage später ungebetenen Besuch erhielten. Im Morgengrauen wurde Norbert
vor der Hütte plötzlich durch einen
schweren Fausthieb niedergestreckt.
Christian, der zwei Schritt hinter ihm
ging, konnte gerade noch zurückspringen. Nur dadurch gelang es ihm,
nach seinem Schwert zu greifen und die
anderen zu alarmieren.
Die Hütte bestand nur aus einem
einzigen großen Raum. Auf der rechten
Seite waren Ställe abgeteilt (in denen
sich allerdings noch keine Tiere
19
befanden). Links hatten die Bewohner
ihre Schlafwinkel (die den Ställen
auffällig ähnelten). Der Tür gegenüber
war der Herd eingerichtet (über dem der
Kochkessel fehlte). Licht konnte nur
durch die Tür und durch insgesamt vier
schmale,
mit
hölzernen
Läden
versehene Fenster eindringen. Am
Morgen des Überfalls war es so dunkel,
dass die Kämpfenden kaum zwischen
Freund und Feind zu unterscheiden
vermochten. Lange blieb völlig unklar,
mit wem die Bremer Flüchtlinge es
überhaupt zu tun bekommen hatten.
Das änderte sich erst, als sich das
Handgemenge ins Freie verlagerte. Die
verwegene Kleidung der Angreifer
verriet, dass es sich bei ihnen nicht um
Waffenknechte eines adeligen Herrn
handelte. Außerdem waren sie nur zu
fünft. Je mehr die Verteidiger sich zu
einheitlichem Handeln zusammenfanden, desto deutlicher wurde ihr
Übergewicht. Das hieß nicht, dass sie
nun leichtes Spiel hatten. Sie standen
Männern gegenüber, die das Fechten
gewöhnt waren und sich vor niemandem fürchteten, Raufbolden, die
sich selbst in scheinbar auswegloser
Lage nicht geschlagen gaben. Niemand
hatte jedoch ein Interesse daran, Blut zu
vergießen. Irgendwann sahen die Angreifer ein, dass die Überrumpelung
nicht gelungen war, und boten
Verhandlungen an.
"Man nennt mich Rupert, den
Räuber", erklärte der größte und
kräftigste der Fünf.
"Rupert, der Räuber - ein lustiger
Name", rutschte Christian über die
Lippen.
Rupert wandte sich ihm zu und
erwiderte mit leichtem Grinsen:
"Es gibt Leute, die finden meinen
Namen lustig, und es gibt Leute, die
finden ihn nicht lustig. Zu letzteren
gehören jene, denen ich die Kehle
durchschnitt."
Christian fürchtete, dass er nicht
übertrieb.
"Was wollt ihr von uns?" fragte
Norbert, der sich von dem Fausthieb
inzwischen erholt hatte.
"Das sagt dir mein Stellvertreter Ernst
Eisenarm." In Christians Richtung fügte
er hinzu: "Ernst Eisenarm - auch ein
lustiger Name, nicht wahr?"
"Für diejenigen, die er am Leben zu
lassen geruht ..."
"Du bist ein Bursche mit Witz. Du
gefällst mir."
"Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich
darauf Wert lege."
Unterdessen trat Ernst Eisenarm vor
Norbert hin und erklärte:
"Das hier ist unser Gebiet. Wir
wollen, dass ihr verschwindet."
"Ein großartiger Vorschlag! Wir
haben in wochenlanger Arbeit diese
Hütte gebaut, um jetzt einfach
weiterzuwandern!"
"Die Hütte können wir gut
gebrauchen."
"Vielleicht haben wir gar nicht so viel
Witz, wie ihr glaubt!" rief Christian
dazwischen. "Was haltet ihr davon, den
Kampf fortzusetzen?"
"Wenn du dich mir Mann gegen
Mann stellst, können wir's gern
ausfechten",
entgegnete
Rupert
gelassen.
Norbert versuchte, seinen Freund
durch ein Zeichen zu warnen. Christian
jedoch hatte gerade einen seiner von tief
innen kommenden, keines Anlasses
bedürfenden Wutanfälle und stürzte sich
mit seinem Schwert auf den Anführer
der Räuberbande. Der war völlig
überrascht. Er hatte den eher schmächtig wirkenden jungen Mann für einen
Schwächling gehalten.
"Was ist denn mit dem los?!" schrie
er. "Hat ihn eine Schlange gebissen?
Befreit mich doch von diesem Verrückten!"
20
Man trennte die beiden und begann
endlich, ernsthaft zu verhandeln.
"Machen wir gemeinsame Sache!"
schlug Ernst Eisenarm vor. "Rupert
sollte der Anführer sein. Er kennt sich
am besten aus. Ihr könnt aus euren
Reihen einen Stellvertreter wählen."
"Wir haben keinen Anführer und wir
wollen auch keinen", wies Norbert das
Ansinnen zurück, ohne lange zu
überlegen.
"Ohne Anführer, wie soll das gehen?
Wer bestimmt, was getan wird?"
Die Räuber sahen sich gegenseitig
verständnislos an, argwöhnten eine
Finte. Rupert indes, der klügste von
ihnen, ließ sich darauf ein, denn er hatte
längst erkannt, wie hilflos diese
Bürschchen aus der Stadt letztlich
waren, auch wenn sie mit ihren
Schwertern recht ordentlich zuschlagen
konnten.
Mochten
sie
ihre
Hirngespinste
von
christlicher
Gleichheit ausbrüten! Mochten sie sich
fühlen wie die heiligen zwölf Apostel!
Am Ende würden sie sich doch ducken
müssen.
Tatsächlich nutzten die unklaren
Machtverhältnisse den Räubern mehr
als den Bürgerssöhnen. Rupert konnte
in den Versammlungen mit seiner
Ausstrahlung jede beliebige Stimmung
erzeugen. Mal versetzte er die Neulinge
in helle Panik, mal köderte er sie mit
verlockenden Versprechen. Seine Begründungen verstand niemand. Es
wollte sich aber auch keiner die Blöße
geben, beharrlich nachzufragen. Viel
genutzt hätte das Misstrauen ohnehin
nicht. Dass die Bekanntschaft mit den
Räubern eine Bereicherung war,
vielleicht sogar die Rettung, ließ sich
nicht bestreiten.
Natürlich blieb das Leben unter dem
Einfluss eines Mannes wie Rupert nicht
friedlich. Die Bande lebte nicht mehr
nur von Wilderei allein (was schon
schlimm genug gewesen wäre) sondern
unternahm auch Raubzüge gegen
einzeln
stehende,
schlecht
zu
verteidigende Gutshöfe und gegen die
Handelsstraße zwischen Oldenburg und
Wildeshausen. Eine Gruppe von
siebzehn Männern war eine Streitmacht.
Damit ließ sich mehr bewerkstelligen
als mit fünf Leuten. Zugleich wurde die
Hütte im Wald beinahe behaglich. Die
Bereicherung bestand nicht nur in
dringend notwendigen Gegenständen
(wie einem eisernen Kessel zum
Kochen über dem Herd) sondern auch
in allerlei Luxus (wie einem Dutzend
silbernen Kerzenhaltern). Man ließ es
sich gut gehen. Unmerklich glichen sich
die Bürgerssöhne in ihrem Verhalten
und in ihrem Denken den Räubern an.
21
2.Kapitel
I
D
er Palast des Erzbischofs von
Bremen umfasste so viele
Räume, dass der Kirchenfürst
die meisten von ihnen kaum kannte.
Dennoch hatten die Leute, die hier ihren
(wie auch immer gearteten) Dienst
verrichteten, in jedem Augenblick den
Eindruck, ihr Herr stünde gerade hinter
ihnen. Gerhard II war ein Mann, der
auch kleine Nachlässigkeiten zu ahnden
pflegte und der nichts dem Zufall
überließ. Andererseits bot die gewaltige
Macht,
über
die
er
verfügte,
beträchtliche Aufstiegsmöglichkeiten,
weshalb er trotz allem unter den Angehörigen seines Hofstaats weitaus
beliebter war als in der Stadt unter den
Handwerkern und Kaufleuten.
Neben dem prächtig gestalteten
Audienzzimmer und dem großen Saal
für die bedeutenden Empfänge, neben
seiner
(damit
verglichen)
fast
spartanischen Schlafkammer und dem
mit Büchern und Pergamentrollen bis
zur Decke hinauf voll gestopften
Leseraum, nutzte der Erzbischof vor
allem einen kleinen, in einer Ecke
gelegenen Salon. Er liebte ihn vor allem, weil er auf zwei Seiten Fenster
hatte. Durch das eine konnte er die
Zufahrt zum Haupttor, durch das andere
einen der Innenhöfe sehen. Das gab ihm
das Gefühl, einen guten Überblick zu
haben, also ganz Herr der Lage zu sein.
Besonders bei vertraulichen und heiklen
Gesprächen über politische Themen,
zog er sich gern hierher zurück. An
jenem Tage Anfang Mai 1230 war sein
Bruder Hermann sein Gast.
"Wir dürfen uns das dreiste Auftreten
des Lüneburgers nicht länger bieten
lassen", sagte er gerade und durchmaß
den Raum in der Art eines Hauptmanns,
der die Front seiner Ritter abschreitet.
Gerhard war den Jahren nach längst
kein junger Mann mehr, doch er wirkte
wie jemand, der sich noch an den
Ringkämpfen beteiligen könnte, die
regelmäßig am Rande des Marktes ausgetragen wurden. Tatsächlich ging
(unter den Bürgern) das Gerücht um,
dass der Geistliche sich mehr der
Stärkung seines Leibes als der seiner
Seele widme. Mochte dies auch böswillige Erfindung sein, so waren es
immerhin Tatsachen, dass er viel und
gern ritt und dass er regelmäßig mit
einem Waffenmeister das Fechten übte.
"Otto wurde immer kühner, je länger
wir ihn gewähren ließen."
Die
kurzen,
energischen
Handbewegungen, mit denen er seine
Worte unterstrich, erweckten den
Eindruck, als dringe er auch in diesem
Moment mit dem Schwert auf einen
Gegner ein. Seine Entschlossenheit
konnte rasch in Unbeherrschtheit umschlagen. Diese Schwäche hatte ihn in
der Vergangenheit um manchen Sieg
gebracht. Allerdings war er sich dieses
Umstandes mit zunehmendem Alter
mehr und mehr bewusst. Seither bewies
er auch die Fähigkeit, beharrlich auf
günstige Gelegenheiten zu warten, und
zwar in einem Maße, wie es ihm kaum
jemand zugetraut hätte.
Hermann ähnelte seinem Bruder dem
Äußeren nach sehr. Er hatte dieselben
dunklen Augen, denselben stechenden
Blick, dasselbe kantige Kinn, dieselbe
Größe. Allerdings war er nicht ganz so
athletisch. Auch an Klugheit und
Tatkraft stand er Gerhard nach. Dadurch
hatte sich schon frühzeitig eine
Rangfolge zwischen beiden eingestellt.
Hermann erkannte die Überlegenheit
des Bruders an und unterwarf sich ihm.
In dessen Glanz fielen seine eigenen
Unzulänglichkeiten
weniger
auf.
Ernsthafte
Zerwürfnisse
waren
zwischen ihnen selten.
"Wir verfügen über ein starkes Heer",
sagte er, als Gerhard seinen Gang durch
den Raum beendete und sich ihm
gegenüber setzte. "Was hältst du davon,
wenn wir eine versprengte Gruppe
seiner Ritter überrennen? Das würde ihn
zwar nicht ernsthaft schwächen, ihn
aber vielleicht nachdenklich stimmen."
"Wie wollen wir in Erfahrung
bringen, was wir für solch ein
Unternehmen wissen müssten?"
"Wir könnten einen Mann aus seinem
Hofstaat entführen und dann in
irgendeiner Burg ..."
"Nein, nein!" rief der Erzbischof.
"Das kommt überhaupt nicht in Frage!"
"Niemand wird davon erfahren."
"Nein und nochmals nein!"
Gerhard war zwar (seinem Wesen
nach) ein machthungriger Tyrann doch
zugleich (im politischen Alltag) ein
nüchtern kalkulierender Fürst, der ein
Gespür dafür hatte, welche Mittel er
anwenden durfte und welche nicht. Die
verborgene, in bestimmten Situationen
urplötzlich hervorbrechende Grausamkeit seines Bruders beunruhigte ihn.
Hermann brachte es fertig, jemanden
aus
Vergnügen
und
ohne
Rechtsgrundlage foltern zu lassen ungeachtet der Folgen.
"Ich schicke ihm eine Botschaft mit
der Andeutung, dass ich Verbindungen
zum Papst angeknüpft hätte. Der Text
muss unklar sein und sich in
verschiedener Weise auslegen lassen."
Otto von Lüneburg entstammte einer
großen Familie, den Welfen. Der
Sachsenherzog Heinrich der Löwe war
sein Onkel, der ehemalige Kaiser Otto
IV ein anderer Blutsverwandter.
Dennoch hatte er vor drei Jahren am
Rande eines Abgrundes gestanden. Vier
Generationen lang kämpften die Welfen
schon mit den Staufern erbittert um die
Macht in Deutschland. Seit aber
Friedrich II fest auf dem Thron saß,
waren sie im Nachteil. Als König
Waldemar II
von
Dänemark
in
Schleswig einfiel, erschien das dem
Lüneburger wie ein Zeichen Gottes und
er schloss ein Bündnis. Vermutlich
indes hatte ihm in Wahrheit der Teufel
den Rat erteilt, denn in der Schlacht bei
Bornhöved erlitten er an der Seite des
Eroberers aus dem Norden eine vernichtende Niederlage und fiel seinen
Feinden in die Hände.
Zu seinem Glück wollte das
Schicksal (in Gestalt des Papstes), dass
er nicht in einem finsteren Kerker
verrottete oder gar auf dem Schafott
endete. Friedrich II, einst als Pfaffenkaiser mit Hilfe der Kirche an die
Macht gelangt, hatte seine Sympathien
in Rom verspielt, seit er eigene Ziele
verfolgte. Gregor IX beabsichtigte, in
Deutschland das alte Gleichgewicht der
Kräfte wieder herzustellen, und half den
am Boden liegenden Welfen auf die
Beine. Otto von Lüneburg kam durch
seine Vermittlung nicht nur aus der
Gefangenschaft frei sondern sogar zu
Herzogswürden.
Der Erzbischof von Bremen wäre
verpflichtet gewesen, dem Papst bei
diesem Vorhaben zu helfen, hätte dazu
jedoch glatt über seinen Schatten
springen müssen. Im Jahre der Schlacht
bei Bornhöved starb der Pfalzgraf
Heinrich von Stade ohne männlichen
Nachfolger. Die Stadt selbst und die
Dithmarschen fielen als erledigte Lehen
zurück an das Bremer Erzbistum.
Gerhard II hatte das Recht, sie nach
Gutdünken neu zu verteilen. Otto von
Lüneburg kam ihm jedoch zuvor. Er berief sich auf alte Rechte (was jeder Fürst
in so ziemlich jeder Streitfrage mehr
oder minder glaubwürdig zu tun
23
pflegte) und schickte seine Ritter ins
Feld (was zweifellos das stärkste seiner
Argumente war). Seither wogte der
Kampf hin und her, ohne dass eine für
beide Seiten befriedigende Lösung in
Sicht kam.
Gerhard hatte seinen Gang durch den
Raum wieder aufgenommen und suchte
nach Formulierungen für die Botschaft,
die er Otto zu senden gedachte. Da
klopfte jemand an die Tür.
"Wir wollen nicht gestört werden, ehe
ich eine andere Weisung gebe!"
herrschte er den zaghaft eintretenden
Diener an.
Dieser ließ sich aber nicht abweisen:
"Bischof
Johannes
und
der
Dompriester warten mit einer außerordentlich wichtigen Neuigkeit."
Gerhard ballte die Hände zu Fäusten,
behielt aber die Beherrschung und
sagte, plötzlich sichtlich entspannt:
"So führe denn die beiden herein!"
Johannes war Bischof von Lübeck,
hielt sich aber häufig in Bremen auf,
weil er in Personalunion als Prior dem
vor einigen Jahren in der Stadt
gegründeten Dominikanerkonvent vorstand. Gegenüber dem großen und
kräftigen Erzbischof wirkte er beinahe
zerbrechlich. Dabei ließ ihn seine
Mönchskutte eher noch beleibter
erscheinen, als es der Wahrheit
entsprach. Aus den weiten Ärmeln
ragten zwei schmale Hände hervor, die
eher einem Musiker oder Maler zu
gehören schienen. Alles an ihm war
geprägt von einer ausgewogenen
Mischung aus Vornehmheit und
Bildung.
Seine
gemessenen
Bewegungen und seine ruhige Art zu
reden brachten das vielleicht noch am
augenfälligsten zum Ausdruck. Die
Nachricht, die er zu überbringen hatte,
verlor durch seinen Mund viel von ihrer
Rohheit.
"Es wäre mir gewiss nicht
eingefallen, Euch zu unterbrechen, hätte
nicht der Lauf der Ereignisse mich dazu
gezwungen. Verzeiht mir! Gott, der
Herr, ließ in seinem unerforschlichen
Willen zu, dass die Stedinger in Eure
Schlutterburg eindrangen."
Wer nicht um die Bedeutung der
Mitteilung wusste, hätte sich nicht
beunruhigt, nicht einmal ein Kind, so
sanft war die Stimme des Dominikaners
gewesen. Sogar Gerhard benötigte einen
Augenblick der Besinnung, ehe er das
Ausmaß der Katastrophe begriff und
fassungslos entgegnete:
"Auf der Burg war eine starke
Besatzung.
Warum
haben
die
Waffenknechte den unverschämten
Bauern nicht auf Haupt geschlagen?"
"Vermutlich bedienten sich die
Angreifer einer List. Wenn sich Eure
Waffenknechte Nachlässigkeit haben zu
Schulden kommen lassen, so solltet Ihr
ihnen diese nicht länger nachtragen,
denn Gott, der Herr, geruhte die meiste
von ihnen zu sich zu nehmen."
"Die
Bauern
haben
meine
Waffenknechte erschlagen? Sie haben
gewagt ..."
Gerhard rang nach Luft, drohte an
seinem
ohnmächtigen
Zorn
zu
ersticken. Johannes indes sprach ruhig
weiter, als preise er die Lieblichkeit des
Gartens Eden.
"Ich hörte, dass die aufständischen
Stedinger inzwischen weiter gezogen
sind, auf das Kloster von Hude zu.
Leider wird niemand sie daran hindern,
auch dort ihre Lust am Zerstören zu
befriedigen. Unsere Brüder vom Orden
der Zisterzienser haben gerade erst zu
bauen begonnen und der Wehrfähigkeit
noch nicht in ausreichendem Maße ihre
Aufmerksamkeit widmen können."
"Noch weiß niemand genau zu sagen,
welches die letzten Ziele des Aufruhrs
sind, so dass wir mit dem Schlimmsten
rechnen müssen", mischte sich der
Dompriester ein, der sich bisher im
Hintergrund gehalten hatte.
24
Er war ein fülliger Mann, dem man
nicht zutraute, dass er sehr beweglich
sein konnte. Auch, was seinen Verstand
anging, unterschätzten ihn die meisten
Leute. Er selbst hatte übrigens gar kein
Interesse daran, dass seine Fähigkeiten
öffentlich gepriesen würden. Seine
Taktik beruhte darauf, sich still, beinahe
heimlich nach oben zu arbeiten. An
Ehrgeiz nämlich mangelte es ihm nicht.
Vielleicht war er derjenige unter all den
Leuten, die in der erzbischöflichen
Residenz
ihren
Lebensunterhalt
verdienten, der am geschicktesten die
Macht des Kirchenfürsten auszunutzen
verstand. Allein Gerhard musste ihn zu
schätzen wissen, und das traf zu. Der
Dompriester
wurde
mit
den
schwierigsten Missionen betraut.
Angesichts
der
zerstörten
Schlutterburg mochte sich der Erzbischof allerdings selbst auf den
treuesten seiner Untertanen nicht
verlassen. Von dem, was sich dort an
Ungeheuerlichem zugetragen hatte,
wollte er sich mit eigenen Augen
überzeugen.
"Diener!" rief er. "Lass vier Pferde
satteln!"
Niemand widersprach, obgleich das
Vorhaben, trotz des Gerüchts, die
aufständischen Bauern hätten sich
inzwischen
dem
Kloster
Hude
zugewandt, noch immer gefährlich
genug war.
II
V
on Ferne sah man der Burg kaum
an, dass sie gerade überrannt
worden war. Der Bergfried
blickte noch immer hochmütig auf das
flache Land und seine Dörfer herab. Die
Mauern der Steinbauten ragten noch
immer scheinbar unversehrt auf.
Verdacht
erregten
allein
die
Rauchfäden, die sich von verschiedenen
Stellen aus zum Himmel ringelten. Erst,
als die vier Männer näher kamen,
änderte sich ihr Eindruck. Die Fenster
waren nur noch dunkle Löcher mit
schwarzen Kronen aus Ruß. Jeder
Windstoß wehte eine Wolke beißenden
Qualms herüber. Unheimlich wurde der
Ort auch durch die Stille ringsum, eine
ungewöhnlich tiefe Stille, wie sie sonst
nur kalten Wintertagen eigen ist. Die
aufständischen Bauern waren wohl
weiter gezogen, aber warum fehlte jedes
Zeichen
von
Überlebenden
der
Burgbesatzung? Hatte Gott, der Herr,
sie allesamt "zu sich genommen".
Selbst der sonst so forsche Erzbischof
war blass geworden und sprach kein
Wort. Der Dompriester hätte am
liebsten auf der Stelle sein Ross
gewendet. Er fragte sich schon seit dem
Aufbruch,
weshalb
vernünftige
Menschen
unter
Gefahr
einen
Schauplatz aufsuchten, an welchem sich
allem Anschein nach ohnehin nichts
mehr retten ließ. Leider musste er
schweigen, um nicht in den Augen
seines Gönners als Feigling dazustehen.
Hermann lenkte sich ab, indem er seine
Gedanken drei Jahre zurückschweifen
ließ.
Im Jahre 1227 hatte Gerhard schon
einmal ernsthaft mit dem Gedanken
gespielt, die Stedinger mit Heeresmacht
zurück in die Gewalt des Erzbistums zu
zwingen. Die Schlutterburg lag mitten
im Gebiet der Bauern und war somit ein
Faustpfand
von
unermesslichem
strategischem Wert. Hermann erhielt
den Auftrag, von hier aus den Feldzug
vorzubereiten. Die Burg wurde mit
Waffen voll gestopft. Auf dem Hof
standen Zelte, in denen jene Ritter und
25
Knappen wohnten, die in den Gebäuden
keine Unterkunft gefunden hatten.
Aus verschiedenen Gründen (nicht
zuletzt wegen der Machenschaften
Ottos von Lüneburg) war Gerhard von
seinem Plan noch vor dem ersten
Schwertstreich wieder abgerückt. In der
Umgebung der Burg aber hatten die
Bauern freiwillig wieder Abgaben
entrichtet. Inwieweit Hermann ihrer
Gutwilligkeit nachhalf, blieb eine
offene Frage. Die Bauern redeten von
beispiellosen Grausamkeiten. Doch das
hatte in einer Zeit, da beide Seiten sich
durch haarsträubende Beschuldigungen
aller Art wechselseitig zu überbieten
trachteten, nicht viel zu sagen.
Johannes war der einzigen, der
unberührt blieb vom Anblick der
ausgebrannten
Burg,
äußerlich
zumindest. Er war dann auch derjenige,
der das Schweigen brach.
"Viele Herren dieser Welt sind
geneigt, dem aufrührerischen Geist des
Volkes
zu
wenig
Bedeutung
beizumessen. Der Teufel erreicht das
Ohr des Ungebildeten eher als das des
Gebildeten. Die Bauern sind wie
Schafe. Ist der Hütehund nicht am
rechten Fleck, so brechen sie aus zu
ihrem eigenen Schaden. Wir sind ihnen
gefällig, wenn wir sie züchtigen."
Gerhard nahm die Rüge mürrisch
aber wortlos hin. Er warf sich bereits
selbst vor, sich zuviel mit Otto von
Lüneburg und zuwenig mit den
Stedingern auseinandergesetzt zu haben.
"Es ist an der Zeit, den Ketzereien in
den Dörfern des Marschlandes auf den
Grund zu gehen", fuhr Johannes fort.
"Man muss das Unkraut kennen, um es
mitsamt all seinen Wurzeln ausraufen
zu können. Fast immer ist das
verderbliche Verlangen nach Unzucht
der Stachel für Aufsässigkeit wider die
heilige römische Kirche. Nicht ohne
Grund lehrte der Apostel Paulus, dass
dem Himmel näher steht, wem es ge-
lingt, jenen niederen Trieb ganz und gar
in sich zu bezwingen. Wer zu schwach
ist dafür, der möge heiraten. Ohne Aufsicht freilich werden diese schwachen
Naturen ein sittsames Eheleben nicht zu
führen imstande sein. Die Männer
werden zum puren Vergnügen (statt
zum alleinigen Zwecke der Zeugung)
zwischen den Schenkeln ihrer Weiber
liegen. Manchem wird gar das nicht
genügen, so dass er den Huren auf den
Leim kriecht. Das höchste Maß jedoch
erreicht der Frevel dort, wo man jene
Priester, die sich mit ihren Ermahnungen dem Laster in den Weg stellen,
misshandelt und davonjagt."
Gerhard hörte dem Dominikaner nur
mit halbem Ohr zu. Theologische
Ausführungen langweilten ihn. Sein
reger Geist war mehr den praktischen
Dingen zugetan als den wissenschaftlichen.
Allerdings
spielte
Johannes in fast all seinen Plänen eine
wichtige Rolle. Die Beziehungen des
unscheinbaren Mönchs mit der sanften
Stimme einer Amme reichten bis zum
Papst. Zudem war er nicht nur ein guter
Theologe sondern zudem ein guter
Jurist. Sein Wissen würden vielleicht
entscheidend sein, wenn es galt den
großen Feldzug zu begründen. Der
Verlust der Schlutterburg bewies, dass
den Stedingern nur mit Hilfe der
weltlichen Herren beizukommen war.
Die wiederum ließen sich so leicht nicht
zu einheitlichem Handeln bewegen.
"Ich werde veranlassen, dass die Burg
schon im nächsten Jahr wieder ihrem
Zweck
dient",
verkündete
der
Erzbischof entschlossen, während er
durch das Haupttor auf den Hof ritt.
Unmittelbar
hinter
dem
hochgezogenen Fallgitter lagen etliche
Männer, Bauern und erzbischöfliche
Waffenknechte in annähernd gleicher
Zahl. Man konnte glauben, sie seien
plötzlich erstarrte, gerade als sie heftig
miteinander rangen. Der Boden war
26
dunkel von versickertem Blut. Sogar die
Pferde scheuten, als sie über die
leblosen Leiber hinwegsteigen sollten.
Auf dem Hof hatte der Kampf
offenbar weniger heftig getobt. Dort
lagen die Leichen verstreut. Die meisten
waren Angehörige der Burgbesatzung.
Vielleicht hatten die Stedinger bereits
die Oberhand gewonnen und ihre
Feinde wie Hasen gejagt. Ob die
Gebäude im Getümmel durch Zufall in
Brand geraten waren, oder ob die Sieger
sie mit Vorbedacht angezündet hatten,
ließ sich nicht mehr feststellen. Von den
Holzhäusern standen nur noch verkohlte
Balken. In den Steinbauten konnte man
vom Erdgeschoß aus den Himmel
sehen. In den Flammen hatten weitere
Männer den Tod gefunden. Angesichts
dieses Grauens musste sich selbst
Johannes abwenden. Der Dompriester
übergab sich und flüchtete, ohne auf
seinen Dienstherrn zu achten.
"Diesen Tag werden die Stedinger
verfluchen!" rief Gerhard II.
Er
war
ein
Feind
der
Marschlandbauern gewesen, seit er im
Palast von Bremen residierte. Er hatte
niemals hinnehmen wollen, in einem
Teil seines Besitzes nicht mit aller
Machtvollkommenheit schalten und
walten zu können. Bisher aber war dies
für ihn ein Ärgernis unter anderen
gewesen, gleichrangig etwa mit den
Anmaßungen eines Ottos von Lüneburg
oder mit den Unverschämtheiten der
Bürger seiner Stadt.
"Ich
habe
die
Universitas
Stedingorum unterschätzt", sprach er,
mehr zu sich selbst als zu den anderen.
"Sie führen ein eigenes Siegel. Sie
regeln ihre Angelegenheiten selbst, die
höhere Gerichtsbarkeit eingeschlossen.
Die lockeren Zügel haben sie kühn
gemacht. Nun sind sie so schwer zu
bändigen wie ein durchgegangenes
Pferd."
Um dies klar zu erkennen, benötigte
er nicht die Bildung des Dominikaner
Johannes. Von nun an waren die
Stedinger sein Hauptfeind. Noch am
selben Abend wollte er vor dem
Hochaltar des Doms mit Christus, Maria
und allen Heiligen als Zeugen den
Schwur ablegen, nicht eher zu ruhen,
ehe diese zum Himmel schreiende
Ketzerei beseitigt ist. Schon auf dem
Rückweg sprach er mit seinem Bruder
über einen ersten Plan auf dem Weg zu
seinem Ziel:
"Es wäre gut, wenn wir noch eine
zweite gut befestigte Burg westlich von
Bremen hätten."
"Mit zwei Burgen könnten wir sie in
die Zange nehmen", pflichtete Hermann
ihm bei.
"Am Delmenhorst werde ich sie
bauen lassen."
"Ich denke, das ist ein guter Ort."
Auf dem Marktplatz von Bremen
trennten sich die vier Männer. Johannes
begab sich zum Konvent der
Dominikaner. Hermann erklärte, dass er
bereits seit Mittag erwartet werde. Der
Dompriester wurde von einem Vikar in
Anspruch genommen, weil sich bei
Ausbesserungen
an
einem
der
Nebenaltäre
unvorhergesehene
Komplikationen
ergeben
hatten.
Gerhard blieb allein zurück und fand
sich zufällig direkt vor jenem Haus wieder, wo anlässlich der Fastensynode die
Wappenreihe frisch auf die Wand
gemalt worden war.
Die zwei blutroten Ammerlandlinien
der Oldenburg, die an den sagenhaften
Löwenkampf
zu
Zeiten
Kaiser
Heinrichs IV erinnerten; die drei
Hallermundrosen der Wildeshausener;
das verwirrend zerteilte Hoheitszeichen
der Bruchhausener. In seiner Phantasie
sah der Erzbischof die drei Grafen im
Kreise ihrer Ritter und Knappen auf
einer weiten Wiese vor ihm stehen,
bereit zur großen Schlacht für die
27
Wiederherstellung der von Gott
gestifteten Ordnung auf Erden. Sie
hatten ihre Fehden beendet für dieses
eine Ziel. Sie waren endlich zu der
Einsicht gelangt, dass es Wichtigeres
gab als einen strittigen Flecken
dürftigen Ackerlandes.
Der wohlmeinende Hinweis eines
Ritters seiner Leibgarde riss ihn jedoch
aus seinen Träumen.
"Eure Eminenz sollten sich nicht
ohne Schutz hier aufhalten. Die
Stimmung ist nicht gut in der Stadt."
Bremen stand tatsächlich am Rande
eines allgemeinen Aufstandes. Der
Erzbischof hatte sich an den Gedanken
gewöhnen müssen, dass nicht einige
wenige Unruhestifter dafür verantwortlich waren. Die Bürger hielten ohne
zu wanken den Rädelsführern aus dem
Rathaus die Stange. Festnahmen hätten
die Lage nur noch verschlimmert.
Welch ein Berg von Schwierigkeiten
auf dem Wege zur Züchtigung der
Stedinger! Die Kaufleute forderten
täglich
größere
Freiheiten.
Die
Handwerker wollten keine Steuern mehr
bezahlen.
Und
selbstverständlich
zerfleischten die Grafen einander
weiterhin wegen eines Fleckens
dürftigen Ackerlandes und dachten gar
nicht daran, ihre Ritter und Knappen ins
Feld zu führen für die Sache der Kirche.
28
3.Kapitel
I
A
ls
ihn
ein
Diener
ins
Empfangszimmer des Grafen
von Wildeshausen geleitete,
hatte Wilhelm von Westerholt bereits
geraume Zeit vor dem Palas auf dem
Haupthof der Burg gewartet. Doch der
erfahrene,
knapp
fünfzigjährige
Lehensritter ließ sich davon nicht aus
der Ruhe bringen. Er kannte seinen
Dienstherrn, kannte dessen Launen,
kannte aber auch die Zeichen, an denen
sich wirkliche Gefahren ablesen ließen.
An diesem Tage war Burchard guter
Stimmung. Er hatte sich zum Frühstück
ein kleines Weißbrot bringen lassen.
Solcherlei Luxus leistete er sich immer
dann, wenn er mit einem bedeutenden
Erfolg rechnete.
"Ich erweise dem Herrn Grafen meine
Ehrerbietung", sagte Wilhelm beim
Eintreten, wobei er nach Sitte und
Anstand die rechte Hand auf die Brust
legte und sich tief verneigte.
Burchard gab sich streng, wie er es
häufig tat, um seine Untergebenen
einzuschüchtern. Obgleich er bereits
mehr als dreißig Jahre über seine
Grafschaft herrschte, was ihm ein
gewisses Maß an Abgeklärtheit hätte
geben müssen, fühlte er sich überall und
von jedem bedroht. Er ließ die Köche
vor seinen Augen die Speisen kosten,
um vor Gift sicher zu sein. Er unterhielt
ein ganzes Heer geheimer Spitzeln, die
er sogar gegeneinander einsetzte. Und
um ganz sicher zu gehen, umgab er sich
mit magischen Zeichen, einem Netz aus
Hokuspokus, das der Burggeistliche
argwöhnisch beobachtete und zuweilen
sogar (mit aller gebotenen Vorsicht)
missbilligte.
Lange hielt der Graf seine strenge
Miene jedoch nicht durch. Die guten
Aussichten waren diesmal stärker als
das Misstrauen. Außerdem rechnete er
Wilhelm zu den ehrlichsten unter seinen
Dienstmannen. Das lag weniger daran,
dass er seine Moral hoch einschätzte.
(Das tat er bei niemandem.) Er glaubte
vielmehr, dass dieser Hüne mit dem
allmählich ergrauenden Haar und dem
von Falten zerfurchten Gesicht für einen
Schurkenstreich zu einfältig sei. Sein
Lehen lag eingezwängt zwischen
Sümpfen, gewissermaßen am Ende der
Welt. Wer von dort kam, galt in den
größeren Schlössern der Gegend von
vornherein als dumm. Übrigens tat
Wilhelm wenig gegen dieses Vorurteil.
"Du weißt, dass ich den Besuch des
Erzbischofs erwarte", sagte der Graf
und
versuchte,
seine
Worte
bedeutungsschwer klingen zu lassen.
Der Ritter nickte, ohne eine Miene zu
verziehen.
Bei
Burchards
Unberechenbarkeit war es das Beste,
überhaupt keine Gefühle zu zeigen.
"Ich habe dich ausgewählt für eine
besondere Aufgabe", fuhr der Graf
feierlich fort. "Du sollst die Vasallen
samt ihrem Gefolge einweisen, dass
jeder auf seinem Platz steht, wenn
Gerhard eintrifft."
"Ich denke, ich weiß, was ich zu tun
habe", entgegnete der Ritter.
Tatsächlich war Wilhelm mit den
Ehrenämtern am Hof zu Wildeshausen
bestens vertraut. Mochte sein Land auch
klein sein und zwischen Sümpfen
liegen, so war es doch politisch
bedeutungsvoll - wegen des (inzwischen
drei Jahre alten) Vertrags, der (mit
Vorbedacht unklar gestaltet) die
Westerholts zwar formal als Vasallen
des Grafen von Oldenburg auswies, sie
aber
bis
auf
weiteres
den
Wildeshausener
Verwandten
unterstellte, ausgeliehen gewissermaßen.
Da die beiden Grafenfamilien verfeindet
waren und das Land der Ritterfamilie
genau zwischen deren Burgen lag,
brachte das zahlreiche Verwicklungen
mit sich. Die missliche Lage der Dinge
schrie geradezu nach einem besseren
Vertrag, doch solche Bestrebungen hintertrieb wiederum (wohl berechnend)
der Erzbischof von Bremen.
Burchard litt noch immer unter der
Schmach des Prozesses, den man ihm
zugemutet hatte, damals in Oldenburg
nach dem verlorenen Krieg gegen
seinen Bruder Heinrich von Bruchhausen. Er musste seither vorsichtig
sein, denn eine weitere Feindseligkeit
konnte ihn in Acht und Bann werfen.
Doch der stolze Wüterich war
gewissermaßen über seinen Schatten gesprungen. Er hatte sich (da er nun
einmal die völlige Freiheit vorerst nicht
wiedererlangen
konnte)
dem
mächtigsten seiner ehemaligen Gegner
unterworfen, dem Erzbischof. Gerhard
II von Bremen war immerhin ein Fürst,
der einem anderen Stand angehörte und
somit über der Familienfehde stand.
Einen erkennbaren Vorteil hatte
Burchard die neue Verbindung bereits
gebracht. Die Grafen von Wildeshausen
übten traditionell die Vogtei über das
vor fast dreihundert Jahren gegründete
Alexanderstift aus. Da dieses zu den
berühmtesten Pilgerstätten weit und
breit gehörte, war es ziemlich reich,
weshalb sich wiederum die Kanoniker
kam retten konnten vor weltlichen
Herren, die vorgaben, ihnen Schutz
gewähren zu wollen - allen voran
Herzog Albert von Sachsen, der eine
ganze Reihe weltlicher und geistlicher
Parteigänger hinter sich wusste. Vor
Gerhard II jedoch musste er schließlich
zurückweichen.
Im
Jahre
1228
verzichtete er plötzlich (wodurch auch
immer zum Sinneswandel veranlasst)
für alle Zeit auf die Vogtei.
Zu Burchards Leidwesen gewährte
der Erzbischof solche Vergünstigungen
nicht ohne Gegenleistung. Er bestand
nun auf dem formalen Lehenseid. Die
Unterzeichnung der Urkunde erfolgte
seinerzeit mit großem Gepränge.
Achtundvierzig
hochgestellte
Persönlichkeiten waren zugegen. Boten
verbreiteten die Nachricht in alle Welt.
Das Ereignis fand (zumindest in Niedersachsen) viel Beachtung. In Oldenburg
löste es geradezu Unruhe aus.
Wilhelm von Westerholt wusste über
all diese Dinge gut Bescheid. Er und
seine Familie hatten bisher eher Nutzen
gehabt von den Ränken um sie herum.
Doch das konnte sich über Nacht
ändern. Der Ritter fühlte sich nicht
selten wie der Kapitän eines kleinen,
vom Sturm umher gewirbelten Schiffes.
Wie alle rechtschaffenen, friedfertigen
Menschen wünschte er sich ruhigeres
Fahrwasser, auch um den Preis gewisser
Nachteile. Leider hatte er darauf wenig
Einfluss. Er konnte nur die Neuigkeiten
verfolgen und sich darauf einzustellen
versuchen. Sich diese zu verschaffen,
fiel ihm freilich nicht allzu schwer. Oft
drängte Burchard sie ihm regelrecht auf,
so auch diesmal.
"Der Erzbischof plant einen Feldzug
gegen die Stedinger", begann er zu
plaudern, "und sucht einen weltlichen
Herrn, der im Feld die Führung
übernimmt. Nun verhält es sich so, dass
die Oldenburger dem Unternehmen fern
bleiben wollen. Wenn aber Graf
Christian II nicht in Frage kommt, wird
Gerhard sich wohl auf mich besinnen
müssen."
Vorfreude und Begeisterung trieben
Burchard hoch von seinem Stuhl. Sein
Blick schweifte über die Wand mit den
von Wappen flankierten Gemälden
seiner Vorfahren. Zweifellos hatte er in
diesem Moment vergessen, unter
30
welchen Umständen er an die Seite des
Erzbischofs geraten war. Erst einige
Zeit später kamen ihm Bedenken,
vielleicht zuviel von sich preisgegeben
zu haben.
"Genug geredet!" rief er nun aus.
"Wir müssen unsere Vorbereitungen
treffen."
"Gewiss!" sagte Wilhelm, verneigte
sich und ging hinunter auf den Hof, wo
mehrere Höflinge und Ritter ihn bereits
erwarteten.
II
W
ährend Agnes über den Hof
schlenderte, gab sie sich die
größte Mühe, ihre innere
Erregung zu verbergen. Seit ihr Vater
im Palas verschwunden war, fand sie
keine Ruhe mehr. Sie versuchte, sich
das Gespräch mit dem Grafen
vorzustellen, verlor sich dabei aber
immer wieder in vagen Vermutungen.
Leider
ließen
sich
Burchards
Reaktionen niemals voraussehen, nicht
einmal für diejenigen, die ihn seit
Jahren kannten. Nüchtern betrachtet,
durfte sie sich nicht viel ausrechnen. In
der Burg waren alle ganz auf den
Besuch des Erzbischofs eingestellt. Der
Vater hatte ihr schon im Voraus gesagt,
dass er ihr Anliegen wohl kaum würde
anschneiden können. Aber gerade weil
Burchard so unberechenbar war, im
Guten wie im Bösen, mussten die
Voraussagen ja nicht unbedingt
stimmen.
Eigentlich hätte Agnes mit einer
Handarbeit beschäftigt sein sollen. Mit
der Behauptung, sie könnte sich wegen
heftiger
Kopfschmerzen
nicht
konzentrieren, war sie jedoch dem engen, stickigen Raum zwischen Palas
und Burgkapelle entronnen. Dass sie
nun für jedermann sichtbar über den
Hof stolzierte, konnte sie sich leisten,
denn ihr Ansehen in Wildeshausen hatte
sich während der vergangenen sechs
Jahre langsam aber nahezu stetig
entwickelt. Seit sie sogar der Graf
vorzog, wagte kaum noch jemand, ihr
einen Wunsch abzuschlagen.
Die Sechzehnjährige war im strengen
Sinne keine Schönheit. Sie sah stets ein
wenig kränklich aus und auch die
weiblichen Rundungen prägten sich bei
ihr langsamer aus als bei anderen
Mädchen.
Weil
schon
ein
Wetterumschwung reichte, sie für zwei,
drei Tage aufs Bett zu werfen, blieb sie
(obgleich sie selten wirklich in Gefahr
schwebte) blass und mager. Noch
immer wirkte sie kindlich. Dabei hatte
sie schon mit acht Jahren nach Kleidern
im Schnitt erwachsener Frauen verlangt.
Sie war ehrgeizig und konnte bei ihren
hochfliegenden Plänen nicht viel mehr
in die Waagschale werfen als ihren
Charme. Der allerdings half ihr
beträchtlich. Sie besaß ein angeborenes
Talent, sich anzupassen und fand
unbewusst fast immer die richtigen
Bewegungen und die richtigen Worte.
Mittlerweile hatte sie eine Eleganz
erlernt, die sie wie die Tochter des
Burgherrn erscheinen ließ. Sie lief in
prächtigen Kleidern einher. Ihre
dichten, tiefschwarzen Haare ließ sie
lang bis weit in den Rücken hinein
fallen und zierte sie mit goldenen und
silbernen Spangen. Manchmal zischelte
eine neidische Rivalin, dass ihr sowohl
die meisten Kleider als auch der gesamte Schmuck nur geliehen waren.
Doch das durfte sie getrost überhören,
solange sie eine unangefochtene
Stellung genoss. Die Frau des
31
Burgvogts, der die Beaufsichtigung der
heranwachsenden Mädchen bei der
Arbeit oblag, hatte nicht lange
nachgefragt, als ihr Zögling sich
davonstahl.
Trotz all dem gab es freilich etwas,
das an Agnes nagte und sie befürchten
ließ, ihr könnten eines Tages die Felle
davonschwimmen. Allmählich kam sie
nämlich in jenes Alter, wo sie
verheiratet werden musste. Viele
Mädchen waren schon mit zwölf oder
dreizehn Jahren Ehefrauen. Eine
Achtzehnjährige galt bei manchen
Männern bereits als Sitzengebliebene.
Der Graf hatte versprochen, mit dem
Vater über einen angemessenen
Bräutigam zu reden und einen Bewerber
aus dem Hochadel in Aussicht gestellt.
Doch seit drei Monaten geschah nichts.
Weil sich das junge Mädchen in den
Kopf gesetzt hatte, den Vater am Portal
des Palas abzupassen, drehte sie eine
Runde nach der anderen um den in der
Mitte frei stehenden Bergfried und kam
sich dabei allmählich dumm vor. Ihr
kaum zu verbergender Müßiggang stand
in zunehmend peinlichem Gegensatz
zur Geschäftigkeit der Knechte, die
unter Geschrei die Fassaden verzierten,
und der Mägde, die für das Essen im
Rittersaal Speisen und Getränke
heranschafften. Sie war schon nahe
daran, das Warten aufzugeben und
zurück ins Handarbeitszimmer zu
gehen, da entdeckte sie etwas, das sie
noch einmal auf dem Hofe festnagelte.
Durch das breite Tor, das sich
zwischen Palas und Burgkapelle
unterhalb einer Brücke aus mehreren
kleineren Räumen zur Stadt hin auftat,
ritt gerade ein junger Mann mit
hellblondem, welligem Haar. Er trug ein
enges, grünes Gewand. Drei Hunde
umringten ihn mit lautem Kläffen. Er
hatte also die Stirn besessen, vor dem
Empfang des Erzbischofs noch auf die
Jagd zu gehen! Seine Beute bestand
lediglich aus zwei Hasen, die von
seinem linken Arm herab baumelten.
Wahrscheinlich war er nur kurz im
Wald gewesen, vielleicht allein deshalb,
um aller Welt zu zeigen, dass er sich
dergleichen erlauben durfte.
Im Grunde war Agnes ein
vernünftiges Mädchen. Missgünstige
Leute warfen ihr vor, kalt und
berechnend zu sein. Sobald aber der
Sohn des Grafen sich zeigte, vermochte
sie nicht mehr klar zu denken. Sie liebte
ihn mit der Tiefe und Bedingungslosigkeit der ersten echten Leidenschaft.
Dabei scherte sie sich weder um die
hämischen Bemerkungen, denen sie
sich seinetwegen mehr und mehr
aussetzte, noch darum, dass er ihr niemals ein Lächeln, geschweige denn ein
Wort gönnte. Sie verehrte ihn wie ein
übernatürliches Wesen, fand sogar
einen besonderen Reiz dabei, für ihre
Liebe zu leiden.
Der fünfundzwanzigjährige Heinrich
war ein hübscher Bursche, für den nicht
nur heranwachsende Ritterstöchter
schwärmten. Allerdings erzählte man
sich (hinter vorgehaltener Hand) auch
ein paar merkwürdige Geschichten über
ihn. Dass er sich mit seinem Vater nicht
verstand und sich häufig fern von
Wildeshausen aufhielt, kreidete ihm
kaum jemand an. Schwerer wogen da
schon die Gerüchte, er leide unter Anfällen von Schwermut. Nicht immer,
wenn er aus der Burg verschwand, ritte
er zur Jagd, zum Turnier oder zu einem
Feldzug. Manchmal ziehe er sich
vielmehr zurück in eine Einsiedelei, wo
er bei einem steinalten Mönch den
Frieden in Christus suche.
Obgleich die Welt ihm zu Füßen zu
liegen schien, quälten ihn Zweifel.
Innerhalb von nur drei Jahren hatte er
zweimal seine Frau durch Krankheit
verloren. Beide male waren politische
Gründe ausschlaggebend für die
Hochzeit gewesen. Beide male kannte
32
er die Braut kaum, als er sie zum
Traualtar führte, und die wenigen
Ehemonate trugen nicht dazu bei, dass
er ihr wirklich nahe kam. Beide male
also war der menschliche Verlust eher
gering. Doch Heinrich zitterte seither
vor einem Fluch, den er auf sich lasten
fühlte, obwohl er keineswegs so abergläubisch war wie sein Vater. Mit den
Zweifeln schlichen sich Missgeschicke
in sein Leben ein. Man nannte ihn den
Bogener, weil er mit dem Pfeil wie kein
anderer getroffen hatte. Doch das war
nicht mehr immer so. Auch zwischen
den Schranken gewann er nicht mehr
wie einst. Großartigen Triumphen
folgten unvermittelt grässliche Tage, an
denen er das Gefühl hatte, wie sein
Schatten neben sich selbst zu stehen,
und an denen er sich bös blamierte.
Agnes wusste von dem allem nichts weil sie es nicht wissen wollte. Das
Verlangen, sich an seine breite Brust zu
werfen und sein blondes Haar durch die
Finger gleiten zu lassen, brachte sie fast
um den Verstand. So kam es, dass sie
vor Schreck aufschrie, als sie plötzlich
von der Seite angesprochen wurde.
"Ich bin es nur!" beruhigte sie ein
junger Mann mit gutmütigem Lächeln.
Wilbrand war ebenso groß wie
Heinrich der Bogener, jedoch nicht
kräftig und frisch wie dieser sondern
aufgequollen dick und träge. Er wirkte
derart ungelenk, dass man ihm nicht
einmal zutrauen mochte, auf einem
Pferd reiten zu können. Sein breites
Gesicht war blass und glatt wie bei
einem ungesunden Kind. Allerdings
strahlte er gerade dadurch die
Friedfertigkeit eines Heiligen aus.
Seiner Einfältigkeit wegen wurde er
immer wieder gehänselt, selbst von den
Gören der Dienstleute, wehrte sich aber
fast nie, sondern entwaffnete durch
seine Ruhe.
Agnes freilich wusste das nicht zu
schätzen. Sie konnte ihn nicht
ausstehen.
Unglücklicher
Weise
bemerkte er das nicht, denn sie erinnerte
ihn an seine kleine Freundin, die er vor
drei Jahren verloren hatte, und zwar so
plötzlich und auf so merkwürdige Art,
dass er in seinem massigen Schädel
noch immer darüber nachgrübelte.
Zwischen ihm und Franziska war so etwas wie eine Schicksalsgemeinschaft
entstanden. Sie wurde grün und blau
geschlagen, weil sie sich mit dem Stolz
und dem Eigensinn einer jungen Katze
der Burgvogtsfrau widersetzte. So weit
er sich zurückbesinnen konnte, hatte nur
sie ihn wie einen Menschen behandelt.
Seine unschuldige Zuneigung übertrug
sich nun (unverdientermaßen) auf
Agnes, die ungleiche Schwester.
"Wie geht es dir?" wollte er wissen.
"Ich muss ins Handarbeitszimmer",
entgegnete sie und versuchte, ihm zu
entfliehen.
Gerade war aber ihr Vater am Portal
erscheinen. Die Leute, die ihn
umringten, um Anweisungen zu
erhalten, versperrten die Tür. Agnes
musste warten und Wilbrand nutzte die
Gelegenheit,
ihr
ein
Gespräch
aufzudrängen.
"Mutter geht es nicht gut", sagte er
und drehte verlegen an seinen Knöpfen.
Er meinte die Gräfin. "Ich habe Angst,
dass ihr etwas passiert."
Eigentlich hatte er Kunigunde de
Schodis nicht viel zu verdanken. Es
wäre ihre Pflicht gewesen, ihm zu
helfen gegen all diese bösartigen
Hofschranzen, die sich auf seine Kosten
belustigten. Doch trotz seiner Einfalt
spürte er, dass sie ihn nicht aus bösem
Willen vernachlässigte. Sie litt wohl
unter dem selben dunklen Schicksal wie
er selbst. Wie oft schon hatte er erlebt,
wie der Graf sie anschrie und
verprügelte! Als Kind hatte ihn das
gegrämt. Später war er abgestumpft,
denn es gab so vieles um ihn herum,
33
was er nicht verstand und was er nicht
ändern konnte.
Seit zwei Jahren hatte die Gräfin eine
sonderbare Krankheit. Wochenlang
konnte sie das Bett nicht verlassen.
Manchmal schien es, als werde sie nicht
wieder aufstehen. Dann aber erholte sie
sich plötzlich. Für einen Monat oder
auch für zwei bekam sie eine frische
Gesichtsfarbe. Sie wurde unternehmungslustig, kehrte den Übermut eines
jungen Mädchens heraus. Doch von
einem Tag auf den anderen kehrte das
Übel zurück. Wie immer, wenn sich
Unerklärliches
zuträgt, war das
Aufsehen groß. Jedermann versicherte,
von einem derartigen Fall noch nie
gehört zu haben. Der Burggeistliche
bemerkte einmal zu Burchards Verdruss
viel sagend:
"Lasst uns überlegen was Gott uns
lehren will, indem er uns mit dieser
Plage schlägt!"
Wilbrand hatte sich in den Kopf
gesetzt, am Bett seiner Mutter
Krankenwache zu halten. Er tat nichts,
redete nicht einmal, saß nur da mit
stumpfsinnigem Gesichtsausdruck. Niemand wusste, was genau ihn dort
festhielt, aber er ließ sich nicht
vertreiben.
"Sie hatte heute so rote Flecken im
Gesicht", berichtete er Agnes.
Er wollte noch mehr erzählen, doch
dem jungen Mädchen wurde es nun
endgültig
zuviel.
In
beinahe
unschicklicher Weise drängelte sie sich
zwischen den Männern hindurch. Da ihr
Vater offenbar den Empfang des
Erzbischofs vorbereiten musste, konnte
sie vorläufig nicht mit ihm reden.
Vielleicht würde sich am Abend noch
eine Gelegenheit ergeben. Allerdings
ahnte sie, dass er nichts für sie erreicht,
ja dass er nicht einmal etwas für sie
unternommen hatte. Es war töricht von
ihr, auf ihn zu rechnen. Sie musste für
sich selbst sorgen.
III
A
ls der Erzbischof Einzug hielt in
der Burg, stand Agnes dem
Brauch gemäß neben ihrem
Vater im Kreise der höhergestellten
Dienstleute des Grafen, der Vasallen.
Nahezu hundert Menschen hatten sich
zu Ehren des Kirchenfürsten auf dem
Herrenhof versammelt. Das war
entschieden zuviel, fand das Mädchen.
Die Leute drängten sich schier zu Tode,
vor
allem,
weil
ein
Dutzend
Waffenknechte (zur Feier des Tages
prächtig ausstaffiert) in rüder Weise
einen Raum vor dem Torbogen frei
hielten. Der Bergfried, der sich in der
Mitte des Hofes breit machte, erhitzte
ganz besonders die Gemüter. Die
Mägde und Knechte, die direkt hinter
ihm standen, brauchten nicht zu hoffen,
auch nur einen Zipfel von Gerhards
Rock zu sehen.
Agnes hingegen, die vorn stand,
nahm kaum wahr, was um sie herum
geschah, denn sie träumte noch immer
von Heinrich - und von tragischen
Liebesgeschichten. Eine handelte von
dem Geheimgang, der vom Bergfried
aus bis zur Unterburg führte. Einstmals
habe ein Grafensohn die Tochter eines
Ritters geliebt. Er wollte sie auch
heiraten, doch sein Vater ließ das nicht
zu. Daraufhin begann er, sich heimlich
mit ihr zu treffen. Bei Einbruch der
Dunkelheit kletterte sie in den damals
noch bis jenseits der letzten Mauer
reichenden Gang hinab und gelangte
ungesehen bis zum Bergfried, in dessen
Fuß er sie erwartete und in sein Gemach
34
geleitete. Unglücklicher Weise erfuhr
davon der Ratgeber des Grafen, ein
grausamer Mann. Als der Prinz sich mit
ihm entzweite, überfiel er das Mädchen
unten im Gang und sperrte es in ein
Verließ, wo es qualvoll zu Tode kam.
Seit sie von der Sage wusste, wurde
Agnes von ihr bis in die Träume hinein
verfolgt, und selbstverständlich hatte
der Prinz die Züge Heinrichs des
Bogeners. Eines Abends schlich sie sich
in den Keller des Bergfrieds hinab. Nun
war sie selbst jenes Rittermädchen.
Leicht fand sie den Anfang des Fluchtwegs und tastete sich wie im Rausch
immer tiefer in die Dunkelheit vor. Sie
steigerte sich dermaßen hinein in ihre
Rolle, dass sie schließlich bewusstlos
zusammenbrach. Anschließend musste
sie zwei Wochen lang mit Fieber das
Bett hüten. Bei all dem ahnte sie nicht,
dass sich in diesem geheimnisvollen
Gang eine tatsächliche Tragödie
abgespielt hatte - die Ermordung ihres
eigenen Halbbruders, nur wenige Meter
entfernt von jener Stelle, wo sie
ohnmächtig geworden war.
Zu ihrem Leidwesen hatte Agnes
zwar freie Sicht auf das Tor nicht
jedoch auf die Grafenfamilie. So wusste
sie nicht, welche Kleidung Heinrich zu
Ehren des Erzbischofs trug. Seinen
Jagdrock gewiss nicht mehr. Wenn er es
darauf anlegte, konnte er sehr elegant
aussehen. Das junge Mädchen schloss
die Augen und versuchte, ihn sich
wenigstens vorzustellen. Dabei wurde
sie aber bald gestört durch eine neue
Welle des Gedränges. Gerade war
Gerhard II mit seinem Gefolge auf den
Hof geritten.
Diensteifrig nahmen Stallknechte die
Pferde in Empfang. Dann verschwand
der Kirchenfürst für Agnes hinter den
breiten Rücken mehrerer Männer. So
sehr sie sich auch reckte, sie konnte
nichts
sehen
vom
Begrüßungszeremoniell. Jetzt wurde er
zweifellos
durch
den
Grafen
willkommen
geheißen.
Sicherlich
überreichte die Gräfin ein Geschenk.
Und dicht dabei stand Heinrich.
Vielleicht ruhten des Erzbischofs Augen
gerade auf ihm. Natürlich hätte er einen
so jungen und kräftigen Burschen gern
in den Reihen seines ritterlichen
Anhanges. Immerhin war er schon
einmal für ihn in den Kampf gezogen,
vor ein paar Jahre gegen die Dänen.
Seufzend gab das Mädchen auf. Sie
konnte nicht länger auf den Zehen
stehen.
Nach der Begrüßung zerstreuten sich
die Leute noch einmal. Der Erzbischof
wurde in den Palas geleitet, wo er sich
nach dem langen Ritt erfrischen konnte.
Lange aber dauerte die Pause nicht,
denn Gerhard verabscheute den
Müßiggang. Schon bald musste
Wilhelm von Westerholt den Zug
formieren, der sich feierlich hinüber zur
Kirche des Alexanderstifts bewegen
sollte.
Einen Moment lang hatte Burchard
mit dem Gedanken gespielt, quer durch
die Stadt zu ziehen, um auf diese Weise
sein Ansehen gegenüber den Bürgern zu
erhöhen. Zwar besaßen die Leute in
Wildehausen noch kein steinernes
Rathaus und beugten sich in allen
wichtigen Fragen ziemlich bereitwillig
ihrem Herrn, doch allmählich drang
auch in diesen Winkel der Ruf nach
mehr Unabhängigkeit. Der Graf spürte
das in den Blicken der Bürgervertreter,
in der Art, wie sie sich vor ihm
verneigten. In den engen Straßen, die
zum Markt hin führten, wäre der Zug
aber unweigerlich ins Stocken geraten,
hätte sich in die Länge gezogen und am
Ende kein besonders eindrucksvolles
Bild mehr abgegeben. So entschied sich
Burchard für einen anderen Weg. Vom
Tor aus ging es an der Burgmauer
entlang hinab zur Hunte. Dem Lauf des
Flusses folgend, gelangte man dann zu
35
den Wiesen unterhalb der Stiftsgebäude
und erreichte im Bogen schließlich das
Ziel, den Platz vor dem Portal der
Alexanderkirche.
Unterwegs fand Agnes zu ihrer guten
Stimmung zurück. Was für den Grafen
nur eine Notlösung gewesen war, erwies
sich als Glücksgriff. In Scharen
strömten die Leute ans Ufer der Hunte
oder richteten sich auf den Mauern ein,
wo an diesem Tage niemand Wache
stehen brauchte. Wen nicht allein das
besondere Ereignis aus dem Haus
lockte, den verführte das sonnige Wetter
zu einem Spaziergang. Das Arbeiten
hatte Burchard für diesen Tag
ausdrücklich untersagt.
Natürlich wusste die Ritterstochter
aus dem Land zwischen den Sümpfen,
dass der Jubel nicht ihr galt. Dennoch
genoss sie ihn in vollen Zügen. So war
es immer gewesen in den vergangenen
Jahren. In Burchards Gefolge hatte sie
versucht, ein paar Lichtstrahlen zu
erhaschen vom Glanz des Hofes. Sie
war realistisch genug, sich damit
zufrieden zu geben. Sofern es nicht um
Heinrich den Bogener ging. Der Sohn
des Grafen ritt kurz hinter dem
Erzbischof und seinem Vater, welche
nebeneinander die Spitze des Zuges
bildeten. Er trug einen prächtig
gemusterten Umhang, in welchem das
Rot überwog - ein kräftiges, königliches
Rot. Der Wind blähte ihn auf. Agnes
beobachtete aber auch die Leute, und
ihr entging nicht, dass manches junge
Bürgermädchen viel eifriger zu
Heinrich hin winkte als zum Erzbischof.
Auf dem Platz vor der Stiftskirche
schuf Wilhelm von Westerholt noch
einmal Ordnung - für den Einzug. Die
Arbeiter hatten schon zuvor die noch
nicht vollendeten Teile des Gebäudes
geschickt verdeckt. Der bald nach dem
Einsturz der alten Türme (anno domini
1214 und 1219) begonnene Neubau gedieh allerdings hervorragend, weil die
Stiftsherren mit einem gleichmäßigen
Strom von Zuwendungen aus ganz
Norddeutschland rechnen konnten. In
ein paar Jahren würde nichts mehr
verdeckt werden müssen.
Der
Querriegel
bildete
einen
beeindruckenden
Abschluss
nach
Westen hin. Nur sparsam mit Fenstern
versehen, erinnerte er an eine Burg,
wobei die gewaltige kreisrunde Rosette
über dem Portal die Strenge teilweise
wieder zurück nahm. Dort, wo sich der
wuchtige Turm einmal erheben sollte,
ragte ein Kran auf. Agnes hatte viel
Zeit, sich das alles anzusehen, denn
durch das Portal konnten immer nur
zwei Leute gleichzeitig schreiten. Seit
sie den Sohn des Grafen nicht mehr im
Blick hatte, begann sie sich zu
langweilen.
Endlos schien es ihr zu dauern, ehe
ein jeder auf seinem Platz war gemäß
seinem Stand und der Gottesdienst
beginnen konnte. Nun gab es immerhin
wieder Interessantes zu beobachten. Der
Erzbischof thronte auf einem üppig mit
Gold verzierten Stuhl rechts vom Altar.
Neben ihm saßen zwei Priester in
festlichem Ornat. Auch ein Chor von
Benediktinermönchen fehlte nicht. Der
Grafenfamilie war eine besondere Loge
schräg gegenüber dem Stuhl des
Erzbischofs vorbehalten.
Das Stufengebet sprach einer der
Priester des Alexanderstifts. Er leitete
auch das allgemeine Sündenbekenntnis.
Agnes sagte die bekannten Worte
anfangs ohne nachzudenken daher.
"Ich bekenne, gegen Gottes Gebote
verstoßen zu haben, in Gedanken, in
Worten und in Werken, zu jeder Zeit
und an jedem Ort, durch Unterlassung
und durch Begehung, bewusst oder
unbewusst."
Plötzlich aber durchzuckte sie wie ein
Fieberschauer ernsthafte Reue. Was
wird wohl Gott davon halten, dass sie in
eitler Selbstüberschätzung einen Mann
36
begehrte, der ihr niemals würde gehören
können? Hochmut kommt vor dem Fall!
Das Kyrie eleison und vor allem das
anschließende Gloria in excelsis Deo
erlöste sie aus ihrem kurzen Alptraum.
Der Raum schien größer zu werden. Die
Pfeiler reckten sich und drohten das
behelfsmäßige
Dach
zu
sprengen. Gerade
gab draußen eine
Wolke die Sonne
frei und heiteres
Licht
flutete
herein.
Nachdem der
Priester der Burg
von
Wildeshausen die
Epistel des Tages und das Evangelium
verlesen hatte, stand der Erzbischof
selber auf. Er predigte nur kurz und
sagte nichts Unerwartetes. Dennoch
hinterließ er einen tiefen Eindruck. Das
lag am Klang seiner Stimme, an der
Entschlossenheit, die sich darin
widerspiegelte, an der Angriffslust, die
sich zwischen den sanften Worten
ahnen ließ. Flüstern ging durch die
Reihen. Die Leute fragten sich, was er
im Schilde führte. Gerüchte kamen auf,
die in den kommenden Tagen
(aufgebauscht
zu
haarsträubenden
Geschichten) Burg und Stadt in Atem
halten sollten.
Bei der heiligen Kommunion, dem
Höhepunkt des Gottesdienstes, ließ sich
der Erzbischof von den beiden Priestern
assistieren. Jener vom Alexanderstift
sprach
der
Gemeinde
das
Glaubensbekenntnis vor. (Credo in
unum Deum ...) Der von der Burg nahm
das weiße Tuch von dem silbernen, mit
Edelsteinen verzierten Kelch und dem
ebenfalls silbernen Teller. Tiefer,
langgezogener Gesang setzte ein und
legte sich schwer auf den Raum. Die
bisher kaum beachteten Chorgeistlichen
im Hintergrund ehrten den Wein im
Kelch und die Hostien auf dem Teller,
die sich in den Vorstellungen der
Versammelten
in
wenigen
Augenblicken in Blut und Leib Jesu
Christi verwandeln würden.
Agnes senkte mit den anderen den
Blick und vertiefte sich in ein Gebet.
Die Angst vor Gottes Rache kroch
wieder in sie hinein und machte sie
beklommen. Als das Glöckchen erklang, zuckte sie zusammen wie unter
einem Peitschenhieb. Sie fürchtete,
wieder in Ohnmacht zu fallen wie
seinerzeit im Geheimgang. Doch so
weit kam es mit ihr diesmal nicht.
Schon begannen die Schlussgesänge
und bald wurden die großen Flügel des
Portals geöffnet. Der Erzbischof schritt,
gefolgt von der Familie des Grafen,
nach draußen in den Frühlingstag. Nach
und nach folgten die anderen.
Das Wichtigste, Folgenreichste, was
sich an diesem Tage in Wildeshausen
ereignete, war allerdings keineswegs
jener Gottesdienst. Es geschah nicht im
Glanz duzender Kerzen, nicht begleitet
von altehrwürdigen Zeremonien, nicht
unter dem andächtigen Erschauern einer
Menschenmenge. Es geschah im
Audienzzimmer des Grafen am späten
Abend im Geheimen. Gerhard II und
Burchard führten ein Gespräch unter
vier Augen.
"Ich weiß, dass du nach Höherem
strebst", sagte ersterer sofort rundheraus
(offen lassend, ob er das als Lob oder
Tadel verstanden wissen wollte). Die
Grafenfamilie war nicht nur von einem
verliebten Ritterstöchterchen beobachtet
worden sondern auch von den
Gefolgsleuten des Erzbischofs, so dass
dieser einen guten Eindruck von den
Zuständen in der Burg besaß. Nachdem
er Burchard eine Zeit lang verunsichert
nach einer Erwiderung hatte suchen
lassen, erlöste er ihn mit einer beschwichtigenden Handbewegung. "Eifer
37
ist nichts Verwerfliches, sofern er sich
auf gottgefällige Ziele bezieht."
Der Graf atmete auf, hütete sich aber,
das offen zu zeigen. Vielmehr gab er
sich
unterwürfig
wie
ein
Kammerdiener.
"Ihr seid mein Dienstherr. Euch steht
es zu, mich zu unterweisen. Sagt mir,
was Ihr von mir erwartet und ich werde
es tun!"
Gerhard sah ihn scharf an. Er fühlte,
wie nah dieser Mann dem Wahnsinn
war. Tatsächlich hatte er noch während
des Gottesdienstes in seiner Meinung
geschwankt. Doch er wünschte sich als
militärischen
Führer
des
Stedingerfeldzugs jemanden, der sich
der Sache blindlings annahm, einen
Eiferer also. Eiferer sind letztlich immer
Wahnsinnige.
IV
A
ls Wilhelm am Ende eines
Hohlwegs die Wardenburg auftauchen sah, fühlte er sich
erleichtert. Warum? Er hatte in
Wildeshausen nichts erlebt, was zur
Besorgnis Anlass gab. Oder etwa doch?
Gefühl und Verstand lagen miteinander
im Widerstreit. Ihm war, als versuche
eine leise Stimme in seinem Innern
beharrlich, ihn zu warnen, doch er
vermochte kein Wort zu verstehen. Es
blieb bei einer unbestimmten, dumpfen
Ahnung, gepaart mit der Gewissheit, für
einige Zeit in Sicherheit zu sein,
geborgen hinter einer unsichtbaren
Bannlinie.
An der Zugbrücke erwarteten ihn
seine Frau Martha und sein Sohn
Rotbert. Den Ritter berührte es tief, die
beiden dort stehen zu sehen. Zweifellos
hatten sie ihn von einem Fenster des dicken Wohnturms aus kommen sehen
und waren dann hinunter geeilt, ihm
entgegen. Dennoch fiel die Begrüßung
kurz
und
nüchtern
aus.
Ein
Uneingeweihter hätte nicht einmal
geahnt, wie innig die beiden einander
im Herzen liebten. Martha war eine
ruhige, ernste Frau, die (obgleich sie aus
einer anderen Gegend stammte) wie
kaum jemand sonst den Charakter des
Landstriches verkörperte, über den die
Westerholts herrschten. Generationen
von Menschen hatten mit gebeugten
Rücken den Sümpfen ein paar Flecken
Ackerlandes abgerungen, beharrlich bis
an die Grenze der Besessenheit. Wer
sich nach üppigen Festen sehnte, war
hier am falschen Ort, der hielt es hier
nicht bis zum Ende seines Lebens aus.
Die Westerholts waren unter den
Bauern nur die Vornehmsten. Es gab
kein anderes Gesetz als das der täglichen Mühsal. Es gab kein Stück Brot,
das nicht Schweiß gekostet hatte. Wenn
Wilhelm in Wildeshausen, Oldenburg
oder Bremen Kaufleuten traf und sie
von ihren Geschäften reden hörte, von
Geschäften, bei denen man über Nacht
bettelarm oder steinreich werden
konnte, dann schüttelte er ungläubig den
Kopf.
Rotbert war ein aufgewecktes
Bürschchen von elf Jahren. Er
entwickelte sich prächtig, wenngleich
sein Ungestüm den Eltern manchmal
Angst einjagte. Ihn zog es eher zum
Schwert als zum Pflug. Wilhelm hoffte,
ihm die Liebe zur Erde noch anerziehen
zu können. Immerhin war nichts
dagegen einzuwenden, wenn ein Ritter
sich gut zu schlagen verstand. Errang er
Ruhm im Dienste des Lehnsherrn,
brachte das auch seinem Land manchen
Vorteil. Zum Glück hegte er nicht jene
Verachtung für das Moor, die Agnes
wohl für immer fortgetrieben hatte. Die
Eltern wagten aus ganz anderen
38
Gründen nicht, ihn nach Wildeshausen
zur Erziehung zu schicken. Der Knirps
mit den kräftigen Armen eines
Vierzehnjährigen und dem feurigen
Blick eines kleinen Wilden ordnete sich
anderen Kindern nicht unter. Er wollte
stets der Führer sein und war imstande,
für dieses Ziel fürchterliche Prügeleien
anzuzetteln. Wenn man ihn dann
blutend aus einem Knäuel Widersacher
herauszog, dann lachte er noch. "Das
nächste Mal gebe ich es ihnen!" schrie
er trotzig und ohne jede Reue. In dieser
Hinsicht war jede Belehrung verlorene
Liebesmüh.
Trotz
mancher
bedenklichen
Veranlagung blieb Rotbert freilich für
Wilhelm die größte Hoffnung für den
Fortbestand der Familie. Einst hatte eine
ganze Schar von Westerholtkindern mit
ihrem Lachen und Geschrei den Hof
erfüllt, fünf an der Zahl. Wo waren sie
geblieben? Agnes träumte in Wildeshausen von der völlig unmöglichen
Heirat mit dem Sohn des Grafen und
überschüttete ihre Angehörigen mit
Vorwürfen. Arnold, sein Großer, der ihn
schon hatte vertreten können, dem die
Bauern zugetan gewesen waren wegen
seiner Klugheit und seiner Geduld, er
lag irgendwo in einem unbekannten
Grab, verscharrt von seinem Mörder.
Franziska und Pentia lebten vielleicht
noch. Ihnen hatte er unzählige Gebete
gewidmet. Aber keine Antwort war
gekommen, nicht von Gott und nicht
von den Menschen. Hielten sie sich
noch in der Gegend um Bremen auf,
hätte sie irgendwann einmal jemand sehen müssen.
Während Wilhelm hinter Martha die
Treppe
hinaufstieg
zur
kleinen
Wohnung der Burgherrenfamilie im
zweiten Obergeschoß des Hauptturms,
wurde er sich plötzlich bewusst, was die
leise Stimme in ihm sprach.
"Der Erzbischof will Krieg führen
gegen die Stedinger und Burchard soll
der Feldherr sein", sagte er.
"Dann wirst auch du mit in diesen
Krieg ziehen müssen", entgegnete seine
Frau.
Diese schlichte Antwort beruhigte ihn
für einen Moment, obwohl sie im
Grunde etwas Schlechtes ausdrückte.
Immerhin erinnerte sie ihn an eine
Regel. Er war Burchards Vasall und ein
Vasall folgt seinem Dienstherrn in den
Krieg. Regeln haben die Eigenschaft,
eine im Lot befindliche Welt vorzutäuschen. Doch diesmal ließ sich Wilhelm
nur kurz auf den Selbstbetrug ein. Die
Stimme in ihm redete der Regel zum
Trotz weiter.
"Ich kenne die Stedinger. Vor
zwanzig Jahren, wenige Monate nach
dem Tod meines Vaters, kämpfte ich
schon einmal in Burchards Heer gegen
sie. Sie ähneln unseren Bauern, sind
dickköpfig und zäh. Selbst ein großes
Heer wird sie nicht so leicht von ihren
Äckern vertreiben. Und wer sich in
ihrem Land nicht auskennt, kämpft
nicht nur gegen Menschen sondern auch
gegen tiefe Sumpflöcher und tückisch
feuchte Wiesen. Sogar von Dämonen ist
die Rede."
Die beiden waren in ihrer Wohnung
angelangt. Im Grunde ihres Herzens
glaubte selbst Martha nicht mehr an die
Regel.
"Mit den Dämonen sollte man sich
nicht anlegen", murmelte sie.
Dann verstummten beide. Die Frau
griff mechanisch nach einer Handarbeit,
unfähig einen Moment lang untätig zu
sein. Der Mann wechselte seine
durchschwitzten
und
verstaubten
Kleider. Ihre Gedanken aber trafen sich
im Marschland der Stedinger. Und sie
beschworen dieselben Visionen herauf.
Sie sahen Bauern mit entschlossenen
Gesichtern. Dicht an dicht standen sie
hinter ihren Deichen und warteten auf
39
den Feind. In den Fäusten hielten sie
gute Waffen, mit Sorgfalt geschmiedet
in den eigenen Dörfern. Männer, die
nicht für Sold dort standen und auch
nicht eines Eides wegen, sondern weil
sie ihre Frauen und Kinder schützten,
ihre Häuser, ihr Land, in das sich seit
Monaten kein fremder Steuereintreiber
mehr hineinwagte.
40
4.Kapitel
I
R
upert strahlte übers ganze
Gesicht.
"Sie sind allein", verkündete
er. "Wir haben leichtes Spiel."
"Aber es wird nicht viel zu holen
sein", gab Ernst Eisenarm zu bedenken.
"Ach, geh mir! Weiber haben immer
Klunkern bei sich."
Norbert trat vor den Räuber hin und
zwang sich, ihm voll ins Gesicht zu
blicken. Noch immer galt formal die
Gleichberechtigung aller Mitglieder der
Bande. Jeder aber wusste, dass längst
der Kampf um die tatsächliche Macht
entbrannt war.
"Es ist unehrenhaft, sich an
wehrlosen Mädchen zu vergreifen!"
Ein Dutzend Augenpaare hefteten
sich auf die beiden Männer. Niemand
hätte sich gewundert, wären sie
plötzlich mit blanken Schwertern
aufeinander losgegangen. Und niemand
hätte eingegriffen. Doch einmal mehr
ließen sie es nicht bis zum Äußersten
kommen. Rupert sagte:
"Wir vergreifen uns nicht an ihnen,
wir nehmen ihnen lediglich den
Schmuck weg."
Norbert spürte, dass er in Gefahr
geriet, sich lächerlich zu machen.
Rupert schlug unterdessen versöhnliche
Töne an.
"Jeder von uns beiden bestimmt zwei
Mann, die mitmachen. Du kannst mir
also zwei Aufpasser auf den Hals
laden."
Zähneknirschend ging Norbert auf
das
Angebot
ein.
Gelassenheit
vorspielend, blieb er mit der größeren
Gruppe auf einer Lichtung zurück.
An der Straße zwischen Oldenburg
und Wildeshausen gab es eine Stelle,
die so eng und unübersichtlich war, dass
sie sich Wegelagerern als Schauplatz
für einen Überfall geradezu aufdrängte.
Umgestürzte Bäume engten den
ohnehin schmalen Weg ein. Auf einem
steilen,
mit
Sträuchern
dicht
bestandenen Hang hätte ein Dutzend
Leute sich bequem verstecken können.
"Ich sehe sie", flüsterte Rupert schon
bald. "Aber wieso sind sie nur noch zu
zweit? Wo ist die eine Schwarzhaarige
geblieben?"
"Musste vielleicht mal pinkeln",
flüsterte Ernst Eisenarm zurück und
grinste anzüglich.
Unterdessen
erreichten
zwei
Mädchen die gefährliche Stelle. Die
eine war rothaarig und wirkte wie eine
Bettlerin. Angesichts ihres zerlumpten
Kleides verzog Ernst Eisenarm das Gesicht und sah kopfschüttelnd zu seinem
Anführer hinüber.
"Das ist die Dienerin," beharrte
Rupert mit dem Eigensinn des
Anführers. "Wer sich Diener leisten
kann, hat auch Klunkern."
Das zweite Mädchen hätte tatsächlich
ausgesehen wie die Herrin des ersten,
wäre es nicht so offensichtlich
schüchtern und brav gewesen. Ihr
schwarzes Haar und ihr Kleid wirkten
angesichts
der
Umstände
fast
unglaublich ordentlich.
"Los! Schnappt sie euch!"
Ernst Eisenarm und zwei seiner
Kumpane sprangen auf den Weg
hinunter und umringten die Mädchen,
die wie erstarrt stehen blieben und
keinen Widerstand zu leisten wagten.
"Wir sind Heimatlose!" versicherten
sie. "Wir haben nicht einmal genügend
zum Essen."
"Davon würden wir uns gern
überzeugen", entgegnete Ernst Eisenarm
kalt.
In eben diesem Augenblick begann
Rupert, der allein auf dem Hang
zurückgeblieben war, wild zu fluchen.
Zunächst hatte er geglaubt, ihm sei ein
wildes Tier in den Nacken gesprungen.
Dann aber spürte er den Stahl an seinem
Hals. Der Angreifer wusste genau, was
er tat. Er gab dem erfahrenen Räuber
keine Gelegenheit, sich zu entwinden.
Die Klinge eines kurzen Schwertes
drückte flach genau auf seine Kehle.
Eine kleine Drehung und sie würde bis
zur Wirbelsäule durch den Hals
rutschen.
"Befiel den drei Halunken, sich mit
dem Gesicht nach unten auf den Weg zu
legen!"
Die dunkle Stimme des jungen
Mädchens hätte er in anderer Lage
vielleicht als angenehm empfunden.
Auch jetzt war er im Widerstreit mit
sich. Einerseits spürte er, dass er sie
ernst nehmen musste. Andererseits
passte sie (nach seinem Gefühl) nicht
hierher, nicht an diesen Ort und erst
recht nicht in diese Lage.
"Legt euch hin, damit ich diese
Wildkatze loswerde! Das hätte sich
sowieso nicht gelohnt."
Wenig später waren die drei Mädchen
verschwunden und Ernst Eisenarm
brüllte, dass sich die Bäume schüttelten.
"Wer hat von Anfang an gesagt, dass
das schwachsinnig ist? Ich habe es
gesagt!"
"Halt die Schnauze!" brachte Rupert
ihn zum Schweigen. "Du wirst hier
noch so lange herumzetern, bis uns die
Waffenknechte finden."
Er hatte sich wieder ganz in der
Gewalt. Niemand würde es wagen, ihn
dieser Blamage wegen weniger zu
achten.
"Es ist besser so. Wer weiß, was es
mit dieser Hexe auf sich hat", sagte er
geheimnisvoll. "Mir kommt da eine
Ahnung."
Seine Leute sahen ihn voller
Bewunderung an, ohne ihn zu fragen,
worin diese Ahnung bestand.
Eine Woche später - die Männer in
der Waldhütte sprachen schon nicht
mehr über den missglückten Überfall,
weil anderes sie beschäftigte - stand
Norbert plötzlich dem wehrhaften Mädchen mitten im Wald gegenüber. Sie
hatte ihn offenbar bereits eine Zeitlang
beobachtet und sich dann eine
besonders einsame Stelle für die
Begegnung ausgesucht. Der junge Bürgerssohn, der sie persönlich noch nicht
kannte, war sprachlos vor Überraschung. Sie kam geradewegs zur Sache:
"Wir sind Fremde. Können wir für
ein paar Wochen bei euch wohnen?"
"Wir betreiben keine Herberge. Wir
sind ..."
"Ich weiß. Ich hatte bereits
Gelegenheit mit eurem Anführer zu
reden."
"Du bist also dieses Mädchen, das ..."
"Ja, genau dieses Mädchen bin ich.
Die anderen beiden sind meine jüngere
Schwester und eine Freundin. Ich
möchte, dass du deinem Anführer mein
Anliegen vorträgst."
Ohne eine Antwort abzuwarten,
verschwand sie wieder und Norbert
blieb völlig verwirrt zurück. Sie hatte
ihn nicht schüchtern um einen Gefallen
gebeten, sondern ihm regelrecht einen
Befehl erteilt. Überhaupt lag in ihrem
Wesen etwas Herrisches, was im
krassen Gegensatz zu ihrer Notlage
stand. Dennoch war sie ihm irgendwie
sympathisch. Er hatte den Eindruck,
dass sie sich angesichts der Umstände
so verhielt, dass sie sich auch ganz
anders geben konnte. Sie verstand sich
auszudrücken. Zweifellos war sie klug.
Vielleicht hatte sie sogar eine gute
Erziehung genossen. Obwohl er sich
sonst nicht gern vorschreiben ließ, was
42
er tun oder lassen solle, schon gar nicht
von einem wildfremden Mädchen, war
er in diesem Fall nachgiebig. Schon auf
dem Wege zurück ins Lager überlegte
er sich Rechtfertigungsgründe, um
Rupert zu überzeugen. Wenn ihn etwas
ärgerte, dann allenfalls, dass sie diesen
Halunken Anführer genannt hatte.
Andererseits war sie an ihn, den
Bürgerssohn, herangetreten mit ihrem
Anliegen.
Norbert
fühlte
sich
aufgefordert, diesem Räuber-Rupert
seine Grenzen aufzuzeigen.
Auf der Versammlung am Abend
setzte er sich so entschlossen für das
schwarzhaarige Mädchen und ihre
beiden Gefährtinnen ein, dass die
Männer tuschelten und schließlich
unverhohlenen zu spotten begannen.
Einer schrie in die Runde:
"Also, was meint ihr? Hat er sich ein
Betthäschen verdient oder nicht?"
Dröhnende Buhrufe antworteten ihm.
"Wenn sie hübsch ist, haben wir
anderen auch noch ein Wörtchen
mitzureden."
"Vielleicht teilt er sie ja mit uns!"
"Der? Niemals! Seht ihn euch doch
an, den elenden Geizkragen! Der platzt
gleich vor Eifersucht."
Norbert musste all seine Willenskraft
aufbringen, um sich zu beherrschen. Er
zitterte vor Zorn und fragte sich dabei,
was ihm eigentlich an diesem Mädchen
lag. Er kannte nicht einmal ihren
Namen. Ein kurzer Blick auf Rupert
brachte ihn endgültig aus der Fassung.
Der Räuberhauptmann beteiligte sich
nicht an der Auseinandersetzung und
amüsierte sich wie bei einer Schaustellervorführung. Er dachte gar nicht
daran, sich gegen die Aufnahme der
Mädchen auszusprechen. Er plante nicht
einmal, sich für die Niederlage an der
Straßenenge zu rächen. Dass die Hexe
bei ihm über einen Boten um ein
Nachtlager
bettelte,
war
ihm
ausreichend Genugtuung.
II
I
n den nächsten Tagen waren die
drei künftigen Bewohner der
Waldhütte
das
wichtigste
Gesprächsthema. Rupert, Ernst Eisenarm und die beiden anderen, die bei
dem missglückten Überfall dabei
gewesen waren, mussten unzählige
Fragen beantworten. Weil sie so genau
auch nicht Bescheid wussten, ihre
besondere Rolle aber nicht einbüßen
wollten, ließen sie ihrer Phantasie freien
Lauf. Ihre haarsträubenden Berichte
heizten die Stimmung weiter an.
Im Grunde waren die Männer trotz
ihres Lebenswandels nicht bösartig,
selbst Ruperts Leute nicht. Das
Schicksal hatte sie mehr oder minder
gegen ihren Willen in diese Lage gebracht. Inzwischen sahen sie die
Räuberei beinahe wie einen ehrbaren
Beruf an. Dazu gehörte, dass sie sich
nach bestimmten Regeln richteten. Sie
misshandelten keinen Wehrlosen. Raubten sie einen Kaufmann aus, ließen sie
ihm ein Pferd, um damit bis zur
nächsten Ortschaft zu reiten. Bei keinem Überfall hatten sie eine Frau
vergewaltigt. Ruperts Leute waren
darauf übrigens auch nicht angewiesen,
denn sie unterhielten (im Unterschied
zu den Bürgerssöhnen) heimliche Beziehungen zu einem Bordell in Bremen.
Die drei neuen Bewohner würden
selbstverständlich keine Prostituierten
sein. Trotzdem freuten sich fast alle auf
ihre Ankunft. Das Leben in der
Waldhütte hatte nach und nach den
Charakter
eines
Klosteralltags
43
angenommen. Die
wilden Auseinandersetzungen der ersten Tage
waren
dem
Einerlei
ständig
wiederkehrender
Verrichtungen
gewichen. Abwechslung brachten nur
die Raubzüge und die gelegentlich
aufflackernde Rivalität zwischen Rupert
und Norbert. Drei Mädchen würden die
Waldhütte auf jeden Fall freundlicher
machen. Und natürlich träumte ein jeder
davon, mehr zu bekommen als ein Lächeln. Nur einer schimpfte wie ein
Rohrspatz - Christian.
"Es wird Scherereien geben",
versicherte er eines Abends, als alle
schon in ihren Betten lagen. "Wenn
Weiber ins Spiel kommen, gibt es
immer Scherereien."
Zunächst glaubten die anderen, er
würde sich mit ihnen einen Spaß
erlauben. Als sie merkten, dass er seine
sonderbaren Ansichten ernst meinte,
erlaubten umgekehrt sie sich mit ihm
Späße, ziemlich derbe noch dazu.
"Kriegst wohl deinen Schwanz nicht
hoch, dass du mit Weibern nichts
anzufangen weißt."
"Und ob ich ihn hochkriege!"
verteidigte er sich wütend
Doch er kam nicht an gegen das
Gejohle seiner aus Vorfreude närrischen
Kameraden. Schließlich drehte er sich
beleidigt zur Wand hin und tat, als ob er
schliefe (obwohl ihm genau das bis zum
frühen Morgen nicht gelang).
Die Nachricht, dass die Mädchen
eingetroffen seien, verbreitete sich in
Windeseile. Zweifellos hätte nicht
einmal ein Feuer bewirkt, dass jeder so
rasch zur Waldhütte zurück eilte. Die
Männer drängten sich, als ob sie noch
nie im Leben einem weiblichen Wesen
begegnet wären. Allerdings mussten sie
bald einräumen, dass sie sich mehr
ausgerechnet hatten. Die Mädchen
waren nicht direkt hässlich, strahlten
aber alle drei (aus unterschiedlichen
Gründen) fast keinen Liebreiz aus.
Die große Schwarzhaarige wirkte wie
ein junger Mann, nicht nur wegen dem
groben Lederwams, der die Formen
ihres Oberkörpers verdarb, nicht nur
wegen dem Schwert, das sie ziemlich
auffällig an einem breiten Gürtel trug,
sondern vor allem, weil sie keinerlei
Furcht zeigte angesichts der vielen
Männer, von denen sie schamlos
angestarrt wurde. Entschlossen ging sie
auf Rupert zu und sagte:
"Gott sei mit Euch! Mein Name ist
Franziska. Ich danke Euch für die Güte,
uns aufzunehmen."
Trotz der überaus höflichen Anrede
fühlte sich der Räuberhauptmann
unbehaglich. Er spürte deutlich, dass sie
sich ihm mindestens ebenbürtig fühlte.
Die anderen, selbst Norbert, mussten
mit sich kämpfen, ihm in die Augen zu
sehen, dieses Mädchen dagegen tat es,
ohne zu blinzeln. 'Hexe!' dachte er mit
einer Mischung aus Bewunderung und
Ärger. 'Womöglich hat dieser verdrehte
Tischler mit seinem Weiberhass doch
Recht.'
Pentia erschien gegen sie wie ein
Kind. Sie war so schüchtern, dass sie
kaum den Blick zu heben wagte. Dass
sie auch Stärken besaß, stellte sich erst
ein paar Tage später heraus. Bei allem,
was mit Hauswirtschaft zu tun hatte
(und sei es nur entfernt) entwickelte sie
ein verblüffendes Maß an Bienenfleiß
und Geschicklichkeit. Ohne dass sie
jemand dazu aufforderte (und ohne zu
erwarten, dafür den gebührenden Dank
zu bekommen) brachte sie die in
Verwahrlosung geratene Waldhütte in
Ordnung. Anschließend besserte sie die
Kleidung der Räuber aus. Als Rupert sie
zum Kochen beorderte, vollbrachte sie
auch dabei Wunderdinge.
Zum Verdruss der Männer blieb sie
aber scheu wie eine Elfe. Sobald sich
ihr jemand bis auf weniger als drei
Schritte näherte, legte sie ihre Arbeit
beiseite und flüchtete. Und ihre Sinne
44
waren immer hellwach. Niemals gelang
es jemandem, sie zu überlisten. Um sich
nicht die leckeren Mahlzeiten und die
mit nahezu unsichtbaren Nähten
geflickten Kittel zu verscherzen, ließen
die Räuber sie fortan in Frieden.
Auch mit dem dritten Mädchen war,
was zärtliche Stunden anging, nicht viel
anzufangen. Zwar hatte sie nicht die
martialische
Ausstrahlung
ihrer
Freundin Franziska und auch nicht
Pentias Ängstlichkeit, dafür aber die
mürrische Art einer alten Jungfer. Dass
Ramira Artistin war, glaubte ihr
niemand. Wie sie sich gab, hätte sie
selbst das gutwilligste Publikum vergrault. Unzugänglich war nicht nur ihre
Verhalten. Auch ihre zerschlissene
Kleidung
und
ihre
mutwillige
Nachlässigkeit bei fast allem, was ein
junges Mädchen anziehend erscheinen
lässt, drückten das aus. Und als einer
der Bürgerssöhne (der keine Huren
bekam wie Ruperts Leute) sich trotz
allem an sie heranzumachen versuchte,
bekam er eine solch rabiate Abfuhr
erteilt, dass es nie wieder jemand
probierte.
Am Ehesten kam vielleicht Norbert
auf seine Kosten. Weil er beharrlich
festhielt an der Überzeugung, dass
hinter Franziskas ledernem Panzer ein
zu zarteren Gefühlen fähiges Herz
schlug, störte er sich weniger als die
anderen an ihrem Auftreten. Er
unterhielt sich oft und gern mit ihr.
Manchmal vergaßen beide am Rande
der Lichtung die Zeit und kehrten erst
im Dunkeln in die Waldhütte zurück.
Geduld musste er freilich aufbringen.
Sie offenbarte sich nicht ohne weiteres.
Von sich selbst erzählte sie so wenig,
dass sie für ihn geheimnisvoll blieb, wie
eingehüllt in eine Nebelwolke.
Gelegentlich sprach sich Norbert mit
Christian über sie aus. Der war zwar ein
verdammter Frauenfeind, doch zugleich
sein bester Freund. Bei ihm brauchte er
zumindest nicht zu befürchten, dass
seine
Herzensangelegenheiten
am
nächsten Tag der Spottlust der anderen
Nahrung gaben. Einmal verkündete er
stolz:
"Ich kenne jetzt ihren vollständigen
Namen. Sie hat ihn auf die Klinge ihres
Schwertes gravieren lassen."
"Was meinst du mit vollständig?"
"Sie ist eine Adlige. Sie hat einen
Familiennamen."
"Eine Adlige? Bist du sicher?"
"Ich war mir schon vorher sicher."
"Also, wie heißt sie denn nun?"
"Franziska von Westerholt."
Christian zuckte so heftig zusammen,
dass sich Norbert wunderte.
"Sagtest du Westerholt?"
"Ja, sagte ich. Kennst du die
Familie?"
"Ach, nein. Vergiss es! Es ist nichts,
jedenfalls nichts, was mit deiner
Franziska zu tun hat."
III
D
as Gespräch mit Norbert ließ
Christian keine Ruhe mehr.
Konnte es sein, dass Franziskas
Vater jener Ritter war, der seine Mutter
vergewaltigt hatte? Viel sprach nicht
dafür. Das junge Mädchen sah ihm
kaum ähnlich. Aber es kam durchaus
vor, dass sich Halbgeschwister stark
voneinander unterschieden. Im Übrigen
entdeckte er, je öfter er sie verstohlen
beobachtete, immer mehr Kleinigkeiten,
die seine Vermutung zu stützen
schienen.
Eines Tages hielt er die Spannung
nicht mehr aus und sprach sie an. Da er
45
sich von Frauen sonst fern hielt, war er
dabei ziemlich linkisch.
"Darf ich Euch eine persönliche
Frage stellen?"
Sie wusste nicht, was er von ihr
wollte. Da sie aber (im Gegensatz zu
dem, was die meisten von ihr dachten)
recht gutmütig war, ließ sie ihn
ausreden. Dadurch beruhigt, kam er
rasch zur Sache.
"Heißt Euer Vater Egbert?"
Sie verstand zwar noch immer nicht,
worin sein eigentliches Anliegen
bestand, antwortete aber freimütig.
"Nein. Er heißt Wilhelm und ist
Vasall der Oldenburger Grafen."
"Dann entschuldigt mich! Ich wollte
Euch nicht belästigen."
"Du brauchst dich nicht zu
entschuldigen. Übrigens kannst du mit
mir so reden wie mit den anderen."
In Wahrheit hatte er gar nicht darüber
nachgedacht, ob er Franziska wegen
ihres Adels ehrenvoller behandeln
musste
als
seine
bürgerlichen
Kameraden. Für ihn waren die Höflichkeitsformen ein Mittel, um Abstand zu
wahren, ohne den Gesprächspartner zu
beleidigen. Nun wusste er nicht, was er
tun sollte und zog sich mit einer
ungeschickten halben Verbeugung
zurück. In eben diesem Moment aber
fiel Franziska etwas ein.
"Vielleicht meinst du meinen Onkel.
Ist der, an den du denkst, so ein
komischer Kauz, der immerzu über die
Vergänglichkeit
alles
Irdischen
predigt?"
Christian setzte sich wieder neben sie.
"Ich kenne ihn nicht. Er muss aber
ein bösartiger Mensch gewesen sein,
ganz gewiss kein Heiliger. Er hat
meiner Mutter Gewalt angetan."
"Das wusste ich nicht", sagte
Franziska teilnahmsvoll und dachte
angestrengt nach. "Ich war klein, als er
mit mir sprach, und er erzählte mir
sonderbare Sachen, die ich nicht
verstand." Sie versuchte, sich seine
Worte wieder ins Gedächtnis zu rufen.
"Ja, er schämte sich wegen irgendetwas.
Ich glaube, er war in Bremen in ein
Verbrechen verwickelt."
Christian schlug das Herz bis zum
Hals.
"Hat er das wirklich gesagt?" fragte
er aufgeregt. "Hat er genau das gesagt?"
"Ich bin mir jetzt ziemlich sicher. Die
Vergewaltigung und seine Erlebnisse
auf dem Kreuzzug haben ihn dazu
gebracht, das Ritterleben aufzugeben.
Er wollte Geistlicher werden."
"Ich
bin
die
Frucht
dieses
Verbrechens", flüsterte Christian.
Das junge Mädchen drehte sich
abrupt zu ihm hin.
"Was? Du bist der Sohn dieses
Egbert?"
"Ja. Wir beide sind blutsverwandt."
"Welch sonderbarer Zufall, dass wir
uns hier mitten im Wald kennen
lernen!"
"Gott muss wohl Pläne mit uns
haben."
Norbert wunderte sich, dass sein
Freund, dieser elende Frauenhasser, sich
plötzlich ausgerechnet gegenüber Franziska, dieser sogar von Rupert
insgeheim gefürchteten Amazone, so
unbefangen verhielt. Für kurze Zeit (bis
er den Hintergrund des Sinneswandels
erfuhr) hegte er sogar heimlich
Eifersucht. Aber Christian fürchtete sich
nun einmal vor einer streitbaren Frau
weitaus weniger als vor einer
liebestollen. Die Tatsache, dass er mit
Franziska verwandt war (und sie ihn
folglich niemals heiraten konnte),
beruhigte ihn und nahm dem Verhältnis
die Spannung.
Überhaupt fühlte er sich besser, seit
er über seinen Vater Bescheid wusste.
Dass dieser Mann seiner Mutter das
Leben gestohlen hatte, berührte ihn nur
oberflächlich. Die Scheue Anne war für
ihn ein bemitleidenswertes Geschöpf,
46
aber ansonsten eine fremde Frau. Seit er
seine Wurzeln kannte (wie geartet sie
auch waren) fühlte er sich vollständig.
Als Norbert ihn einmal fragte, ob er
nicht manchmal Groll gegen Franziska
empfinde, ob er sich vielleicht rächen
wollte an ihr für ihren Onkel, sah er ihn
entgeistert an, als zweifle er an seinem
Verstand.
Die anderen begannen, die drei
Mädchen, die nichts mit sich anstellen
ließen, mit Nichtachtung zu strafen.
Allerdings zog der träge Alltag nicht
wieder ein, denn die Rivalitäten zwischen den alteingesessenen Räubern
und den Bürgerssöhnen brachen wieder
aus.
Die
Unklarheit
bei
der
Anführerfrage wurde allmählich für alle
unerträglich. Rupert schürte die
Anarchie, indem er sich neuerdings
betont zurückhielt, sobald eine Entscheidung erforderlich wurde. Ein Streit
um
Beutestücke,
der
in
eine
Massenschlägerei ausartete, brachte das
Fass zum Überlaufen.
"So kann es nicht weitergehen!" war
die einhellige Meinung.
Längst glaubte niemand mehr an die
hehren Ideale der Gleichberechtigung.
Im Grunde wollte inzwischen jeder
einen Anführer. Die Frage war nur, wer
es sein sollte. Rupert hatte kein
Vertrauen bei den Bürgerssöhnen. Die
Räuber wiederum wollten sich keinem
anderen unterordnen. Eine einfache
Mehrheitswahl
(bei
der
die
Bürgerssöhne im Vorteil gewesen
wären) hätte unweigerlich die Gruppe
auseinandergetrieben. Also schlug Ernst
Eisenarm vor:
"Heute gehen wir nicht eher
auseinander, bis wir einen einstimmig
gewählten Anführer haben." Mit dem
ihm eigenen Zynismus fügte er hinzu:
"Selbstverständlich gibt es nichts zu
essen. Werden wir uns nicht einig, dann
verhungern wir eben alle zusammen."
Obwohl
niemand
voraussehen
konnte, wem die erbarmungslose Regel
am Ende Nutzen bringen würde, waren
schließlich alle einverstanden. Am
Nachmittag trafen sie sich auf der durch
Rodung erweiterten Lichtung vor der
Waldhütte. Da der Sommer gerade
begann, würde die Sonne so bald nicht
untergehen. Für den Fall, dass man sich
selbst in dieser Zeit nicht einigen
könnte, lag Holz für ein Feuer bereit.
Auf den ersten Blick boten die
zwanzig Heimatlosen, wie sie so im
Kreis saßen, ein Bild friedlicher
Eintracht. Tatsächlich aber war die
Stimmung äußerst gespannt. Norbert
und Rupert, die einander genau
gegenüber auf je einem Baumstumpf
thronten, getrennt durch den Holzstoß
für das Feuer, fochten bereits mit
Blicken gegeneinander. Sie ähnelten
Katern beim Kampf um ein Weibchen.
Wer zuerst zurückwiche, und sei es nur
um eine Winzigkeit, der hätte verloren.
Und jeder nahm Anteil an diesem
stummen Ringen.
Norbert fühlte sich freilich in seiner
Rolle nicht recht wohl. Er hatte gegen
Rupert Stellung genommen, weil dieser
das Gesetz der Gleichberechtigung
untergrub. Ihn zu verdrängen und selbst
an seine Stelle zu treten, war ihm nie in
den Sinn gekommen. Nun plötzlich
erwarteten seine Freunde genau das von
ihm. Die möglichen Folgen eines Sieges
beschäftigten ihn mehr als die einer
Niederlage. Nach dieser Versammlung
würde vieles anders sein als zuvor. Wer
an diesem Abend die Macht errang, der
musste sie fest in den Händen behalten.
Ein
Dutzend
heiliger
Grundüberzeugungen rebellierte in ihm
gegen das, was man ihm da zugemutete.
Je länger das gewittergeladene
Schweigen andauerte, desto deutlicher
sah er voraus, dass seine Zweifel Rupert
den Sieg bringen würden. Das aber
könnte ihn und die anderen Bür-
47
gerssöhne zu Dienern erniedrigen. Und
er fürchtete, dass seine Kameraden ihm
die Niederlage ankreideten. Warum nur
hatte er sich so weit vorgewagt? Warum
war er auf die Herausforderungen
eingegangen? Vermutlich hatte sein
Rivale längst gemerkt, dass er wankte
und nicht mehr bis zum Einbruch der
Dunkelheit durchhalten würde. Gerade
wechselten Rupert und Ernst Eisenarm
einen viel sagenden Blick. Norbert
stand mit dem Rücken zur Wand. In
dieser Lage nun kam ihm eine Idee,
deren er sich bald schämte, obgleich sie
sich später (ohne sein Hinzutun) als
recht brauchbar erwies.
"Ist es neuerdings Brauch, dass
Bürger und Bauern über Adelige
regieren?" rief er unvermittelt.
Mit Befriedigung stellte er fest, dass
Rupert verwirrt war und (zumindest für
einen Moment) seine Siegessicherheit
verlor.
"Du willst doch jetzt nicht einen
adeligen Urgroßvater aus dem Grab
holen?" höhnte er, als er sich gefasst
hatte.
Ernst Eisenarm unterstützte ihn.
"Wusstest du nicht, dass sich seine
Großmama hat von einem Grafen
umlegen lassen?"
Wollte Norbert unterbinden, dass
seine Familie weiterhin dem wüsten
Gespött dieser Galgenvögel preisgeben
war, musste er den Weg weitergehen.
"Ich spreche nicht von mir", sagte er,
so würdig er konnte. "Unter uns weilt
die Tochter eines Vasallen."
Das Gelächter riss schlagartig ab.
Alle Blicke wandten sich Franziska zu.
Das junge Mädchen ließ eigenartiger
Weise keinerlei Unruhe erkennen. Sie
malte seelenruhig mit einem Stöckchen
Figuren in den Sand, als sei gar nicht
von ihr die Rede, ja, als interessiere sie
das Thema nicht einmal.
"Sie soll die Tochter eines Vasallen
sein?" brüllte Rupert, der nun plötzlich
doch fürchtete, dass ihm die Felle
davonschwömmen. "Wir haben sie von
der Landstraße aufgelesen. Warum lebt
sie nicht auf der Burg ihres Vaters?"
In diesem Moment bereute Norbert
seinen Vorstoß. Er sprang auf, wild
entschlossen, sich notfalls zu schlagen.
Franziska
aber,
die
ebenfalls
aufgestanden war, hieß ihn zu schweigen und drückte ihn mit einer kurzen,
energischen Bewegung auf seinen Platz
zurück. Während sie das Wort ergriff,
merkte er, dass er die Kontrolle über die
von ihm ausgelösten Ereignisse verloren
hatte.
"Er hat Recht. Ich bin die zweite
Tochter des Lehensritters Wilhelm von
Westerholt. Auf dessen Burg lebe ich
deshalb nicht, weil mir Graf Burchard
von Wildeshausen nach dem Leben
trachtet. Ich sah, wie er meinen Bruder
ermordete."
Rupert blickte in die Runde. Wäre
Franziska schüchtern gewesen wie ihre
Schwester, hätte er nichts zu befürchten
gehabt. Doch der Stolz, der aus ihrer
Körperhaltung sprach, das Sendungsbewusstsein, das ihre dunklen
Augen
widerspiegelten,
das
beeindruckte ihn. Sie hatte von ihrem
Vater eben nicht nur den Namen
bekommen sondern auch den Willen
und
die
Entschlossenheit
zum
Herrschen. Und noch etwas fiel den
Männern auf. Franziska war noch jung.
Ihr Wesen strahlte Leidenschaft und
Hoffnung
aus,
Schätze,
welche
zumindest die Räuber längst nicht mehr
besaßen. Lediglich Ernst Eisenarm hielt
noch eine Weile seinem Hauptmann die
Stange.
"Sollen wir uns von einem Weib
herumkommandieren lassen? Wo gibt
es denn so etwas?"
Aber Franziska war um keine
Antwort verlegen.
"Auf fast jeder Burg kannst du das
erleben - wenn der Ritter fern seiner
48
Heimat kämpfen muss. Ist er kein Tor,
so vertraut er Haus und Hof seiner
Gemahlin an, die ihn liebt, und nicht
dem Meier, der nur an seinen eigenen
Gewinn denkt."
Rupert war klüger als Ernst Eisenarm
und mehr als dieser herumgekommen in
der Welt. Es hat keinen Zweck sich mit
den Weibern anzulegen. Mögen die
Pfaffen predigen, dass sie dem Manne
nach Gottes Willen untertan sein
sollten! Mögen in den Chroniken die
Könige und Herzöge in männlicher
Linie aufgezeichnet sein! Ist nicht viel
wichtiger, wer die täglichen Entscheidungen trifft? Rupert hatte seine
Rolle als Anführer verloren, nicht sein
Gesicht. Er dachte bereits an die
Zukunft. Wollte er einen Teil seiner
Macht behalten, durfte er seine Kräfte
nicht
bei
sinnlosen
Gefechten
vergeuden. So kam es, dass die einstimmige Wahl überraschend zeitig,
lange vor Sonnenuntergang stattfand
und die Bewohner der Waldhütte zur
gewohnten Zeit zu Abend essen
konnten.
49
5.Kapitel
I
R
upert hatte die Wahl Franziskas
zum Anführer nicht zuletzt
deshalb nahezu widerspruchslos
hingenommen,
weil
er
davon
ausgegangen war, sie habe sich mit der
Aufgabe übernommen und werde sich
als
junges
Mädchen
inmitten
erwachsener Männer nicht behaupten
können, mochte sie auch gebildet und
von adliger Herkunft sein. Als sie ein
Fechtturnier ankündigte, glaubte er, sie
sei verrückt geworden. 'Sie wird sich
blamieren', dachte er, 'und ihren
ohnehin geringen Respekt völlig
einbüßen.' Warum kehrte sie nicht ihr
Wissen heraus, die Tatsache, dass sie
mühelos Lesen und Schreiben konnte?
Warum tat sie das glatte Gegenteil?
Nach einem komplizierten System
sollten alle (ausgenommen Ramira und
Pentia) denjenigen ermitteln, der mit
dem Schwert am besten umzugehen
verstand.
Um
Verletzungen
zu
vermeiden, wurden Brustpanzer aus
Holz angefertigt. Im Kampf bestand das
Ziel darin, die Klinge dort hinein zu
bohren. Wem das gelang, der hatte gewonnen.
Anfangs konkurrierten vor allem die
Bürgerssöhne mit den Räubern. Die
einen rechneten sich ebenso Chancen
aus wie die anderen. Ausbildung bei
bezahlten Schwertmeistern in Bremen
stand gegen jahrelange Erfahrung bei
Scharmützeln an den Handelsstraßen.
Franziska hatte niemand auf seiner
Rechnung. Die ersten, die gegen sie
verloren,
wurden
erbarmungslos
ausgelacht. Dann aber ergaben die
Regeln, dass Rupert gegen das Mädchen
antreten musste. Zweimal verlor er, weil
er sie nicht ernst nahm. Beide Male
erklärte sie den Kampf für ungültig.
Auch der dritte Versuch brachte jedoch
kein anderes Ergebnis, obwohl der
Räuberhauptmann diesmal wirklich
alles zeigte, was er konnte.
Franziskas Überlegenheit beruhte auf
ihrer Taktik. Während Rupert seine
Kraft vergeudete, indem er die
Entscheidung mit roher Gewalt suchte,
tat sie nichts Überflüssiges. Wurde sie
attackiert, wich sie aus, so dass sie
zeitweise beinahe feige wirkte. Sobald
sie aber selbst angriff, entfaltete sie für
einen Moment all ihre Kräfte und
schlug mit äußerster Genauigkeit zu. Sie
war unberechenbar, zu jedem Zeitpunkt.
Hinzu kam, dass sie ihren Gegner, wenn
sie vor ihn hintrat, starr in die Augen
blickte, was die meisten Männer
verwirrte.
Auch Norbert verunsicherte ihr
Auftritt. Am Abend ging er ihr aus dem
Wege, um nicht in Versuchung zu
kommen, etwas Verletzendes zu sagen.
Schon in der Nacht aber verzeih er ihr.
Sie musste sich ja etwas einfallen
lassen, um sich durchzusetzen! Und er
hatte sie immerhin in diese Lage
gebracht. Am nächsten Abend war er
nur noch erstaunt darüber, dass sie in
ihrem Alter so gut fechten konnte.
"Wo hast du das alles gelernt?"
Sie antwortete mit derselben Frage.
"Wo hast du gelernt, was du kannst?"
"In
Bremen,
bei
einem
Schwertmeister."
"Und was hat der getan, wenn du bei
einer Übung ungeschickt warst?"
"Er hat mir gezeigt, wie ich es besser
machen kann. Er war ziemlich
geduldig."
"Genau das ist der Unterschied. Mein
Schwertmeister war beim Unterricht
niemals geduldig. Wenn ich mich
dumm anstellte, prügelte er mich grün
und blau. Dabei sagte er: 'Du kannst von
Glück reden, dass du nur verprügelt
wirst. Eigentlich bist du jetzt tot.'
Manchmal drohte er mir: 'Wenn du
heute nicht besser bist als gestern,
bringe ich dich um.' Ich glaubte ihm und
wurde tatsächlich immer besser."
"Dieser Mann muss vom Teufel
besessen sein."
"Ich verdanke ihm in gewisser
gab und sich ihm verweigerte. Eigentlich sah er sich in der Rolle ihres
heimlichen Beschützers. Bis zum
Fechtturnier war er der Ansicht
gewesen, dass sie ihn dringend brauche.
Dabei fühlte er sich durchaus reinen
Herzens. Dass er auch mit der Vorstellung liebäugelte, sie in seine
Abhängigkeit zu bringen, war ihm nicht
bewusst - im Gegensatz zu ihr. So war
es nur eine Frage der Zeit, bis sie sich
erstmalig stritten.
Bei
einer
der
abendlichen
Versammlungen lehnte sich Ernst
Eisenarm auf, ohne Anlass, nur um zu
erproben, was er sich herausnehmen
durfte. Noch ehe Franziska antworten
konnte, stopfte Norbert ihm mit klaren
Worten den Mund. Hinterher kam er
sich
großartig
vor,
und
selbstverständlich
erwartete
er
Dankbarkeit. Als das junge Mädchen
ihn stattdessen anfauchte, verstand er
die Welt nicht mehr.
"Spiel dich nicht als mein Ritter auf!
Spar dir deine Worte auf für den Fall,
dass du selbst angegriffen wirst!"
"Was ist Schlechtes daran, wenn ein
Mann das Mädchen, das er mag,
beschützen will?! Ist er nicht gar dazu
verpflichtet?"
"Ich brauchen niemandes Schutz",
versetzte sie trotzig. "Im Übrigen bin
ich keineswegs deine Frau."
Sie sagte nicht, dass sie dem Stande
nach über ihm stand. Sie dachte nicht
einmal daran. Er aber unterstellte ihr,
genau
auf
diesen
Unterschied
anzuspielen. Vermutlich würde ihre
Familie den Segen verweigern für die
Ehe mit einem Bürgerlichen. Tief
beleidigt ging er davon.
Lange dauerte dieses erste Zerwürfnis
aber nicht an. Schon bald bereuten
beide ihre Heftigkeit und vertrugen sich
wieder - was wiederum nicht
verhinderte, dass sie noch öfter aneinander gerieten. Manchmal ging es um
Hinsicht, dass ich noch lebe - auf der
langen Wanderung von Köln hierher in
meine Heimat. Mehr als einmal wäre
ich tatsächlich tot gewesen, wenn ich
mich dumm angestellt hätte."
"Und wie lange warst du diesem
furchtbaren Mensch ausgeliefert?"
"Nicht lange. Ein Jahr vielleicht.
Diese Monate aber werde ich nie
vergessen. ... Übrigens möchte ich, dass
du nicht so schlecht von ihm redest. Ich
bin ihm wirklich dankbar. Vielleicht ist
er ja ein Engel, den Gott mir geschickt
hat."
"Gehörte dieser eigenartige Blick
auch zur Ausbildung?"
"Selbstverständlich! Man muss den
Gegner verwirren. Es gibt da noch viele
andere Mittel."
"Erzähl!"
Sie lächelte verschmitzt.
"Die verrate ich natürlich nicht."
"Auch mir nicht?"
"Nicht einmal dir."
Norbert lächelte gutmütig zurück.
Tief in seinem Innern freilich kränkte es
ihn, wenn sich Franziska so überlegen
51
Prinzipien, manchmal um Kleinigkeiten. Manchmal vermochten sie
sich gerade noch rechtzeitig zu
bremsen, manchmal schrieen sie sich an
und schmollten zwei volle Tage lang
miteinander. Dass sie sich dabei immer
näher kamen, merkten sie fast gar nicht.
Sie waren nun einmal beide eigenwillig
und selbstbewusst. Die Vertrautheit
wuchs langsam wie ein Baum.
II
F
ür Christian gab es nur eine
Schlussfolgerung aus dem, was
er beobachtete - er tat recht
daran, wenn er sich von den Weibern
fern hielt. Leider blieb er von Norberts
täglichen Tragödien nicht gänzlich
verschont. Sein Freund war für die
Menschheit verloren. An den guten
Tagen (den seltenen) verkroch er sich
mit seiner Franziska im Wald und
turtelte mit ihr herum. An den
schlechten Tagen (den häufigen) jammerte er entweder wie ein Klageweib
oder aber er fluchte wie ein
Landsknecht. Was war nur aus ihm
geworden?! Christian vermisste die
Streitgespräche über den Erzbischof,
über Bremens Zukunft und über die
wahre Religion. Er führte seither ein
recht einsames Leben. Zwar stand er
gelegentlich im Mittelpunkt, weil er bei
den
Abendversammlungen
wegen
seiner radikalen Meinungen zum
Wortführer der Bürgerssöhne wurde (an
Norberts Stelle), doch nahm er sich
tagsüber mehr und mehr jener Arbeiten
an, die er allein erledigen konnte.
Zu diesen Pflichten gehörte die
Versorgung
der
Jungtiere.
Die
Bewohner der Waldhütte hatten sich
inzwischen
so
viele
Tiere
zusammengeraubt, dass besondere
Ställe notwendig geworden waren. Es
gab (neben Hühnern und Enten) zwei
Schweine, eine Ziege und ein halbes
Dutzend Schafe. Bei den Schafen hatte
sich Nachwuchs eingestellt. Leider
waren die Lämmchen zu früh auf die
Welt gekommen. Das Muttertier hatte
sich wohl bei seiner Entführung zu sehr
aufgeregt. Christian bemühte sich nun
mit an Besessenheit grenzendem
Ehrgeiz um die Frühchen. Er stand
deshalb sogar mehrmals in der Nacht
auf.
In dem besonders geschützten Winkel
des Stalls, den er für die Lämmchen
ausgesucht und in welchem er ihnen ein
Lager eingerichtet hatte, war er stets
allein. Er vernahm deutlich, was
draußen vor sich ging, konnte sogar
Gespräche verstehen, gehörte aber nicht
dazu. Schon bald war er an diesen
Umstand so sehr gewöhnt, dass er sich,
wenn er den Stall betrat, nicht mehr
nach unerwarteten Gästen umblickte. So
kam es, dass er nicht merkte, als er
einmal beobachtet wurde.
Auch Ramira zog sich gern in
geschützte Winkel zurück. Sie hatte sich
in den zurückliegenden Wochen kaum
verändert,
insbesondere
ihre
Unnahbarkeit nicht abgelegt. Allerdings
war sie (ohne einen eigenen Beitrag
dazu geleistet zu haben) in eine
besondere Rolle hineingeraten. Es liegt
in der menschlichen Natur, für
ungewöhnliche Dinge eine Erklärung zu
suchen,
welche
sich
in
das
althergebrachte
Weltbild
einfügt.
Deshalb wurde in der Waldhütte
unermüdlich gerätselt, was es wohl mit
diesem sonderbaren Mädchen im
Bettlerinnengewand auf sich haben
mochte. Irgendjemand (im Nachhinein
bekannte sich niemand mehr dazu)
stellte die Vermutung auf, sie sei
vielleicht eine Fee. Wenn sie zu den
52
Geistern gehörte, wäre es verständlich,
dass sie den Menschen aus dem Wege
ging. Das Gerücht wurde zum Anlass
unzähliger Spekulationen über das
Wesen der Feen im Allgemeinen und
über Ramira im Besonderen.
"Feen zeigen sich ganz selten am
Tage. Und wenn sie ans Licht kommen,
dann nur aus besonderen Anlässen und
nur ganz kurz."
"Weißt du denn nicht, dass es
Tagfeen und Nachtfeen gibt? Zwar sind
die Tagfeen in der Minderheit, aber tief
in den Wäldern sieht man sie öfter, als
die meisten Leute glauben."
"Aber sie sind durchsichtig. Man
kann sowohl durch ihre Kleider als auch
durch ihren Körper hindurch blicken."
"Nein, auch das ist ein Vorurteil.
Haben denn die Menschen alle dieselbe
Farbe? Bei den Feen verhält es sich
nicht anders. Manche von ihnen sind
durch nichts von menschlichen Mädchen zu unterscheiden."
"Aber Feen sind hübsch und
unermesslich reich."
"Auch Ramira ist eigentlich hübsch.
Sieh dir ihre rotgoldenen Haare an und
ihre strahlend blauen Augen! Sie
verkleidet sich, damit wir sie nicht
belästigen. Und ihre Schätze sind natürlich in einer Höhle verborgen, deren
Eingang
sich
nur
mit
einem
Zauberspruch öffnen lässt."
Einigkeit herrscht darin, dass sie zu
den gutmütigen Feen gehörte (sofern sie
denn eine war). Nun sind gutmütige
Feen bekanntlich Glücksbringer. Wenn
sie
wollen,
können
sie
alles
herbeizaubern, was das Herz begehrt.
Leider lassen sie sich nur selten zum
Glückszauber überreden. Man muss
sehr viel Geduld mit ihnen haben. Vor
allem darf man ihnen nicht durch
Rohheiten Angst einjagen, weil sie sich
dann in Luft auflösen und an diesen Ort
niemals zurückkehren. Kaum hatte
Ramira also jene Männer abgeschüttelt,
die sie gern als Frau haben wollten, da
scharwenzelten schon andere um sie
herum, die aus irgendeinem Grund
Glück benötigten. Und Letztere waren
beharrlicher, denn sie fühlten sich in
ihren Überzeugungen noch bestätigt,
wenn sie vor ihnen flüchtete.
Eigentlich wollte sich das junge
Mädchen heimlich aus dem Stall
schleichen, doch der Anblick, der sich
ihr bot, fesselte und überraschte sie so,
dass sie an ihrem Platze blieb. Christian
hielt eines der beiden Lämmchen im
Arm wie einen Säugling und flößte ihm
mit einem geschickt gefalteten Stofffetzen Milch ein. Das Mutterschaf hatte
das schwächliche Jungtier längst
aufgegeben. Das Kleine merkte, dass
mit der ihm dargebotenen Zitze etwas
nicht stimmte. Christian aber ließ sich
von seiner Ungeschicklichkeit nicht aus
der Ruhe bringen und bemühte sich mit
schier unendlicher Geduld wieder und
wieder. Ganz selten hatte Ramira einen
Mann gesehen, der so behutsam war.
Plötzlich merkte er, dass ihm jemand
zusah. Das war im Grunde kein Anlass,
sich aufzuregen. Er tat nichts Verbotenes, mehr noch - jeder in der Waldhütte
wusste, dass er in diesem Stall die
Jungtiere versorgte. Vielleicht wäre er
an einem anderen Tage tatsächlich
gelassen geblieben. An diesem Abend
aber war er schlecht gestimmt.
Nachdem er das inzwischen gesättigte
Lämmchen auf sein Lager gelegt hatte,
fiel er über Ramira her.
"Ich habe es satt, dass mir ständig
Frauen nachschleichen!" stieß er hervor
- mit gedämpfter Stimme (um die Tiere
nicht zu erschrecken) aber wild
gestikulierend und mit vor Wut dunklen
Augen. "Du willst sehen, wie ich
reagiere! Ist es so? Da hast du dann was
zu kichern, wenn du wieder mit deinen
Freundinnen zusammen bist. Warum
könnt ihr nicht begreifen, dass ich allein
53
wunderbar zu Recht komme?! Ich
brauche niemanden!"
Ramira sah ihn entgeistert an. Sie
hatte in ihrem Leben schon viele
ungerechtfertigte Vorwürfe über sich
ergehen lassen müssen, selten aber war
ihr einer derart absurd vorgekommen.
Sie fragte sich ernsthaft, ob Christian
verrückt war, nicht schlimm, nicht so,
dass er nicht mehr wusste, was er tat,
aber eben doch ein bisschen.
Andererseits rette sein Anfall sie aus
einer Versuchung. Sie ging den
Männern ja nicht aus dem Wege, weil
sie zu den Feen gehörte, sondern weil
sie Arnold und Raimund nicht
vergessen konnte und sich solchen
Kummer nicht noch einmal zumuten
wollte. Sie bekam schon Alpträume,
wenn sie am Abend in Gedanken mit
der Möglichkeit spielte, sich ein drittes
Mal zu verlieben.
III
W
ieder
vergingen
einige
Wochen, in denen sich nichts
Besonderes
ereignete.
Franziska hatte sich als Anführer
weitgehend durchgesetzt, sowohl bei
den Räubern als auch bei den Bürgerssöhnen, aber das änderte fast nichts
am Alltag. Dass man neuerdings mehr
von der eigenen kleinen Landwirtschaft
lebte als von den Raubüberfällen an der
Handelsstraße, lag weniger an ihrem
persönlichen
Einsatz
als
am
allgemeinen Hang zur Bequemlichkeit.
Selbst Raubeine wie Rupert und Ernst
Eisenarm mochten keine unnötigen
Gefahren heraufbeschwören. Franziskas
Erfolg inmitten der Männerwelt beruhte
vor allem darauf, dass sie zwischen den
beiden Gruppen ausgleichend wirkte.
Die Vernunft verlangte ganz einfach
nach einem Richter, welcher die ständig
aufs Neue aufflackernden Streitereien
schlichtete. Allenfalls Dummköpfe wie
Ernst Eisenarm rüttelten zuweilen an
ihrer Autorität - und wurden prompt von
den anderen in die Schranken gewiesen.
Langsam und beinahe unmerklich
aber war in dieser Zeit etwas Neues in
der Waldhütte aufgekeimt. Zunächst
hatte es nur die Bürgerlichen erfasst.
Seit sie nicht mehr in ständiger Furcht
vor dem nächsten Tag lebten, redeten
sie wieder häufiger über die Zukunft.
Sie weilten mit ihren Gedanken wieder
in Bremen, stellten Mutmaßungen an
über die Machenschaften des Erzbischofs, versuchten die spärlich zu ihnen
dringenden Nachrichten zu deuten. Mit
einem Wort - sie wurden wieder zu
Geheimbündlern im Kampf für eine
bessere Welt.
Diese politischen Gespräche am
Abend gewannen stark an Bedeutung,
als sich Rupert aus einer Laune heraus
an ihnen zu beteiligen begann. Am
Anfang waren die Bürgerssöhne davon
alles andere als begeistert, mussten aber
bald eingestehen, dass sie den
Räuberhauptmann unterschätzt hatten.
Er war durchaus klug genug, um folgen
zu können und verblüffte zuweilen mit
Einzelheiten, von denen nur er wusste,
woher auch immer. Und dann fing er
Feuer. Einen Erzbischof in die Enge
treiben, das war etwas anderes als
Kaufleute überfallen! Letztlich dachte
er nur an seinen persönlichen Ruhm.
Aber er lernte die klangvollen Phrasen
rasch und begann Reden zu halten, mit
denen er selbst Norbert und Christian in
den Schatten stellte. Einmal nutzte er
das gemeinsame Abendessen dafür. Er
pflanzte sich in der Mitte neben dem
Bratenspieß auf und tat, als wolle er lediglich eine Neuigkeit verkünden.
54
"Gerhard von Bremen, dieser
Hurensohn, will einen Krieg gegen die
Stedinger vom Zaun brechen, und
Burchard von Wildeshausen (auch so
ein sauberer Geselle!) der soll das Heer
anführen."
"Wer hat dir denn das erzählt? Nein,
das glauben wir dir nicht."
"Ich weiß, was ich weiß!" entgegnete
er nur und ging sofort über zu der
Vorführung, die er sich zuvor überlegt
hatte. "Ihr denkt: Was gehen uns die
Stedinger an? Sollen sie doch zusehen,
wie sie mit dem Heer aus Wildeshausen
fertig werden! Ich dagegen sage euch:
Sie sind unsere Brüder." Er blickte in
die Runde und wiederholen mit der
Stimme eines Löwen: "Jawohl! Unsere
Brüder! Wenn wir sie im Stich lassen,
so treffen wir uns selbst. Dies nämlich
ist der ewige Streit zwischen den Armen
und den Reichen." Unvermittelt trat er
vor Ernst Eisenarm: "Gehörst du zu den
Reichen?"
"Aber
nein!"
antwortete
der
Angesprochene verwirrt.
"Und wie ist es mit dir?" drang
Rupert auf Christian ein.
"Natürlich nicht!" sagte dieser, ein
wenig verärgert darüber, in das
Schaustellerstück
einbezogen
zu
werden.
"Wir alle gehören nicht zu den
Reichen", fasste der Räuberhauptmann
zusammen. "Und weil das so ist, sind
die
Reichen
unsere
Feinde",
schlussfolgerte er triumphierend.
Franziska verfolgte die Entwicklung
mit Unbehagen. Ruperts plötzliche
Begeisterung für Politik brachte die
beiden Gruppen einander näher verbunden mit der Gefahr, dass die
(trotz
ihrer
Bildung)
ziemlich
leichtgläubigen Bürgerssöhne von ihren
gewieften Bündnispartnern einmal mehr
über den Tisch gezogen wurden. Unter
diesen Umständen wollte sie sich die
Herrschaft nicht aus der Hand nehmen
lassen. Sie war mehr als alle anderen in
der Welt herumgekommen und fiel
nicht mehr so leicht auf großartig
klingende Reden herein. Mochte Rupert
auch kein tumbrer Schlagetot sein, ein
gefährlicher Abenteurer war er allemal.
In mehreren schlaflosen Nächten
grübelte sie, wie sie sich verhalten
sollte. Von den Stedingern wusste sie
nur wenig. Wer hatte bei ihnen gerade
das Sagen? Dass sie keine Grafen über
sich duldeten, war nur die eine Seite der
Wahrheit.
Eine
größere
Menschengemeinschaft
ohne
jede
Führung gibt es nicht. Franziska mochte
sich nicht gern auf Bündnispartner
einlassen, die sie kaum kannte.
Andererseits blieb ihr wohl nichts
anderes übrig, wollte sie Rupert den
Wind aus den Segeln nehmen. Es wäre
töricht von ihr gewesen, sich gegen die
Mehrheit zu stellen. Nachdem sie sich
so
zu
einer
Entscheidung
durchgerungen hatte, ergriff sie gleich
bei der nächsten Gelegenheit die Initiative.
"Ich halte es für gut, wenn wir
Verbindung
zu
den
Stedingern
aufnehmen ", sagte sie und tat (zu
Ruperts Ärger) gerade so, als habe noch
niemand in diesem Kreis je etwas
Ähnliches vorgeschlagen. "Allerdings
wissen wir nicht, was umgekehrt sie
von uns denken. Wir sollten zwei
unserer Leute zu ihnen schicken, dass
sie ihren Führern unser Angebot
unterbreiten. Wer traut sich eine solche
Aufgabe zu?"
Nach kurzem Zögern meldete sich
Christian. Er fühlte sich ohnehin nicht
mehr so recht wohl in der Waldhütte.
Die mit dem Weg verbundene Gefahr
schreckte ihn nicht, denn er war kein
Feigling. Doch er sollte nicht allein
gehen und ein zweiter Freiwilliger fand
sich nicht. Rupert und Norbert wollten
(aus verschiedenen Gründen) nicht aus
Franziskas Nähe weichen. Ernst
55
Eisenarm drückte sich und schützte eine
Magenverstimmung vor. Nach langem,
betretenem Schweigen wandte sich die
Ritterstochter an ihre Freundin Ramira.
"Würdest du es tun? Du weißt dir in
jeder Lage zu helfen, weil du das
Umherziehen gewohnt bist."
"An mir soll es nicht scheitern! Ich
weiß aber nicht, ob Christian ..."
Verständnislos blickte Franziska den
jungen Mann an.
"Was ist daran so schwierig? Ihr geht
zusammen! Christian versteht sich gut
auszudrücken, Ramira wird unauffällig
beobachten."
Damit war es beschlossene Sache.
Christian war klar, dass er seine
Bereitschaft nicht ohne Gesichtsverlust
wieder zurücknehmen konnte, und fügte
sich missmutig.
IV
A
m Morgen des nächsten Tages
brachen die beiden auf. Quer
durch den Wald zu gehen, wäre
zu gefährlich gewesen. Aber auch die
Straßen waren voller Tücken. Die
Kaufleute fuhren in dieser unsicheren
Gegend fast nur noch in Kolonne mit
bewaffneten Begleitern. Die Reiter
schwärmten mitunter aus, um den Weg
nach vorn zu sichern. Urplötzlich
konnten sie hinter einer Biegung
auftauchen. Selbstverständlich hatten
die beiden keine Lust, als Landstreicher
aufgegriffen und auf irgendeiner Burg
einem strengen Verhör unterzogen zu
werden.
Wenn sie sich einmal halbwegs sicher
fühlen durften, litten sie unter der
Verkrampftheit ihres Verhältnisses
zueinander. Am Anfang redeten sie kein
Wort. Das aber wurde Ramira
schließlich gar zu dumm. So knüpfte sie
einfach an das Gespräch im Stall an.
"Du magst also keine Frauen?"
"So ist es!" bestätigte Christian und
wurde plötzlich regelrecht geschwätzig.
"Sobald sich ein Mann auf ein Weib
einlässt, verliert er seine Kraft und
seinen Verstand. Sieh dir Norbert an!
Seit er seine Franziska hat, ist er zu
nichts mehr zu gebrauchen. Ich sage
nicht, dass das an Franziskas bösem
Willen liegt. Ob sie ihn erhört oder ob
sie ihn zum Teufel schickt - er redet
hinterher fast genau dasselbe dumme
Zeug. Das kommt wie eine Krankheit.
Mich warnt ein guter Geist, der stets
wachsam in meinem Nacken sitzt und
mich kneift, sobald ich einen Fehler
begehen will. Sobald ich mir (warum
auch immer) vornehme, mich um eine
Frau zu bemühen, bekomme ich
höllische Schmerzen im Rücken. Gebe
ich meinen törichten Plan auf, sind die
Schmerzen weg."
Ramira hörte ihm schweigend zu und
musste sich das Lachen verbeißen. 'Er
ist ganz sicher verrückt!' dachte sie bei
sich. 'Aber irgendwie verrückt auf nette
Weise.' Überhaupt kam sie zu der
Überzeugung, dass er kein so schlechter
Begleiter war, denn während er an den
Frauen und Mädchen kein gutes Haar
ließ, verhielt er sich andererseits
durchaus ritterlich. Er half ihr über die
Wasserläufe hinweg, schleppte ohne zu
murren fast das gesamte Gepäck und
bestand beim Essen darauf, dass sie die
besten
Stücken
nahm.
Selbstverständlich stellte er bei jeder
Gefälligkeit klar, dass sie sich bloß
nichts darauf einbilden solle. Einmal
sagte sie:
"Du bist der sonderbarste Vogel, der
mir je über den Weg gelaufen ist - und
56
ich habe eine Menge Leute kennen
gelernt."
"Was willst du damit sagen?" fragte
er argwöhnisch.
"Dass ich dich nicht leiden kann!
Dass ich dich ganz unausstehlich finde."
"Dann ist es gut!"
Nach drei Tagen erreichten die
beiden Abgesandten den Wall an der
Ochtum. Sie hatten die Straße verlassen
und eine Wiese überquert, in der
Hoffnung, damit abzukürzen. Anstatt
aber an ein Dorf zu kommen und
Menschen zu treffen, standen sie nun
ziemlich
ratlos
vor
den
Befestigungsanlagen der Stedinger. Erst
nach einigem Zögern entschlossen sie
sich, auf die andere Seite hinüber zu
klettern.
"Wenn sie uns jetzt gesehen haben,
müssen wir uns eine gute Erklärung
einfallen lassen", flüsterte Ramira.
"Wenn Bewaffnete kommen, lenke
ich sie ab und du versuchst zu fliehen."
"Ich soll dich hier allein lassen?! Du
glaubst doch nicht im Ernst, dass ich
das mache?!"
"Jemand muss in der Waldhütte
Bescheid sagen. Hab dich nicht so!"
Die Wirklichkeit indes warf alle ihre
Überlegungen über den Haufen.
Nachdem sie eine Weile gelaufen
waren, wurden sie plötzlich in einem
Hohlweg von fünf Männern eingekreist,
ohne viel Federlesens gefangen
genommen und sofort verhört.
"Hat euch der Erzbischof geschickt?
Was sollt ihr bei uns ausspionieren?
Unsere Wälle?"
Ramira war elend zumute. Böse
Erinnerungen stiegen in ihr auf. So sehr
sie auch mutig zu bleiben versuchte,
begann sie zu zittern und brachte kein
sinnvolles Wort über die Lippen.
Christian indes war ruhig, als feilsche er
mit einer Marktfrau.
"Als Spione hätten wir uns
geschickter angestellt."
"Wir haben euch entdeckt, weil wir
auf der Hut sind."
"Ihr habt uns entdeckt, weil wir ganz
offen den Weg entlang spaziert sind.
Was soll dieses Misstrauen? Wir sind
Freunde und wollen mit euren
Anführern reden."
Die bewaffneten Bauern berieten sich
leise. Dann sagten sie:
"Gut, ihr werdet mit unseren
Anführern reden können. Aber wenn ihr
uns hintergeht, bekommt euch das
schlecht."
Zwei der Bauern führten die
Abgesandten
nun
in
Richtung
Nordwesten.
Vor
ihnen
musste
irgendwo die Weser liegen. Christian
und Ramira kannten sich aber nicht aus
und versuchten erst gar nicht, sich
genauer zu orientieren. Rechts und links
sahen sie vorbildlich bewirtschaftete
Felder und Weiden. Durch die
rechtwinkligen
Abgrenzungen
der
einzelnen
Parzellen,
genau
gekennzeichnet
mittels
Markierungssteinen
und
niedrigen
Zäunen, wirkten sie ganz besonders ordentlich. Zweifellos war der Alltag hier
im Land der Stedinger ungewöhnlich
gut organisiert. Ramira wurde dabei ein
wenig unheimlich zumute. Sie hatte sich
als Gauklerin mit einem Leben
zwischen
Gefahr
und
Freiheit
angefreundet, ähnelte einem Vogel - im
Walde ständig auf der Flucht und dennoch
im
prächtigsten
Käfig
todunglücklich.
Nach etwa zwei Stunden erreichten
die vier ein ausgedehntes Anwesen, in
dessen Mitte ein erst kürzlich fertig
gestelltes Steinhaus thronte, die
Residenz der Anführer. Ob sie dort mit
ihren Familien wohnten, oder ob das
Gebäude der Gemeinschaft gehörte,
blieb zunächst offen. Jedenfalls gab es
einen Raum, der sowohl in der Größe
als auch in der Ausgestaltung viele
Rittersäle ausstach. Zwei andere Räume
57
waren Salons nachempfunden. In einem
davon hieß man Christian und Ramira
zu warten.
Nach der rauen Begrüßung rechneten
sie kaum noch mit glücklichen
Verhandlungen. Ihre Hoffnungen liefen
vor allem darauf hinaus, möglichst bald
und möglichst ungeschoren zur
Waldhütte zurück zu gelangen. Doch sie
erlebten eine angenehme Überraschung.
Offenbar waren die Anführer weniger
misstrauisch als ihre Gefolgsleute an
den Grenzen. Sie kamen zu dritt und
betonten von Anfang an, dass ihnen an
Bündnispartnern sehr gelegen sei. Aus
ihren Fragen ging hervor, dass sie das
ernst meinten. Während Christian
redete, hatte Ramira Gelegenheit, die
drei Männer zu beobachten.
Tammo von Huntorf war der
Wortführer. Stolz stellte er sich als
ehemaliger Schmied vor. Von seinem
Handwerk hatte er die gewaltigen
Oberarme und die schwieligen Hände
übrig behalten. Überhaupt war er ein
Riese. Mit seinem Kahlkopf, in welchem eine dicke Nase und zwei
hervortretende runde Augen auffielen,
wirkte er beinahe Furcht erregend. Aber
dieser erste Eindruck täuschte, denn
beim Verhandeln neigte er von allen am
ehesten
dazu,
Kompromisse
einzugehen.
Dietmar tom Diek war dagegen ein
kleiner, dunkelhäutiger Mann mit
dichtem Bart und flinken Augen, in
denen stets ein schalkhaftes Blitzen zu
sein schien. Zweifellos stammten seine
Vorfahren weder aus Holland noch aus
Norddeutschland. Er blieb stets ein
wenig undurchsichtig. Manchmal hatte
es den Anschein, als belauere er seinen
Gesprächspartner, als ziele er darauf ab,
ihn in eine Falle zu locken. Andererseits
- Warum sollte er zwei Fremden auf
Anhieb uneingeschränkt Vertrauen
schenken? Vermutlich war er der Kopf
der Stedinger, der Taktiker, der Denker.
Bei Wige, dem dritten im Bunde,
änderte Ramira ihre Ansicht ein halbes
Dutzend Mal. Am Ende hatte sie sich
noch immer nicht entschieden. Er
wirkte sehr elegant und trug sein Haar
ungewöhnlich gepflegt, passte nicht
recht zu den Bauern, zu deren Anführer
er gehörte. War er ein Verbündeter, ein
übergelaufener Adliger? Er selbst
betonte, in Braake an der Ochtum
aufgewachsen zu sein. Immer mehr
Widersprüchliches fiel dem jungen
Mädchen an ihm auf. Einerseits war er
äußerst liebenswürdig, andererseits gab
es da um seine Mundwinkel einen
beunruhigenden Zug.
Ramira hatte sich so in ihre
Beobachtungen vertieft, dass sie von
den Gesprächen nur wenig mitbekam.
Auf dem Rückweg, als die beiden
jenseits der Schutzwälle wieder unter
sich waren, musste sie Christian fragen,
was bei der Verhandlung eigentlich
herausgekommen sei.
"Haben wir nicht mit deutscher
Zunge gesprochen?" spottete er, gab
dann aber doch bereitwillig Auskunft.
"Sie sind ein bisschen hin und her
gerissen. Einerseits brauchen sie so
viele Bündnispartner wie möglich, weil
sich ja auch ihr Feind, der Erzbischof
von Bremen, unermüdlich nach neuen
Parteigängern umsieht. Andererseits
fürchten sie sich vor Spionen und Verrätern. Nun ja! Ich denke, der Boden ist
bereitet. Für die Ernte sind unsere
großen Schlauköpfe zuständig Franziska, Norbert, Rupert."
"Was hältst du von dem Wige?"
Christian zuckte mit den Schultern.
"Ein wenig fanatisch ist er. Will
immer noch einen draufgeben, wenn
einer was sagt. Sieht sich als den
Größten an von allen. Aber solche
Leute sind meistens harmlos. Für mich
ist er ein Aufschneider. Das Sagen
haben die anderen beiden. Tammo von
Huntorf ist der oberste Befehlshaber des
58
Heeres, Dietmar tom Diek macht das
Politische."
Während er so mit Ramira sprach,
war sich Christian gar nicht mehr
bewusst, dass er ein Mädchen vor sich
hatte. Beide vergaßen den Hinweg mit
seinen Verkrampftheiten. Das gemeinsame Erlebnis hatte sie gleichsam
unmerklich aneinandergekettet. Am
zweiten Abend saßen sie einander an
einem kleinen Feuer gegenüber. Der
Widerschein der Flammen flocht
Lichtreflexe in ihr Haar, was Christian
derart beeindruckte, dass er lange wie
im Traum dorthin starrte. Dann flüsterte
er, noch immer nicht ganz wach:
"Du hast wunderschöne Locken!"
Ramira stutzte und musste dann
unwillkürlich lachen:
"He! Was war denn das? Du hast mir
ja etwas richtig Nettes gesagt! Was
meint dein Schutzgeist dazu?"
Christian begriff und kratzte sich
verlegen hinter dem Kopf. Dann aber
musste auch er lachen.
"Ach, die Geister!"
59
6.Kapitel
I
N
och war die Sonne nicht zu
sehen. Man konnte nur ahnen,
dass sie hinter dem Dom,
dessen tiefschwarze Masse wie ein
Felsen die Bürgerhäuser überragte,
gerade aufging. Ihr Licht aber hatte die
Mauer bereits erreicht. Auf der Wiese,
die sich von ihrem Fuß bis zu einem
Waldsaum erstreckte, ließen sich
einzelne Sträucher unterscheiden. Es
war jene Stunde, zu der die gewöhnlichsten Gegenstände ein bizarres
Erscheinungsbild
annehmen
und
zaghafte Gemüter sich auch ohne
besondere Ursache gruseln. Die drei
Männer, die zwischen den Zinnen nach
unten spähten, gehörten nicht zu den
zimperlichen
Leuten.
Als
Waffenknechte des Erzbischofs stand
ihnen das auch nicht zu. Dennoch war
ihnen unwohl zumute an diesem
Julimorgen.
"Wenn sie heute einen Angriff
versuchen, dann jetzt und zwar genau
hier", flüsterte der eine.
"Sieh mal! Dort hat sich etwas
bewegt. Sie schleichen sich heran und
nutzen die Sträucher als Deckung.
Warum hat man die nicht abgehackt?"
Mit angehaltenem Atem starrten die
drei in die Dämmerung, die rechte Hand
am Griff des Schwertes, gewärtig, im
nächsten Augenblick die Angreifer mit
Leitern heran stürmen zu sehen. Da
plötzlich wurde die Stille durchschnitten
von einer gewaltigen Stimme. Einen
Moment lang meinten die Waffenknechte allen Ernstes, Gott der
Allmächtige selber spreche da zu ihnen.
"Was seid ihr für Jammerlappen, dass
ihr vor ketzerischem Bauerngesindel
erzittert?! Geht hinaus und schlagt
ihnen die sündigen Schädel ein, anstatt
euch hinter den Wehren zu verkriechen!"
Sie fuhren herum und sahen einen
Mönch, der sich anschickte, auf eine der
Zinnen zu klettern. Von unten gesehen
musste er sich gegen den blassen
Morgenhimmel abheben und so für
Bogenschützen ein vortreffliches Ziel
bieten.
"Er ist verrückt", raunte einer der
Waffenknechte.
Der Mönch hatte ihn verstanden, kam
von der Mauer herunter und packte ihn
an seinem Lederwams.
"Verrückt nennst du Lump es also,
wenn jemand auf Gottes Schutz
vertraut!
Versuche
nicht,
dich
herauszureden! Ich sehe dir an, dass du
allein des schnöden Mammons wegen
hier stehst, schlotternd um deinen
schäbigen, vergänglichen Leib und
dafür sorglos um deine Seele. Es sind
betrübliche Zustände, die ich hier
vorfinde. Ich werde dem Erzbischof die
Augen öffnen müssen."
Dann drehte er sich um und
verschwand so geheimnisvoll, wie er
gekommen war.
Ganz Unrecht hatten die drei
Waffenknechte nicht, als sie in dem
fremden Mönch den Herrgott zu
erblicken glaubten. Er war kein
Geringerer als Konrad von Marburg, der
Großinquisitor für die deutschen Lande.
Papst Gregor IX hatte ihn vor drei
Jahren bevollmächtigt, ohne Nachsicht
gegen jeden vorzugehen, der sich der
Römischen Kirche zu widersetzen
wagte. Von keinem weltlichen Manne,
nicht einmal vom Kaiser sollte er sich
dabei beeinflussen oder gar behindern
lassen. Freilich lag zwischen Anspruch
und Wirklichkeit eine beträchtliche
Kluft. Ein Ketzer bürgerlichen oder
bäuerlichen Standes ließ sich noch ohne
viel Federlesens in Ketten abführen. Bei
einem widerspenstigen Grafen war das
schon eine ganz andere Geschichte.
Indes hätte der Heilige Vater kaum
einen besseren Diener finden können als
Konrad. Dessen Eifer folgte nicht allein
aus seinem Gehorsam oder seinem
Pflichtbewusstsein, nein, der Marburger
litt geradezu körperlich unter den
vielfältigen Häresien, die sich allerorten
breitmachten, ähnlich dem Unkraut, das
der Gärtner auszuraufen versäumte.
Allem Anschein nach fehlte ihm jede
Leidenschaft, von jener einen einmal
abgesehen. Er verabscheute den
Reichtum. Auch sah man ihn niemals
freundlich mit einer Frau reden.
Allenfalls wenn er einen jener
verfluchten
Feinde
der
einzig
rechtmäßigen Kirche zur Strecke
gebracht hatte, konnte es geschehen,
dass der Anflug eines Lächelns seine
dünnen Lippen verbog.
In Rom baute man auf Leute seines
Schlages. Dort erinnerte man sich noch
allzu gut an die Albigenser, die in der
Umgebung von Toulouse die Menschen
zu Tausenden im Glauben irre gemacht
und sogar mächtige Fürsten auf ihre
Seite gezogen hatten. Ströme von Blut
waren geflossen, ehe auch dort wieder
die gottgewollte Ordnung Einzug halten
konnte. Nein, so weit durfte man es
nicht wieder kommen lassen. Man
musste den eiternden Fuß abhacken ehe
er den ganzen Leib vergiftete. So nahm
Papst Gregor jenes Schreiben des
Bremer Erzbischofs, worin dieser von
ungeheuerlichen Freveln der Stedinger
Bauern berichtete, nicht auf die leichte
Schulter. Um selbst ein Bild zu
gewinnen von den angedeuteten Zuständen, entsandte er einen Mann seines
Vertrauens, den besten, den er für diese
Dinge wusste, eben Konrad von
Marburg.
Der Großinquisitor weilte seit vier
Tagen in der Stadt. Unmittelbar nach
seinem Eintreffen hatten die Stedinger
die Stadt eingeschlossen. Zweifellos
war der Belagerungsring nicht undurchlässig. Die rebellischen Bauern
machten jedoch die ganze Gegend
unsicher und kannten sich hervorragend
aus. Es war nahezu unmöglich, sie zu
packen. Sie wichen den gerüsteten
Reiterverbänden aus, um im nächsten
Moment einen Trupp Leichtbewaffneter
niederzuwerfen.
Dennoch war Konrad, während er mit
dem festen Schritt eines Hauptmanns
zum Palast des Erzbischofs schritt, in
bester Stimmung. Er hatte den drei
Männern auf der Mauer keineswegs
etwas vorgegaukelt, er fürchtete die
Bauern in der Tat nicht. Im Geiste sah
er ihre Rädelsführer bereits auf dem
Scheiterhaufen. Für ihn war das alles in
erster Linie ein juristisches und
politisches Problem. Die Diplomatie
gehörte nicht zu seinen Stärken.
Deshalb fürchtete er, dass ihm (wie
schon manches Mal zuvor) irgendein
regierender Herr aus selbstsüchtigen
Gründen einen Strich durch die
Rechnung machte. Das Beste, was ihm
unter diesen Umständen widerfahren
konnte,
waren
himmelschreiende
Untaten der Ketzer. Mochten sie Frauen
schänden und Männern die Kehle
durchschneiden! Jede Gräueltat war ein
guter Rechtfertigungsgrund gegen die
Zauderer und Zweifler.
Zu seiner Freude hatte Konrad in dem
Erzbischof schon nach wenigen
Gesprächen einen Mann mit Rückrat
erkannt, zumindest in der Frage der
Ketzerei im Wesermarschland. Auf dem
Hof seines Palastes indes erwartete ihn
eine herbe Enttäuschung. Er bemerkte
eine Kutsche und wusste, dass Gerhard
nicht allein war. Am Wappen erkannte
er den Besitzer. Es war Johannes der
Deutsche. Wie hatte der es geschafft,
61
jetzt noch in die Stadt hinein zu
gelangen? Warum war er überhaupt
(ungeachtet der Gefahr) hergekommen?
Etwa
ebenfalls
in
Häresieangelegenheiten? Eine Blutwoge schoss
Konrad in den Kopf. Er war rasend
eifersüchtig auf jeden, der ihm den
Rang des eifrigsten Ketzerjägers streitig
zu machen drohte.
Der Deutsche besaß als Beichtvater
des Papstes durchaus die Möglichkeit
dazu. Freilich war er von anderer
Wesensart. In Rom galt er als einer der
geschmeidigsten und scharfsinnigsten
Diplomaten. Zudem kannte er sich in
den rauen Sitten der Leute nördlich der
Alpen aus. Dies vor allem ließ ihn zu
einem der engsten Vertrauten Gregors
aufsteigen. Wollte sich der Papst den
deutschen Kaiser vom Halse halten,
musste er sich mit den deutschen
Fürsten arrangieren.
Einen Augenblick lang erwog
Konrad, einfach umzukehren, sich noch
ein wenig in der Stadt umzusehen und
später wiederzukommen. Das aber
empfand er dann als Feigheit und ließ
sich anmelden. Auf der Treppe
überlegte er sich, dass Johannes
vielleicht einfach seiner Heimatstadt
einen Besuch abgestattet hatte. Er
stammte aus Wildeshausen. Gegen eine
so einfache Erklärung sprach aber, dass
auch der andere Johannes, der Bischof
von Lübeck, anwesend war und dass
man hinter verschlossenen Türen ohne
Diener miteinander redete. Beim Eintreten wusste er endgültig, dass die drei
über gewichtige Fragen verhandelte,
mehr noch, er spürte eine äußerst
gespannte Atmosphäre.
Für einen Moment verstummte das
Gespräch. Gerhard nutzte die Pause, um
unter einem Vorwand aufzustehen und
ein paar schnelle Schritte auf und ab zu
gehen. Sein in Erregung geratener,
athletischer Körper verlangte danach.
Der Bischof von Lübeck betrachtete
sich seine zarten Hände und überspielte
damit eine gewisse Verlegenheit. Allein
Johannes
der
Deutsche
blieb
undurchdringlich
hinter
seiner
weltmännischen, im Grunde nichts
sagenden Freundlichkeit. Er war dann
auch derjenige, der den Eingetretenen in
die Runde zog. Und obwohl dieser sich
durchaus sträubte, machte er ihn zu
seinem Verbündeten.
"Ihr, lieber Konrad von Marburg,
kennt ebenso wie ich die Bedrängnis, in
welcher sich unser Heiliger Vater in
Rom befindet, seit Kaiser Friedrich ihn
von Norden und Süden umklammert
hält. Deshalb werdet Ihr mir
beipflichten,
dass
es
eines
Gegengewichts bedarf."
"Gewiss!"
brummte
der
Angesprochene, verärgert, in diesem
Fall schwerlich widersprechen zu
können.
Der Deutsche wandte sich, die
versteckte Feindschaft nicht beachtend,
wieder dem Erzbischof zu:
"Es ist einem jeden, der die
Verhältnisse kennt, offenkundig. Um
aber einen Mann wie Friedrich zu
bändigen, bedarf es eines starken
Widerparts. Nicht viele kommen in
Frage. Nennt mir einen besser
Geeigneten, wenn Euch Otto von Lüneburg unwürdig erscheint!"
Als der Name des verhassten
Widersachers fiel, zuckte Gerhard
zusammen und kehrte mit einer heftigen
Handbewegung an seinen Platz zurück.
Johannes erkannte sofort, dass er die
Kröte schlucken würde - unter
bestimmten Umständen. Deshalb schlug
er versöhnliche Töne an.
"Ihr braucht nicht zu befürchten, dass
Otto zum Gegenkönig erhoben wird.
Niemand will Zustände wie vor dem
Jahre zwölf. Der Heilige Vater ist
zuversichtlich,
bei
seinen
Verhandlungen mit dem Kaiser zu einer
62
Lösung zu gelangen. Es geht hier um
einen politischen Schachzug."
"Eine Erpressung?" warf Gerhard
trocken ein.
"Auch das. Jedenfalls steht dem
Heiligen Vater nichts ferner, als Euch
zu verärgern. Und sollte Euch
tatsächlich durch Ottos Aufwertung ein
Schaden entstehen, wird er Mittel und
Wege finden, Euch angemessen zu
entschädigen."
Er ließ eine gewichtige Pause und
beobachtete den Erzbischof genau.
Dessen Gesichtszüge entspannten sich.
Unter die Verärgerung mischte sich
Neugier auf das Angebot.
"Ihr habt Schwierigkeiten mit
ketzerischen Bauern. Nun, ich würde
mich in Rom dafür einsetzen, dass Ihr
die
entsprechenden
Vollmachten
erhaltet, um ..."
"Ich will einen vom Papst gesegneten
Kreuzzug!" sagte Gerhard gerade
heraus.
"Wie Ihr wisst, bin ich Gregors
Beichtvater. Einen besseren Anwalt als
mich könnt Ihr nicht finden."
Der Erzbischof kämpfte mit sich. Er
wollte beides, Stade und das Land der
Stedinger. Und er war der Auffassung,
dass ihm beides von Rechts wegen
zustand. Doch er wusste auch, dass er
vielleicht beides verlöre, schlüge er des
Deutschen Angebot aus.
"Was also kann ich im Sinne des
Heiligen Vaters tun?"
Johannes lächelte liebenswürdig.
"Ich will nichts anderes, als mich der
Loyalität eines mächtigen Mannes
versichern."
"Selbstverständlich liegen mir die
Belange des Pontifex maximus nicht
weniger am Herzen als meine eigenen",
ahmte der Erzbischof dessen Redeweise
nach, was bei ihm freilich ein wenig
zynisch klang.
Mit den üblichen Höflichkeitsfloskeln
klangen die Verhandlungen aus.
Wirklich zufrieden war letztlich nur der
Bischof von Lübeck, der sich praktisch
gar nicht beteiligt hatte. Johannes der
Deutsche stand erst am Anfang einer
Mission, für die er noch etliche
Schwierigkeiten voraussah. Gerhard
fragte sich, ob er nicht einen schlechten
Handel eingegangen war. Konrad
schließlich kochte innerlich. Leider
durfte er sich weniger noch als der
Erzbischof seinen Ärger anmerken
lassen.
Dabei stand dem Großinquisitor die
eigentliche Demütigung erst noch
bevor. Am Sonntag nach der
Zusammenkunft
im
Palast
des
Erzbischofs las Johannes der Deutsche
eine Messe im Dom. Diese Gelegenheit
nutzte er zu einer Predigt wider die
Ketzerei der Stedinger. Konrad war
nahe daran, den Gottesdienst vorzeitig
zu verlassen. Doch gerade noch
rechtzeitig erinnerte er sich, dass der
lästige Konkurrent seiner eigentlichen
Aufträge wegen nicht lange würde
bleiben können. Genau genommen,
verweilte er sich schon viel länger, als
ihm lieb war. Die Stedinger aber hatten
den
Belagerungsring
inzwischen
verstärkt und Johannes verspürte wenig
Lust, sich von ihnen gefangen nehmen
zu lassen. So kam es, dass Konrad von
Marburg, dem der Angriff der Bauern
anfangs so gelegen gekommen war, nun
nichts so sehnlich wünschte, als dass sie
sich endlich davon scherten.
II
63
D
iese verfluchte Dunkelheit!"
murmelte der Dompriester.
"Man sieht ja die eigene Hand
nicht vor Augen."
Andererseits wünschte er sich auch
nicht gerade einen Vollmond, der ihn
aus klarem Himmel anleuchtete. Er
hatte sich das alles viel einfacher
vorgestellt. In dieser Gegend war er
geboren. Hier kannte er jeden Stein.
Zumindest hatte er das bisher geglaubt.
Wie anders aber sieht die Welt aus,
wenn die Nacht sich herabgesenkt hat!
Und der rundlich gewordene Mann
musste sich auch eingestehen, nicht
mehr so behände voranzukommen wie
einst als Jüngling.
"Welch ein Narr geistert hier zu
dieser Stunde umher!" verspottete er
sich selbst.
In Wahrheit hatte er sich wohl
berechnend
auf
das
gefährliche
Unterfangen eingelassen. Durch die
Belagerung war ihm eine Aufgabe
zugefallen, die seinem Rang keineswegs
entsprach. Unwillkürlich tastete seine
Hand nach dem Schriftstück, das ihn
berechtigte, mit dem Grafen von
Oldenburg und jenem von Bruchhausen
im Namen des Erzbischofs zu verhandeln. Dabei durchrieselte ihn ein
Schauer, als habe er eine Reliquie
berührt. Schon stellte er sich den
Triumph bei seiner Rückkehr vor.
Zunächst allerdings musste er ein
bestimmtes Pfarrhaus finden, wo ein
Pferd für ihn bereitgehalten wurde.
Tagsüber war der Turm der daneben
stehenden Kirche schon von weither zu
erkennen. In dieser Nacht bemerkte er
ihn erst, als er schon fast dagegen
rannte.
"Wir waren in Sorge ..." begrüßte ihn
ein
kleiner
Stallbursche
mit
pockennarbigem Gesicht.
"Mit Recht! Ein halbes Dutzend Mal
hatte ich die Orientierung verloren."
Dass er immer wieder auf den rechten
Weg zurück gelangt war, erschien ihm
im Nachhinein wie ein Wunder - oder
ein Fingerzeig Gottes.
In dem Dorf hielt er sich nur kurz auf.
Der Stallbursche sagte ihm, dass bis
nach Oldenburg hin keine Gefahr mehr
drohe. Also schwang er sich in den
Sattel und ritt in scharfem Trab los. Die
unerlässlichen Pausen eingeschlossen,
benötigte er dennoch einen vollen Tag,
ehe er sein Ziel erreichte. Es war bereits
dunkel. Er konnte die Hunte auf einer
festen Brücke zu etwa zwei Dritteln
überqueren, dann stand er vor einem
Abgrund. Sein Rufen bewirkte nichts.
Entweder lagen die Wächter in tiefem
Schlaf oder sie stellten sich taub. Erst
im Morgengrauen ließen sie ihn auf den
Hof.
Unhöflich behandelte man ihn aber
keinesfalls. Er befand sich auf Schloss
Oldenburg und die Oldenburger
Lebensart war weithin berühmt. Ein
Diener erkundigte sich, ob er müde sei
und ein wenig zu ruhen wünsche oder
ob vielmehr sein Anliegen keinen
Aufschub erlaube. Untröstlich zeigte
sich der tadellos, beinahe vornehm
gekleidete Mann ob des Umstandes,
dass der Herr Graf mit seiner Gattin
ausgeritten war.
"Wenn die Zeiten friedlich sind und
das
Wetter
angenehm,
pflegen
Durchlaucht zuweilen mit kleinem
Gefolge ein paar Tage auf einem
Gutshof zu verbringen. Wir erwarten
ihn allerdings gegen Mittag zurück.
Falls der Gesandte aus Bremen sich bis
dahin gedulden könnte ..."
Der Priester fand, dass die
Oldenburger Höflichkeit auch einen
Nachteil besaß - man wusste nie, woran
man war. Zum Beispiel wurde er das
Gefühl nicht los, als eine Art Bote zu
gelten. Immerhin ließ sich Salome von
Wickenrode, die Mutter Christians II,
zu einem Gespräch mit ihm herab. Sie
trat zwar öffentlich nur noch selten in
Erscheinung, genoss aber ein hohes
Maß ehrfürchtiger Verehrung und
überwachte zudem die Erziehung des
sechsjährigen Grafensohns Johann.
Während der Priester mit ihr sprach,
spürte er ihren wachen Verstand. Oberflächliche Zuhörer mochten meinen, die
Unterhaltung drehe sich nur um
Nebensächlichkeiten.
In
Wahrheit
forschte sie den Gast aus. Diesem
wurde dabei zunehmend unwohl, denn
er wusste nicht, ob sie das aus eigenem
Antrieb tat oder im Auftrage des
Grafen. So war es für ihn eine Befreiung, als fröhliches Lärmen von der
Ankunft der Herrschaftsfamilie kündete.
Da die alte Gräfin ihn allein ließ,
fand der Dompriester Gelegenheit, vom
Fenster aus das Treiben auf dem Hof zu
beobachten. Christian II hatte er schon
öfter gesehen. Auch diesmal aber war er
wieder erstaunt über dessen jugendliche
Frische. Er trug nicht wie manch andere
Herrscher
den
Reichtum
durch
Fettleibigkeit zur Schau, sondern legte
Wert
auf
ein
ritterliches
Erscheinungsbild. Dazu gehörten bei
ihm die guten Manieren ebenso wie die
Gewandtheit. Oldenburg war auch
bekannt für ein in jedem Jahr
stattfindendes Turnier. Der kleine
Johann liebte seinen Vater abgöttisch
und ahmte ihm nach, so weit er das in
seinem Alter vermochte. Auch von
Natur her ähnelte er ihm auffällig. Er
hatte dieselben glatten, blonden Haare,
dieselben klaren, blauen Augen,
dieselbe eigentümliche Form des
Kopfes.
Am häufigsten aber blickte der
Priester zu Gräfin Agnes hin. Er war so
verblüfft über sie, dass er sie zuerst
nicht erkannte. Zuletzt hatte er sie vor
drei Jahren gesehen. Damals stand sie
ganz im Schatten ihres Mannes und ihr
Spitzname war Häschen. Inzwischen
hatte sie sich zu einer stolzen jungen
Frau entwickelt, die sich zu behaupten
wusste. Ihre Zierlichkeit fiel kaum noch
ins Gewicht. Selbst ihr Mann behandelte sie anders als früher. Vielleicht
hatte das Kind sie erwachsen werden
lassen. Wahrscheinlicher als Ursache
war freilich, dass sie nicht mehr im
Bannkreis ihrer Schwägerin Kunigunde
stand. Was mochte aus der wohl
geworden sein? Kuni hatte als der heiß
geliebte Schrecken aller jungen Ritter
schon im zarten Alter von fünfzehn
Jahren Berühmtheit erlangt. Nun war sie
mit zwanzig die Frau eines Edelherrn
namens Giselbert von Brunkhorst.
Lebte sie glücklich mit ihm oder grämte
sie sich? Oder trieb sie ihn mit ihren
Launen in den Wahnsinn? Der Priester
verscheuchte die Gedanken, denn er war
unsicher, ob sie sich mit seinem
Keuschheitsgelübde
in
Einklang
bringen ließen.
Zunächst zog sich die Grafenfamilie
in ihre Privatgemächer zurück, um sich
umzuziehen und vom Ritt zu erholen.
Diener brachten Getränke und ein
wenig Essen. Dann tauchte Christian II
wieder auf, musste sich aber zunächst
mit einer Angelegenheit befassen, die
ihm ein Sekretär als äußerst dringend
darstellte. Als der Dompriester dem
Grafen schließlich gegenüber saß,
musste er sich beherrschen, um sich
keine Verärgerung anmerken zu lassen.
"Ich habe den Auftrag, Euch im
Namen seiner Eminenz, des Erzbischofs
von Bremen, zu grüßen. Er ist voll des
Lobes über Euer politisches Geschick
und über Eure unnachgiebige Haltung
gegenüber den Feinden der einzig selig
machenden Kirche."
Bei den letzten Worten huschte
Christian ein Lächeln über das Gesicht,
das dem Priester nicht entging. Gewiss,
dieser Teil des Lobes war Ausdruck
einer Erwartung, eine etwas vage
Vorwegnahme also. Der Graf von
Oldenburg hatte natürlich das Gedeihen
65
seines Herrschaftsbereiches weitaus
mehr im Sinn als die Sorgen der
Geistlichkeit. Die Ketzereien der Stedinger wären ihm vermutlich in
geradezu sündigem Maße gleichgültig,
würden die bewaffneten, täglich dreister
auftretenden Bauern nicht seine eigenen
Burgen und Höfe bedrohen.
"Seine Eminenz beauftragte mich
ferner, Euch in seinem Namen Hilfe
anzubieten, denn Eure Feinde sind auch
die seinen."
Diesmal spiegelte sich ein Anflug
von Unmut auf des Grafen Antlitz.
"Bisher konnte ich mich und die
Meinen mit eigenen Mitteln recht gut
schützen."
Diese
Erwiderung
hatte
der
Dompriester befürchtet. Dem Grafen
war die Führungsrolle Gerhards ein
Dorn im Auge.
"Ein Ketzerkreuzzug bedarf eines
weltlichen und eines geistlichen
Führers."
Das war ein Angebot, was Christian
jedoch wenig beeindruckte, weil er
durch
Spione
von
Gerhards
Zusicherungen an Burchard von
Wildeshausen wusste.
"Jener Kreuzzug, auf den du
anspielst, entbehrt weder des einen noch
des anderen. Bist du gekommen, mich
als Fähnleinführer anzuwerben?"
Der
Dompriester
geriet
ins
Schwitzen. Der Graf war nahe daran,
ihm die Tür zu weisen, und er brauchte
einen Erfolg, einen kleinen wenigstens.
Sonst wäre alles umsonst gewesen, die
Angst vor den Belagerern, der lange
Ritt. Um sich aus der Ecke zu befreien,
wagte er die Flucht nach vorn.
"Meine Vollmachten sind beschränkt,
doch bin ich hier in Vertretung des
Erzbischofs, den der Aufstand der
Stedinger in Bremen festhält."
Zu seiner Überraschung lenkte
Christian tatsächlich ein.
"Es liegt mir fern, Euch zu
beleidigen. Ich wollte mit meinem
(zugegebenermaßen etwas gewagten)
Scherz zu verstehen geben, dass ich
meinen Platz bei dem bevorstehenden,
höchst löblichen Unternehmen noch
nicht zu erkennen vermag. Sicherlich
wird es seiner Eminenz nicht schwer
fallen, meine gegenwärtigen Zweifel zu
zerstreuen."
"Ihm wäre sehr daran gelegen,
könntet Ihr Euch zumindest der Form
nach bereit erklären ..."
Der Graf nickte und ließ seinen
Sekretär eine Urkunde aufsetzen. Darin
verpflichtete er sich zu nicht mehr als
zu dem, was er ohnehin zu tun plante,
ja, was er wohl oder übel tun musste.
Der Dompriester aber atmete dennoch
auf, denn er stand nun nicht mehr mit
leeren Händen da und brauchte den
Hohn seiner Gegner nicht mehr zu
fürchten.
III
W
ährend Graf Christian im
Palas mit dem Dompriester
aus Bremen verhandelte, saß
im unteren Geschoß des Turms ein auf
den ersten Blick etwas wunderlich
anmutender
Mann
vor
einem
Schreibpult. Um sich herum hatte er
Bücher zu Stapeln geordnet. Die
umgaben ihn nun wie ein Ringwall,
schirmten ihn gewissermaßen ab gegen
die Welt. Doch Otto von Oldenburg war
dennoch kein Träumer. Er ging mit
offenen Augen umher und sah dabei
mehr als die meisten anderen. Dass er
die Einsamkeit der Bibliothek suchte,
war eine Folge vieler vergeblicher
Versuche, etwas zu verändern. Er hatte
einsehen müssen, dass es am Hofe
66
Kräfte gab, die stärker waren als er, und
denen er mit Vernunft nicht beikam.
Nunmehr beschränkte er sich darauf,
das Beobachtete aufzuzeichnen, beherrscht von der Vorstellung, dass eines
Tages jemand Lehren daraus zöge.
Im Laufe von zwei Jahren hatte seine
Chronik einen keineswegs eingeplanten
Umfang angenommen. Er musste die
Verflechtung
der
Oldenburger
Ereignisse mit den Geschehnissen in der
Welt beachten. Die Politik seines
Bruders Christian, des Grafen, hing
zusammen mit jener Gerhards, des
Erzbischofs. Dieser wiederum bekam es
mit dem Lüneburger wegen der Stadt
Stade zu tun. Und über dem allen
standen der Kaiser und der Papst sowie
deren Konflikt miteinander. Und selbstverständlich durften die vielen anderen
mächtigen Fürstengeschlechter nicht
vergessen werden. Im durchaus
löblichen Bemühen, so genau wie
möglich zu sein, verzettelte sich Otto,
bis er in den Einzelheiten fast erstickte.
Seit einigen Wochen versuchte er, eine
bessere Ordnung in seine Schrift zu
bringen, indem er sich von den höchsten
Instanzen nach unten durcharbeitete.
Zurzeit
galt
seine
besondere
Aufmerksamkeit dem gescheiterten
Kreuzzug des Kaisers vor drei Jahren.
"... So sammelte Kaiser Friedrich II
also bei Brindisi ein starkes Heer, um
übers
Meer
nach
Palästina
aufzubrechen, zum Kreuzzug, wie er
ihn feierlich geschworen hatte zu Aachen anlässlich seiner Krönung. Die
meisten Ritter, mehrere hundert an der
Zahl, stellte ihm Ludwig, der Landgraf
von Thüringen. Doch allem Anschein
nach ermangelte dem Unternehmen der
Segen Gottes, des Allmächtigen, denn
gerade, als die ersten Schiffe den Hafen
verließen, begann eine Seuche im Lager
zu wüten. Auch Friedrich und Ludwig
wurden von ihr geschlagen. Während
der Kaiser sich wieder erholte, starb der
Landgraf bald darauf."
Nachdem er dies niedergeschrieben
hatte, legte Otto den Griffel beiseite, um
sich bezüglich des weiteren Hergangs
Gewissheit zu verschaffen. Er besann
sich einiger aufschlussreicher Briefe,
die er aber im Wall aus Folianten und
Rollen erst nach längerem Suchen fand.
Dann schrieb er weiter:
"Als Papst Gregor IX erfuhr, dass der
Kaiser sein Versprechen nicht eingelöst
hatte, schleuderte er in der Kathedrale
von Anagni den Bannstrahl wider ihn.
Vermutlich wusste er nicht, welch
schwerwiegende Gründe Friedrich
gezwungen
hatten,
von
seinem
ehrlichen Vorhaben Abstand zu
nehmen. Vielleicht war er gar
wissentlich falsch unterrichtet worden.
Unterdessen
rückten
die
Vorausabteilungen des Kaisers in
Palästina auf Sidon vor und eroberten
es. In den Hafenstädten Jaffa und Caesarea entstanden starke Festungen."
Abermals setzte er ab, denn ihm fiel
auf, wie verschwommen sein Bericht an
dieser Stelle war. Konnte es nicht sein,
dass der Papst sehr wohl wusste, welche
Umstände den Kaiser am Kreuzzug
gehindert hatten, dass ihm aber der
Anlass gerade recht kam, etwas zu tun,
was ohnehin in seinen Plänen stand.
Gregor IX kämpfte seit seiner Wahl
erbittert um die weltlichen Ansprüche
des Heiligen Stuhls. Er galt als
redegewandt,
freilich
auch
als
unduldsam und jähzornig, kraftvoll in
Wort und Tat. Leider widersprachen
sich die Aussagen über seinen Charakter (je nachdem, welchem Lager der
Verfasser angehörte) so dass sich kein
sinnvolles Bild ableiten ließ. Fest stand
immerhin, dass er den Bettelorden
zugetan war. Den Dominikanern
rechnet er wohl ihre Verdienste bei der
Niederschlagung der Albigenser an.
Seine Unerbittlichkeit gegenüber den
67
Feinden der Römischen Glaubenslehre
belegten auch die Vollmachten mit
denen er den eifernden Konrad von
Marburg ausstatte. Einen Großinquisitor
hatte es in den deutschen Landen zuvor
überhaupt noch nicht gegeben.
Otto spürte, wie er auf dünnes Eis
geriet. Gäbe er dem Drang nach,
Zweifel an der Rechtmäßigkeit des
päpstlichen
Bannfluchs
niederzuschreiben, befände er sich
bereits im Dunstkreis der Ketzer.
Gewiss, eben weil die Päpste sich in die
Politik einmischten und sich mit
Königen und Fürsten anlegten oder
verbündeten, verging kein Jahr, ohne
dass neue Hetzschriften für Aufsehen
sorgten.
Anonym
entstanden
Schmähreden in geradezu vulgärem
Tonfall. Dennoch blieb es gefährlich,
sich zu offen und zu gründlich mit den
Rechten der Kirche auf Erden
auseinanderzusetzen.
Er erschrak, weil er Schritte hinter
sich hörte. Sofort aber hellte sich sein
Gesicht wieder auf, denn er erkannte
seine Frau. Als er ihr entgegen eilen
wollte, stolperte er über seinen Bücherwall. Bei einem anderen Menschen
hätte er sich darüber geärgert, wäre sich
lächerlich vorgekommen, bei ihr nicht.
Sie kannte ihn mit all seinen Schwächen
und Eigenheiten, freilich auch mit all
seinen Stärken. Vor ihr brauchte er sich
nicht zu verstellen.
"Habe ich wieder das Essen
verpasst?" erkundigte er sich.
"Aber nein!" beruhigte sie ihn
lachend. "Ich wollte nur mal sehen, was
du in deiner Höhle so treibst."
"Oh,
ich
grüble
über
den
Palästinakreuzzug unseres Kaisers und
über den Bann, den der Papst über ihn
verhängte."
Er sprach mit seiner Frau ganz
unbefangen über politische und
religiöse Fragen. Die 32-jährige
Mechthild von Woldenberge war klug
und gebildet. Zwar ging sie den Dingen
nicht so auf den Grund wie er, doch
besaß sie dafür einen praktischen
Verstand, der ihr sogar einen gewissen
Einfluss auf den Grafen verschaffte. Sie
hatte die nützliche Fähigkeit erworben,
mit kleinen Erfolgen zufrieden zu sein.
Otto, der aufgegeben hatte, bewunderte
sie dafür.
An der Tür tauchte für einen kurzen
Moment ein Kinderkopf auf. Er gehörte
einem kleinen Mädchen, das gern
hereinkommen wollte, sich aber nicht
traute. Otto winkte ihm zu, lockte es umsonst. Salome, benannt nach der
Großmutter, war zwei Jahre alt und
bereitete den Eltern wegen ihres
fröhlichen Wesens viel Freude. Die
Bibliothek allerdings flößte ihr Angst
ein. Sie wurde schließlich ungeduldig
und nötigte die Mutter, mit ihr wieder
nach draußen in den Hof zu gehen.
So war Otto also abermals allein.
Mechthilds Bild jedoch stand ihm noch
eine Zeitlang vor Augen. Anfangs, kurz
nach der von seiner Mutter in die Wege
geleiteten Hochzeit, hatte sie ihn ein
wenig erschreckt. Doch inzwischen
wurde ihm himmelangst, wenn er sich
ein Leben ohne sie vorzustellen
versuchte. Was sollte er anfangen, ohne
ihre liebevollen Zurechtweisungen? Er
würde ein zerstreuter Bücherwurm
werden und aus Vergesslichkeit
verhungern!
Während sein Blick wieder über das
Manuskript schweifte, dachte er an
Yolande, die zweite Gemahlin des
Kaisers, die vor zwei Jahren blutjung
bei der Geburt des Prinzen Konrad
starb. Durch sie besaß Friedrich
Ansprüche auf die begehrte Krone des
Königreichs Jerusalem. Ihr Vater, der
Ritter Johann von Brienne, ein
Parteigänger des Papstes, behauptete
indes, er habe sie wie eine Dienstmagd
behandelt und unwürdige Frauenzimmer ihr vorgezogen. Was sollte
68
man glauben? Über Friedrich waren die
sonderbarsten Gerüchte im Umlauf. Er
habe ein Frauenhaus nach orientalischer
Art und kleide sich zuweilen wie die
Muselmanen. Auch auf die Falkenjagd
verstünde er sich. Ein Buch habe er
darüber verfasst. Ein Fernhändler
berichtete einmal von sonderbaren
mechanischen Apparaten, welche ihm
am Hof in Sizilien zu Gesicht
gekommen seien. Das Staunen der
Welt. Gern hätte Otto den Kaiser einmal
persönlich kennen gelernt. Aber das
wäre nur bei einem Feldzug in der
fernen Lombardei denkbar gewesen und
nach dem Schlachtfeld stand ihm nun
einmal überhaupt nicht der Sinn.
69
IV
V
on Oldenburg aus ritt der
Dompriester nach Bruchhausen.
Die Burg war nicht groß, aber
stark befestigt wegen der seit dreißig
Jahren andauernden Fehde des regierenden Grafen Heinrich III mit seinem
Bruder Burchard von Wildeshausen.
Anders als in Oldenburg, wo die
Herrscherfamilie
einen
großzügig
angelegten Palas besaß, bildete hier
nach altem Muster ein Turm mit dicken
Wänden und schmalen Fenstern den
Mittelpunkt des Hoflebens. Weil sich
eine kurze Ringmauer mit weniger
Leuten verteidigen ließ, hatte man den
Hof klein gehalten. Um der Enge zu
entfliehen, verbrachten die Bewohner,
die Adligen ebenso wie die Dienstleute,
in Friedenszeiten einen großen Teil des
Tages auf dem Gelände vor dem
Graben.
Für den Ankömmling war dieser
Brauch zunächst bequem. Der Graf saß
gerade mit einem Dutzend seiner
Waffenknechte mitten auf der Wiese
um eine Tafel herum. Da die fröhliche
Runde schon dazu übergegangen war,
das Mal mit einem Humpen Wein zu
krönen, spielten Höflichkeitsregeln
keine große Rolle mehr. Der
Dompriester trat einfach an Heinrich
heran und sagte ihm, dass er im Namen
des Erzbischofs mit ihm zu reden
wünsche.
Der
urwüchsige
Bruchhausener jedoch hatte dazu keine
rechte Lust. An Trunkenheit lag das
nicht, denn der Wein schien sich in
seinem gewaltigen Körper zu verlieren,
ohne Spuren zu hinterlassen. Er wirkte
an der Stirnseite der Tafel majestätisch
und furchtbar wie ein germanischer
Stammesfürst. Aus einer Laune heraus
packte er den Priester beim Arm und
zog ihn neben sich auf die Bank. Dann
überbrüllte er den Lärm seiner Leute
mit den Worten:
"He, ihr Halunken! Benehmt euch ab
jetzt ein bisschen gesitteter! Wir haben
einen Geistlichen unter uns."
Und vertraulich an den Gast gewandt:
"Aber einen Becher Wein wirst du
doch nicht ausschlagen. Das ist kein
echter Mönch, der einem guten Tropfen
entsagt."
Unglücklicher Weise hatte der
Dompriester
lange
nichts
mehr
gegessen, so dass der Wein, den er aus
Höflichkeit in sich hinein goss, eine
verheerende Wirkung entfaltete. Schon
bald nahm er die Gesellschaft nur noch
verschwommen wahr. Dicht neben ihm
stritten sich zwei junge Männer, die
dem Grafen ähnelten. Etwas weiter weg
kippte jemand nach hinten um und blieb
dort, wo er zufällig hin rollte, liegen wie
ein Toter. Noch später schienen die
Männer um den Gast aus Bremen herum
zu tanzen - ehe sie hinter einem grauen
Schleier langsam verschwanden.
Mitten in der Nacht erwachte er mit
rasenden Kopfschmerzen und wusste
nicht, wo er sich befand. Erschöpft fiel
er kurz darauf wieder in tiefen Schlaf,
aus dem ihn am Morgen das Lärmen der
Mägde in der Küche nebenan weckte.
Er lag in einem winzigen Raum im
unteren Geschoß des Bergfrieds. Noch
immer ging es ihm ziemlich übel, doch
der Gedanke an seinen Auftrag trieb ihn
auf die Beine. Er musste den Grafen zur
Rede stellen, egal wie. So forderte er
denn, energisch, wie er das von sich
bisher nicht kannte, dass man ihn
vorließe.
Heinrich hatte das Gelage vom
Vortag offenbar wenig zugesetzt.
Prächtig gelaunt, bat er seinen Gast in
das nicht üppig, aber durchaus
behaglich eingerichtete Wohnzimmer in
einem
der
Obergeschosse
des
Bergfrieds. Dort saß seine Frau Ermentrud mit einer Handarbeit im
70
Hintergrund, unauffällig wie ein Stück
Einrichtung. Der Graf schien sie nicht
zu bemerken, was freilich nicht
stimmte, denn er schickte sie absichtlich
nicht hinaus. Der Dompriester, den man
vorgewarnt hatte, versäumte nicht, ihr
einen höflichen Gruß zu entbieten.
"Seine Eminenz, der Erzbischof von
Bremen,
vernahm
von
den
Schwierigkeiten,
die
Euch
die
aufrührerischen Bauern aus Stedingen
bereiten", begann er schließlich, "und er
bietet Euch durch mich seine Hilfe an."
Heinrich verzog keine Miene, wartete
auf handfeste Aussagen.
"Seine Eminenz planen einen
Feldzug, um dem Übel ein für allemal
beizukommen, einen Feldzug aller
Betroffenen."
Der Graf blieb noch immer
regungslos, was den Gesandten
verunsicherte. Der kam sich albern vor.
Höchstwahrscheinlich wusste Heinrich
(ebenso wie Christian) längst von
Gerhards Angebot an Burchard von
Wildeshausen und war entsprechend
voreingenommen. Die Eifersüchteleien
und Ränke zwischen den drei
verwandten Grafenhäusern lasteten
schwer auf dem Unternehmen. Genau
genommen, hatten sich die Stedinger
ihre Freiheit eben wegen dieser
Uneinigkeit nun schon seit mehreren
Jahrzehnten
bewahrt.
Nicht
auszudenken, wenn sie noch selbst
eingriffen in das politische Spiel und die
Missgunst noch weiter schürten.
"Seine Eminenz wird als geistlicher
Führer Sorge tragen, dass keinem der
Beteiligten ein Nachteil entsteht", warb
der Priester. "Ein jeder wird reichlichen
Lohn
erhalten,
nicht
nur
an
vergänglichen Dingen sondern mehr
noch ..."
"Dem Erzbischof unterwerfe ich mich
in Demut", unterbrach ihn der Graf.
"Hinsichtlich der Einzelheiten jenes
Unternehmens plagen mich indes einige
Zweifel."
Der Priester versuchte, zu retten, was
sich noch retten ließ.
"Es steht keinesfalls fest, dass Euer
Bruder Burchard eine so hervorragende
Stellung zugebilligt bekommt, wie Ihr
anscheinend glaubt. Seiner Eminenz
geht das Gelingen des Vorhabens über
alles."
Heinrich III saß vor ihm wie ein Fels,
unverrückbar selbst in der stärksten
Brandung. Nur der Form halber bat er
ihn um eine Bereitschaftserklärung. Es
war längst klar, dass er sie nicht
erhalten würde. Er hatte auch nicht
mehr die Kraft, um weiter zu kämpfen.
Sein Kopf schmerzte, als würde jemand
dicke Nägel hinein schlagen. Die rüden
Rufe der Waffenknechte, die vom Hof
her herauf schallten, bereiteten ihm zusätzliches Unbehagen. Er wollte fort
von diesem Ort, so schnell wie möglich.
Sein Aufbruch glich einer Flucht.
Unterwegs merkte er freilich, dass er
nur von einer Hölle in eine andere
geraten war. Der Ritt schüttelte seinen
Körper durch und steigerte die
Beschwerden
ins
Unerträgliche.
Schließlich musste er anhalten. Er
übergab sich und schlief mehrere
Stunden lang am Wegesrand. Erst
danach hatte er den Rausch und die
Enttäuschung
einigermaßen
überwunden.
Seine
Stimmung
verbesserte sich wieder. Ihm blieb ja
noch Zeit, sich eine Geschichte
auszudenken, die ihn ins rechte Licht
rücken würde.
Etwa zur selben Zeiten tauschten der
Graf und die Gräfin von Bruchhausen in
ihrem Wohnturm ihre Eindrücke und
Meinungen aus.
"Vielleicht hast du ihn zu grob
abgefertigt, Mann."
Ermentrud de Schodis, die Schwester
der
Gattin
Burchards
von
Wildeshausen, hatte kaum adlige Züge
71
in ihrem Wesen. Sie glich einer von
harter Arbeit auf dem Feld herb und
wortkarg
gewordenen
Bäuerin.
Allerdings besaß sie eine praktische
Schläue, derentwegen sie der etwas
schwerfällige Heinrich schätzte.
"Du meinst? ... Aber das war doch
bloß so ein Pfaffe."
"Der Dompriester von Bremen
immerhin und vor allem ein Vertrauter
des Erzbischofs."
In des Grafen Stirn gruben sich zwei
Falten ein.
"Noch so ein sauberer Geselle! Gott,
der Allmächtige, möge mir verzeihen,
dass ich einem seiner Knechte übel
nachrede! Er paktiert mit meinem
Bruder."
"Er ist auf seine Schmeicheleien
hereingefallen. Wir sollten nach Mitteln
suchen, ihm die Augen zu öffnen."
"... und uns beteiligen an diesem
Feldzug gegen die Stedinger?"
"Haben sie uns nicht genug Schaden
zugefügt? Außerdem winkt gute Beute.
Wer zu spät kommt, muss zusehen, wie
andere sich die Keller füllen."
"Ich kann den Pfaffen doch nicht
zurückholen und um Verzeihung
bitten?!"
"Er wird nicht der letzte Bote sein,
den der Erzbischof zu uns schickt."
Oft beriet sich der Graf auch mit
seinen Söhnen. Sein gleichnamiger
Ältester zählte 24 Jahre und übte schon
manch wichtiges Amt aus. Der Bruder
Ludolf stand ihm nur wenig nach. Als
der Dompriester zum Tor hinaus ritt,
erwarteten die beiden, gerufen zu
werden. Dass die Eltern stattdessen geheimnistuerisch unter sich blieben,
verärgerte sie. Vor allem der Jüngere
ereiferte sich.
"Sie reden gewiss über den
Stedingerfeldzug. Von dem reden ja
jetzt alle. Der Alte, dieser Zauderer, will
sich wahrscheinlich drücken. Und weil
er weiß, dass wir ..."
"Sprich nicht von Dingen, die du
noch nicht verstehst!" schnitt Heinrich
ihm das Wort ab.
Er legte es bei der Zurechtweisung
darauf an, den anderen zur Weißglut zu
bringen. In Wahrheit dachte er ähnlich.
(Er fürchtete, der Vater könnte seine
geistige und körperliche Kraft verlieren
und sich dennoch
nicht zum
Zurücktreten
entschließen.)
Die
Rivalität mit Ludolf indes überdeckte
im Augenblick alles andere. Lange war
Heinrich wegen seines Altersvorsprunges von drei Jahren der eindeutig
Überlegene gewesen. Doch die meisten
seiner Vorteile hatten sich inzwischen
verloren. Bei den in Bruchhausen
üblichen Kampfspielen zum Beispiel
siegte auch Ludolf mitunter. Geblieben
war dem Älteren indes seine kühle
Ausgeglichenheit. Wenn sein Bruder,
wie so oft, in Jähzorn geriet, beging er
Fehler.
Manchmal
verunsicherte
Heinrich ihn auch hinterlistig durch
Überraschungen - so wie diesmal,
indem er dem Vater die Stange hielt.
"Er soll Angst haben vor den
Stedingern? Das ist doch lächerlich. Er
muss freilich vieles bedenken. Ich weiß
da so einiges ..."
Ludolf ballte die Fäuste. Im letzten
Moment aber fiel ihm ein, wie oft es
ihm in solchem Zustand übel ergangen
war. Nein, diesmal wollte er ihm diesen
Gefallen nicht tun. Weil er aber
andererseits gar zu sehr litt, rannte er
mit einem wüsten Fluch über die
Zugbrücke nach draußen in die Wiesen.
V
72
U
m nach Bremen zurück zu
gelangen, musste der Dompriester wieder die Nacht
abwarten. Insgeheim hatte er gehofft,
die Stedinger würden ihre Belagerung
inzwischen beendet haben. Was
versprachen sie sich eigentlich von
diesem Vorstoß? Sie planten doch nicht
ernsthaft, die große Stadt zu erobern!
Allmählich wurden ihm diese Bauern
unheimlich. Die Feindseligkeiten unter
den Adligen stärkten ihnen den Rücken.
Nach seinen Eindrücken in Oldenburg
und Bruchhausen fürchtete er sogar,
diese Grafen könnten sich in ihrer
Selbstsucht mit ihnen verbünden, um
einen Rivalen zu schädigen. Das
erinnerte ihn an den falschen Waldemar,
den Erzbischof von des Dänenkönigs
Gnaden, den der Papst für abgesetzt
erklärte und der sich dennoch jahrelang
an der Macht hielt. Auch der hatte mit
den Bauern paktiert. Eine Schande!
Trotz der Absichtserklärung Christians
von Oldenburg wusste der Dompriester
nicht, ob er mit dem Ergebnis seiner
Mission zufrieden sein durfte.
Ein Wächter ließ ihn (auf eine Parole
hin) durch eine ins Tor eingelassene
Pforte schlüpfen. Erschöpft zog er sich
dann zum Schlafen ins Pfarrhaus am
Dom zurück. Lange blieb er dort
allerdings nicht ungestört, denn schon
bei den ersten Sonnenstrahlen weckte
ihn das Lärmen einer Menschenmenge
draußen auf dem Platz. Verwundert trat
er ans Fenster, denn es war ein
gewöhnlicher Arbeitstag. Nachdem er
sich angekleidet und vor die Tür
getreten war, erfuhr er, welches Ereignis die Leute so sehr in Aufregung
versetzte. Konrad von Marburg, der
Großinquisitor des Papstes für die
deutschen Lande, wollte eine Predigt
halten. Welchem Gegenstand er sich
dabei zuzuwenden gedachte, wusste
freilich noch niemand. Gewiss war ihm
nicht entgangen, dass es in der Stadt
noch immer gärte, dass ein bewaffneter
Aufstand noch immer drohte. Zwei
Rädelsführer aus der Bürgerschaft
standen zufällig in der Nähe des
Dompriesters. Der eine, Gottfried,
wollte Bürgermeister werden, der
andere, Andreas, versprach sich
Vorteile, falls sein Freund und Gönner
siegte.
"Gerhard wird uns angeschwärzt
haben."
"Darauf kannst du dich verlassen!
Jetzt stehen wir wie Kirchenfeinde da.
Dabei fordern wir nicht mehr als die
Erfüllung besiegelter Verträge."
Sie
mussten
ihr
Gespräch
unterbrechen, weil vorn ein Chor von
Mönchen zu singen begann. Dem
Erzbischof war offenkundig nichts zu
aufwändig, um seinen Gast zu ehren.
Auch das Volk liebte normalerweise
solche Prachtentfaltung. Zu Ostern,
Pfingsten und Weihnachten kamen die
Leute von weither, um eine Messe im
Dom zu erleben. An diesem Tag jedoch
war die Stimmung viel zu angespannt,
als dass der erbauliche Gesang die
Herzen hätte erreichen können. Konrad
von Marburg, der Großinquisitor,
genoss diese nervöse Unruhe, die seinen
Auftritten vorausging. Er wertete sie als
Angst. Die wiederum war in seinen
Augen Voraussetzung für einen
erfolgreichen Kampf gegen das Böse.
"Der Teufel kommt in vielerlei
Gestalt", begann er mit Donnerstimme.
"Den Habsüchtigen verspricht er
Reichtum.
Den
Lüsternen
und
Genießern verhilft er zur Befriedigung
ihrer
niederen
Begierden.
Den
Machtgierigen schenkt er Einfluss, den
Lügnern Glaubwürdigkeit. Doch all dies
ist ein kurzer Gewinn. Reichtum
zerrinnt wie Sand zwischen den
Fingern, Macht zerbricht und Lüge wird
durchschaut."
"Was meint er?" raunte Andreas.
"Wen meint er?"
"Pst! Er wird schon noch deutlicher
werden", entgegnete Gottfried.
Doch Konrads Rede blieb unklar.
Solange er niemanden beim Namen
nannte, musste jeder zittern. Andreas
erinnerte sich an die Flucht der Zwölf.
Wo mochte sie geblieben sein?
Vielleicht war in ihrem Versteck noch
Platz für ein paar weitere Vertriebene.
Vielleicht würde gemeinsames Unglück
die alten Streitigkeiten in Vergessenheit
geraten lassen. Auch Gottfried wälzte
düstere Gedanken. Zwar konnte er sich
notfalls zu Verwandten nach Hamburg
absetzen, doch blutete sein Herz bei der
Vorstellung,
sein
Besitz
werde
konfisziert.
Dann plötzlich wendete sich alles.
Drei Sätze genügten, um allem zuvor
Gesprochenen einen anderen Sinn zu
geben. Das Aufatmen der Bürger war
unüberhörbar.
"Eure Habsucht, eure Lüsternheit und
eure Machtgier haben euch den Blick
verschleiert. Draußen vor den Mauern
steht des Satans Streitmacht bereit. Ihr
seid nicht anders als die Israeliten,
welche nicht dem Allmächtigen
vertrauten, als die Babylonier wider sie
zogen. In euerer Verstocktheit werdet
ihr es dahin bringen, dass euch dasselbe
Schicksal wie jene ereilt."
Noch immer prügelte der Inquisitor
mit Worten auf die Bürger ein. Noch
immer bedachte er die Gegner des
Erzbischofs mit Bemerkungen, die
Axthieben glichen. Aber es gab nicht
mehr die scharfe Trennung zwischen
dem Ketzerjäger auf der einen Seite und
den Zuhörern auf der anderen. Indem er
vor den Stedingern warnte, sprach
Konrad etlichen Leuten aus dem
Herzen.
"Es ist in der Tat eine Schande, dass
wir uns nicht einmal in der Gefahr einig
sind!" hörte man manchen murmeln.
Die Gefahr erschien plötzlich
unermesslich.
"Das sind Gottlose. Als sich noch
Priester zu ihnen wagten, spieen sie die
geweihten Hostien zu Hause auf den
Misthaufen. Heute betreten sie die
Kirchen gar nicht mehr. Dafür halten sie
an verrufenen Orten Teufelsmessen ab."
Selbstverständlich
sagte
der
Inquisitor genau, wie es dort zuging.
Besonders
die
unappetitlichen
Einzelheiten hatten es ihm angetan. Die
Bürger hörten ihm mit offenen Mündern
zu,
entsetzt
angesichts
des
Dämonenheeres, das da ihre Mauern berannte. Gottfried und Andreas waren zu
gebildet, um sich so leicht einwickeln
zu lassen, und bemerkten, dass der Marburger über etwas redete, was er gar
nicht wissen konnte, da er erst wenige
Tage in der Gegend weilte. Aber auch
an ihnen ging die Rede nicht spurlos
vorüber.
"Ich hatte schon einmal darüber
nachgedacht, sie als Druckmittel gegen
Gerhard
zu
benutzen.
Aber
wahrscheinlich würden wir uns damit
ein Übel ins Haus holen."
"Ja, das fürchte ich auch."
Konrad steigerte sich nun in den
Höhepunkt seiner Predigt hinein. Vor
Tagen war er drei Waffenknechten wie
der leibhaftige Gott erschienen, nun
empfanden mehrere hundert Menschen
so. Hysterie griff um sich. Einige
Frauen fielen in Ohnmacht. Der
Großinquisitor indes konnte Bremen
versöhnt verlassen - er hatte seinen
großen Auftritt doch noch bekommen.
74
7.Kapitel
I
D
ie Stimmung war gereizt.
Norbert stapfte voraus auf dem
schmalen, morastigen Pfad.
Franziska folgte ihm und fragte
mehrmals ungeduldig, ob er mit seiner
Vorsicht nicht übertreibe. Christian, der
die Nachhut bildete, schimpfte, dass er
sich viel besser auskennte, was übrigens
nicht stimmte. Nur Ramira wirkte wie
fast immer ruhig und ein wenig
abwesend. Bei einer Rast brachte
Norbert schließlich direkt zur Sprache,
was (fast) allen die Laune verdarb.
"Habt ihr Ruperts Grinsen bei
unserem Aufbruch gesehen?! Er und
dieser Ernst Eisenarm sind jetzt die
Herren in der Waldhütte." Und an
Franziska gewandt: "Wahrscheinlich
bist du schon nicht mehr der
Hauptmann."
"Du übertreibst."
"Ich übertreibe? Ha! Seine Räuber
überzeugt Rupert im Handumdrehen.
Den Bürgerlichen macht er weiß, wir
hätten sie im Stich gelassen."
"Hör auf!" schnitt Franziska ihm das
Wort ab. "Die Gefahren kenne ich auch
ohne deine Vorträge. Doch Rupert ist
nicht der liebe Gott. So dumm sind
deine Freunde aus Bremen nun auch
wieder nicht, dass sie sich ihm einfach
unterwerfen. Im Übrigen kommt es
nicht darauf an, was dort in der Waldhütte geschieht, weil sich die wichtigen
Ereignisse woanders abspielen - zum
Beispiel dort, wohin wir gehen. Uns
steht ein Krieg bevor, ein großer Krieg,
nicht zu vergleichen mit den Fehden
zwischen dem Grafen Burchard und
seinen Nachbarn. Wer sich nicht
beizeiten auf eine der beiden Seiten
schlägt, wird zwischen den Fronten
zerrieben."
Das wollte nun aber auch Christian
nicht hinnehmen.
"Du redest, als ob du der liebe Gott
wärest. Wie kommst du darauf, dass es
zum Krieg kommt? Zwischen den
Stedingern und den Grafen gibt es seit
zwanzig Jahren Streitereien."
"Diesmal hält Erzbischof Gerhard die
Fäden in der Hand. Das ist ein
Kirchenfürst, dessen Arm bis nach Rom
reicht."
"Gut, er könnte einen Krieg beginnen.
Woher aber weißt du, dass er es auch
wirklich will?"
"An manchen Tagen, wenn ich nicht
in der Waldhütte war, habe ich (in
Verkleidung) auf der Straße zwischen
Wildeshausen und Oldenburg mit
Leuten geredet. Ich gab mich als fremd
aus und lenkte sie auf politische
Themen."
"Warum wussten wir nichts davon?
Das war gefährlich."
"Wir dürfen nicht blind und taub dort
im Wald leben. Irgendwann kommt uns
jemand auf die Spur. Bis dahin müssen
wir einen Weg heraus aus dieser
Mausefalle kennen."
Die vier rechneten damit, frühestens
am
Wall
mit
Stedingern
zusammenzutreffen. Doch schon zwei
Meilen zuvor sahen sie sich plötzlich
von Männern mit blanken Schwertern in
den Fäusten umringt. Da einige von
ihnen unter ihren Kettenhemden und
ledernen Wämsern einen Kittel aus
grobem Leinen trugen, handelte es sich
zweifellos nicht um die Waffenknechte
eines Grafen. Auch ihrem Gebaren war
anzusehen, dass sie lieber und öfter den
Boden beackerten als die Waffen zu
führen. Franziska gab ihren Begleitern
ein Zeichen, keinen Widerstand zu
leisten, und wandte sich an einen
stämmigen Mann mit braun gebranntem
Gesicht, dichtem Bart und einer Narbe
auf der rechten Hand, den sie für den
Anführer des Trupps hielt.
"Wir tragen Schwerter bei uns,
kommen aber in friedlicher Absicht.
Unser Ziel ist das Stedingerland. Wir
wollen ein Angebot unterbreiten."
Der Angesprochene, bedächtig wie
fast alle Bauern von der Küste, ließ sich
Zeit mit der Antwort und beriet sich
zuvor leise mit seinen Leuten. Einer von
diesen zeigte plötzlich auf Christian und
Ramira. Er hatte die beiden erkannt.
"Ihr seid uns willkommen", entschied
der Mann mit der Narbe. "Ihr müsst
euch aber ein paar Tage gedulden."
Zusammen mit dem Trupp, liefen die
vier nun mehrere Stunden lang über
düstere Waldwege und geheimnisvolle
Sumpfpfade. Ab und zu tauchten Felder
auf, in deren Mitte ein Dorf lag. Auch
Christian und Ramira verloren die
Orientierung. Ein wenig unheimlich war
die Wanderung auch dadurch, dass die
bewaffneten Bauern nicht verrieten, wo
genau man die Gäste unterzubringen
gedachte. Es hieß nur, sie würden im
Hause des Truppführers wohnen, der
den Namen Jörg trug.
Schließlich kamen sie nach Neudeich,
einem noch jungen Dorf. Keines seiner
Häuser stand länger als fünfzig Jahre.
Es lag unweit der Weser in einer Senke,
die sich noch vor weniger als einem
Menschenleben im Bereich der Flut
befunden hatte. Inzwischen schützte ein
mächtiger, mit Feldsteinen verstärkter
Erdwall die Gegend. Der fruchtbare
Boden zog die Bauernfamilien an, trotz
der
Gefahr
eines
verheerenden
Dammbruchs. Im Norden und Osten
reichten die mit weißen Steinen gekennzeichneten Felder bis zum Bogen des
Deiches. Im Westen zeigten Weiden das
frühere Ufer an. Das Dorf selbst war
noch einmal von einem niedrigen Wall
umgeben. Ergänzt durch einen Graben,
eine Schlehdornhecke (dem Etter)
sowie einem nur von innen zu
öffnendem
Falltor
aus
starken
Holzlatten und Flechtwerk, gab er dem
Flecken den Eindruck einer winzigen
Stadt.
Bauer Jörg war stolz auf sein Dorf.
Als Kind hatte er die Gründung noch
miterlebt. Je näher er kam, desto
gesprächiger wurde er. Sein Hof lag in
der Nähe des Angers und wirkte schon
auf den ersten Blick sehr gepflegt.
Franziska, die sich auskannte, sah schon
am Dunghaufen, dass es der Familie gut
ging. Wenigstens zehn Schweine
mussten in den Ställen stehen, dazu
einige Rinder. Am Haus gab es kein
einziges zerbrochenes Brett. Das
seitlich bis fast zum Boden reichende
Strohdach wies keine Unebenheiten auf.
Der Westerholthof war nur um ein
weniges größer und schmucker, und der
hatte immerhin Franziskas adligen
Vorfahren bis zum Bau der Wardenburg
als Stammsitz gedient.
Vor der Missendör, dem Einfahrtstor,
das groß und wuchtig die Giebelfront
des Hauses beherrschte, flatterten ein
paar Hühner vor einer jungen Frau
davon, die sich mühte, sie in den Stall
zu treiben.
"Das ist meine Tochter Gudrun",
stellte Jörg sie vor. "Das sind Freunde,
die für ein paar Tage bei uns wohnen
werden."
Die junge Frau überließ die Hühner
sofort sich selbst und kam den Fremden
mit strahlendem Gesicht entgegen.
Vermutlich waren die Tiere für sie nur
ein Vorwand gewesen, in den Vorgarten
zu kommen und die Ankömmlinge zu
sehen. Besonders Norbert hatte es ihr
angetan. Sie war durchaus hübsch kräftig von der Arbeit, aber zugleich gut
gebaut. Ihre hübschen Brüste betonte
sie, indem sie ein zu enges Kleid trug.
76
"Ihr müsst mit uns einen Schluck Met
aus dem großen Krug trinken, bevor ihr
zum ersten Mal die Missendör durchschreitet", sagte sie. "Das ist so Brauch
bei uns."
"Sie bleiben doch nur ein paar Tage",
wehrte der Bauer ab, doch da war sie
schon verschwunden. Mehr zu sich
selbst fügte Jörg hinzu: "Es wird Zeit,
dass sie heiratet. Sie bereitet mir sonst
noch Schande."
Gudrun kam zurück mit einem
verzierten Steingutkrug. Der wanderte
nun wie ein Abendmalskelch von einem
zum anderen.
"So, nun gehört ihr zu uns und dürft
hereinkommen."
In der Diele bestätigten sich
Franziskas erste Eindrücke. Sie bildete
einen lang gestreckten, durch dicke
Stempel der Länge nach in drei Teile
gegliederten Raum. Der Fußboden des
mittleren Teils war zu ungefähr zwei
Dritteln mit gestampftem Lehm
bedeckt. Vorn, wo der Lehm fehlte,
lagerten
Heuund
Strohhalme,
Futterreste und anders mehr, was als
Abfall anfiel und jetzt im Sommer zum
Düngen der Felder diente. Rechts befanden sich die Schweineställe, dahinter
der Verschlag für drei Pferde. Ja, Bauer
Jörg besaß tatsächlich Pferde, und zwar
gleich drei an der Zahl! Norbert und
Christian, den beiden Städtern, fiel das
kaum auf. Auch Ramira, die Gauklerin,
vermochte die Bedeutung nicht zu
ermessen.
Franziska
indes,
die
Ritterstochter, trat voller Erstaunen ein
paar Schritte näher. Jörg bemerkte das
alles genau und versuchte, sich einen
Reim darauf zu machen.
Am Ende der Diele trennte das
niedrige Flattgatter den Wohnbereich
ab. Dass Tiere und Menschen unter
einem Dach eng beieinander lebten, war
kein Zeichen von Armut. So konnte der
Bauer
jederzeit
nach
seinem
wertvollsten
und
zugleich
empfindlichsten Besitz sehen. Im
Winter sparte man Feuerung. Am Herd
bereitete die Bäuerin gerade das Essen
zu. Zwei Kinder, ein Junge und ein
Mädchen, halfen ihr dabei. Bei dieser
Arbeit ließ sie sich auch durch die
Ankunft der Gäste nicht stören. Sie
reichte nur jedem kurz die Hand,
nachdem Jörg sie vorgestellt hatte.
"Meine Frau Luise."
Ihre Zurückhaltung hatte nichts zu
bedeuten. Ein Fremder musste in diesen
Dörfern immer damit rechnen, dass ihm
zunächst Misstrauen entgegen schlug.
Mancher brauchte mehrere Jahre, um
diese Barrieren zu überwinden. Auch
Liemar, dem Knecht, war es so
ergangen. Die Gäste erfuhren seine Geschichte am späten Abend, als das Bier
die Zungen lockerte.
Er kam als Sohn zweier Leibeigener
zur Welt. Unglücklicher Weise starben
seine Eltern schon bald an einer
Krankheit. Der Junge war nun ohne
Schutz und wurde auf einem Fronhof
des
Wildeshausener
Grafen
herumgestoßen. Die harte Arbeit, die
man ihm aufbürdete, hatte jedoch auch
ihr Gutes. Sie stählte Liemars Muskeln.
Während er zum Manne heranwuchs,
spürte er immer deutlicher seine Kraft.
Er lehnte sich auf, wurde dafür manches
Mal unbarmherzig geschlagen, gab aber
nicht auf. Eines Tages lief er davon.
Die Flucht brachte ihm zunächst
wenig Glück. Er musste sich vor den
Waffenknechten des Grafen in Acht
nehmen, irrte umher und kam vor
Hunger fast um. Völlig erschöpft hatte
er die Hoffnung, ein Zuhause zu finden,
schon fast aufgegeben, als ihn der
Zufall nach Neudeich führte. Dort endlich wendete sich sein Leben zum
Guten, denn der Bauer Jörg brauchte
gerade einen neuen Knecht. Dessen
ehemaliger baute sich nach einer
günstigen Heirat ein eigenes Haus.
77
"Ein Jahr und drei Monate war ich
nur zur Probe hier, ehe ich meinen
Mietpfennig bekam."
"Was ist das, der Mietpfennig?"
erkundigte sich Christian.
"Ein uralter Brauch! Die ganze
Familie versammelt sich am Herd. Wie
beim ersten Schritt durch die Missendör
wird ein großer Krug mit Met gefüllt.
Dann legt der Bauer einen Pfennig in
den Kesselhaken, den der Neuling
wieder herausnimmt. Das gilt dann als
Eid. Wie einen Vertrag müsst ihr euch
das vorstellen. Mit einem Händedruck
über eine Herdecke und einem kräftigen
Schluck aus dem Krug wird er
besiegelt."
Worüber er nicht sprach, was sich
aber nicht übersehen ließ, das war seine
Liebe zu Gudrun, des Bauern Tochter.
Normaler Weise sahen Bauern es gar
nicht gern, wenn einer ihrer Knechte
sich solcherlei Hoffnungen hingab. Jörg
aber
zitterte
angesichts
der
Leichtfertigkeit
seines
hübschen
Kindes. Zudem wollte er keine
Arbeitskraft verlieren. Liemar würde
auch nach einer Heirat auf dem Hof
bleiben müssen. Nach altem Recht galt
er noch immer als Gast. Nachbar
werden konnte er erst nach einigen
Jahren. Ihm blieben also in Neudeich
vorläufig noch eine Reihe von Rechten
vorenthalten. Dazu gehörte der Bau
eines eigenen Hauses.
II
bernachten durften die Gäste auf
dem Boden zwischen Herd und
Flattgatter. Das war zwar nicht
bequem aber ausreichend. Tagsüber
halfen sie bei der Arbeit. Niemand
forderte das von ihnen, aber dass sie es
freiwillig taten, half ihnen, das heimliche Misstrauen ein wenig zu zerstreuen.
Zudem verging dadurch die Zeit
schneller. Natürlich fragten sie sich,
warum die Anführer nicht zu sprechen
waren. Ramira argwöhnte sogar, man
treibe ein Spiel mit ihnen. Ein besonderes Ereignis im Dorf jedoch lenkte sie
am dritten Tag ab.
Gudrun kam auf den Hof gerannt und
rief:
"Seht, der Burknüppel ist da!"
Dabei schwenkte sie einen etwa einen
halben Meter langen, glatt geschliffenen
Stock, an dessen Ende mehrere kurze,
bunte Bänder festgeknotet waren.
"Weißt du, was es damit auf sich
hat?" flüsterte Norbert, an Franziska
gewandt.
"Das ist die Einladung zur
Gemeindeversammlung."
Bauer Jörg trat vor die Missendör und
sagte:
"Reiche ihn gleich weiter! Du weißt
ja, es bringt Unglück, wenn man ihn zu
lange im Haus hat."
"Doch nur, wenn man ihn über Nacht
behält."
"Tu, wie ich dir sage! Es ist besser,
sich vor den bösen Geistern zu viel als
zu wenig zu schützen."
Am nächsten Morgen kündigte der
durchdringende Klang des Burhorns
den baldigen Beginn der Versammlung
an. Jeder erwachsene Mann, der als
vollwertiges Gemeindemitglied galt,
musste nun zur Linde kommen, es sei
denn, er war durch den Dorfschulzen
ausdrücklich befreit, zum Beispiel einer
schweren Krankheit wegen. Allerdings
ging fast jeder gern. Der Gemeindeversammlung, die in der Regel nur
einmal im Jahr stattfand, haftete etwas
Feierliches an. Man trug die besten
Ü
78
Kleider und wetteiferte miteinander,
zuerst an der Linde zu sein.
Franziska und ihre drei Begleiter
mussten in respektvoller Entfernung
bleiben. Immerhin konnten sie von
einem Baum aus das Geschehen gut
beobachten. Von den Reden wehte der
Wind zumindest einige Satzfetzen zu
ihnen herüber. Daraus konnten sie
schlussfolgern, worum es ging. Allem
Anschein nach war die Versammlung
außer der Reihe einberufen worden. Der
Dorfschulze, ein alter Mann mit
schneeweißem Haar, den beim Laufen
sein Enkel stütze, der aber ansonsten
noch frisch wirkte wie ein junger
Bursche, stellte drei Männer vor, die
nicht in Neudeich wohnten und die hier
wohl auch kaum jemand kannte.
"Sie haben uns im Namen des Rates
der Universitas Stedingorum etwas
mitzuteilen."
Einer der drei stieg auf einen Tisch
und hielt eine lange, verwirrende
Ansprache. Erst, als die Bauern unruhig
wurden, kam er zu seinem eigentlichen
Anliegen.
"... wir dürfen also niemals vergessen,
dass wir von Feinden eingeschlossen
sind, von Feinden, die Tag und Nacht
auf eine Schwäche von uns lauern. Wir
müssen ständig und überall auf ihren
Angriff vorbereitet sein, selbst an den
hohen Feiertagen. Deshalb möge sich ab
sofort ein jeder zum Kampf bereit halten."
Während er erläuterte, was das im
Einzelnen bedeutete, hörten die Leute
unter der Linde wieder aufmerksam zu.
Eine ziemlich große Anzahl eiserner
Waffen sollte im Dorf hergestellt
werden. Alle Männer, die älter als 16
und jünger als 50 Jahre waren, mussten
sich zu zwölft in Gruppen zusammenfinden und dazu je einen Fähnleinführer
benennen. Diese unterstanden dann
einem der (vor ein paar Monaten in
einem
anderen
Zusammenhang
gewählten) Hauptleute.
Das alles klang in den Ohren der an
viel Freiheit gewöhnten Bauern recht
ungewohnt.
Besonders
die
vier
Heimbürgen, die auf der anderen Seite
des Schulzen saßen, verkniffen den
Mund. Sie waren stolz auf ihr Wahlamt
und besaßen, da ihnen die Betreuung
des Gemeinguts oblag, beträchtlichen
Einfluss innerhalb des Etters. Nun
mischten sich plötzlich Leute von außen
ein, zwar keine Adligen, wohl aber
Fremde,
die
offenbar
eine
Sonderstellung beanspruchten innerhalb
der
auf
Gleichberechtigung
eingeschworenen Gemeinschaft der
Marschlandbewohner. Doch es kam
sogar noch ärger.
"Unsere
Feinde lassen nichts
unversucht, um einen Judas unter uns zu
finden", sagte der Abgesandte der
Universitas.
"Weil
die
Befestigungswerke an unseren Grenzen
inzwischen so sicher sind, dass selbst
ein Ritterheer sie nicht überwinden
würde, suchen sie nun jemanden, der
ihnen heimlich die Tore von innen her
öffnet." Mit eindringlichen Worten
malte er das Blutbad, das in einem
solchen Fall die Folge wäre. "Nur mit
eurer Hilfe gelingt es uns, die Verräter
rechtzeitig zu entdecken", schloss er.
"Wir wissen, dass es schwer fällt, den
Nachbarn oder den Verwandten zu
entlarven, dass es unter Umständen
sogar gegen alten Brauch verstößt. Wir
verlangen deshalb auch nicht, dass ihr
hier vor allen redet. Kommt zu uns ohne
Aufsehen! Niemand wird davon
erfahren."
Da schnitt ihm ein Sturm der
Entrüstung das Wort ab.
"Du redest wie einer dieser
Ketzerjäger! Immer haben wir es so
gehalten, dass jede Anschuldigung hier
unter der Linde vor jedermanns Ohren
vorgetragen wird. Schande über den,
79
der in aller Heimlichkeit seinen
Nachbarn anschwärzt!"
Besonders die Männer, die zum
streute er Beispiele über gemeine
Schurkenstreiche ein. Niemand mochte
so recht glauben, dass sie sich
tatsächlich
zugetragen
hatten, doch verfehlten sie
ihre
Wirkung
nicht
gänzlich. Am Ende sorgte
ein Kompromiss für ein
versöhnliches Ende. Wer
einen Verdacht hat, solle
sich vertrauensvoll an den
Bürgermeister
wenden.
Der
könne
dann
entscheiden,
ob
die
Meldung
weitergegeben
wird oder nicht.
Auch die vier Gäste aus
der Waldhütte waren sich
nicht
einig.
Sogar
Franziska und Ramira
gerieten in Streit miteinander, was bei den beiden
äußerst selten vorkam.
"Es gibt Zeiten, in denen
jemand die Zügel fest in
der Hand halten muss und in denen
nicht alle Freiheiten zugelassen werden
dürfen", meinte die Ritterstochter.
"Und wer bestimmt, wann solche
Zeiten sind?" hielt die Gauklerin
dagegen. "Und vor allem: Wer ist
derjenige, der die Zügel hält? Nein,
nein! Das gefällt mir gar nicht, was
dieser Kerl da verlangt. Die Bauern
hatten vorhin ganz recht, als sie ihn mit
einem Ketzerjäger verglichen."
"Nun ist es aber genug! Die
Universitas Stedingorum ..."
"Der Name ist mir gleich! Wenn sie
anfangen, alle Leute, die nicht ihrer
Meinung sind, in Ketten zu legen oder
gar hinzurichten, dann ..."
"Davon war nicht die Rede!"
"Aber so wird es kommen!"
Norbert und Christian griffen
beschwichtigend ein.
"Das sind doch Vorurteile. Wir
wissen von den Stedingern noch so gut
Vierer gehörten, ereiferten sich. Sie
sammelten von Amt wegen Abgaben
ein, jene an die Dorfgemeinschaft und
jene an die Universitas. Zudem schlichteten sie die Händel innerhalb des
Etters. Es bedurfte nicht viel Weitsicht,
um die Auswirkungen heimlicher
Anzeigen auf den Dorffrieden zu ahnen.
Der Vierer hatte ohnehin schon so viel
Ärger, dass eine Wahl immer nur über
den Amtzwang zustande kam.
"Niemals werden wir in Neudeich
dulden, was du da verlangst!" schrieen
die Männer wie aus einem Munde.
Der Sprecher der Universitas ließ sich
jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Er
wartete, bis sich die Aufregung gelegt
hatte, und milderte dann in beinahe
salbungsvollem Tonfall das Gesagte ab.
Nur an schweren Verrat habe er
gedacht.
Selbstverständlich
werde
niemand etwas ohne die Zustimmung
des Bürgermeisters, der Heimbürgen
und des Vierer unternehmen. Dabei
80
wie nichts. In ein paar Tagen sehen wir
das alles vielleicht schon mit ganz
anderen Augen."
81
III
N
ach der Versammlung unter
der Linde bestellten die Abgesandten der Universitas die
Gäste aus der Waldhütte zu sich. Nach
den harten Forderungen an die
Dorfbewohner erwarteten sie nichts
Gutes, erlebten aber eine angenehme
Überraschung. Die fremden Männer
waren über die Mission Christians und
Ramiras gut unterrichtet und verhielten
sich freundlich. Selbst die misstrauische
Gauklerin fand nichts Verdächtiges. So
waren alle in guter Stimmung, als sie
am nächsten Morgen im Gefolge der
Abgesandten aufbrachen.
Unterwegs entspann sich eine
lebhafte Unterhaltung, bei der es auch
manchen Grund zur Heiterkeit gab. Vor
allem Norbert knüpfte den Faden immer
wieder neu. Christian dagegen hielt sich
im
Hintergrund.
Das
war
so
abgesprochen mit Franziska, die trotz
ihrer Zuversicht nicht unvorsichtig sein
wollte. Er eignete sich als Beobachter
gut, weil er vergleichen konnte. So fiel
ihm zum Beispiel auf, dass das große
Haus der Anführer viel mehr als
seinerzeit geschützt wurde.
Ein mit Wasser gefüllter Graben
bildete das erste Hindernis. Ihn in
wenigen Wochen auszuheben, hatte
wohl hundert Männer beschäftigt.
Dahinter ragte ein Palisadenzaun aus
angespitzten Stämmen auf. Auch der
war
nicht
im
Handumdrehen
aufzustellen. Ein Adliger konnte bei
derlei Arbeiten auf seine Leibeigenen
zurückgreifen. Die Stedinger jedoch
duldeten keine solchen Abhängigkeiten.
Hatten sich die Bauern aus den Dörfern
in großer Zahl freiwillig für den Bau
bereit erklärt oder gab es ein stehendes
Heer? Christian vermutete Letzteres,
obgleich er nirgends Spuren eines
Lagers fand. Allerdings glich die
Umgebung des Hauptquartiers durchaus
einer Festung. Jeder Ankömmling
wurde am Zugbrückentor untersucht
und entwaffnet. Nur die Leibwächter
der Anführer durften auf dem Hof mit
Schwertern umherlaufen. Von diesen
gab es freilich so viele, dass man kaum
glauben mochte, im Frieden zu leben.
Christian fragte sich unwillkürlich, wer
dieses Sicherheitsbedürfnis verursachte.
Nur der Erzbischof?
Die Gäste fanden wenig Zeit, sich auf
dem Hof umzusehen. Sie wurden ins
Haus geführt und dort durch Tammo
von Huntorf begrüßt. Der ehemalige
Schmied mit der hünenhaften Statur und
dem gewaltigen Kahlkopf wirkte auf
Christian fast unverändert. Um seinen
Mund gab es aber neuerdings einen harten Zug, vielleicht ausgelöst durch einen
Schicksalsschlag,
vielleicht
auch
bedingt
durch
ein
andauerndes
Ärgernis. Er begrüßte die Abordnung
aus der Waldhütte und wandte sich an
die beiden jungen Männer mit den
Worten:
"Folgt mir bitte in mein Zimmer. Wir
werden dort ungestört sein. Eure
Begleiterinnen können im Saal warten.
Falls sie einen Wunsch haben, ..."
"Das ist unmöglich!" unterbrach ihn
Norbert. Allerdings fiel ihm dann nichts
Wirkungsvolles mehr ein.
Franziska hingegen, die mit einem
solchen Ansinnen gerechnet hatte, sagte
an seiner Stelle völlig gefasst:
"Ich bin der gewählte Anführer der
Leute aus dem Wald."
Tammo sah sie verblüfft an. Einen
Moment lang glaubte er, sie habe sich
einen Scherz erlaubt. Als sie dann aber
seinem Blick nicht auswich, entstand
eine lange, unangenehme Pause. Jeder
fühlte
die
Gefahr,
dass
die
Verhandlungen an dieser scheinbar
nebensächlichen Frage scheiterten, ehe
sie überhaupt begonnen hatten.
82
"Nach unseren Bräuchen ...", begann
der Bauernführer vorsichtig.
Franziska ließ ihn nicht ausreden.
"Ich muss noch etwas sagen: Ich bin
die Tochter eines Vasallen des Grafen
von Wildeshausen."
Norbert
zuckte
unmerklich
zusammen. War es denn wirklich nötig,
das in diesem Moment zu erwähnen?
Ein Wink dieses Mannes konnte sie alle
in ein Verließ bringen, vor allem in
einer Zeit, da sich die Anführer offenbar
in besonderem Maße vor Verrätern
fürchteten. Tammo war unschlüssig und
versuchte, durch belanglose Sätze Zeit
zu gewinnen.
"Du bist also zum Hauptmann
gewählt worden, weil du eines Vasallen
Tochter bist ..."
Etwas ungeschickt, blickte er sich
suchend um. Christian vermutete, dass
er
auf
die
beiden
anderen
Stedingerführer rechnete. Da diese aber
nicht kamen, musste er sich zu einem
Entschluss durchringen. Er gab sich
einen Ruck und sagte:
"Ich wusste nicht, dass die junge
Dame euer Hauptmann ist. So begleitet
mich denn also alle vier in mein
Zimmer!"
Tatsächlich respektierte Tammo von
nun an Franziskas Stellung. Er wandte
sich immer zuerst an sie. Was er dabei
dachte, blieb ungewiss.
"Weshalb wollt ihr euch uns
anzuschließen?" erkundigte er sich.
"Wir rechnen mit einem großen
Krieg."
Tammo blickte sie scharf an.
"Warum stellst du dich angesichts
dieses Krieges nicht auf die Seite deines
Vaters und dessen Lehnsherrn?"
"Zum einen, weil der Graf von
Wildeshausen mir nach dem Leben
trachtet, zum anderen, weil wir hoffen,
uns auf die Seite der Sieger zu stellen."
Das Misstrauen des Stedingerführers
blieb.
"Wenn ihr euch uns anschließt, müsst
ihr unsere Gesetze und Bräuche achten."
"Das ist recht und billig. Zähl uns die
wichtigsten davon auf! Dann werde ich
dir sagen, ob wir sie achten können."
Mit süffisantem Lächeln fügte sie
hinzu: "Wenn ihr bei euch nur Männer
als Hauptleute duldet, wäre das
allerdings für uns schwierig."
Für einen Moment gruben sich zwei
Falten in seine Stirn. Er spürte den
Widerstand dieser jungen Frau, die
eigentlich noch ein Mädchen war. Sie
taktierte, um ihren Wert zu erfahren,
und der ehemalige Schmied fühlte sich
ihr auf diesem Gebiet nicht gewachsen.
Wo nur blieben Dietmar und Wige?!
Um ihr nicht das Gefühl zu lassen, er
sei verletzt durch ihre spitze Bemerkung, sagte er rasch:
"Wir müssen uns vor Verrätern
schützen."
"Obgleich wir als Gäste in Neudeich
an der Versammlung unter der Linde
nicht teilnehmen durften, erfuhren wir
doch von den neuen Bestimmungen."
"Und was haltet ihr davon?"
"Sie
sind
wahrscheinlich
notwendig ..."
Ramira vermochte einen Unmutslaut
nicht zu unterdrücken und blickte dann
(nachdem Christian sie angestoßen
hatte) starr zu Boden. Ehe aber Tammo
darauf aufmerksam wurde, betraten die
beiden anderen Stedingerführer den
Raum. Der kleine, dunkelhäutige
Dietmar tom Diek mit den flinken Augen erfasste die Situation rasch und
übernahm die Gesprächsleitung. Der
elegante Wige hielt sich zunächst noch
zurück.
"Ihr seid überrascht, dass wir
Stedinger, die sich ihrer Freiheit
rühmen, so harte Gesetze erlassen",
bemerkte Dietmar und ließ seinen Blick
über die vier Abgesandten aus dem
Wald schweifen. Niemand wusste,
worauf er hinaus wollte.
83
"Ich sagte gerade ..."
"... dass sie vermutlich notwendig
sind. Ich hörte es, als ich hereinkam.
Ein Ritter ist daran gewöhnt, Befehle zu
befolgen. Du bist eines Ritters Tochter.
Deine Meinung allein kann uns aber
nicht genügen. Kannst du dich auch für
deine Leute verbürgen?"
Franziska merkte, dass sie ihm
gegenüber
keinen
Bildungsvorteil
besaß. Von nun an musste sie auf der
Hut sein. Natürlich konnte sie die
gewünschte Zusicherung nicht geben!
Es war möglich, dass sie gerade auf
Ruperts Betreiben hin als Hauptmann
abgewählt wurde. Vielleicht hätte
Dietmar sie noch böse in die Enge
getrieben, wäre das Gespräch nicht
durch Tammo und Wige plötzlich in
eine andere Richtung geraten.
"Wir stehen am Rande eines Krieges
und im Krieg gelten von Alters her
besondere Gesetze", rief Tammo aus, in
der irrigen Annahme, seinen Gefährten
damit zu unterstützen. "Im Krieg haben
die Hauptleute das Sagen. Wer sich
ihnen widersetzt, ist ein Verräter, weil
er die Kampfkraft des Heeres schwächt.
Das klingt hart nur in den Ohren von
Träumern."
Wige trieb es dann bis zum
Äußersten:
"Mit Verrätern darf man kein
Mitglied haben. Selbst vor Folter sollten
wir nicht zurückschrecken."
Ramira drückte die Hände so fest
aneinander, dass die Knöchel weiß
wurden. Christian beruhigte sie mit
Mühe, indem er seine Hand auf ihren
Arm legte. Aber auch Dietmar war
sichtlich schockiert. Freilich ließ sich
nicht feststellen, ob ihn der Inhalt der
Bemerkung entsetzte oder nur die
Bemerkung selbst. Andererseits fand
Franziska ihre Selbstvertrauen wieder.
"Wir gelten für viele Menschen als
Räuber,
doch
derlei
Gräuel
verabscheuen sogar wir", bemerkte sie
trocken.
Nun war plötzlich Dietmar derjenige,
der sich verteidigen musste.
"Wige ist zuweilen unbesonnen. Zum
Glück kann er allein keine Gesetze
erlassen. Dafür genügt nicht einmal,
dass wir drei Führer uns einig sind. Wir
benötigen die Mehrheit der zwölf von
allen Marschlandbauern gewählten
Hauptleute. Ihr werdet sie nachher
kennen lernen. Um euch zu beweisen,
dass wir euch vertrauen, laden wir euch
zu einer unserer Versammlungen ein."
Der vor den Gästen gescholtene Wige
versank wieder in Schweigen und warf
Dietmar hin und wieder einen wütenden
Blick
zu.
Auch
Tammo
war
unzufrieden. Die Einladung überraschte
ihn. Er setzte schon an, dagegen zu
protestieren, aber um nicht neue
Missstimmung
heraufzubeschwören,
brach er den begonnen Satz ab.
Der Pakt stand auf des Messers
Schneide, denn beide Parteien waren
verunsichert. Ramira missbilligte ihn
unverhohlen. Aus anderen Gründen
wollte ihn auch Wige nicht. Christian,
Norbert und Tammo schwankten.
Dietmar hoffte, die Gäste bei der
Versammlung als neue Verbündete
präsentieren zu können, hatte aber keine
Argumente mehr. Nach einer längeren
Pause begann Franziska vorsichtig:
"Du spieltest vorhin mit recht darauf
an, dass ich nicht für alle meine Leute
die Hand ins Feuer legen kann."
Davon wollte Dietmar nun nichts
mehr wissen.
"Sie haben dich zum Hauptmann
gewählt und sind dir bisher gefolgt."
'Jedenfalls bis vor einer Woche',
dachte Franziska bei sich.
Nachdem sie aber noch ein letztes
Mal alles Für und Wider gegeneinander
abgewogen hatte, stand sie mit einem
Ruck
auf
und
streckte
dem
Stedingerführer die Hand hin. Dieser
84
erhob sich ebenfalls und besiegelte das
Bündnis auf Bauernart. Um keine
Zweifel
aufkommen
zu
lassen,
tauschten anschließend auch Norbert
und Tammo sowie Christian und Wige
einen Händedruck. Dass sich Ramira
aus dem Zeremoniell heraus hielt, fiel
niemandem auf. Übrigens sagte sie auch
hinterher nichts gegen das Bündnis.
Franziska kannte ihre Meinung ohnehin.
Bei der Versammlung waren neben
den
drei
Führern,
den
zwölf
Hauptleuten sowie den vier Gästen noch
zwei Männer anwesend, die sich um
eine Audienz beim Papst bemüht hatten.
Über das Ergebnis ihrer Mission
erfuhren Franziska und ihre Begleiter
nichts. Durch ihre Reise wussten die
Unterhändler aber auch über die
politische Lage im fernen Rom Bescheid. Einer von ihnen stand auf und
berichtete:
"Was wir schon vermutet hatten,
erwies sich als wahr - zwischen dem
Papst und dem Kaiser herrscht wieder
Frieden."
"Warum ist das für die Stedinger so
wichtig?" flüsterte Franziska, an
Norbert gewandt.
"Sie hielten ganz offen zu Friedrich",
flüsterte dieser zurück. "Unter anderem
gaben sie ihm Geld für seinen Palästinakreuzzug."
Der Redner ging unterdessen auf
Einzelheiten ein.
"Zunächst
hatte
alles
danach
ausgesehen, als würde eine Versöhnung
niemals mehr möglich sein. Ihr erinnert
euch, dass Gregor gegen den Kaiser den
Bannstrahl schleuderte, weil der mit
dem bei der Krönung gelobten
Kreuzzug zu lange zögerte. Als
Friedrich
dann
aber
tatsächlich
aufbrach, packte jener unwürdige
Schurke von einem Papst die
Gelegenheit beim Schopfe und fiel mit
Heeresmacht in Apulien ein. Gerade
noch rechtzeitig kehrte der Kaiser
zurück und verhinderte den üblen
Streich. Welch eines Beweises bedarf es
noch, um Gregor als einen Knecht des
Teufels zu entlarven. Keine Schandtat
gibt es, die er nicht schon begangen
oder veranlasst hat. Um die Menschen
zu täuschen, hatte er sogar verbreiten
lassen, Friedrich sei tot."
Der zweite Mann setzte den Bericht
fort:
"In Rom fanden wir Gelegenheit, mit
unserem Freund Hermann zu reden."
"Wen meint er?" fragte Franziska.
"Hermann von Salza, den Großmeister
des Deutschritterordens?"
"Der Großmeister ist ein Verbündeter
der Stedinger", antwortete Norbert.
"Wie es dazu kam, weiß ich nicht."
Unterdessen rühmte der Redner:
"Ohne Hermanns Bemühungen wären
nicht einmal mehr Verhandlungen
möglich gewesen, geschweige denn ein
Friedensschluss. Unermüdlich reiste er
zwischen den Lagern hin und her. Dabei
erreichte er, dass das Eis allmählich
schmolz."
Die zwölf Hauptleute hörten mit
wachsender Aufmerksamkeit zu. Sie
fanden den Bericht jedoch zu
salbungsvoll und riefen dazwischen:
"Wir hörten, dass sich der Kaiser den
Frieden mit großen Zugeständnissen
erkaufen musste. Ist das wahr?"
"Friedrich gab nur Kleinigkeiten
preis. Er verzichtete auf die Rechte
eines päpstlichen Legaten in Sizilien, er
gab den Templern und den Johannitern
den eingezogenen Besitz zurück und er
ließ die von seinen Leuten gefangen
genommenen Anhänger des Papstes
frei."
"Kleinigkeiten nennst du das? Warum
musste er auf einen so schlechten
Vertrag eingehen? Hatte er nicht
gesiegt? Hatte nicht der Papst ihn auf
niederträchtige Art und Weise betrogen
und sich damit selbst ins Unrecht
gesetzt?"
85
Ein anderer wusste davon, dass einige
deutsche Fürsten an der Aussöhnung
beteiligt gewesen waren, darunter auch
Erzbischof Gerhard II von Bremen.
Hatten auch sie den Kaiser verraten?
Die
solchermaßen
bestürmten
Unterhändler mussten eingestehen, dass
sie die Hintergründe so genau nun auch
wieder nicht kannten. So blieb am Ende
die für die Stedinger wichtigste Frage
unbeantwortet. Der Einfluss des
Hermann von Salza sowohl am Hofe
des Kaisers als auch in der Umgebung
des Papstes hatte ihnen in den
zurückliegenden Jahren viele Vorteile
gebracht. Seit der Versöhnung wurde
der Großmeister in Rom und Apulien
aber als Diplomat nicht mehr benötigt.
Sank damit sein Ansehen? Würde er in
Zukunft für seine Freunde nichts mehr
bewirken können? Die Zuversichtlichen
unter den Hauptleuten versicherten,
dass ein Mann mit Hermanns
Fähigkeiten auch in Friedenszeiten
unverzichtbar sei. Die Vorsichtigen
dagegen empfahlen, sich beizeiten nach
neuen Verbündeten umzusehen.
IV
B
ei ihrer Rückkehr nach Neudeich
platzten die vier Abgesandten
der Waldhütte mitten in ein
Familiendrama hinein. Vom Hof her
hörten sie die von Zorn erfüllte Stimme
des Bauern Jörg. Genaues konnten sie
nicht verstehen, aber ziemlich deutlich
vernahmen sie das Wort Schande.
Wenig später kam Gudrun, in Tränen
aufgelöst, zur Missendör heraus gerannt
und flüchtete, ohne die Gäste zu
beachten, hinters Haus in den
Gemüsegarten. Taktvoll bot Franziska
an, sofort weiter zu ziehen. Davon
jedoch wollte Luise nichts wissen.
Sosehr sie den Fremden misstraute,
mochte sie dennoch nicht als schlechte
Gastgeberin dastehen. Mindestens die
eine Nacht sollten die vier noch unter
ihrem Dach verbringen.
Bis zum nächsten Morgen aber
änderte sich die Lage noch einmal
gründlich. Obgleich man alles tat, um
die Familienangelegenheit vor den
Gästen geheim zu halten, spürten diese
doch die fieberhaften Bemühungen um
eine Lösung. Ständig standen zwei oder
drei Leute in einem Winkel zusammen
und redeten aufeinander ein - mit
gedämpfter Stimme, jedoch wild
gestikulierend. Tief in der Nacht war
dann wohl eine Entscheidung gefallen.
Beim Frühstück wirkten vor allem Jörg
und Liemar sehr ausgelassen. Gudrun
sah noch immer ein wenig bedrückt aus,
erleichtert war aber auch sie. Die Gäste
durften
nun
erst
recht
nicht
weiterziehen. Am übernächsten Tag
nämlich sollte Hochzeit gefeiert
werden.
Kurz vor Mittag desselben Tages
schallte
plötzlich
eine
helle
Kinderstimme über den Hof:
"Der Schlachter ist da, der Schlachter
ist da!"
Für Hänschen und seine Schwester
Jule, die Kinder einer mit auf dem Hof
lebenden Cousine des Bauern, war
Schlachttag noch ein ganz besonderes
Ereignis. Vor allem gefiel ihnen, dass
sie gebraucht wurden und ebenso wie
die
Erwachsenen
einen
Platz
zugewiesen
bekamen.
Selbstverständlich fühlten sie sich noch
dreimal wichtiger, als sie es in Wirklichkeit waren, und liefen mit roten
Wangen eifrig umher.
Hinter Hänschen trat der Schlächter
des Dorfes, ein kräftiger Mann mittleren
Alters
mit
beachtlichem
Bauch
86
bedächtigen
Schritts
durch
die
Missendör. Er begrüßte Luise und Gudrun mit Handschlag und erkundigte sich
nach Jörg und Liemar.
"Sie halten hinterm Haus das
Abbrühwasser am Kochen."
"Ja, das ist gut so." Dann wandte er
sich an den Kleinen, den er zum Spaß
so anredete, als hielte er ihn für einen
Mann: "He, künftiger Bauer, hole den
Jörg und sag ihm, er soll die Schweinezange mitbringen!"
Nachdem das ausgewählte Schwein
aus dem Stall gezogen worden war, kam
es auf den Stechstuhl, wo ihm der
Schlächter mit geübtem Schnitt die
Halsschlagader durchtrennte. Gudrun
fing das Blut in einem Bottich auf und
begann sofort, es kräftig zu rühren,
damit es nicht klumpte. Das Abbrühen
und Abschrapen des ausgebluteten Tiers
im Brenntrog übernahmen Jörg und
Liemar, während Luise schon den
großen Kessel vorbereitete. Dort kamen
die großen Fleischstücken, die nun nach
und nach abgeteilt wurden, zum Kochen
hinein. Er war aus gutem Eisen und galt
in der Familie als Wertstück. Ein
Großvater, den niemand mehr so recht
kannte, hatte ihn einst von einem
Bremer Schmied fertigen lassen. Als er
voll war, hingen die Männer das
restliche Fleisch zum Räuchern an die
Haken über dem Herd.
Die Stücke mussten nun gar kochen,
dann begann das Wurstmachen. Der
Schlächter schnitt das Fleisch auf einem
Tisch in kleinere Teile. Diese
verarbeiteten Jörg und Liemar mit je
zwei scharfen Hackmessern auf
Blöcken zu einer feinen Masse. Das war
auf die Dauer eine anstrengende Arbeit,
weshalb die beiden das Angebot der
Gäste, ihnen zu helfen, dankbar
annahmen. Franziska, die dergleichen
zu Hause schon als Zehnjährige getan
hatte, erwies sich als am geschicktesten.
Norbert fühlte sich dadurch in seiner
Ehre als Mann verletzt, mühte sich wie
besessen und hackte sich beinahe den
Daumen ab. Ramira dagegen, die
Künstlerin, die man eigentlich nirgends
so recht gebrauchen konnte, nahm ihre
Ungeschicklichkeit gelassen hin.
"Ich spiele euch zum Ausgleich
morgen bei der Hochzeit was vor",
versprach sie.
Für die Zutaten sorgten Luise und
Gudrun. Die Bäuerin schnitt die
Zwiebeln klein und drückte sie durch
die Zwiebelpresse. Ihre Tochter
bereitete die Gewürze für die Pottwurst
zu. Die Magd schließlich drückte die
fertigen Würste in die Därme. Niemand
konnte so gut wie sie mit den
Kuhhornringen umgehen. Die Fäden
zum Zubinden auf die rechte Länge zu
schneiden und bereitzulegen, blieb für
die Kinder übrig, die sich dabei
wichtigtuerisch
gegenseitig
maßregelten. Anschließend mussten die
Würste noch einmal gekocht werden.
Das erledigte Luise, die sehr stolz
darauf war, dass bei ihr fast nie eine
davon platzte. Die Männer fertigten
unterdessen die Mettwürste, die sofort
zum Räuchern über den Herd kamen.
Beim Arbeiten merkte kaum jemand,
wie die Zeit verging. Der Tag neigte
sich schon dem Ende entgegen, als
Luise die gekochten Würste aus dem
Kessel nahm und an Gudrun übergab,
die sie gemeinsam mit Ramira zum
Abkühlen auf eine Schicht Stroh
breitete.
Der
Schlächter,
die
Angehörigen des Hofes sowie ihre
Gäste setzten sich nun erschöpft nieder
und ließen ihre Blicke über das
Ergebnis ihrer Mühe schweifen. Fleisch
und Wurst verbreiteten einen würzigen
Duft. In Steintöpfen erstarrte das vom
Kessel abgeschöpfte Fett zu Schmalz.
Dabei meldete sich mit Macht der
Hunger. Immerhin hatten sie alle seit
Stunden nichts mehr gegessen. Sie
87
holten das Versäumte nun um so
üppiger nach.
Der
darauffolgende
Vormittag
brachte Aufregung anderer Art. Gudrun
wurde als Braut herausgeputzt und
durfte selbstverständlich den Bräuten
vergangener Jahre in nichts nachstehen.
Luise war umso mehr auf genaue
Einhaltung aller Regeln bedacht, da auf
der Hochzeit ein Makel lag (von dem
die Gäste freilich bis zuletzt kaum etwas
erfuhren). Jörg und Liemar, die jetzt im
Haus eher störten als nutzten, begaben
sich auf einen Spaziergang durchs Dorf.
Unterwegs
verbreiteten
sie
die
Neuigkeit unter den Nachbarn und
luden sie alle ein. Natürlich sprach
innerhalb des Etters an diesem Tage
niemand mehr von etwas anderem.
Das Fest fand am Nachmittag statt,
und zwar unter der Linde, weil nur dort
genügend Platz zur Verfügung stand.
Ein jeder kam, um des junge Paar und
die Eltern der Braut zu beglückwünschen, es sei denn ein sehr
gewichtiger Grund hinderte ihn daran.
Der Schulze gratulierte, der Hirt, der
Dorfknecht. Die Heimbürgen bekamen
einen besonderen Tisch reserviert. Den
Angehörigen des Vierer, denen in den
vergangenen Tagen zeitweilig das
Lachen vergangen war, amüsierten sich
unbeschwert. Ramira schließlich löste
ihr Versprechen ein und bot eine
Vorführung, bei der vor allem Christian
aus dem Staunen nicht herauskam. Sie
konnte nicht nur alle Musikinstrumente
spielen, die man ihr zureichte, sondern
vollführte zudem schier unglaubliche
Kunststücke auf einem zwischen zwei
Häuser gespannten Seil. Wer sie nach
dem Schlachten für ein wenig dumm
gehalten hatte, der änderte spätestens
jetzt seine Meinung.
Selbst Franziska ließ sich gehen. Seit
die Hauptmannsbürde auf ihren
Schultern lastete, war sie sehr ernst
geworden. In der Waldhütte stand sie
fast immer unter innerer Anspannung.
An den Gelagen, die dort häufig
stattfanden, meist von Rupert angeregt,
nahm sie nur widerwillig teil und ohne
jedes Vergnügen. An diesem Abend
aber erwartete niemand von ihr eine
Entscheidung und niemand bedrohte
ihre Stellung. Anfangs nippte sie nur
zaghaft am Wein und beim Tanzen bemühte sie sich, Würde zu bewahren.
Dann merkte sie, dass sie sich mit
solchem Gehabe nur zur Zielscheibe des
Spotts machte, und ließ mehr und mehr
ihr eigentliches Wesen an die
Oberfläche. Bald verblüffte sie die
Dorfjungen mit ihrem derben Humor.
Noch mehr wunderte sich freilich
Norbert, der ihr eine solch wilde
Leidenschaftlichkeit am allerwenigsten
zugetraut hätte. Sie riss ihn mit in einen
Taumel, bei dem er allmählich den
Boden unter den Füßen verlor.
Ein Sprichwort sagte: Hochzeiten
bringen wieder Hochzeiten. Wer nicht
wusste, was damit gemeint war, hatte
wahrscheinlich noch keine solche
Dorfhochzeit miterlebt. Dass sich das
Blut der jungen Leute erhitzte, lag nicht
allein am Wein. Die Anspielungen auf
den künftigen Kindersegen des Paares,
die gewagten Neckereien, die schon fast
zum Brauch gehörten, die ganze
Atmosphäre eines solchen Abends
wurden zu Mitschuldigen. Übrigens galt
es bei den meisten Bauernfamilien nicht
als
Schande,
schon
vor
der
Eheschließung im Heu gelegen zu
haben. Nur wenn die Tochter eines
wohlhabenden Bauern so dumm war,
sich von einem armen Hund einen Balg
andrehen zu lassen, war es ein Skandal.
Auch in der größten Leidenschaft sieht
ein anständiges Mädchen sich an, bei
wem es die Beherrschung verliert!
Als die Geisterstunde nahte, war
Franziska schon ziemlich betrunken.
Ihrer Liebessehnsucht tat das allerdings
keinen Abbruch, im Gegenteil. Der
88
Rausch verscheuchte den Stolz, der sie
sonst gehindert hätte, so geradlinig und
zugleich geschickt auf ihr Ziel
zuzusteuern. Da Norbert ein Mann war,
wollte er erobern. Also tat sie, nachdem
sie ihn durch Neckereien gründlich
gereizt hatte, gerade so, als habe sie sich
plötzlich alles anders überlegt.
"Ach, lass mich in Ruh!" sagte sie,
riss sich los und rannte davon. "Ich habe
keine Lust mehr zum Feiern", rief sie
ihm zu. "Ich leg mich schlafen."
Nun war Norbert aber ebenfalls nicht
mehr nüchtern und demzufolge nicht
weniger ungehemmt. Er verfolgte sie
und (nicht ganz zufällig) ergab es sich,
dass beide in einen finsteren Winkel
gerieten. Sie konnte nicht mehr weiter
zurückweichen und spielte ihm vor, sich
vor ihm zu fürchten. Genau genommen,
steigerte sie sich in ihr Spiel so weit
hinein, dass List und Wirklichkeit
ineinander übergingen. Als er sie
packte, wehrte sie sich mit ganzer Kraft.
Andererseits verlieh ihm das sexuelle
Verlangen die nötige Stärke, sie
trotzdem festzuhalten. Er wurde
regelrecht brutal, zerriss ihr das Kleid,
zerrte sie zu Boden. Noch immer stieß
sie ihn zurück. Während er ihr aber
heftig atmend die entblößten Brüste
massierte, konnte sie kaum noch
erwarten, dass er Besitz von ihr ergriff.
Erst am nächsten Morgen merkten
beide, wie sie einander in der Nacht
zugerichtet hatten. Das war ihnen nun
ein wenig peinlich, zumal es sich kaum
verbergen ließ. Norbert hatte unter
anderem eine blutige Schramme quer
über das Gesicht, Franziska ein blaues
Auge. Um den neugierigen Blicken und
dem Gelächter der Dorfjugend zu
entgehen, flüchteten sie in die Wiesen
hinaus. Dort behandelten sie sich erst
einmal gegenseitig ihre Blessuren.
"So sanft kenne ich dich ja gar nicht",
meinte Norbert dabei.
"Du
hast
mir
mit
meiner
Jungfräulichkeit meine Kraft geraubt.
Das ist wie in dieser Geschichte mit der
isländischen Königin."
"Was für eine Königin?"
"Sie war so stark, dass der König, der
sie haben wollte, sich einen Vasallen
mitnahm, um mit ihr fertig zu werden."
"Und das hat sie nicht gemerkt?"
"Der andere war durch Zauber
unsichtbar. Sie ist aber später doch noch
dahinter gekommen."
"Und dann?"
"Weiß ich nicht mehr. Mein Bruder
hat mir das erzählt, als ich noch gar
nicht recht wusste, worum es geht. Es
gab jedenfalls eine Menge Scherereien
und am Schluss waren alle tot."
"Das ist ja gruselig."
"So etwas muss man sich eben vorher
überlegen."
"Ich schwöre, dass ich diese Nacht
allein war!"
"Das kannst du so genau gar nicht
wissen. Du warst viel zu betrunken.
Glaub nicht, dass das so weitergeht. Ich
bin jetzt in gewisser Hinsicht deine Frau
und werde dafür sorgen, dass du ein
anständiges Leben führst."
"Das ist ja großartig! Nur wenige
Stunden nach der Hochzeitsnacht!
Vielleicht hat Christian doch Recht."
"Womit hat Christian vielleicht
Recht?"
"Ach, nichts."
In den folgenden Tagen ließ sich
Franziska von einer gewissen Trägheit
treiben. Insgeheim fürchtete sie sich vor
den Zuständen in der Waldhütte. Den
Vorwand, noch für eine knappe Woche
in Neudeich zu bleiben, lieferte ihr die
kirchliche Trauung für Liemar und
Gudrun am darauf folgenden Sonntag.
Die Leute in den Dörfern maßen dem
christlichen Zeremoniell eigentlich nur
formale Bedeutung bei, wollten aber
andererseits unter keinen Umständen
darauf verzichten. Auch dass alle sich
89
besser noch als bei gewöhnlichen
Kirchgängen kleideten, dass das
gesamte Dorf sich zu einer Prozession
zusammenfand, schließlich dass die
Neuvermählten und deren Verwandte
sich nicht kleinlich gaben bei der
Spende für den Priester, das alles war
eine Selbstverständlichkeit.
Neudeich besaß noch keine eigene
Kirche, so dass die Leute zum
Gottesdienst in einen Nachbarort gehen
mussten. Der Priester dort hatte sich
dem Erzbischof widersetzt und war
trotz anderer Anweisungen an seinem
Posten geblieben. Sein Verständnis für
die Denkweise der Bauernfamilie sorgte
dafür, dass fast jeder ihn mochte. Wenn
von Misshandlungen der Geistlichen im
Stedingerland die Rede war, zuckte er
nur verständnislos mit den Schultern.
90
8.Kapitel
I
E
rzbischof Gerhard stand am
Fenster und blickte starr hinunter
in den Hof seines Palastes, wo
ein Kutscher mit einem Pferd kämpfte,
das sich nicht einspannen lassen wollte.
Man konnte glauben, er langweile sich
und beobachte die eher belanglose
Szene zur Zerstreuung, wären da nicht
seine Finger gewesen, die unablässig
einen Takt auf die Wand klopften.
Tatsächlich ballte er nach einiger Zeit
plötzlich die Hand zur Faust und drehte
sich abrupt um.
"Ich verstehe es nicht. Nein, ich weiß
wirklich nicht, was ihn an einer klaren
Botschaft hindert."
Wieder wandte er sich dem Hof zu,
aber nur kurz.
"Bei Konrads Abreise war ich mir
sicher, dass die Kreuzzugsbulle nur
noch vier, höchstens sechs Wochen
würde auf sich warten lassen. Warum
schickt der Heilige Vater seinen
Großinquisitor hierher, wenn er sich
hinterher von dessen Eindrücken gar
nicht beeinflussen lässt?"
Sein Bruder Hermann saß mit
versteinertem Gesicht am Tisch. Er
wirkte in dieser Haltung ein wenig
schläfrig. Der äußere Eindruck täuschte
jedoch. Genau dieses Gesicht hatte er
immer dann, wenn ein wilder
Entschluss in ihm reifte, einer jener
Entschlüsse, die den Erzbischof
zuweilen in Angst und Schrecken
versetzten. Gerhard war aber zu sehr
mit
seinen
eigenen
Gedanken
beschäftigt, um darauf zu achten.
"Vermutlich hat dieser Hermann von
Salza wieder seine Hände im Spiel. Ich
hasse ihn, obgleich er der Großmeister
eines geistlichen Ritterordens ist. Das
sind ja sonderbare Zustände, wenn
Ketzerfreunde zu solchen Würden
gelangen! Und ich hatte gehofft, dieser
Mensch werde nicht mehr in Gregors
Umgebung geduldet, nun da es mit dem
Kaiser keine Friedensverträge mehr
auszuhandeln gibt."
Wieder wandte er sich kurz dem Hof
zu. Der Kutscher war des Pferdes
endlich Herr geworden. Gerade rollte
der Wagen durch das Tor. Gerhard
erschien das wie ein Fingerzeig Gottes.
Sein Gesicht hellte sich ein wenig auf.
"Der Tag der Gerechtigkeit wird
kommen. Leider verlieren wir wertvolle
Zeit. Energisches Handeln täte not."
Der letzte Satz wirkte auf Hermann
wie ein Stichwort. Trocken sagte er:
"Wenn es niemand sonst tun will, so
werde ich sie züchtigen."
Gerhard blickte ihn überrascht an und
verstand nicht recht. Hermann musste
deutlicher werden.
"Ich würde wagen, die Stedinger auch
ohne die Hilfe des Papstes und der
Grafen anzugreifen."
"Das sagst du, ohne überlegt zu
haben. Sahst du nicht mit eigenen
Augen die Spuren ihres Wütens in der
Schlutterburg?!"
"Ich habe alles bedacht. Meinen Plan
hege ich schon seit langem. Mehr als
zweihundert Panzerreiter könnte ich in
nur zwei Wochen zusammenbringen,
dazu mindestens noch zehnmal soviel
Fußvolk."
Der Erzbischof setzte sich seinem
Bruder gegenüber. Der Vorschlag
erschien ihm verlockend. Dennoch
schob er ihn mit einer Handbewegung
beiseite.
"Nein, nein! Das ist ein Abenteuer
und wir können uns eine Niederlage
nicht leisten. Die Stedinger werden
frecher mit jedem ihrer Siege."
"Sie werden auch frecher durch unser
Zögern, das sie als Schwäche werten",
hielt Hermann dagegen.
"Zweihundert Panzerreiter!" sprach
Gerhard vor sich hin.
Er sah die Streitmacht im Geiste vor
sich, mit ihren Bannern, umringt vom
Fußvolk. Die Versuchung war gar zu
groß für ihn.
"Hast du eine Vorstellung davon, wo
du angreifst und wie du dann vorgehst?"
Über Hermanns versteinertes Gesicht
huschte ein Lächeln. Er ließ sich Zeit
mit der Antwort und kostete die
Spannung des mächtigen Bruders aus.
Selbstverständlich hatte er Vorstellungen von dem Angriff. Seit drei Monaten
dachte er an nichts anderes mehr.
"Wir müssen sie überraschen, indem
wir zu einer Zeit angreifen, in der sie
nicht damit rechnen, und dies an einer
Stelle tun, wo sie uns erst im letzten
Moment sehen."
"Kannst du es nicht genauer sagen?"
drängte der Erzbischof.
"Ich habe mir die Deiche angesehen.
Einer ist so gelegen, dass man ihn bei
Ebbe
trockenen
Fußes
erreicht.
Zugleich ist er so hoch, dass er einen
Reiter sicher verbirgt."
"Aber er wird doch bewacht sein!"
"Die Bauern dieser Gegend sind
sorglos. Wegen der Wesersümpfe gab
es bisher noch nie einen Angriff aus
dieser Richtung, auch nicht durch die
Oldenburger."
"Und wann willst du angreifen? Zu
Beginn des neuen Jahres?"
Wieder ließ Hermann eine längere
Pause entstehen.
"Nein, noch in diesem Jahr - genau
am Heiligen Abend."
Gerhard zuckte zusammen, obgleich
er gewöhnlich selbst nicht zimperlich
war bei der Wahl seiner Mittel. In
einem Anflug von Verlegenheit trat er
wieder ans Fenster. Der Hof gönnte ihm
diesmal keinen Fingerzeig Gottes. Er
war leer.
"Wir dürfen uns nicht versündigen,
indem wir einen Feiertag des Herrn
entweihen", gab er zu bedenken.
"Könnten wir ihn besser ehren als
durch
die
Bekämpfung
der
vermaledeiten
Ketzer?"
beharrte
Hermann.
"Und wenn es so wäre! Ich kann dem
niemals zustimmen. Ich muss politisch
denken. Schon heute höre ich, wie sie
über mich herfallen. Leider habe ich
Gegner unter den Fürsten, die allezeit
auf einen Fehler von mir lauern."
"Wer wagt einen Erzbischof zur
Verantwortung zu ziehen wegen dem
gläubigen Eifer seines Bruders?"
Abermals unterlag Gerhard seinem
glühenden Verlangen nach Rache an
den Bauern, die ihm in der
Schlutterburg seine Waffenknechte
erschlagen hatten. Seine Gedanken
schweiften schon zu den praktischen
Fragen des Unternehmens. Er wollte auf
jeden Fall im Hintergrund bleiben und
keinen Zweifel daran aufkommen
lassen, dass Hermann auf eigene Faust
handelte. Andererseits fürchtete er, die
Grafen zu verärgern, würde er sie nicht
über den Plan unterrichten. Leider
konnte er sich über solche Feinheiten
mit seinem Bruder nicht beraten.
"Ich danke dir für deinen Plan und
billige ihn. Er spricht für deine edle
Gesinnung", sagte er. "Zugleich muss
ich dich bitten, meinen Namen im
Zusammenhang mit dem Unternehmen
niemals zu erwähnen, auch nicht vor
den Rittern."
Hermann verstand, dass er damit
verabschiedet war, und entfernte sich.
Der Erzbischof blieb allein zurück und
begann sein Einverständnis bereits zu
bereuen. Wer ist so dumm, tatsächlich
zu glauben, er habe mit all dem nichts
zu tun? Zumindest den Oldenburgern
92
musste er den Plan mitteilen und zwar
mit allen Einzelheiten. Und auch die
Zweifel an dem Unternehmen selbst
kehrten
zurück.
Er
sah
böse
Verwicklungen auf sich zukommen.
Dass mit diesen Stedingern nicht zu
spaßen war, wusste er spätestens seit
der Belagerung Bremens. Die Bauern
hatten ihm einen Fingerzeig gegeben.
Sie hatten ihm bewiesen, dass er selbst
in seinem Palast nicht wirklich sicher
vor ihnen war. In der folgenden Nacht
wurde er von Alpträumen geschüttelt.
Finstere Gestalten drangen mit blanken
Schwertern in sein Schlafgemach ein.
Er indes lag wie gefesselt in seinem
Bett und vermochte nicht einmal davonzulaufen.
II
S
elten hatte Otto seine Frau in
solcher Erregung gesehen.
Mechthild war rot angelaufen
im Gesicht und musste nach Worten
suchen.
"Ein Überfall am Heiligen Abend!
Das ist ein Verbrechen, gleich was der
Anlass auch sein mag."
"Es ist eines der vielen Verbrechen,
die geschehen, weil wir sie nicht
verhindern können, du nicht und ich
auch nicht."
"Wir könnten die Bauern warnen."
"Sagt das meine kluge Frau, die bei
den Dingen des Alltags immer einen
Schritt weiter denkt als ich alter
Träumer? Soll ich mich jetzt auf ein
Pferd schwingen und nach Stedingen
reiten? Soll ich mich zu deren Anführer
bringen lassen? Natürlich werden sie
mir glauben. Selbstverständlich wird
Christian Verständnis haben dafür. Er
wird es sogar gut heißen, da wir doch
damit einen argen Frevel verhindern."
"Ja, ja! Du hast Recht. Aber wie
kannst du so ruhig bleiben?!"
Otto stutzte. Er wunderte sich
plötzlich über sich selbst. War er schon
so
abgebrüht
gegen
die
Ungerechtigkeiten der Welt, dass er sie
gleichgültig zur Kenntnis nahm? Nein,
das wohl nicht. Es musste an etwas
anderem liegen.
"Auch du wünschst mich manchmal
heldenhafter. Nicht wahr?" sagte er
bedächtig. "Ich fürchte, dass ich dich in
dieser
Beziehung
auch
künftig
enttäuschen werde. Die Sache des
Schwertes ist nicht die meine. Vielleicht
aber ist das ja von Gott so gewollt.
Sprach nicht unser Herr Jesus Christus
in der Nacht, als man ihn verriet, zu
seinem Lieblingsjünger Petrus: 'Stecke
dein Schwert an seinen Ort, denn wer
das Schwert nimmt, der soll durchs
Schwert umkommen'? Weißt du, meine
liebe Mechthild: Ich bin lediglich der
Chronist all dieser Dinge. Ich schreibe
sie auf, damit spätere Generationen ihre
Lehren daraus ziehen."
"Bist du dir sicher, dass man deinen
Berichten dereinst mehr Glauben
schenkt als heute deinen Worten?"
"Ich hoffe es. Was bleibt uns denn
außer der Hoffnung?"
Mechthild hob resignierend die
Arme. Ja, diesmal hatte sie tatsächlich
mit ihrem Mann die Rollen getauscht.
Diesmal war sie der Träumer gewesen.
Niemand aus der Familie des Grafen
von Oldenburg konnte verhindern, was
dieser Hermann plante. Weil sie nicht
mehr darüber reden wollte, fragte sie
unvermittelt:
"Womit
beschäftigst
du
dich
eigentlich gerade bei deiner Chronik?"
"Ach, der fünfte Kreuzzug ist es
immer noch." Er lachte in sich hinein,
glücklich wieder bei einem Thema zu
sein, das ihn nicht als Schwächling
93
erscheinen ließ. "In gewisser Hinsicht
trifft auf seinen Verlauf der Ausspruch
unseres Herrn ebenfalls zu. Als
Friedrich wieder gesund war, brach er
mit einem verhältnismäßig kleinen Heer
nach Palästina auf. Seine Streitmacht
hätte niemals ausgereicht, um Jerusalem
im Sturm zu nehmen. Aber das plante er
auch gar nicht." Er hielt inne. "Oh, ich
langweile dich schon wieder mit
meinem Geschwätz."
"Ich langweile mich nie, wenn du
etwas erzählst."
"Der Kaiser brach also mit seiner
Flotte auf. Genau am siebenten Juli vor
zwei Jahren erreichte er Akkon. Dort
merkte er, dass er Geduld brauchte, und
kümmerte sich erst einmal um die
Zustände auf der Insel Zypern. Die ist
zwar in christlicher Hand, doch wird
das nicht mehr lange so bleiben, wenn
die Barone weiterhin ein so zügelloses
Leben führen. Sie haben wohl
vergessen, welche Verantwortung sie
tragen auf jenem Vorposten. Ein
ordnungsliebender Herrscher wie Friedrich konnte das natürlich nicht mit
ansehen. In Sizilien ist das Leben auf so
wunderbare Art und Weise geregelt, wie
wir es uns hier in den deutschen Landen
gar nicht vorstellen können. Kaufleute
haben mir viel davon erzählt. Aber das
gehört nicht hierher. Friedrich versuchte
also, seine vorbildliche Ordnung auch in
Zypern einzuführen."
Hier unterbrach ihn Mechthild.
"Warum denkst du, dass es ihm nur
um das Wohl der Christenheit ging?
Vielleicht wollte er die Insel einfach nur
für sich erobern."
Otto kratzte sich hinterm Ohr.
"Gewiss. Das ist möglich. Übrigens
hatte er nicht viel Erfolg dabei. Die
Barone waren sich, vielleicht zum
ersten Mal in ihrem Leben, völlig einig
und stellten sich entschlossen gegen ihn.
Auch später machten sie ihm noch viel
zu schaffen."
"Er kehrte also nach Palästina
zurück?"
"Ja. Dort unternahm er gegen Ende
des Jahres etwas, was nun wirklich noch
niemand vor ihm getan hatte und
weshalb ich ihn bewundere. Er nahm
Verhandlungen mit Sultan al-Kamil
auf."
"Tatsächlich? Sagt man nicht, die
Araber seien hinterhältig? Fürchtete der
Kaiser nicht, in eine Falle gelockt zu
werden?"
"Ich glaube, davor brauchte er sich
nicht zu fürchten. al-Kamil war für ihn
fast so etwas wie ein Freund. Er kannte
seine Sprache und hatte zuvor schon
häufig seine Gesandten am Hof
empfangen.
Geschenke
waren
ausgetauscht worden, zum Teil kostbare
und wirklich erstaunliche Dinge.
Friedrich ist ein Freund mechanischer
Geräte und die Araber sind Meister auf
diesem Gebiet."
"Dass er diesen Sultan gut kannte,
war bei den Verhandlungen sicherlich
ein Vorteil", sagte Mechthild.
"Ja, ganz bestimmt. Er wusste, was er
fordern
konnte
und
welche
Kompromisse er eingehen musste. Am
28-ten Februar im vorigen Jahr war es
dann soweit - die christlichen Pilger
durften nach langer Zeit die Stadt
Jerusalem wieder ungehindert betreten.
Nur einige wenige Stätten, welche den
Muselmanen als heilig galten, blieben
davon ausgenommen. Auch über den
Weg in die Stadt hatten die beiden sich
geeinigt. Ein schmaler Streifen sollte als
Verbindung zum christlichen Küstenstreifen dienen."
"Eine schöne Geschichte!" rief
Mechthild begeistert. "Ich hörte zwar
von der Befreiung der Heiligen Stadt,
nichts aber von der Art, wie sie
zustande gekommen war."
"Auch mir gefällt die Geschichte.
Leider ist es den meisten Menschen
lieber, wenn Blut fließt."
94
"Das glaube ich nicht."
"Oh
doch!
Sie
heucheln
Friedfertigkeit, aber sie wollen Gewalt.
Der Vertrag zwischen Friedrich und elKamil wurde in beiden Lagern als
schändlich gebrandmarkt. Die Araber
sagten: 'Warum hast du ihn nicht
zusammengehauen, da er doch nur über
ein kleines Heer verfügte?!' Die
Christen fanden es verdächtig, dass ihr
Kaiser sich als Muselmanenfreund entpuppte.
Und
selbstverständlich
mäkelten alle am Vertrag selbst herum.
Friedrichs Hoffnung, dass der Papst den
Bann von ihm nimmt, nun, da er sein
Versprechen voll und ganz erfüllt hatte,
wurde bitter enttäuscht. Du weißt, dass
der Heilige Vater längst schon daran
dachte, die Abwesenheit seines Widersachers
zum
Eroberungszug
auszunutzen."
"So hat Friedrich der Kreuzzug also
keinerlei Gewinn gebracht?"
"Er scherte sich zunächst nicht um
den Papst und dessen widersinnigen
Anordnungen. Im Frühjahr scharte er
zahlreiche Pilger um sich und zog mit
ihnen im vollen Schmuck seiner
Insignien symbolisch in die Heilige
Stadt ein. Auch in der Grabeskirche
zeigte er sich. Leider musste er auf die
Hilfe der meisten Priester verzichten.
Der Patriarch von Jerusalem hielt zum
Papst."
In Gedanken versunken, überflog
Otto
noch
einmal
seine
Aufzeichnungen.
"Ich glaube, Friedrich war am Ende
tatsächlich enttäuscht über den Ausgang
des Unternehmens. Zwar nutzen immer
mehr Pilger seinen Erfolg aus, doch
denkt dabei kaum jemand an ihn. Der
Papst erlöste ihn nur unter großem
Druck vom Bann. Die Verhältnisse auf
Zypern sind wieder wie zuvor, seit
Johann von Brienne die Stadthalter
vertrieben hat. Ja, die Geschichte ist, als
Ganzes betrachtet, eben doch nicht so
schön."
Beklommen spürten beide, dass ihre
Gedanken an den Ausgangspunkt
zurückgekehrt waren. Hatte Gott die
Welt
wirklich
so
schändlich
eingerichtet, so sehr bestimmt von
Gewalt und Verrat, dass hochherziges
und vernünftiges Verhalten darin
absonderlich wirkt? Ohne ein weiteres
Wort zog Mechthild sich zurück. Otto
hörte ihre Schritte auf der Wendeltreppe
leiser werden und stürzte sich wieder in
die Arbeit seiner Chronik.
III
ber Nacht hatte es geschneit. Die
Äcker und Wiesen schlummerten
unter einer weißen Decke, die
zwar noch nicht dick war, aber
immerhin schon vollständig geschlossen. Die sanften Wellen wurden
erst am Deich und am Waldrand unterbrochen und erinnerten an das Meer an
einem klaren, windstillen Abend. Die
Bauern von Neudeich, die sich
absichtlich keine besondere Arbeit
vorgenommen hatten, ließen versonnen
den Blick schweifen. Die Zeit stand
still.
Die Kinder genossen den Tag in
anderer Weise. Jule und Hänschen
lieferten sich auf dem Anger eine
Schneeballschlacht, an der sich bald
auch noch andere Kinder beteiligten.
Das gab einen Mordsspektakel, der
schließlich einem alten Mann gar zu
sehr auf die Nerven ging. Drohend
schwang er den Knüppel, auf den er
sich sonst stützte. Eine Frau aber sprang
den Kindern bei:
Ü
95
"Was schimpfst du so?! Warst du
nicht selbst einmal jung? Und fühlst du
nicht, dass heute ein besonderer Tag
ist?"
Mit einer weiten Bewegung wies sie
auf das Dorf, das wie verzaubert war.
Die Linde hatte hundert weiße Pfötchen.
Die Häuser trugen Mützen von
sonderbarer Form. An einigen Stellen
wuchsen kristallklare Eiszapfen. Der
Alte war zwar keineswegs überzeugt,
doch wusste er keine gute Widerrede.
Wütend stapfte er in sein Haus zurück,
während die Kinder jubelten und lauter
kreischten als zuvor. Übrigens hätte sie
wohl niemand auf Dauern bändigen
können. Sie waren viel zu aufgeregt wegen der schönen Dinge, die am Abend
auf sie warteten. Die Erwachsenen
trieben schon seit einiger Zeit geheimnisvolle Vorbereitungen. Hänschen
brüstete sich, Genaueres zu wissen.
Seine kleine Schwester Jule trieb ihn
aber mit ihren neugierigen Fragen
ziemlich schnell in die Enge und schloss
triumphierend:
"Du weißt genau so wenig wie ich.
Gib nicht so an!"
Bauer Jörg schlenderte mit Liemar,
seinem ehemaligen Knecht, der nun sein
Schwiegersohn war, müßig die Dorfstraße entlang in Richtung Ettertor.
Ihnen knurrte ein wenig der Magen. Um
beim Festmahl am Abend ordentlich
zulangen zu können, aß man an diesem
Tag nichts zu Mittag. Aber das nahmen
die beiden gern in Kauf. Sie waren
einfach glücklich, obwohl man ihnen
das kaum ansah. Die Dorfbewohner
pflegten von einem gewissen Alter an
ihren Gefühlen nicht mehr vorbehaltlos
zu vertrauen. Im Erfolg ahnten sie das
Unheil, in der Niederlage künftigen
Sieg. Das Auf und Ab des Schicksals
war Teil ihres Wesens geworden.
Daran lag es, dass sie gelassen
blieben, als von der Kirche des
Nachbardorfes plötzlich Gefahrläuten
zu ihnen herüber wehte. Sie sahen sich
an und rannten zum nur noch wenige
Meter entfernten Tor, um den Grund zu
erkunden. Dabei vermuteten sie, dass
ein Haus in Brand geraten sei. Die
vielen Kerzen, welche die Leute am
Heiligen Abend zu Ehren des
Christkindleins entzündeten, führten
leider immer wieder zu großem
Unglück in dieser sonst so herrlichen
Zeit. Sie sahen jedoch keinen Rauch
aufsteigen, so sehr sie ihre Augen auch
anstrengte. Die tatsächliche Gefahr
bemerkten sie erst, als jemand sie
anstieß und aufgeregt zum Deich hin
zeigte. Dort flutete soeben auf breiter
Front ein Heer aus etlichen gepanzerten
Reitern und zahlreichem Fußvolk heran.
Die schwer bepackten Pferde wurden
durch den Schnee zwar behindert,
blieben jedoch nicht stecken. Die Schar,
die sich vor dem weißen Hintergrund
schwarz abhob und dadurch besonders
bedrohlich wirkte, näherte sich langsam
aber unerbittlich.
Der erste Schrecken dauerte nur kurz.
Den Bauern war der Befehl der
Universitas, in jedem Dorf ein
Waffenlager anzulegen, nun sehr
nützlich. Alle Männer strömten zum
Anger, wo ein Schuppen als Magazin
diente. Selbst Halbwüchsige wollten
kämpfen. In kurzer Zeit verlor Neudeich
seine weihnachtliche Lieblichkeit und
verwandelte sich in eine grimmige
Festung.
Nachdem das Heer die freie Fläche
überwunden hatte, teilte es sich, um die
Dörfer
anzugreifen.
Das
war
ungewöhnlich. Die Ritter hätten leicht
an ihnen vorbei tiefer ins Stedingerland
vorstoßen können, anstatt sich schon an
dessen Rand so zu verzetteln. Vielleicht
unterschätzte ihr Hauptmann den
Widerstand, auf den seine Leute nun
stießen. Vielleicht glaubte er, die
Familien
mitten
beim
Feiern
niedermetzeln zu können.
96
Die Bauern waren in ihrer Erbitterung
über die Hinterhältigkeit der Feinde,
den Frieden des Heiligen Abend gestört
zu haben, zu jeder Heldentat
entschlossen. Das schlecht gerüstete
und anfangs recht unbesorgte Fußvolk
wurde von einem Hagel aus Steinen und
Pfeilen dezimiert. Auch einer der Ritter
fiel tot zu Boden. Ein Armbrustbolzen
war zwischen den Stäben des Visiers
hindurch in seinen Kopf eingedrungen.
Der Etter, hinter dem die Verteidiger
auf einfachen Gerüsten und Dächern
kämpften, wirkte wie eine Mauer.
Mehrere Versuche, ihn in Brand zu
stecken, schlugen fehl. Er war durch
den Schnee viel zu nass, um Feuer zu
fangen.
Liemar
erwies
sich
als
hervorragender Armbrustschütze. Das
lag an seiner Geduld. Kaltblütig wartete
er vor jedem Schuss auf den richtigen
Zeitpunkt. Erst, wenn sich jemand
innerhalb seines Bereiches unvorsichtig
verhielt, drückte er ab. Manchmal
kündigte er seine Taten sogar an. "Seht
ihr den mit dem grünen Wams?" rief er.
Und während sich alle Köpfe dorthin
wandten, durchbohrte ein Bolzen die
Brust des Mannes.
Doch die Angreifer ließen trotz ihrer
Verluste von dem Dorf nicht ab. Sie
wollten es nun erst recht einnehmen.
Verstärkung traf ein und offenbar
wechselte auch der Befehlshaber. Ein
Ritter, der sich durch seine fein
gearbeitete Rüstung und einen darüber
geworfenen, kurzen Umhang von den
anderen unterschied, hatte neuerdings
das Sagen. Bald munkelte man im Dorf,
dass dies der Hauptmann des ganzen
Heeres sei. Sogar ein Name ging um Hermann, der leibliche Bruder des
Erzbischofs.
Die Kinder waren von dem Angriff
mitten im Spiel überrascht worden und
verstanden nicht, was da plötzlich um
sie herum vor sich ging. Jule und
Hänschen gerieten auf dem Anger
zwischen die Männer, die sich aus dem
Magazin Schwerter und Spieße holten.
Niemand achtete auf sie, niemand nahm
auf
sie
Rücksicht,
niemand
beantwortete ihnen ihre Fragen. Wenn
sie jemandem im Weg standen, wurden
sie barsch angefahren. Sie fühlten, dass
sie überall störten. Um herauszubekommen, was diese merkwürdige
Wandlung hervorgerufen hatte, liefen
sie auf das Ettertor zu. Dort war der
Lärm am stärksten.
Je näher sie kamen, desto größer
wurde ihre Angst. Sie fassten sich bei
den Händen. Das half ein bisschen. Sie
wollten auch nicht umkehren, weil die
Ungewissheit ihnen zusetzte. Plötzlich
aber sahen sie etwas, das sie erstarren
ließ. Das riesige Tor begann zu
schwanken. Dann fiel es um, wie von
der Pranke eines Riesen aus der
Verankerung
gerissen.
Zugleich
drangen gerüstete Reiter ein. Sie
sprengten die Dorfstraße entlang und
erschlugen mit ihren Waffen jeden, der
sich nicht mehr in Sicherheit bringen
konnte.
Als Hänschen sich gefasst hatte,
rannte er davon und zog Jule hinter sich
her. Er kam jedoch nicht weit. Die
Zäune der einzelnen Gehöfte waren zu
hoch für ein Kind. Ein Tor stand
nirgends offen. So holten die Reiter die
beiden blitzschnell ein. Todesmutig
drückte Hänschen nun seine kleine
Schwester in eine Nische und stellte
sich schützend vor sie. Kaum einen
Schritt entfernt sah er einen Mann in
einer besonders hellen Rüstung. Ein
Schwert blitzte, doch es traf ihn nicht.
Jedenfalls glaubte er das, weil er nichts
spürte. Er blickte dem Reiter nach und
wunderte sich über dessen Mantel, der
völlig überflüssig zu sein schien, weil er
von den Schultern hinterher flatterte.
Dann erst fiel ihm auf, dass sein Rock
vorn ganz feucht geworden war, und
97
bemerkte die Wunde an seinem Hals. In
heller Panik rannte er auf sein Haus zu,
brach aber schon nach wenigen
Schritten zusammen. Jule lief ihm
schreiend nach und warf sich über ihn.
Dabei besudelte sie sich von Kopf bis
Fuß mit Blut. Als zwei Frauen sie in ein
Gehöft hinein zogen, glaubten sie
zunächst, sie sei ebenfalls tödlich
verletzt worden. Tatsächlich fehlte ihr
körperlich nichts. Sie wurde jedoch
ganz steif und konnte nicht mehr
sprechen.
Das schreckliche Geschehen auf der
Dorfstraße blieb nicht verborgen. Auf
geheimnisvolle Weise gelangte die
Kunde davon bis zu den Männern, die
an verschiedenen Stellen noch immer
kämpften. Aus jedem zweiten Haus
flogen den Angreifern Pfeile und
Armbrustbolzen entgegen. Hinter jeder
Biegung lauerte ein Hinterhalt auf sie.
Diese ständige Bedrohung hinderte sie
sogar daran, Feuer zu legen. Sie fanden
einfach keine Zeit dazu.
Natürlich hätten die Bauern sich
gegen die Übermacht nicht ewig
behaupten können. Irgendwann wäre
der letzte der mutigen Verteidiger
gefallen. Die Ritter hätten schließlich
doch noch ein Blutbad angerichtet. Die
Schlacht
nahm
jedoch
einen
unvorhersehbaren Verlauf. Jörg und
Liemar verteidigten verbissen ihren
Hof. Sie fochten Seite an Seite und
gaben sich dabei gegenseitig Deckung.
Verzweifelt spürten sie, wie ihre Kräfte
nachließen. Beide waren auch schon
verwundet. Als sie sich aber innerlich
schon mit dem nahen Tod abzufinden
begannen, ließ der Druck plötzlich
nach. Aus unbekannter Ursache gerieten
die Angreifer in Unruhe. Immer mehr
von ihnen zogen sich, anscheinend ohne
Not, aus dem Dorf wieder zurück.
Wenig später verbreitete sich die
glückliche Neuigkeit. Ein Teil des
stehenden Heeres der Universitas hatte
zufällig in der Nähe gelagert und war
herbeigeeilt. Hermanns Streitmacht fand
keine Gelegenheit, sich auf die völlig
neue
Lage
einzustellen.
Fünf
Abteilungen kämpften ohne Verbindung
zueinander in verschiedenen Dörfern.
Die Stedinger konnten sie nacheinander
mit Übermacht angreifen. Ehe den
Hauptmann eine erste Meldung
erreichte, war eine davon schon niedergehauen. Eine zweite hatte die Flucht
ergriffen, ohne einen Befehl abzuwarten.
In
Neudeich
versteifte
sich
unterdessen der Widerstand der
Einwohner. Mit wilder Entschlossenheit
traten die Männer aus ihren Verstecken
hervor und warfen sich den Feinden
erneut entgegen. Schon bald war das
Dorf von ihnen gesäubert. Die Schlacht
tobte nun auf der Wiese. Dort hatten
sich die Reste der verbliebenen drei
Abteilungen um Hermann geschart. Die
Ritter und ihr Fußvolk kämpften nur
noch ums bloße Überleben. Der
Rückweg zum Deich hin war ihnen
inzwischen abgeschnitten und auf
Gnade konnten sie kaum rechnen.
Schon nach kurzer Zeit gerieten die
mit Mühe aufgebauten Reihen wieder in
Unordnung. Diese Leute waren nicht
hierher gekommen, um zu sterben. Nur
wenige von ihnen glaubten ernsthaft
daran, dass Gottes Segen über dem
Unternehmen läge. Hermann hatte nicht
allzu wählerisch sein können bei der
Zusammenstellung des Heeres. So galt
schließlich die berüchtigte Parole "Rette
sich, wer kann". Sie wirkte umso mehr,
als sich der Hauptmann in dieser
Hinsicht keineswegs besonders vorbildlich verhielt. Er war es, der einen
der ersten schnöden Fluchtversuche
einleitete. Eine Verwundung vortäuschend, mogelte er sich durch die
Reihen der Stedinger und gab dann
seinem Pferd die Sporen.
98
Seine auffällige Rüstung, die er aus
Eitelkeit angelegt hatte, ließ ihn aber
nicht lange unbemerkt sein. Jörg stieß
Liemar an und beide nahmen, ohne ein
Wort zu wechseln, die Verfolgung auf.
Ihre Ackerpferde waren für einen
solchen Galopp nicht gut geeignet.
Andererseits hatte das edle Streitross
Hermanns viel mehr zu tragen. Auch
die Ortskenntnis spielte eine Rolle.
Während die beiden Bauern den Wegen
folgten, die sie selbst unter der
Schneedecke noch ahnten, geriet der
flüchtende Hauptmann des Ritterheeres
immer wieder in Löcher und
Verwehungen hinein.
Am Fuße des Deiches kam es zur
Begegnung. Hermann sprang vom
Pferd, um sich zu Fuß zu retten. Die
Böschung erwies sich jedoch als zu
steil. Er rutschte ab, verlor das
Gleichgewicht und rollte seinen
ebenfalls abgestiegenen Verfolgern
genau vor die Füße. Weil er, fernab von
seinem Heer, keinen anderen Ausweg
mehr sah, verlegte er sich aufs Verhandeln.
"Ich bin der Bruder des Erzbischofs
von Bremen", sagte er.
"Um so schlimmer!" entgegnete der
Bauer Jörg kalt.
"Ich will damit sagen, dass meine
Verwandten mich freikaufen werden.
Nehmt mich gefangen und fordert ein
Lösegeld! Auf diese Weise nutze ich
euch am meisten."
"Wir wollen dein Geld nicht", wies
Liemar das Ansinnen zurück. "Das Blut
eines kleinen Jungen schreit nach
Rache."
Und ohne ihn noch einmal zu Wort
kommen zu lassen, stieß er ihm sein
Schwert genau in die Lücke zwischen
Helm und Brustpanzer.
Die kleine Jule war noch immer
völlig verstört. Sie redete nicht und
niemand wusste, ob sie verstand, was
man zu ihr sagte. Zwar hatte sich ihre
Verkrampfung inzwischen gelegt, doch
dafür wirkte sie nun schlaff und
willenlos wie eine Puppe. Ihre Augen
waren immerfort starr geradeaus
gerichtet.
"Sie hat den Verstand verloren", sagte
Luise, die sich gemeinsam mit Gudrun
um sie kümmerte.
"Wir müssen ihr Zeit lassen.
Vielleicht erholt sie sich wieder."
"Vielleicht! Ich werde sie ins Bett
bringen."
Beide glaubten nicht so recht daran.
Sie wurden aber von ihren traurigen
Gedanken abgelenkt, weil Jörg und
Liemar eintraten. Die Männer bluteten
zwar, doch erwiesen sich die Verletzungen als ungefährlich. Außerdem
spürten sie die Schmerzen kaum. Noch
immer beherrschte sie die Verbitterung
über den feigen Überfall am Heiligen
Abend. Selbst das Blut der Feinde hatte
sie nicht wirklich beruhigen können.
Nur die Hälfte der 220 Panzerreiter war
nach der Schlacht noch am Leben. Vom
Fußvolk hatte sich nicht einmal jeder
Vierte retten können.
"Das war trotz allem ein bitterer
Sieg", sprach Jörg aus, was alle dachten.
Die
Bauern
waren
keine
Waffenknechte. Sie kämpften nicht für
Sold und Beute.
Am nächsten Tag wurden die Toten
begraben. Die Bauern taten es ohne
Schuldgefühl.
Sie
warfen
die
erschlagenen Feinde einfach in eine
große Grube, ohne geistlichen Beistand.
So war das üblich bei Mördern und
anderen Schwerverbrechern. Auch
Hermann, dem Bruder des Erzbischofs
erging es so. Er hatte geglaubt, der
Feldzug werde ihm den Ruhm bringen,
ihn womöglich für kurze Zeit aus dem
Schatten des übermächtigen Gerhard
heraustreten lassen. In Wahrheit endete
er ruhmlos, wie es schlimmer hätte
nicht kommen können, auf einer Wiese
erschlagen wie ein tollwütiger Hund.
99
IV
N
orbert saß zusammen mit zwei
Kameraden aus Bremen an
einem kleinen Feuer. Der
Abend neigte sich zur Nacht. Die
meisten Bewohner der Waldhütte hatten
sich schon zum Schlafen niedergelegt.
In diesen Tagen herrschte eine niedergedrückte Stimmung. Weihnachten ist
ein Familienfest. Besonders die jungen
Männer, die vor den Häschern des
Erzbischofs geflüchtet waren, erinnerten
sich jäh an das, was sie hatten
zurücklassen müssen. Sie sahen ihre
Eltern und Geschwister vor sich und
zergrübelten sich die Köpfe, was wohl
aus ihnen allen geworden sein mochte.
Die
wenigsten
hatten
in
den
zurückliegenden
Monaten
eine
halbwegs verlässliche Nachricht aus der
Stadt erhalten.
Seit fast zwei Wochen nun schon
hing jeder so seinen eigenen Gedanken
nach. Ruperts Räuber, die schon einige
Weihnachtsfeste im Wald erlebt hatten,
wollten sich nicht anstecken lassen und
stellten zunächst lärmende Fröhlichkeit
zur Schau. Doch dann verging auch
ihnen nach und nach die gute Laune.
Mancher dachte in dieser Zeit wohl
insgeheim daran, die Schar zu verlassen
und heimzukehren, ganz gleich, welches
Schicksal auf ihn wartete. Auch die drei
am Feuer waren nicht eben guter Dinge.
Schweigend stocherten sie in der Glut
und verfolgten wie im Bann das Spiel
der Flammen. Als plötzlich jemand an
sie herantrat, schreckten sie hoch wie
aus tiefem Schlaf.
"Was gibt es?"
"Da ist ein Mann ... ein Mönch ... er
will unseren Hauptmann sprechen."
"Ein Mönch?" fragte Norbert
verwundert.
Einer seiner Kameraden raffte sich zu
einem Scherz auf:
"Nun ja, wenn er bei uns mitmachen
will, soll er uns willkommen sein.
Immerhin hätten wir dann jemanden,
der uns die Beichte abnehmen kann."
Alle lachten, wenn auch nicht
wirklich fröhlich. Norbert fragte sich,
was dieser Mönch im Schilde führte und
wie er zu ihnen gefunden hatte. War das
Versteck inzwischen bekannt? Sollte
der Fremde es auskundschaften?
Der Ankömmling erwies sich als
ungewöhnlich großer, breitschultriger
Mann. Auch sein schwerer Schritt
entsprach nicht den Erwartungen von
einem hauptsächlich mit Andachten
beschäftigten
Menschen.
Norberts
Misstrauen wuchs, wurde aber dann
schlagartig zerstreut. Der angebliche
Mönch schlug seine Kapuze zurück - er
war in Wirklichkeit Tammo von
Huntorf, der Stedingerführer.
"Mit jedem hätte ich gerechnet, nur
nicht mit dir."
"Dabei gehöre ich zu den wenigen
Menschen, denen ihr den Weg zu euch
beschrieben habt."
Beide umarmten sich.
"Es gibt sicher einen wichtigen Grund
für deinen Besuch. Der Weg hierher ist
beschwerlich und nicht ohne Gefahr."
Tammo setzte sich ans Feuer und
berichtete zunächst mit wenigen Sätzen
von Hermanns Überfall.
"Wir befürchten, dass der Erzbischof
den Tod seines Bruders nicht tatenlos
hinnehmen wird", schloss er. "Ich werde
in diesen Tagen mit allen unseren
Verbündeten reden."
"Was genau erwartet ihr von uns?"
erkundigte sich Norbert.
"Ihr könnt uns nicht helfen, wenn ihr
so weit entfernt von unseren Dörfern
wohnt. Von jenem Überfall am Heiligen
Abend erfahrt ihr erst heute, fünf Tage
nachdem wir ihn abgewehrt haben."
"Wir sollen zu euch ins Stedingerland
ziehen? Wovon leben wir dort? Jetzt
ernähren wir uns durch ..."
"Wenn ihr zu unserem Heer gehört,
geben wir euch alles, was ihr braucht.
Auch etliche unserer Bauern können
nicht mehr auf dem Feld oder in der
Werkstatt arbeiten. So ist das nun
einmal in Kriegszeiten."
Norbert überlegte laut:
"Wir sollen ein Teil eures Heeres
werden. Das heißt, wir unterstehen dann
dem Befehl eines eurer Hauptleute. Wir
müssten uns nach den in eurem Heer
geltenden Gesetzen richten."
"Ja, das ist alles richtig."
Eine längere Pause entstand. Tammo
hatte mit Vorbedacht nichts beschönigt.
Er wusste, dass nur treue Verbündete
etwas
taugen.
Angesichts
der
Bedrohung durch die immer stärker
werdende Allianz des Erzbischofs war
Klarheit vonnöten.
"Ich kann leider nicht sagen, ob die
Mehrheit von uns das hinnehmen
würde. Gegen den Willen der ..."
"Ich erwarte weder heute noch
morgen eine Antwort. Jeder von euch
soll genau wissen, worauf er sich
einlässt. Ich bitte dich, mit deinen
Leuten ebenso offen zu sein, wie ich es
mit dir war."
Norbert war erleichtert, nicht nach
seiner persönlichen Meinung gefragt
worden zu sein. Er hätte dann
eingestehen müssen, sich eine Mehrheit
für Tammos Forderung kaum vorstellen
zu können. Ruperts Räuber würden sich
auf jeden Fall dagegen stemmen und
von den Bürgerlichen liebten auch die
meisten das freie Leben. So weit ging
die Sympathie für die Stedinger wohl
nicht. Eine Frage Tammos indes riss ihn
aus seinen Gedanken.
"Bist du jetzt der Hauptmann?"
Er verstand nicht, worauf das abzielte
und antwortete vorsichtig:
"Eine so schwerwiegende Sache wie
deine Bitte muss nach unseren Gesetzen
erst beraten werden. Ich kann dir also
jetzt nur versprechen, dass ich in der
Versammlung für deine Vorschläge
eintrete."
"Daran zweifle ich nicht. Ich will nur
wissen, ob ..."
Norbert begriff endlich und musste
unwillkürlich lachen.
"Ach so! Selbstverständlich ist noch
immer Franziska der Hauptmann.
Allerdings ..." Er nestelte verlegen an
seinem Wams und suchte nach den
richtigen Worten. "Allerdings ging es
ihr vorhin nicht gut."
"Sie ist krank?"
"Nein, das auch wieder nicht. ... Nun,
du hast ein Recht darauf, mit ihr zu
reden. Ich schicke jemanden zu ihr.
Vielleicht geht es ihr schon wieder
besser."
Etwas verwundert blickte Tammo
dem Boten nach. Norberts Gebaren
ergaben für ihn keinen Sinn.
"Sie wartet in der Hütte auf euch. Es
ist alles in bester Ordnung."
Tatsächlich
traf
Tammo
die
selbstbewusste Ritterstochter genau so
an, wie er sie in Erinnerung behalten
hatte, außer dass sie statt des ledernen
Wamses ein Kleid trug, das sie
weiblicher erscheinen ließ. Dennoch
stimmte etwas nicht. Er merkte es am
eigenartigen Verhalten der anderen.
Jeder im Raum sah ihn an, wartete auf
eine Reaktion von ihm. Er kam aber
nicht auf die Lösung, so dass ihm
Norbert schließlich eine Erklärung
geben musste.
"Wir denken, das sie ein Kind
erwartet. Trotzdem bleibt sie unser
Hauptmann. Wir haben sie noch einmal
gewählt - einstimmig."
101
"Nun, dann bleibt mir wohl nur, zu
gratulieren", sagte Tammo etwas
linkisch.
Hatte ihm schon die Tatsache, dass
überhaupt
ein
junges
Mädchen
Hauptmann war, einiges Unbehagen
bereitet, war er nun vollkommen
verwirrt. Er ahnte, dass Norbert und
Franziska nicht einmal in geregelten
Verhältnissen lebten. Wer hätte sie hier
im Wald trauen und unter Gottes Segen
stellen sollen? Immerhin war es nicht
seine Aufgabe, über Moral und Sitte zu
richten. Die Stedinger brauchten
Verbündete
und
dafür
mussten
zweifellos
noch
ganz
andere
Kompromisse eingegangen werden.
Am nächsten Morgen verabschiedete
sich Tammo schon zeitig. Danach
konnte sich Norbert mit Franziska
beraten.
"Sollten wir es tun? Ich bin mir da
nicht so sicher."
"Es hat sich nichts geändert. Uns
bleibt keine Wahl."
"Und die anderen?"
"Wir werden sie überzeugen müssen.
Warum begreift ihr das nicht? Die
Mühlsteine, die da aneinander reiben,
werden von Woche zu Woche größer.
Entweder wir schlucken die Kröte oder
wir enden so."
Sie zerbröselte ein morsches Stück
Holz zwischen den Händen zu Staub.
"Und unser Kind?"
"Was soll sein damit? Es kommt auf
die Welt und wir werden es lieben. Hier
oder im Land der Stedinger. Ein Dach
über dem Kopf finden wir auch dort."
102
9.Kapitel
I
E
rzbischof Gerhard hielt sich
(nicht ohne einen Anflug von
Eitelkeit)
seine
gute
gesundheitliche Verfassung zugute. Er
konnte einen vollen Tag lang im Sattel
sitzen und dennoch am Abend einen
Gast zum Gespräch empfangen. Bei
heiklen Verhandlungen nutzte er das
gelegentlich aus. Seine Gegner gaben
manchmal ihren Widerstand allein
deshalb auf, weil sie sich nach etlichen
Stunden einfach nicht mehr auf ihren
Stühlen zu halten vermochten. Doch an
den vergangenen Tagen hatte Gott ihn
belehrt, dass auch seine Kräfte begrenzt
waren.
Bis Köln war die Reise noch ohne
besondere Schwierigkeiten verlaufen.
Dort hatte sich Erzbischof Heinrich I
von Müllenark dem Zug angeschlossen.
Der bestand von nun an aus sieben
großen Wagen. Die beiden Fürsten
fuhren in einer geräumigen Kutsche,
umschwärmt von prächtig gekleideten
Reitern, denen man kaum noch ansah,
dass sie eigentlich als Waffenknechte
vor Überfällen schützen sollten. Aber
zwischen Boppart und Bingen, gerade
in einem Abschnitt also, wo steile
Felsen
das
Rheintal
einengen,
verschlechterte sich das Wetter. Ein
steifer Wind peitschte Eiskristalle vor
sich her. Schneewehen bildeten
innerhalb
weniger
Stunden
unüberwindliche Barrieren. Da die Kälte
in der Kutsche trotz dicker Decken
unerträglich war, entschlossen sich die
beiden
Erzbischöfe,
auf
Pferde
umzusteigen. Zwischen Worms und
Freiburg kam der Zug wieder besser
voran. Nun jedoch galt es, die verloren
gegangene Zeit aufzuholen, denn
niemand wusste, was in den Alpen noch
geschehen würde. Tatsächlich schlug
das Wetter hinter Innsbruck abermals
um, so dass an eine Passage des
Brennerpasses nicht zu denken war. In
einem
wahrhaft
infernalischen
Schneesturm flüchteten die Reisenden
in ein kleines Benediktinerkloster, wo
sie völlig erschöpft zwölf Stunden
hintereinander ruhten.
Auch am nächsten Tag mussten die
Fürsten mit ihrem Gefolge noch in der
notdürftigen, für die vielen Menschen
ziemlich
unbequemen
Unterkunft
ausharren. Gerhard versuchte, die Zeit
zu nutzen, sich mit dem Erzbischof von
Köln zu verständigen. Heinrich von
Müllenark war nach der Ermordung des
legendären Engelbert überraschend an
die Spitze eines der bedeutendsten
Machtzentren des Reiches gelangt und
hatte seither manche Schwierigkeit zu
bewältigen gehabt.
Im Jahre 1226 fing er den Mörder
seines Vorgängers, einen Ritter namens
Friedrich von Isenberg, und stellte ihn
vor Gericht. Bei den Verhandlungen
führte aus formalen Gründen der
jugendliche König Heinrich, des
Kaisers Sohn, den Vorsitz. Da jener
Ritter nicht aus eigenem Antrieb
gehandelt hatte, kam es zu schweren
Tumulten. Beinahe hastig wurde das
Todesurteil ausgesprochen und vor den
Toren der Stadt vollstreckt.
In der durchaus vernünftigen Absicht,
die Politik Engelberts fortzusetzen,
betrieb der neue Erzbischof dessen
Heiligsprechung und schuf sich Feinde.
Zeitweilig drohte ihm die Lage völlig zu
entgleiten. Der Herzog Walram von
Limburg belagerte seine Burg Valdenz
bei Herzogenrath. Die Bürger Kölns
verbrannten (gewissermaßen vor seinen
Augen) alle neuen Urkunden, die ihre
Rechte beschnitten. Er musste, um an
der
Macht
zu
bleiben,
weit
zurückweichen. Inzwischen waren die
meisten Gesetze aus dem Jahre 1216
wieder gültig. Ob Engelbert noch ein
Heiliger werden würde, hatte keine
Bedeutung mehr. Die Zeit verwischte
die Spuren des großen Mannes.
Gerhard hatte freilich wenig Grund
zur Schadenfreude und sah in ihm eher
einen
Schicksalsgefährten.
Der
Zeitpunkt für eine Verständigung war
geeignet. Der Papst hatte die Fürsten
des Reiches nach Rom geladen, damit
sie dort für den Kaiser bürgten. Nur
unter diesen Bedingungen sollte der
Friedensvertrag dauerhaft gültig sein.
Auseinandersetzungen waren nicht
auszuschließen, obgleich kaum jemand
das Scheitern der Verhandlungen
wünschte. Manch einer gedachte
zweifellos, die Reise für ein den Kaiser
überhaupt nicht betreffendes Anliegen
zu nutzen - wie der Erzbischof von
Bremen, der in der Stedingerfrage etwas
zu erreichen hoffte. Unübersichtlich war
die Lage durch Neuigkeiten über den
jungen König Heinrich. Den Erzbischof
von Köln beschäftigte das in
besonderem Maße, was er beim
Abendessen unter vier Augen freimütig
eingestand.
"Die Bürger haben sich beruhigt.
Auch auf die meisten meiner
Lehensleute kann ich mich wieder
verlassen. Aber wie verhalten sie sich,
wenn man sie aufgehetzt? Jeder, der
sich mir heute aus Vernunft beugt, kann
schon morgen sein Wort wieder
brechen. Ich habe in den vergangenen
Jahren viel von meinem Glauben an
Vasallentreue verloren."
"Wie Ihr wisst, bin auch ich auf die
Unterstützung
meiner
Bürger
angewiesen. Auch ich wünsche nichts
so sehr wie die Unterbindung gewisser
Worte und Taten jenes Unwürdigen auf
dem deutschen Thron."
Sie wussten beide, worüber sie
sprachen. Kaiser Friedrich II hatte
seinen Sohn schon im Kindesalter zum
König von Deutschland wählen und
krönen lassen, um sich mehr seinem
geliebten Südreich, Sizilien und
Apulien, widmen zu können. Der
eigentliche Herrscher war damals
Herzog Ludwig von Bayern, der
Vormund
des
Knaben.
Die
Auseinandersetzungen mit dem Papst
hatten
Friedrich
zeitweilig
die
nördlichen Teile seines Reiches fast
völlig aus den Augen verlieren lassen.
Ludwig betrieb unterdessen ungestört
eigene Politik. So fiel er 1227 unter
einem Vorwand in das Herzogtum
Braunschweig ein.
Doch es kam noch ärger. Im Jahr
darauf löste sich der ungestüme,
inzwischen 16-jährige König, auf seine
Mündigkeit pochend, von Ludwig und
setzte sich in den Kopf, die Fürsten des
Landes zu unterwerfen. Streng gesehen,
begehrte er, was ihm von Rechts wegen
auch zustand, verstieß jedoch gegen
ungeschriebene Gesetze, die sich aus
Machtverhältnissen ergeben hatten.
Dass er nicht schon bald scheiterte, lag
an der tatkräftigen Unterstützung durch
dunkle Kräfte, die sich von Reformen
Vorteile versprachen. Im September
1229 war er bereits stark genug, um
seinen ehemaligen Vormund in dessen
eigenem Herzogtum mit Heeresmacht
anzugreifen. Spätestens seit dieser Zeit
herrschte helle Aufregung unter den
Fürsten. Schwäbische Ministeriale
drängten den König zur Entschlossenheit.
Bedrohlich
war
die
Entwicklung vor allem wegen der
Gefahr eines durch den Herrscher
befürworteten Zusammenschlusses der
niederen Stände. Einen allgemeinen
Aufstand mussten selbst mächtige
104
Fürsten wie Gerhard und Heinrich von
Müllenark ernsthaft fürchten.
"Ich denke, dass nur ein Machtwort
des Kaisers diesen wilden Burschen
zügeln kann", meinte Letzterer.
"Ein
kaiserlicher
Schiedsspruch
würde Heinrich die Berechtigung für
sein Handeln entziehen", bestätigte der
Erzbischof von Bremen mit Nachdruck.
"Einige seiner Verbündeten bekämen
Skrupel und wir hätte die Möglichkeit,
notfalls mit Gewalt vorzugehen."
Am dritten Tag ließ der Schneesturm
endlich nach. Die beiden Fürsten waren
aber auch deshalb guter Stimmung, weil
sie sich auf einen gemeinsamen
Standpunkt hatten verständigen können.
Nicht oft rückten zwei deutsche Adlige
ihres Ranges die eigenen Interessen so
sehr in den Hintergrund, um ein gemeinsames, größeres Ziel zu erreichen.
In ihrem Gepäck lag nunmehr ein Text
über den gewünschten Wortlaut der
kaiserlichen Erklärung gegen den
widerspenstigen Sohn. Die beiden
Erzbischöfe hatten sich schließlich eine
Strategie überlegt, um sich geschickt
den Ball gegenseitig zuzuspielen.
II
D
ie Verhandlungen in Rom
verliefen günstig für die deutschen Fürsten - zum Teil weil
sie so einheitlich auftraten wie lange
nicht mehr, zum Teil wegen des
geringen Interesses Friedrichs an
seinem Nordreich. Von Sizilien oder
Apulien hätte er nichts ohne zähen
Kampf preisgegeben, in Deutschland
sollte einfach nur Ruhe herrschen. Über
seinen Sohn war er auch vor den
Beschwerden schon verärgert gewesen.
Dessen Politik hatte er niemals
gutgeheißen, obgleich sie (einen Erfolg
vorausgesetzt)
der
stauferschen
Hausmacht nutzte. Gerhard gab die
schnelle Einigung zu den Grundsatzfragen die Möglichkeit, sich mit ganzer
Kraft
seinen
persönlichen
Angelegenheiten zu widmen.
Zunächst bemühte er sich um ein
Treffen mit dem Kaiser. Der freilich
wollte
aus
Sorge
um
das
Zustandekommen des Friedensvertrages
nicht durch Separatverhandlungen mit
einzelnen Fürsten das Misstrauen der
anderen erregen. Einen Grund, sich mit
dem Bremer Erzbischof in besonderem
Maße zu arrangieren, sah er nicht
gegeben. Erst, als die Bürgschaft als
sicher galt, wurde er zugänglicher und
seine (reichlich bestochenen) Ratgeber
konnten seine Aufmerksamkeit auf den
Kirchenmann
von
der
fernen
Nordseeküste lenken.
Gerhar
d
hatte
den
Kaiser
seit
einigen
Jahren
nicht
mehr gesehen und
war
schwanke
nd
in
seinen Erwartungen. Was ihm an
vertraulichen Hinweisen mit auf den
Weg gegeben worden war, erschien ihm
zu widersprüchlich, als dass er es
glauben mochte. Nun, da ein Diener ihn
in einen mit farbenfrohen Teppichen
ausstaffierten Raum führte und er vor
den behelfsmäßig aufgebauten Thron
des römisch-deutschen Herrschers trat,
begann er die Ursache der sonderbaren
Reden zu ahnen. Friedrich passte in
105
keine der gängigen Vorstellungen
hinein.
Die Stirn wurde eingerahmt von
kurzem, welligem Haar. Die Frisur
erinnerte an die heidnischen Figuren,
welche man in Rom noch an etlichen
Stellen fand, Figuren, die von längst
vergangenen, geheimnisvollen Zeiten
kündeten, die den Leuten unheimlich
waren. In den Augen des Kaiser
spiegelte sich jene Entschlossenheit, die
ihn als Knabe sein Geschick in die eigenen Hände hatte nehmen lassen. Daran
erkannte man den jungen Mann wieder,
der 1212 zur Überraschung aller plötzlich nördlich der Alpen erschien, seinen
welfischen Rivalen Otto vertrieb und
den Thronstreit beendete. Das fein
geformte Bärtchen über den Lippen
jedoch widersprach jenem Eindruck.
Auch der vom gleichnamigen Großvater
geerbte rote Bart wirkte auffällig
gepflegt.
Gerhard begriff, was diesen Mann
von seinen Vorgängern unterschied.
Vier Jahrhunderte enger Beziehungen
hatten die Kluft zwischen Orient und
Okzident nicht verringert. Noch immer
stach die raue Lebensart des Nordens ab
gegen die verfeinerten Sitten des
Südens. Die Griechin Theophanu hatte
sich in jener Zeit, als sie auf dem
deutschen Thron saß, an die Gepflogenheiten des Norden angepasst und
damit durchgesetzt. Friedrich hingegen,
der Spross der schwäbischen Hohenstaufen, aufgewachsen in Sizilien
inmitten eines moslemisch geprägten
Hofes, entschied sich zunehmend für
den Süden als Wahlheimat. Er, der ein
wirklich erstaunliches Talent beim
Erlernen fremder Sprachen besaß, tat
sich noch immer schwer mit den
Worten seiner barbarischen Untertanen
von jenseits der Alpen.
Unter solchen Umständen fiel es dem
Bremer Erzbischof schwer, den für sein
Anliegen günstigsten Anfang zu finden.
Wie sollte er diesen sonderbaren
Menschen beeindrucken, wie ihn für
sich gewinnen? Unabhängig davon
empörte ihn die geheime Verachtung,
die er spürte. Entsprechend hölzern fiel
seine Rede aus.
"Ich wage in aller Bescheidenheit zu
unterstellen, dass Eurer Majestät an
Frieden in den deutschen Landen
gelegen ist. Ihr wisst zweifellos, wie die
Unruhestifter beständig auf Gelegenheiten lauern, ihre Schlupflöcher
verlassen zu können."
Gerhard bemerkte, wie der Kaiser
unruhig am Saum seines Umhangs
zupfte. Er mochte wohl keine langen
Vorreden.
"Kurz gesagt, in der Umgebung von
Bremen
hat
sich
eine
üble
Ketzerbewegung
eingenistet.
Bewaffnete Bauern machen die Gegend
unsicher. Sie sind inzwischen so stark,
dass ich allein ihnen mit meinen
bescheidenen Mittel nicht mehr beikommen kann. Deshalb ersuche ich
Euch,
kaiserliche
Majestät,
die
Reichsacht zu verhängen, auf das alle
Herren des Landes ermutigt werden, mir
in meinem Kampf beizustehen."
Des Kaisers Gesicht belebte sich.
Zweifellos
wusste
er
Bescheid,
erinnerte sich wohl auch noch, dass die
Stedinger ihm für den Kreuzzug Waffen
geschenkt hatten. Nach einem Moment
angestrengten Nachdenkens stand er
plötzlich mit erstaunlicher Behändigkeit
von seinem Thron auf und sagte:
"Nach meinem Dafürhalten sind diese
Bauern fleißige Leute, die vor allem
wünschen, in Frieden gelassen zu
werden." Er sprach die einzelnen Worte
mit starkem Akzent aus, verstand sich
aber auszudrücken. "Sie kämpfen für
ihre Sache mit dem Schwert, weil sie
sich auf kein brauchbares Gesetz
berufen können. Einheitliches Recht ist
vonnöten." Er blickte kein einziges Mal
zu seinem Gast hinüber, denn er hatte
106
wenig Hoffnung, verstanden zu werden.
"Die Bauern sollten ebenso wie die
Bürger genau festgelegte Abgaben
entrichten. Die Grafen und Herzöge
sollten Amtleute ohne Vorrechte sein.
Während die einen den Acker bestellen,
obliegt den anderen die Verwaltung.
Auch die Geistlichen müssen in einer
solchen Gesellschaft ohne Eigennutz
den ihnen entsprechenden Platz einnehmen."
In der Tat hätte ihm Gerhards
Mienenspiel wenig Freude bereitet. Der
Erzbischof schwankte, ob er den Kaiser
für krank halten oder seine widersinnige
Rede als eine Art Verhöhnung auffassen
sollte. Wahrscheinlich spielte der verderbliche Einfluss des Hermann von
Salza noch immer eine große Rolle am
Hof des Herrschers. Mit Sicherheit ließ
sich keine Reichsacht gegen die
Stedinger erwirken, nicht solange dieser
verkappte Muselman darüber zu
befinden hatte. Als sich die beiden
Männer voneinander verabschiedeten,
war die gegenseitige Abneigung so
ausgeprägt, dass die unvermeidlichen
Höflichkeitsgesten kaum über eine
bloße Andeutung hinaus kamen.
Der völlige Misserfolg beim Kaiser
zwang Gerhard, während der Audienz
beim Papst drängender vorzugehen, als
er es geplant hatte. Gregor IX
unterschied sich von Friedrich II so augenfällig, dass die Feindschaft der
beiden verständlich war. Der 60-jährige
verabscheute
alles,
was
dem
entgegenstand, was er für den
rechtmäßigen Glauben ansah. Nicht
zuletzt durch diesen Starrsinn wirkte er
mitunter wie ein Greis. Der erste Eindruck freilich entsprach nicht ganz der
Wahrheit. Gregor war geistig beweglich
und stand bestimmten Neuerungen
durchaus aufgeschlossen gegenüber. Als
Kardinal hatte er sich mit Nachdruck für
die Bettelorden eingesetzt. Die Dominikaner kämpften seinerzeit ganz vorn
in der geistigen Auseinandersetzung mit
den Ketzern im südlichen Frankreich.
Die Franziskaner boten den nach
urchristlicher Armut verlangenden
Menschen eine Heimat im Schoße der
katholischen Kirche. Was schließlich
die weltliche Seite seines Pontifikats
angeht, so hatte sich der ehemalige Graf
Ugolino von Segni mehr als einmal als
ein mit allen Wassern gewaschener
Stratege erwiesen.
Gerhard glaubte, der Papst spiele eine
gewisse Hinfälligkeit vor, um seine
Gesprächspartner in Sicherheit zu
wiegen. Er stand, wenn auch unter
anderen Voraussetzungen, abermals vor
der
Schwierigkeit,
auf
bloße
Vermutungen hin die richtigen Worte
finden zu müssen. Gregor saß nahezu
unbeweglich
auf
einem
betont
schlichten Stuhl und hielt den Kopf
gesenkt wie bei einem Gebet. Sein
Gesicht drückte Müdigkeit aus. Die
Hände lagen schlaff auf den Knien.
"Dass ich Eure Heiligkeit zu
behelligen wage, ist begründet in
meiner Ratlosigkeit. Da ich bei einigen
Eurer Botschaften die Absicht nicht bis
in die letzte Einzelheit verstanden habe,
andererseits
aber
Bedarf
zum
unverzüglichen Handeln zu erkennen
meine, bitte ich Euch hier und heute in
aller Demut um Auskunft."
Dann beschrieb er die Lage im
Wesermarschland aus seiner Sicht.
Zunächst begnügte er sich mit
Andeutungen. Da der Papst jedoch nicht
erkennen ließ, dass ihm der Sachverhalt
in Erinnerung geriet, wurde er
ausführlicher. Zugleich wuchs seine
innere Unruhe. Konnte es denn sein,
dass Gregor, auf dessen Entscheidung er
so ungeduldig wartete, nicht einmal
genau Bescheid wusste, dass er der
Sache gar keine Bedeutung beimaß? Er
erkühnte sich zu einer Anspielung.
"Vermutlich ermüde ich Euch mit der
Weitschweifigkeit
meiner
107
Ausführungen, da Ihr zweifellos durch
Euren Großinquisitor Konrad von
Marburg bestens unterrichtet seid."
Der Papst nahm das zum Anlass, um
das Wort zu ergreifen. Dabei stellte sich
nicht nur heraus, dass ein ausführliches
Gutachten vorlag, sondern auch, dass
sich Gregor längst eine eigene Meinung
gebildet hatte.
"Auch ich bin der Auffassung, dass
Ketzerei bekämpft werden muss, wo
auch immer sie auftritt. Deshalb
befürworte ich ausdrücklich alle
Maßnahmen, welche der Zügelung jener
aufrührerischer Bauern dienen."
"Ähnlich äußerte sich Eure Heiligkeit
bereits in einem Schreiben, jedoch ..."
Der Papst brachte Gerhard mit einer
Handbewegung zum Schweigen.
"Ich weiß, worauf du hinaus willst,
mein Sohn. Du begehrst einen
Ketzerkreuzzug. Bedenke aber, dass
dies das äußerste Mittel ist! Jeder
Handwerker weiß, dass nicht immer das
grobe Gerät der Arbeit am besten dient.
Im Gegenteil, fast immer führt
Fingerspitzengefühl weit eher zum
Ziel."
"Diese
Bauern
sind
reichlich
bewaffnet, sie ..."
"Ich weiß auch das. Immerhin wurde
mein Großinquisitor durch eine
Belagerung Bremens an der Weiterreise
gehindert. Dennoch bleibe ich bei
meinem Rat. Ich ersuche dich, alles dir
Mögliche auszuschöpfen, ehe du mich
noch einmal wegen jenes äußersten
Mittels ansprichst. Es ist verständlich,
dass dir deine Schwierigkeiten groß,
vielleicht
nahezu
unüberwindlich
erscheinen. Ein Papst jedoch muss das
Wohl der ganzen Christenheit im Sinn
haben. Wird das scharfe Schwert eines
Kreuzzuges gar zu oft benutzt, so
könnte es stumpf sein in einem
entscheidenden Moment."
Gerhard wollte noch etwas einwerfen,
doch Gregor erklärte die Audienz für
beendet. Der Erzbischof musste seine
ganze Selbstbeherrschung aufbringen,
um sich in seiner Enttäuschung nicht zu
einer Unbesonnenheit hinreißen zu
lassen. Schon am nächsten Tag reiste er
aus Rom ab.
III
D
ie Fahrt von Rom nach Bremen
war für Gerhard ähnlich beschwerlich wie jene fünf
Wochen zuvor in die entgegen gesetzte
Richtung. Die Strapazen setzten ihm
diesmal sogar noch mehr zu, weil seine
Stimmung sich arg verschlechtert hatte.
Vielleicht war er von allen Fürsten, die
für Friedrich bürgten, der einzige, der
gänzlich unzufrieden über die Alpen
zurück nach Deutschland reiste.
Andererseits gehörte er nicht zu jenen
Leuten, die sich von solchen
Niederlagen von ihrem Weg abbringen
ließen. Selten hatte er so angestrengt
nachgedacht wie während der vielen
Stunden, die er eingezwängt in seiner
ungefederten
Kutsche
zubringen
musste. Er war derart mit seinen Plänen
beschäftigt, dass er schließlich die
Schmerzen, welche die unruhige Fahrt
ihm bereitete, kaum noch spürte.
Allerdings blieben seine Pläne nicht
unbeeinflusst von der Verbitterung, die
ihn beherrschte.
Die Zurückhaltung der Oldenburger
brachte ihn in Zorn. Bisher hatte er bei
allem, was er im Zusammenhang mit
den Stedingern unternahm, auf ihre
Empfindlichkeiten
Rücksicht
genommen.
Unter
bestimmten
Umständen wäre er sogar bereit
108
gewesen, ihnen die militärische
Führung zu überlassen, ungeachtet des
den
Wildeshausenern
gegebenen
Versprechens. Christian jedoch hatte
mit seinem Taktieren eine Grenze überschritten.
Der
Erzbischof
war
entschlossen, sich nun offen zu
Burchard zu bekennen. Nicht allein,
dass er keine Rücksicht mehr walten
lassen
wollte
gegenüber
den
Oldenburgern, er plante sogar, sie
bewusst zu demütigen.
Allerdings musste er sich angesichts
eines so schwerwiegenden Entschlusses
rückversichern. Er hatte die Zustände
am Wildeshausener Hof in den
zurückliegenden Monaten etwas aus den
Augen verloren. Zwar erhielt er
regelmäßig Berichte, doch ersetzten
diese nicht den eigenen Eindruck.
Zunächst beabsichtigte er, sich in
Bremen zwei bis drei Tage lang von der
Reise auszuruhen und danach einen
harmlos klingenden Vorwand zu
erfinden, um Burchard einen Besuch
abzustatten. Je näher er der Heimat
jedoch kam, desto größer wurde seine
Ungeduld. Ihm schien plötzlich, als
könnten die zwei oder drei verlorenen
Tage
für
den
Ausgang
des
Unternehmens wichtig sein. Hatte er die
weite Reise nach Rom und zurück überstanden, so konnte er sich getrost auch
noch eine Unterredung zumuten! Zu
bedenken blieb freilich noch, dass ein
Besuch in Wildeshausen unmittelbar
nach einer Romfahrt Burchard in
solchem Maß aufwerten würde, wie es
trotz allem nicht gut sein konnte.
Gerhard verfiel schließlich auf den
abenteuerlichen Ausweg, sich als
Kaufmann zu verkleiden und seine
Leute ohne ihn nach Bremen weiter
fahren zu lassen. Im Palast sollte dann
der Eindruck erweckt werden, er sei
angekommen.
Der Graf von Wildeshausen war an
jenem Tage schlecht gestimmt und
deshalb überhaupt nicht bereit, einen
ihm unbekannten Händler persönlich zu
empfangen.
"Er möge sich bis morgen gedulden",
sagte er schroff zu dem Diener, der ihn
meldete.
Das brachte den Erzbischof in
Verlegenheit. Gäbe er sich zu erkennen,
wäre
er
in
kürzester
Zeit
Gesprächsthema in der ganzen Burg. In
diesem Fall hätte er sich gar nicht erst
zu verkleiden brauchen. Er musste sich
den Zugang auf andere Weise
erzwingen.
"Ich bin nicht hier, um etwas zu
verkaufen. Vielmehr habe ich den
Auftrag, eine Botschaft zu überbringen,
eine Botschaft von großer Wichtigkeit,
die keinen Aufschub erlaubt. Richte das
dem Grafen so aus!"
Unwirsch ließ Burchard den Gast
daraufhin vor.
"Ich hoffe sehr, du hast nicht
geflunkert!" rief er statt einer
Begrüßung unhöflich.
Kaum aber hatte sich der Diener
entfernt, legte Gerhard die Verkleidung
ab und gebärdete sich ganz als der
mächtige Kirchenfürst, der er war.
Burchard unterdessen bereute seine
Grobheit und überschlug sich mit
Demutsbekundungen.
"Wenn Eure Eminenz sich setzen
wollen. Ich werde umgehend Wein
heraufbringen lassen. Untröstlich bin
ich, dass kein Braten bereit steht."
"Mich gelüstet keineswegs nach
sinnlichen
Annehmlichkeiten",
unterbrach ihn der Erzbischof.
"Selbstverständlich! Wie konnte ich
Euch nur dergleichen unterstellen!"
"Du
erinnerst
dich
unseres
Gespräches über die Stedinger?" kam
Gerhard geradewegs zur Sache.
"Als ob es gestern gewesen wäre."
"Und?"
Etwas verwirrt suchte der Graf nach
der erwarteten Antwort:
109
"Ich stehe Euch, Eminenz, zur
Verfügung, welchen Dienst auch immer
Ihr von mir begehrt. Ich weiß sehr wohl,
was Vasallenpflicht bedeutet."
"Bist du bereit, einen Kreuzzug gegen
die Stedinger anzuführen?"
Burchard
zuckte
zusammen.
Natürlich wusste er, dass er seit einiger
Zeit als aussichtsreicher Anwärter für
diese Würde gehandelt wurde. Sein
krankhafter Ehrgeiz hatte ihn fast
irrewerden lassen bei dem Gedanken an
den Triumph über die Oldenburger. Nun
aber sprach der Erzbischof das
Unglaubliche unmissverständlich aus
und das brachte ihn aus der Fassung.
Unterdessen umspielte Gerhards Mund
ein Lächeln. Er hatte es darauf angelegt,
den Grafen so zu überrumpeln.
"Überlege es dir gut! Du wirst nicht
umkehren können, wenn du diesen Weg
erst einmal eingeschlagen hast."
Burchard fasste sich und verkündete
feierlich:
"Ich bin bereit."
"Ich habe für diesen Fall eine
Urkunde vorbereitet. Sie soll vorläufig
geheim bleiben. Ich möchte aber, dass
du dich darin schon heute verbindlich
verpflichtest."
Der Graf nahm das Schreiben in die
Hand. Es berief sich auf den Willen des
Papstes und es war die Rede von einem
dem Palästinakreuzzug gleichgestellten
Unternehmen.
"So deutlich hat der Heilige Vater
sich ausgesprochen?"
Gerhard
erwog,
inwieweit
er
Burchard gegenüber ehrlich sein durfte.
"Wie ich schon andeutete - ich werde
die Urkunde bis auf weiteres unter
Verschluss halten. Sie greift den
Ereignissen gewissermaßen vor. Der
Heilige Vater ist mit meinem Vorgehen
vollkommen einverstanden."
Schon wollte der Graf unterzeichnen
und siegeln, da stieß er auf eine Klausel,
die zu seinem Bedauern nicht allein von
seinem Willen abhing. Sie betraf seinen
Sohn
Heinrich.
Der
Erzbischof
bemerkte das Zögern und fragte nach.
Die Kluft zwischen Vater und Sohn
hatte sich weiter vertieft. Heinrich
wollte die Burg wieder einmal
verlassen, diesmal für unbestimmte Zeit
und mit unbestimmtem Ziel. Sein
Gepäck war schon gebündelt. Er hatte
auch erklärt, sich an einem Feldzug
gegen die Stedinger nicht zu beteiligen,
wann und unter welchen Bedingungen
auch immer er stattfände. Zu Burchards
Überraschung nahm Gerhard das
Geständnis aber gelassen hin. Der
Erzbischof bot sich an, dem jungen
Mann ins Gewissen zu reden, und hatte
keine Zweifel, dabei das Gewünschte zu
bewirken.
"Unerfahrene, junge Leute wie er
können noch nicht immer das
Unwichtige
vom
Wichtigen
unterscheiden.
Daran
ist
nichts
Besorgniserregendes. Das Beste wird
sein, du lässt ihn gleich rufen."
Boleke wusste nicht, wo er suchen
sollte.
Heinrich
hielt
sich
wahrscheinlich noch in der Burg auf,
hatte sich jedoch zurückgezogen, in
einem seiner Anfälle von Schwermut
sogar regelrecht versteckt. Der Diener
war mit dem jungen Turnierhelden, der
sich in der Öffentlichkeit hochfahren
und unnahbar zu gebärden pflegte,
niemals vertraut geworden. Dennoch
bedauerte er ihn. Er überlegte einen
Augenblick, ob er ihn überhaupt
benachrichtigen sollte. Die Unterredung
mit dem Erzbischof würde ihm in
seinem Zustand wohl nicht gefallen.
Doch das waren Rücksichtnahmen, die
einem Knecht nicht zustanden.
In der Vorburg traf er Agnes von
Westerholt. Das brachte ihn auf einen
Gedanken. Das junge Mädchen hatte
gewiss schon vor ihm nach dem
Verschwundenen gesucht und zwar mit
der unbändigen Energie eines verliebten
110
Backfischs. Leider war Agnes nicht
allein. Wilbrand, der geistig zurückgebliebene zweite Sohn des Grafen, lief
ihr wie ein Hund nach, unbeeindruckt
von ihrer schroffen Abwehr. Vor
Aufregung hatte er einen ganz roten
Kopf.
"Mein Vater will mich verheiraten",
verkündete er. "Er meint, ich bin nun in
einem Alter, wo so etwas sein muss.
Natürlich darf ich nicht so hohe
Ansprüche stellen." Er kicherte
verlegen. "Ich weiß schon, was er damit
meint."
Boleke
entschloss
sich,
den
gutmütigen Schwachkopf beiseite zu
schieben, wie es alle taten, obgleich ihm
das eigentlich nicht behagte.
"Agnes, ich brauche deine Hilfe."
"Aber gern! Hörst du Wilbrand?
Verschwinde! Ich muss arbeiten und
kann mich nicht mit dir unterhalten."
Das sah er ein und trollte sich.
"Er ist schrecklich!" ereiferte sich das
Mädchen. "Ich glaube, ich bringe ihn
eines Tages um, wenn er mich nicht in
Ruhe lässt."
"So etwas sagt man nicht."
"Es ist aber ehrlich."
Boleke war nicht zu Moralpredigten
aufgelegt und wechselte das Thema.
"Kannst du mir sagen, wo sich
Heinrich versteckt?"
Agnes blickte ihm misstrauisch ins
Gesicht.
"Welchen Heinrich meinst du?"
"Wen werde ich wohl meinen?!"
In die Stirn der jungen Ritterstochter
gruben sich zwei Falten.
"Er hat sich nicht versteckt!" sagte sie
angriffslustig. "Er hat es nicht nötig,
sich zu verstecken. Wenn er sich
zurückzieht, gibt es dafür Gründe. Das
... das sind geheime Angelegenheiten."
"Und wo betreibt er gerade diese
geheimen Angelegenheiten?"
Agnes fühlte sich nicht ernst
genommen und entgegnete spitz:
"Er wünscht nicht gestört zu werden."
Sie konnte schnippisch sein wie eine
Prinzessin. Boleke wusste nicht recht,
ob sie etwas wusste oder sich nur aufspielte. Auf jeden Fall musste er sich
etwas einfallen lassen, um sie zum
Reden zu bringen.
"Ich soll ihm eine Botschaft
überbringen. Sie ist versiegelt."
Agnes hob den Kopf mit einem Ruck.
"Sie ist bestimmt wichtig! Ich führe
dich zu ihm!"
Im letzten Moment allerdings zögerte
sie.
"Geh bitte allein zu ihm rein!
Vielleicht ist es ihm nicht recht, dass
ich ..."
Sie wurde feuerrot vor Verlegenheit
und rannte davon.
Während Heinrich von Wildeshausen
dem Erzbischof gegenüber saß, war
nichts von einem Schwermutsanfall zu
sehen. Vor allem Burchard wunderte
sich. Entweder er hatte sich tatsächlich
erholt oder aber er verstellte sich auf gekonnte Weise. Im Übrigen stritt er
schlankweg ab, sich jemals gegen einen
Feldzug
wider
die
Stedinger
ausgesprochen zu haben.
"Wie konntet Ihr daran zweifeln, dass
ich Euch zu Diensten stehe, sobald Ihr
meiner bedürft? Wenn Ihr, Eminenz,
meinen Vater zum militärischen Führer
zu berufen geruht, unterwerfe ich mich
selbstverständlich seinem Befehl."
"Nichts anderes habe ich erwartet!"
rief Gerhard begeistert.
Dabei warf er einen Seitenblick zum
Grafen hinüber. Dieser hatte inzwischen
den Verdacht, sein Sohn treibe ein
böses Spiel. In gewisser Weise
schwärzte er ihn an, denn der Erzbischof musste nun annehmen, dass
entweder
Burchard
sich
die
Zerwürfnisse nur einbilde oder dass er
der Schuldige dabei sei. Und Heinrich
trieb es auf die Spitze, indem er sich mit
111
der Faust an die Brust schlug und
ausrief:
"Eure Sache, Eminenz, sei auch die
meine und ich will mein Leben nicht
schonen!"
Gerhard sah nach den Rückschlägen
der vergangenen Wochen erstmals
wieder einen Fortschritt bei seiner
Sache.
Vermutlich
wäre
seine
Zuversicht aber ein wenig gedämpft
worden, hätte er Heinrich so gesehen
wie der Diener Boleke unmittelbar nach
der Unterredung. Seine Augen blickten
in eine unbestimmte Ferne und den
Mund verzerrte ein zynisches Lächeln.
Dies war gewiss nicht das Gesicht eines
Mannes, der vom Glauben an eine
heilige Bestimmung erfüllt ist. Freilich
hatte auch Burchard unrecht mit seiner
Unterstellung.
Heinrich
hegte
keineswegs die Absicht, seinem Vater
zu schaden. Er war tatsächlich über
Nacht zu dem Entschluss gelangt, in
den Krieg zu ziehen - aus
Todessehnsucht.
112
10.Kapitel
I
W
ilhelm
von
Westerholt
schreckte hoch, als die Zugbrücke unter den Hufen eines
Pferdes krachte. Wer galoppiert denn
am frühen Morgen auf den Hof, als
wäre ein Rudel Wölfe hinter ihm her?
Besorgt trat er an das schmale Fenster
des Wohnturms der Wardenburg und
sah, wie sein Sohn Rotbert mit
Schwung vom Pferd sprang. Gleich darauf hörte er ihn die Treppe hinauf eilen.
"Was ist geschehen?" fragte er ihn,
als er vor ihm stand.
"Nichts."
Der Junge zuckte verständnislos mit
den Schultern. Er war zwölf Jahre alt,
wirkte aber ungewöhnlich reif, fast
schon ein wenig männlich, wenn auch
auf etwas sonderbare Art. Seine
drahtigen, tiefschwarzen Haare, die sich
zu keiner Frisur ordnen ließen, das stark
gebräunte Gesicht und vor allem die
funkelnden Augen gaben ihm einen
Ausdruck von Wildheit, der seinem
Wesen auch tatsächlich entsprach. Er
trug immer lederne Kleidung, als wolle
er in den Krieg ziehen und verabscheute
jede Art von Behaglichkeit. Wenn seine
Eltern es ihm erlaubten, schlief er unter
freiem Himmel, um sich abzuhärten.
"Warum reistest du wie der Teufel,
wenn nichts geschehen ist? Du machst
die Tiere in den Ställen scheu!"
"Ich bin vom alten Westerholthof bis
hierher im Galopp geritten. Das ist
großartig. Als ob man fliegt."
"Ein Pferd ohne Sinn und Verstand so
zu hetzen! Rotbert, Rotbert! Wie soll
das enden, wenn du so wild bleibst?!
Hast du wenigstens nicht vergessen,
meinen Auftrag zu erfüllen?"
"Was denkt Ihr von mir, Vater!"
erwiderte der Junge gekränkt. "Ich bin
ein Ritter. Selbst wenn sich mir der
Teufel in den Weg stellte, würde ich
meine Pflicht erfüllen."
"Du bist noch kein Ritter", belehrte
ihn der Vater. "Du musst noch sehr viel
lernen, bis du so etwas von dir sagen
darfst. Dein Meister ist nicht zufrieden
mit dir. Du hältst deinen Schild nicht
richtig, obgleich er dir schon oft gezeigt
hat, wie man es macht."
"Warum verrät er immer gleich
alles?"
"Weil du offenbar auf ihn nicht hören
willst."
"Er will mich zur Feigheit erziehen."
"Schluss jetzt! Ich werde mich nach
der nächsten Übungsstunde erkundigen.
Wenn ich höre, dass du dich nicht
gebessert hast, belehre ich dich
eigenhändig mit dem Stock. Hast du
mich verstanden?"
"Jawohl!" rief der Junge zackig und
stapfte die Treppe wieder hinunter.
Wilhelm blickte ihm nach, wie er den
Hof überquerte. Der Stock war keine
ernsthafte
Drohung.
Wurde
er
verprügelt, konnte er beweisen, dass er
Züchtigungen ohne einen Schmerzenslaut aushielt. Tief im Herzen war
Wilhelm doch stolz auf sein jüngstes
Kind, das einzige, das er noch bei sich
hatte. Nachdem er sich seinen Gürtel
umgebunden hatte, ging er ebenfalls
nach unten.
Der Vormittag verging wie hunderte
zuvor. Das bäuerliche Leben auf der
Burg des Ritters war geprägt von der
gleichförmigen Wiederkehr derselben
Arbeitsgänge. Da die Sonne brannte,
mochte niemand viel reden. In der Luft
lag ein fast monotones Hämmern und
Schaben, vermischt mit den Lauten der
verschiedenen Tiere. Dadurch wirkte es
wie Lärm, als abermals jemand in Eile
über die Zugbrücke ritt. Diesmal handelte es sich nicht um einen
übermütigen Jungen. Ein Mann meldete
aufgeregt:
"Bewaffnete nähern sich!"
Sofort herrschte helle Aufregung auf
dem Hof.
"Die Leute auf den Wiesen sollen
hereinkommen!" rief Wilhelm. "Und
dann schließt das Tor!"
Anschließend eilte er zur Plattform
des Turmes hinauf. Von dort aus fand er
die Warnung bestätigt. Ein Trupp von
etwa zehn Reitern war nur noch wenige
Meilen entfernt. Einer der Männer trug
eine
vollständige
Rüstung.
Die
Begleiter waren durch Lederwämser
und einzelne Panzerteile geschützt. Alle
hatten Spieße und Schwerter bei sich.
Wilhelm hoffte zunächst, die Fremden
würden weiterziehen. In Wahrheit aber
blieben sie vor der geschlossenen
Zugbrücke stehen, und der Hauptmann
forderte mit herrischer Stimme Einlass.
"Ihr
gleicht
nicht
friedlichen
Wanderern!" entgegnete Wilhelm vom
Turm herab. "Warum sollten wir euch
vertrauen?"
"Ich bin ein Ministeriale des Grafen
Burchard von Wildeshausen. Diese
Burg ist ab sofort ein Stützpunkt für den
Kreuzzug gegen die Stedinger."
"Die höheren Dienstleute des Grafen
kenne ich. Dich habe ich noch nie
gesehen. Ich glaube dir kein Wort."
"Ich stehe erst seit zwei Wochen in
Burchards Diensten."
Die Reiter wirkten in der Tat wie
Männer, die gerade erst geworben
worden waren. Der Hauptmann hatte
wohl schon in anderen Heeren gedient,
seine Leute hingegen konnten kaum die
Waffen ordentlich halten. Vielleicht
plante Burchard, sie in der Wardenburg
ausbilden zu lassen. Doch er hätte ihn
unterrichten müssen.
Dass Wilhelm hart blieb, half ihm
freilich kaum weiter. Die Fremden
richteten sich auf der Wiese vor der
Zugbrücke ein und belagerten die Burg
regelrecht. Am späten Nachmittag
spitzte sich die Lage weiter zu. Der
Hauptmann brüllte, man solle ihm und
seinen Leuten Bier, Brot und Braten
bringen. Andernfalls würden sie sich
selber besorgen, was sie brauchten.
"Ich soll diese Räuber beköstigen?!",
rief der Ritter, außer sich vor Zorn.
"Damit sie sich wohl fühlen und uns
womöglich wochenlang belästigen?!"
Seine Frau indes warnte:
"Wenn der Hunger sie zwickt,
machen sie ihre Drohung wahr. Gib
ihnen lieber freiwillig etwas zum
essen!"
Am nächsten Tag verkaufte den
Halunken jemand leichtfertiger Weise
ein Fass Wein - ein vermeintlich gutes
Geschäft mit unschönen Folgen. Am
Abend waren die angehenden Waffenknechte sternhagelvoll und pöbelten die
Bauern an, die ahnungslos mit ihren
Wagen
an
der
verschlossenen
Zugbrücke
erschienen.
Einige
versuchten gar, sich mit Gewalt Einlass
in die Burg zu verschaffen. Schließlich
nahmen sie einen vierzehnjährigen
Jungen als Geisel.
"Wir wollen noch mehr Wein. Und
wir wollen nicht wieder ein so
ekelhaftes Gesöff. Erzählt uns nicht,
dass ihr keinen besseren in eurem Keller
habt!"
Wilhelm stellte sich selbst auf die
Mauer und forderte gebieterisch:
"Lasst den Jungen frei!"
Die Hoffnung, seine Persönlichkeit
allein werde die rauen Gesellen zum
Einlenken bringen, erfüllte sich nicht.
Einer bedrohte das Kind mit einem
Messer, während der Hauptmann tat, als
ginge ihn das alles nichts an.
114
"Entweder ihr gebt den Jungen frei,
oder ich lasse euch alle niederhauen!"
rief der Ritter.
"Versuche es doch! Ich wette, dass du
zu feige bist."
Wilhelm indes meinte seine Drohung
ernst, denn er wusste keinen anderen
Rat mehr. Auf dem Hof befahl er ein
paar Männern, die Waffen zu ergreifen,
und vielleicht wäre es tatsächlich zum
Äußersten gekommen, hätte der
Hauptmann nicht geahnt, was sich da
zusammenbraute. Auf die Kampfkraft
seiner Leute vertraute er nicht
sonderlich. Der Junge kam frei und ein
Zusammenstoß
war
fürs
erste
abgewendet.
Einen weiteren Tag später tauchte der
Bremer Dompriester auf, der einer
geheimen Mission wegen in der Gegend
weilte. Wie er vom Streit vor der
Wardenburg erfahren hatte, blieb
rätselhaft. Er wusste erstaunlich gut
Bescheid und besaß eine allgemein
formulierte Vollmacht des Erzbischofs,
als Unterhändler zu wirken. Wilhelm
fand, dass er sich sehr anmaßend
benahm.
"Warum heißt du diese Männer in
deiner Burg nicht willkommen?"
"Weil ich sie für Strauchdiebe halte."
"Haben sie dir nicht gesagt, welchem
Befehl sie folgen?"
"Leuten, die ich für Strauchdiebe
halte, glaube ich nicht, was sie sagen."
"Dann sage ich dir jetzt, dass sie
wahrhaftig Gefolgsleute des Grafen von
Wildeshausen sind und dass sie auf
deiner Burg auf den Kreuzzug wider die
Stedinger vorbereitet werden sollen."
Wilhelm ließ sich durch das
hochmütige Auftreten des Priesters
nicht beirren.
"Das kann nicht sein. Zwar habe ich
verschiedene
Verpflichtungen
gegenüber den Wildeshausenern, doch
bin ich nach den Verträgen aus dem
Jahre 27 ein Lehnsmann der Ol-
denburger. Niemals dürfen innerhalb
dieser Mauern fremde Waffenknechte
Stellung beziehen. Das widerspräche
den Bedingungen des Grafen Christian."
"Willst du mich belehren?!" brauste
der erzbischöfliche Unterhändler auf.
"Ich will dich an Einzelheiten
erinnern, die dir vielleicht entfallen
sind."
"Oh, so kannst du nicht mit mir
reden. Auch dir sind, so scheint es mir,
ein paar Einzelheiten entfallen. Zum
Beispiel die himmelschreiende Ketzerei
der Stedinger. Steckst du womöglich
mit diesen Leuten unter einer Decke?
Ich
warne
dich
davor,
die
Kreuzzugsvorbereitungen zu stören. Es
ist manch einer schon wegen geringerer
Vergehen exkommuniziert worden."
Der Ritter hätte noch manches
entgegnen können. Er fühlte sich
vollkommen im Recht. Andererseits
wusste er, dass dieser Wichtigtuer dem
Erzbischof Bericht erstatten würde und
mit Gerhard von Bremen wollte er sich
denn doch nicht anlegen.
Wilhelm duldete die Ausbildung der
Waffenknechte in der Nähe seiner Burg,
nachdem der Priester und der
Hauptmann ihm die Erfüllung einige
Bedingungen zugesichert hatten. Die
Fremden durften sich nur in einem
begrenzten Gebiet aufhalten und die
Dörfer nicht betreten. Der Hauptmann
erhielt als einziger Einlass in die Burg.
Er wohnte fortan im Obergeschoss des
Herrenhauses, in einem der ohnehin den
Wildeshausenern vorbehaltenen Räume.
Seine Leute mussten sich mit Zelten
begnügen.
Der Alltag allerdings sah anders aus.
Der Hauptmann, der während der
Ausbildung wie ein hungriger Tiger
zwischen den Männern umherlief und
sie zusammenbrüllte, ließ abends die
Zügel schleifen. Meistens schaute er
einfach weg, an einigen Streichen
beteiligte er sich sogar. Die Sitten
115
verkamen mit jedem Tag mehr. Die
Waffenknechte stahlen wie die Raben.
Wer sich ihnen in den Weg stellte,
wurde verprügelt. Die Dorfbewohner
halfen sich schließlich selbst, indem sie
kräftige junge Burschen mit Knüppeln
als Wächter aufstellten. Das hatte zur
Folge,
dass
sich
brutale
Massenschlägereien
häuften.
Am
meisten aber verbitterte die Bauern,
dass die ungehobelten Fremden ihren
Töchtern nachstellten. Dabei spielte es
keine Rolle, ob ein leichtfertiges Ding
sich freiwillig mit diesen Halunken
einließ oder ob ein sittsames Mädchen
gewaltsam bedrängt wurde. Vor allem,
wenn die Männer wieder einmal zu viel
getrunken hatten, waren sie unberechenbar.
Wilhelm mochte das nicht länger
hinnehmen und ritt nach Wildeshausen,
um sich bei Burchard in aller Form zu
beschweren.
"Ich bin nicht mehr bereit, diesen
marodierenden Landsknechtshaufen in
meinem Land zu dulden", erklärte er,
ohne die ihm sonst eigene respektvolle
Haltung. "Wenn Ihr sie nicht von dort
weg befehlt, lasse ich sie vertreiben,
und zwar mit Gewalt, wenn nötig."
Der Graf war verblüfft über das
entschlossene Auftreten des Ritters.
Seinem Wesen entsprechend, wollte er
zunächst aufbrausen, überlegte sich
dann aber, wie leicht er diesen Mann
mitsamt seiner Burg vollständig und
endgültig an die Oldenburger verlieren
konnte, und lenkte ein.
"Du schätzt meine Lage falsch ein.
Mir sind die Hände gebunden. Auch ich
werde
überrumpelt
von
den
Ereignissen."
"Diese Leute haben sich als Eure
Waffenknechte ausgegeben."
"Das ist ja wahr. Aber ich habe sie
nicht zu meinem eigenen Nutzen
angeworben. Ich tat es auf Befehl des
Erzbischofs, dessen Vasall ich bin."
"Geschieht es auch mit dem
Einverständnis des Erzbischofs, wenn
diese Männer unbescholtenen Töchtern
meiner Bauern mit List und Gewalt
nachstellen?"
Wieder musste der Graf eine Woge
des Zorns in sich unterdrücken.
"Ich werde den Hauptmann streng
ermahnen, seine Leute mehr in Zucht zu
halten."
"Ich hoffe, Ihr erreicht mit Euren
Ermahnungen mehr als ich in den
zurückliegenden Wochen mit den
meinen."
So leicht ließ Wilhelm sich nicht
beschwichtigen. Ändert sich nichts an
den Zuständen, reitet er erneut nach
Wildeshausen - sofern er sich nicht
gleich an die Oldenburger wendet.
Burchard suchte nach einem Köder.
"Ich bin täglich aufs Neue erstaunt
über die Anmut Eurer Tochter Agnes",
wechselte er unvermittelt das Thema.
"Hast du schon darüber nachgedacht,
mit wem du sie verheiraten willst?"
"Ich sprach einige Male mit meiner
Frau darüber ..."
"Du solltest sie nicht einem
Unwürdigen hinwerfen. Sie ist wie ein
Edelstein. Ich selbst will mich nach
einem Bräutigam für sie umsehen."
"Das ist ein Dienst, den ich von Euch,
Herr Graf, nicht annehmen darf."
"Nur durch meine Vermittlung wird
sie das bekommen, was sie verdient. Ihr
künftiger Gemahl muss dem Hochadel
entstammen."
"Herr Graf, ich bin aufgewachsen in
einem kargen Land. Dort lernt ein
Mensch beizeiten, sich zu bescheiden.
Es ist töricht, nach dem Unerreichbaren
zu streben, denn die Enttäuschung käme
gewiss."
Burchard aber war nun von seiner
eigenen Idee begeistert.
"Ich verspreche es dir. Und wenn ich
dieses mein Versprechen nicht werde
halten können, so soll Agnes allen
116
Schmuck behalten, den sie jetzt
leihweise trägt."
Schon rief er einen Schreiber, der
eine Urkunde aufsetzen musste, die er
dem Ritter zum Abschied buchstäblich
aufdrängte.
Auf dem Weg hinunter in die
Unterburg überlegte Wilhelm, ob es gut
wäre, Agnes von Burchards Plan zu
erzählen. Er wusste, dass sie zur
Hochnäsigkeit neigte und wollte dieser
schlechten Eigenschaft nicht ohne Not
Nahrung geben. Doch zufällig lief sie
ihm direkt über den Weg und bestürmte
ihn solange mit Fragen, bis er sich zu
Andeutungen hinreißen ließ.
Tatsächlich löste die Neuigkeit einen
Sturm von Gefühlen in dem jungen
Mädchen aus, wenn auch in etwas
anderer Weise, als vom Vater
befürchtet. Für Agnes stand sofort fest,
dass der Graf an niemanden anders als
an seinen Sohn Heinrich dachte. Wenn
dieser immer wieder in Schwermut
verfiel, dann doch nur deshalb, weil er
keine Frau hatte. Leider war es nicht
einfach, ihm eine dritte Gemahlin zu
beschaffen. Die Familien aus dem
Hochadel argwöhnten einen bösen
Fluch und wollten ihre Töchter nicht
hergeben. Deshalb sah sich Burchard
nunmehr unter den Kindern der Ritter
um.
Für Agnes war das alles sehr einfach
und
vollkommen
einleuchtend.
Eigentlich hatte sie diesen Ausgang ja
von Anfang an vorausgesehen. Im
Himmel war die Ehe zwischen ihr und
Heinrich längst geschlossen. Nun
richtete Gott, der Herr, die Verhältnisse
auf Erden so ein, dass sich sein Wille
auch hier erfüllte. Ganz närrisch vor
Glück lief sie über die Brücke zur
anderen Seite der Hunte. Das Gelände
des Schlosses erschien ihr plötzlich viel
zu klein. Wer ihr begegnete, lächelte ihr
mit Nachsicht zu, ohne sich die Ursache
ihrer überschäumenden Freude erklären
zu können.
II
D
ie Waldhütte hatte in der ersten
Hälfte des Jahres 1231 ein
anderes Aussehen bekommen.
Streng genommen, entsprach der Name
nicht mehr der Wahrheit. Aus der
dürftigen Hütte zwischen Bäumen war
eine Anlage geworden, die vom Charakter her ein Mittelding zwischen
Gutshof und Burg darstellte. Man hatte
Bäume gefällt und dadurch die Lichtung
um fast das Doppelte vergrößert. Die
Grenze bildeten neuerdings ein Graben
und ein Palisadenzaun. Das Eingangstor
wurde von einem hölzernen Turm
überragt.
Neben
solch
martialischen
Bauwerken waren aber auch neue Ställe
und ein großer Speicher für Vorräte
aller
Art
entstanden.
An
die
ursprüngliche Hütte lehnten sich zwei
weitere Wohnhäuser an, die wie
Seitenflügel wirkten. In einem davon
wohnten Franziska, Pentia und Ramira
sowie Norbert und Christian. Rupert
hatte den Namen Herrenhaus geprägt,
zweifellos in der hinterhältigen Absicht,
unter den Leuten Neid zu schüren.
Seine Versuche, das Ansehen der
Anführerin zu untergraben, scheiterten
aber, und zwar vor allem daran, dass
Franziska seit Mitte August Mutter
eines Töchterchens war. Weil es sonst
keine Kinder im Lager gab, war die
kleine Beatrice der Liebling aller. Man
gönnte ihr die Vorzüge des Herrenhauses.
Trotz allem blieb die Pflege des
Säuglings unter den nach wie vor
117
primitiven Bedingungen beschwerlich.
Leider gehörte Beatrice zu den
empfindlichen Kindern. Zeitweilig
entwickelte sie sich prächtig, dann
wieder wurde sie plötzlich wieder zurückgeworfen,
oft
wegen
einer
Kleinigkeit. Manchmal war es fast
unheimlich, wie genau dieser Winzling
die Vorgänge in der Umgebung in sich
aufnahm. Auch wunderten sich alle,
dass Franziska und Norbert, die doch
beide sehr robust wirkten, ein derart
sensibles Kind hatten.
Wieder einmal war Beatrice unruhig
und aß zu wenig, diesmal wenigstens
aus erkennbarem Grund. Franziska hatte
nicht mehr genügend Milch zum Stillen.
Nun war es nicht so, dass sie als Mutter
keine Geduld besaß. Sie tat wirklich
alles Erdenkliche, um die Umstellung
zu bewerkstelligen. Allmählich aber
geriet sie ans Ende ihrer Kräfte. Der
Schlafmangel tat ein Übriges. Sie
zweifelte an sich und kam schließlich so
weit, dass sie vor der Hütte in Tränen
ausbrach. Da spürte sie plötzlich, wie
sich sanft eine Hand auf ihre Schulter
legte. Sie blickte auf und erkannte
Pentia.
"Soll ich dir helfen? Vielleicht
schaffe ich es."
Im ersten Moment steigerte sich
Franziskas Verzweiflung noch. Als die
beiden Mädchen noch klein waren, hatte
die große Schwester einmal die kleine
während
einer
heimtückischen
Krankheit buchstäblich im letzten
Moment dem Tode entrissen, allein
durch die Kraft ihrer Liebe. Gab es
diese Kraft nicht mehr in ihr? Konnte
sie nun nur noch Räuberbanden
anführen? Pentia erriet ihre Gedanken
und sagte:
"Warum willst du mir nicht eine
Gelegenheit geben, meine Schuld
abzutragen?"
Franziska überlegte.
"Ja, du hast wohl Recht. Entschuldige
bitte, wenn ich dich manchmal ohne
Absicht kränke!"
Dass Pentia sich so unauffällig
verhielt und oft zurückzog, bedeutete
nicht, dass sie mit diesem Leben
glücklich war. In Wahrheit wusste sie
nicht, was sie anders tun sollte in
diesem Lager voll grobschlächtiger
Männer, vor denen sie sich fürchtete.
Sie beneidete ihre Schwester wegen
ihrer Durchsetzungskraft. Und sie fand
es sehr ungerecht, dass Franziska, der es
doch eigentlich an nichts mangelte, vom
Schicksal nun auch noch mit einem
niedlichen Säugling bedacht wurde. An
Norbert dachte sie dabei kaum. Für sie
war das Kind ein Geschenk des
Himmels. Vielleicht hätte der geheime
Neid allmählich die Liebe der
unzertrennlichen Schwestern untergraben. Doch von jenem Tage an gab es für
Pentia keinen Grund zur Verbitterung
mehr, denn ihr gelang das scheinbar
Unmögliche. Beatrice ließ sich von ihr
füttern und erholte sich. Sie wurde zu
einem guten Teil ihre Mutter.
In der Zeit, als sich Franziska um ihre
Tochter kümmerte und für nichts
anderes mehr Sinn hatte, führte Norbert
das Kommando in der Waldhütte-Burg.
Der auf der Lauer liegende Rupert
erkannte sofort die Gelegenheit,
sammelte seine Anhänger und verlangte
scheinheilig, die Anführerin zu sprechen.
"Wir
möchten
Beschwerden
vortragen."
"Du weißt genau, dass Franziska jetzt
nicht zu sprechen ist."
"Leider erlaubt unser Anliegen keinen
Aufschub."
"Du weißt auch, dass Franziska mich
zu ihrem Vertreter ernannt hat."
"Nun denn! Wir sind nicht
einverstanden mit den neuen Sitten, die
sich
seit
einigen
Monaten
einschleichen."
118
"Was meinst du damit?"
"Nun bist du derjenige, der sich
dumm stellt."
Tatsächlich war es für Norbert nicht
schwer, sich den Hintergrund der
Revolte auszurechnen. Seit dem
Überfall am Heiligen Abend kümmerten
sich die Stedinger verstärkt um die
Bündnispartner, die nun (mit Franziskas
Billigung)
einem
besonderen
Hauptmann
unterstanden.
Offensichtlich hatte die Universitas
Pläne mit ihnen - Pläne, deren Inhalt im
Dunkeln blieb. Der Hauptmann stritt ihr
Vorhandensein zunächst rundweg ab,
wobei ihn die Anordnungen, die er gab,
klar widerlegten. Die Gegend sollte
gründlich erkundet werden. Auch die
Befestigungsanlagen errichtete man auf
seine Anweisung.
Freilich waren Abhängigkeit und
Bevormundung nur die eine Seite der
neuen Lage. Die Vorteile überwogen.
Wenn es an Nahrung mangelte,
brauchte niemand mehr bei einem Überfall an der Fernstraße Leben und
Freiheit aufs Spiel zu setzen. Es reichte,
mit einem Wagen ins Marschland zu
fahren. Der Hauptmann ließ auch
durchaus mit sich verhandeln. Zum Beispiel bedrängte er sie nicht mehr mit
dem Umzug ins Kerngebiet der
Stedinger.
Dessen ungeachtet kehrte einer der
Bürgersöhne Ende März nach Bremen
zurück. Als sich herumsprach, dass er
begnadigt worden war und wieder
friedlich bei seiner Familie lebte, folgten ihm drei andere nach. Ruperts
Räuber blieben zwar, sonderten sich
aber demonstrativ ab. Andererseits
kamen Bauernsöhne aus Stedingen zu
ihnen. Die hatten anfangs keinen
leichten Stand, denn jeder misstraute
ihnen.
Im Oktober sickerte durch, dass die
Universitas in der inzwischen ziemlich
wehrhaften
Waldhütte-Burg
einen
vorgeschobenen Stützpunkt für den
Kriegsfall sah. Man konnte von dort aus
das Schloss von Wildeshausen mit
Pferden innerhalb eines halben Tages
erreichen. Im Falle einer Niederlage
konnte man sich dorthin zurückziehen
und hinter den Palisaden verschanzen.
Auch als Waffenlager eignete sich die
Anlage. Das ging den Räubern zu weit.
Rupert fürchtete (berechtigter Weise),
dass seine Stellung desto schwächer
würde, je mehr die Stedinger die
Bündnispartner in ihre Kriegstrategie
einbezogen.
"Ich glaubte bisher, dass ihr mit jenen
neuen Sitten einverstanden seid",
entschloss sich Norbert zu antworten.
"Wir haben sie unter Protest
hingenommen."
"Was soll dieses Katz-und-MausSpiel?! Sag frei heraus, was ihr wollt!"
"Wir wollen, dass das Bündnis mit
den Stedingern wieder gelöst wird. Wir
wollen frei sein und nicht abhängig von
den Launen eines fremden Hauptmanns
und den Befehlen einer noch fremderen
Universitas."
"Die Mehrheit ist anderer Meinung."
"Ihr könnt uns nicht zwingen, für eine
Sache zu kämpfen, die uns nichts
angeht."
Allmählich stieg in Norbert der Zorn
hoch.
"Du redest noch immer nicht offen.
Dass Franziska die Stedinger nicht
verrät, konntest du dir denken, bevor du
zu mir kamst."
"Vielleicht wollte ich die letzte
Brücke nicht voreilig abschlagen."
"Heuchler!"
"Warum so grob? Nun ja! Da wir hier
nicht mehr gern gesehen sind, werden
wir unsere eigenen Wege gehen."
"Nur zu!"
"Es gibt allerdings noch ein paar
Kleinigkeiten zu verhandeln. Uns steht
ein Drittel zu von aller beweglichen
Habe, einschließlich der Waffen."
119
"Euch steht überhaupt nichts zu!"
brauste Norbert auf. "Außerdem kann
ich zählen. Nicht einmal ein Viertel
käme heraus."
"Ein Drittel!" beharrte Rupert.
"Immerhin müssen wir uns ein neues
Haus bauen. Über die Tiere wäre
selbstverständlich noch gesondert zu
reden."
Als Norbert den Vorfall Franziska
berichtete, reagierte diese zu seiner
Verwunderung gelassen. Er argwöhnte,
ihre Gedanken drehten sich nur noch
um Beatrice. Ihre Begründung belehrte
ihn dann aber eines Besseren.
"Hast du erwartet, dass Rupert jemals
die Zeit vergisst, da er noch der Herr
über den Wald war? Wenn er
zusammen mit seinen Kumpanen geht,
ohne uns in Schwierigkeiten zu bringen,
ist das für uns die beste Lösung."
"Bringt er uns denn nicht in
Schwierigkeiten
mit
seinen
unverschämten Forderungen?"
"Wir sollten ihm goldene Brücken
bauen. Aber das will ich nicht allein
entscheiden."
Für den übernächsten Tag berief
Franziska eine Versammlung ein.
Überraschend für alle, sollte dabei nicht
nur über Ruperts Antrag sondern auch
über die Gesetze in der Waldhütte-Burg
sowie über den Anführer beraten und
abgestimmt werden.
"Ist diese abermalige Wiederwahl
denn nötig?" fragte Christian sie
verunsichert in einem günstigen
Augenblick. "Damals, als du deine
Schwangerschaft bemerktest, war das
wohl angebracht, aber jetzt, wegen der
Revolte dieser Galgenvögel?"
"Worum sorgst du dich? Ich bin mir
sicher, dass sie mich zum dritten mal
wählen, zumal Ruperts Leute nicht
mehr mit abstimmen dürfen."
"Das ist doch keine Antwort!"
"Ich will wissen, was sie sich von mir
versprechen. Sie hegen bestimmte
Erwartungen. Hast du noch nicht
beobachtet, wie die Bauernsöhne aus
Stedingen mich verstohlen mustern? Sie
sehen mich an, als ob ich ihnen das
ewige Seelenheil bringen kann."
"Warum fragst du sie nicht einfach
danach?"
"Sie weichen mir aus."
Die Versammlung verlief stürmisch,
doch nicht wegen Franziska sondern
wegen Forderungen der Räuber. Rupert
stellte verärgert fest, dass er zu lange
gezögert hatte. Durch die jungen
Stedinger war das Kräfteverhältnis zu
seinen Ungunsten verschoben worden.
Mit Gewalt erreichte er nun nichts
mehr.
Er
beschwichtigte
Ernst
Eisenarm, der das nicht begriff, und verlegte sich aufs Feilschen. Franziska
brachte sich in jene Rolle, in der sie sich
am besten fühlte - sie vermittelte zwischen den Parteien.
Die Wahl sollte den Abschluss der
Versammlung bilden und wäre beinahe
nicht zustande gekommen, weil die
Sonne schon bedenklich tief stand. Die
meisten fanden sie (ebenso wie
Christian) völlig überflüssig. Franziska
jedoch hatte sich eine Begründung
überlegt.
"Die vorige Wahl ist nicht der
Ordnung gemäß verlaufen. Wenn ein
Schulze bestimmt wird, sagen ihm die
Dorfbewohner, welche Pflichten und
Rechte er hat."
"Ja, das stimmt", bestätigten einige
Männer halblaut.
"Und ist nicht die Waldhütte-Burg
etwas Ähnliches wie ein Dorf? Nur der
Form halber wiederholen wir die Wahl."
Was so einfach klang, erwies sich
dann aber als recht kompliziert, denn
jene Pflichten und Rechte standen
nirgendwo geschrieben, konnten also
nicht (wie in einem alten Dorf) einfach
verlesen werden. Da wiederum die Zeit
drängte, war eine lange Beratung nicht
möglich. Trotzdem erfuhr Franziska
120
noch, was sie wissen wollte. Einer der
letzten Neuankömmlinge, ein Bursche
von knapp zwanzig Jahren mit
strohblondem Haar trug es vor, wenn
auch verschämt und umständlich.
"Niemand soll denken, dass ich nur
aus Eigennutz hierher gekommen bin.
Es ist nur so, dass ich als jüngster von
fünf Söhnen in unserem Dorf niemals
einen eigenen Hof erhalten kann. Auch
die meisten anderen Dörfer nehmen
keine fremden Bauern mehr auf. Das
Land ist knapp geworden, weil wegen
dem Erzbischof keine neuen Deiche
mehr entstehen. So bin ich eben
ausgewandert.
Ihr
seid
eine
Ritterstochter und könntet mir vielleicht
behilflich sein."
Einige andere junge Männer nickten.
Franziska beobachtete unterdessen aus
dem Augenwinkel den Hauptmann. Der
rührte sich nicht, war offenbar
einverstanden. Die Universitas hatte
also nichts dagegen, wenn sich junge
Leute, für die im Marschland kein Platz
mehr blieb, bei den Adligen verdingten.
Nun versprachen sie sich einiges von
den Westerholts, die eine ihnen
freundlich gesonnene Tochter hatte.
Zweifellos wussten die Stedingerführer
nicht, in welch schwierigen Treuebeziehungen diese Familie ohnehin schon
steckte.
III
W
ährend ich die erste Seite
dieser Chronik schreibe, weiß
ich noch nicht, ob sie für
spätere Leser eine Mahnung sein wird
oder ein Anlass zur Freude, ob sie vor
allem von bösartigen, verwerflichen
Taten berichten wird oder von guten,
vorbildlichen. Vielleicht wird sie ein
Beispiel geben dafür, wie sich schlechte
Anzeichen durch Gottes wunderbare
Fügungen nicht erfüllen. Ein steiniger
Acker trägt Früchte und aus einem
verdorrten Ast bricht frisches Blattwerk.
Doch noch während ich bete, dass es
also geschehen möge, beschleichen
mich Zweifel. Es wäre wohl töricht,
wenn nicht gar eine Versuchung des
Allmächtige, auf etwas Unmögliches zu
hoffen. Ich will meine Gefühle
vergraben, will zu einem Werkzeug
werden, einzig dazu geschaffen, die
Tatsachen niederzuschreiben, ohne
etwas
wegzulassen
oder
zu
beschönigen.
Otto von Oldenburg
Anno
Domini
MCCXXXI,
sechsundzwanzigsten Juli
am
Seine Heiligkeit Papst Gregor IX
wendet sich in einem Schreiben an den
Bischof Johannes von Lübeck, welcher
zugleich Prior der Dominikaner zu
Bremen ist, sowie an Johannes den
Deutschen, seinen Beichtvater, und
ermächtigt die beiden geistlichen
Würdenträger,
den
Erzbischof
Gerhard II bei seinem Kampf wider die
Stedinger zu unterstützen, insbesondere
den weltlichen Herren ins Gewissen zu
reden und an ihre Pflichten zur
Unterdrückung
der
Ketzerei
zu
erinnern. Zur Begründung beruft er sich
auf
das
Gutachten
seines
Großinquisitors für die deutschen
Lande, des Herrn Konrad von Marburg.
Anno
Domini
Spätsommer
MCCXXXI,
im
Seine Heiligkeit Papst Gregor IX ist
sich offenbar unsicher, was die
angeblichen Ketzereien der Stedinger
121
angeht. Er weigert sich, den von
Erzbischof
Gerhard II
geforderten
Feldzug
in
den
Rang
eines
Ketzerkreuzzuges zu erheben. Sogar
dem Gutachten seines Großinquisitors
Konrad von Marburg schenkt er
neuerdings kein uneingeschränktes
Vertrauen mehr. Er beauftragte den
Bischof von Minden, den Bischof von
Ratzeburg sowie den Bischof von
Lübeck, weitere Gutachten anzufertigen.
Burchard
insgeheim
entschädigt worden?
Anno Domini MCCXXXII,
neunundzwanzigsten Oktober
am
Seine Heiligkeit Papst Gregor IX erlässt
eine Bulle mit dem Aufruf zum
Kreuzzug wider die Stedinger und
sendet sie an den Bischof von Lübeck,
an den Bischof von Minden sowie an
den Bischof von Ratzeburg. Somit hat
sich der Papst also schließlich doch
umstimmen und zu einer harten Haltung
gegenüber
den
Bauern
des
Marschlandes an der Weser drängen
lassen. Sicher ist die Bulle ein Ergebnis
der unermüdlichen Bemühungen des
Erzbischofs von Bremen, auch wenn
seine Eminenz Gerhard II darin nicht
erwähnt wird. Wer soll nun den Krieg
noch verhindern?
Anmerkung:
Was mag den Papst in Zweifel gestürzt
haben? Sind ihm Berichte zugegangen,
welche
den
Darstellungen
des
Großinquisitors entgegenstehen? Wer
verfasste diese Berichte, so es sie denn
gäbe? Leider ist von den durch seine
Heiligkeit ausgewählten Würdenträgern
kaum zu erwarten, dass sie sich als
unparteiische
Gutachter
erweisen.
Bischof Johannes von Lübeck gehört zu
den engsten Vertrauten des Erzbischofs
von Bremen. Sind die neuen
Untersuchungen also nichts als eine
Posse?
Anno
Domini
MCCXXXI,
siebzehnten September
ausreichend
Anno Domini MCCXXXII,
zwölften November
am
Seine Heiligkeit Papst Gregor IX
erlaubt seiner Eminenz Erzbischof
Gerhard II von Bremen, mit allen einem
Kirchenfürsten
zur
Verfügung
stehenden
Mitteln
gegen
jene
Geistlichen vorzugehen, die sich, aus
welchen Beweggründen auch immer,
den Vorbereitungen des Kreuzzuges
wider die Stedinger in den Weg stellen.
Zugleich sichert er all jenen, die sich am
Kampf gegen die Ketzer beteiligen,
umfangreichen Ablass zu.
am
Seine Eminenz Erzbischof Gerhard II
von Bremen ordnet an, dass von nun an
und für alle Zeiten der Probst des
Alexanderstifts zu Wildeshausen ein
Mitglied des Bremer Domkapitels sein
muss. Wie mag der Graf von
Wildeshausen
diesen
Beschluss
aufnehmen? Und was mag den
Erzbischof veranlasst haben, jenen
Mann vor den Kopf zu stoßen, den er
als weltlichen Führer des geplanten
Feldzuges gegen die Stedinger auserkoren hat? Oder gab es eine
Absprache zwischen beiden, von
welcher niemand etwas erfuhr? Ist
Anmerkung:
Ich hörte, dass sich vor allem in der
Stadt Bremen aber auch anderenorts die
warnenden Stimmen häufen. Mancher
verlangt ein weiteres Gutachten,
verfasst von wahrhaftig unabhängigen
Leuten. Mancher rät, mit den
Stedingern zu verhandeln und bei allen
strittigen Fragen eine gütliche Einigung
122
anzustreben. Mancher warnt gar, der
Kreuzzug könnte mit einer Niederlage
enden, weil er in Wahrheit weltlichen
Zielen dient, weil also gewiss Gottes
Segen nicht auf ihm liegt. Es sind
keineswegs bekannte Ketzer, die solche
und ähnliche Reden im Munde führen.
Wirklich verlassen kann sich der Erzbischof allem Anschein nach nur auf die
Brüder vom Dominikanerkonvent.
Vielleicht vermag dieser Umstand doch
noch das Äußerste zu verhindern, auf
dass nicht friedliche Dörfer in Flammen
aufgehen und Unschuldige durch das
Schwert sterben müssen.
sieben Bischöfe, die sich in ihrem
Machtbereich für den Krieg gegen die
Marschlandbauern von der Weser
einsetzen. Das wird nicht ohne Folgen
bleiben. Schon jetzt haben etliche
größere und kleinere Herren Lust, sich
mit dem Schwert in der Hand zu
bereichern."
Otto von Oldenburg zitterten die Hände
vor Empörung, als er das niederschrieb.
Während er die Chronik verfasst hatte,
war er mehrmals von Zweifeln bis in
die Träume hinein verfolgt worden.
Konnte es nicht sein, dass die Stedinger
wirklich mit dem Teufel im Bunde
standen, wie es der Erzbischof behauptete? Die Schilderungen der Gräuel
beeindruckten auch ihn. Und es war ja
nicht zu leugnen, dass die Bauern
Priester erschlagen hatten. Doch immer
wieder stieß er auf Beweise für die
schier unglaubliche Habsucht der
selbsternannten Ketzerjäger. Bei so
vielen von ihnen erinnerte nichts, aber
auch gar nichts an Heilige. Otto war
unter einem Vorwand bis nach Osnabrück geritten und hatte mit den
Eiferern persönlich gesprochen. Da gab
es wenig Frommes zu hören. Nein, es
blieb dabei - Erzbischof Gerhard plante
einen ungerechten Krieg. Leider hatte er
den Heiligen Vater für sein schmutziges
Vorhaben zu missbrauchen verstanden.
Obgleich er sich seiner Ohnmacht
bewusst war, wurde Otto fortgerissen
von dem Bedürfnis, etwas zu
unternehmen,
irgendetwas,
was
zumindest den Anschein hatte, sinnvoll
zu sein. Er wünschte, dass wenigstens
die Oldenburger, seine Verwandten,
sich nicht beteiligten an jenem
Verbrechen. Darüber war immerhin
noch keine Entscheidung gefallen. Seit
zwei Jahren drängte der Erzbischof auf
eine klare Aussage. Genau so lange
verschanzte Christian sich hinter vagen
Versprechungen. Das konnte allerdings
Anno Domini MCCXXXII, im Herbst
Seine Eminenz Erzbischof Gerhard II
von Bremen ist mehr denn je und allen
Schwierigkeiten
zum
Trotz
entschlossen, den Kreuzzug schon bald
zu beginnen. Unermüdlich treibt er die
Vorbereitungen voran. Unter anderem
richtete er die von den Stedingern
zerstörte Schlutterburg wieder auf. Sie
ist nun so stark befestigt wie nie zuvor.
Für die Bauern bedurfte es dieses
Zeichens nicht mehr, um sie die
drohende Gefahr erkennen zu lassen.
Längst stellen auch sie sich auf einen
Waffengang ein. Sie schmieden
Schwerter und sehen sich nach
Verbündeten um. Dieser Krieg wird
furchtbar sein. Wenn der Erzbischof
von einer einfachen Züchtigung redet,
so sagt er wider besseren Wissens die
Unwahrheit.
Anno Domini MCCXXXIII, im Januar
Seine Heiligkeit Papst Gregor IX
wendet sich in einer zweiten
Kreuzzugsbulle wider die Stedinger an
den Bischof von Paderborn, an den
Bischof von Hildesheim, an den Bischof
von Verden sowie an den Bischof von
Osnabrück. So sind es nun also ihrer
123
alles
Mögliche
bedeuten.
Otto
entschloss sich, mit seinem Bruder zu
reden, obgleich ihn das Überwindung
kostete.
Der Graf war an jenem Tage gut
gelaunt. Er empfing Otto ohne viel
Aufhebens und sprach ziemlich offen
aus, was er dachte.
"Du wunderst dich über meine
schwankende Haltung zu diesem
Kreuzzug? Merkst du denn nicht, wie
gut das alles für uns läuft?"
"Ich verstehe nicht recht ..."
Christian lachte mit der Fröhlichkeit
eines Lausbuben.
"Unter den weltlichen Herren, welche
für den Erzbischof in den Krieg ziehen
wollen, gibt es nicht einen, der mir
ebenbürtig ist. Wir Oldenburger können
folglich zu jedem beliebigen Zeitpunkt
in das Geschehen eingreifen. In jedem
Fall beherrschen wir sofort das Feld. Da
müsste ich gehörig dumm sein, würde
ich mich gleich am Anfang ins
Getümmel stürzen. Burchard, dieser
Schwachkopf, hat sich ja schon weit aus
dem Fenster gelehnt. Die Stedinger
werden ihm mächtig das Fell versohlen.
Das sind tapfere Kämpfer, gut
bewaffnet zudem. Den ersten, der in ihr
Land eindringt, machen sie nieder. Da
bin ich mir ganz sicher. Denk an
Gerhards wackeren Bruder Hermann!
Erst die zweite oder dritte Welle bringt
die Wende. Vielleicht!"
"Und bei all dem willst du zusehen?"
"Und zwar mit großem Vergnügen!
Es wird sehr, sehr gut für uns ausgehen.
Ich weiß, dass du eine Chronik
schreibst. Wahrscheinlich entsteht da
unter deinen Fingern die Geschichte
vom Beginn des Aufstiegs unserer
Familie."
Er übertrieb das Pathos in
komödiantischer Weise. Im Grunde
aber meinte er ernst, was er andeutete.
Auch er beteiligte sich am Kreuzzug,
auch er rüstete auf - nur eben auf seine
Art. Als Otto das begriff, lag ihm eine
grobe Erwiderung auf den Lippen. Er
beherrschte sich jedoch. Christian hätte
auch daraufhin nur gelacht.
124
11.Kapitel
I
C
hristian gehörte zu den letzten,
welche die Neuigkeit erfuhren.
Streng genommen, handelte es
sich um ein Gerücht, zu dem sich
niemand mehr bekannte und dessen
Ursprung sich nicht mehr ermitteln ließ.
Trotzdem gingen immer neue ausschmückende Einzelheiten um. Als das
Geraune Christian nun also endlich
erreichte, sträubte er sich entschieden
dagegen.
"Da ist nichts dran. Ihr glaubt dieses
Märchen, weil ihr gern dran glauben
wollt. Ihr seid wie Kinder."
Tatsächlich freilich klammerte gerade
er sich am meisten an dieser Hoffnung
fest. Während er äußerlich auf Beweise
pochte, dürstete er innerlich nach
Begründungen, um den Behauptungen
folgen zu können. Nur allmählich
gestand er sich ein, dass er unter
Heimweh litt. Wenn der Erzbischof mit
den Bürgern Frieden geschlossen hatte,
wenn alle im Zusammenhang mit den
Unruhen der zurückliegenden Jahre
Festgenommenen wieder auf freiem Fuß
waren, wenn sogar ein Vertrag
ausgearbeitet wurde, wenn sich also die
Verhältnisse in Bremen derart zum
Besseren wendeten, dann konnten auch
die Flüchtlinge auf Milde rechnen.
Christian wurde von dem Gedanken
fortan Tag und Nacht verfolgt.
Manchmal meinte er am Morgen, in
seinem Verschlag über der Werkstatt
des
Meisters
Berthold,
seines
Stiefvaters, aufzuwachen.
Allerdings wollte er sich nicht
einfach davonstehlen. Es gab Freunde,
die auf ihn rechneten - Norbert, der auf
jeden Fall in der Waldhütten-Burg
bleiben wollte; Franziska, seine Dank
eines unglaublichen Zufalls in sein
Leben getretene Cousine; die jungen
Stedinger, für die er zu den alten Helden
zählte. Mehrere Tage vergingen, in
denen er sich im Grunde schon
entschieden hatte, aber noch nach einem
würdigen Rückzug suchte. Sein
Verhalten wurde dabei so auffällig, dass
Norbert ihn ansprach.
"Was ist mit dir? Du wirkst
sonderbar. Jeder hier sagt das."
"Es ist wegen der Gerüchte über
Bremen."
"Du willst ... zurückkehren?"
Christian nickte.
"Dein
Entschluss
ist
...
unwiderruflich?"
"Ja."
Nach einer längeren Pause stand
Norbert auf.
"Das letzte Wort steht Franziska zu."
Die junge Anführerin hatte gerade
mit Beatrice gespielt und übergab die
Kleine nun an Pentia. Dann wandte sie
sich, noch immer erfüllt von ihrer
Mutterliebe, den beiden Männern zu.
"Er will nach Hause."
Norberts
Enttäuschung
und
Missbilligung waren unüberhörbar.
Franziska indes schwieg und dachte
über etwas nach, was sie nicht verriet.
Ihre Gesichtszüge verdüsterten sich zunehmend und plötzlich, als litte sie
unter Atemnot, stand sie auf und trat vor
die Tür. Als sie nach einiger Zeit
zurückkehrte, wirkte sie erschöpft.
Norbert schien sie aus einem tiefen
Traum zu holen mit seiner Frage:
"Lassen wir ihn gehen?"
"Was sagst du? ... Ach so! ... Ja,
selbstverständlich! Das hier ist doch
kein Gefängnis."
Christian bedankte sich und kam sich
schäbig vor. War er einer, der im
entscheidenden Moment seinen Posten
verlässt, ein pflichtvergessener Knappe,
der sich mitten im feindlichen Angriff
von der Seite seines Ritters schleicht?
Doch diese Überlegungen hätte er
früher anstellen müssen. Nun blieb ihm
nur noch, seine persönlichen Sachen zu
einem Bündel zu schnüren. Anders als
Rupert der Räuber wollte er nur mitnehmen, was ohnehin niemand mehr
würde gebrauchen können.
Während er seinen Schlafplatz im
neuen Seitenflügel der Hütte aufräumte,
hatte er das Gefühl, nicht allein zu sein.
Er drehte sich um, konnte aber
niemanden im Raum sehen. Auch in der
Eingangstür stand keiner. Eher zufällig
blickte er auch einmal nach oben und
entdeckte Ramira, die dort auf einem
der Deckenbalken saß. Das war
keineswegs ungewöhnlich. Die kleine
Artistin lebte buchstäblich in drei
Dimensionen. Sie bewegte sich mit der
Sicherheit und Wendigkeit eines Eichhörnchens und hielt ihren Mittagsschlaf
dort, wohin sich andere nicht für einen
Augenblick
wagten.
Mittlerweile
schüttelte höchstens noch ein Neuer
darüber den Kopf. Christian hatte
diesmal aber das Gefühl, als wäre sie
absichtlich besonders still gewesen, als
wäre sie darauf ausgegangen, ihn
heimlich zu beobachten. Gegen diesen
Eindruck sprach lediglich, dass sie nicht
erschrak, als er sie entdeckte. Sie wirkte
gelangweilt da oben auf ihrem Balken.
Oberkörper und Kopf lehnten an einem
Stempel. Ein Bein baumelte herunter.
Die Hände spielten mit einem vom
Dach gefallenen Strohhalm.
Christian wandte sich wieder seinem
Bündel zu - und kam nicht mehr zu
Recht damit. Ein halbes Dutzend mal
musste er es wieder aufknoten, weil er
etwas hineinzulegen vergessen hatte.
Seine Bewegungen wurden fahrig. Was
war plötzlich los mit ihm? Dass er
Ramira liebte, glaubte er nicht. Seit je-
nem denkwürdigen Besuch bei den
Stedingern verstanden er sich mit ihr
recht gut, setzte sich wohl auch
gelegentlich zum Plaudern zu ihr. Doch
niemals hatten beide sich umarmt oder
gar geküsst. Sie vermieden sogar
harmlose Berührungen. Nein, nein, zwischen ihnen gab es nichts.
Endlich war er fertig. Er warf sich das
Bündel über die Schulter und sah noch
einmal zu der Artistin hinauf.
"Ich wünsche dir alles Gute."
"Danke! Ich dir auch."
Die Antwort klang kurz und
beiläufig. Da war keine Bitterkeit in der
Stimme. Im selben Ton sagt man
"Gesegnete Mahlzeit!". Hatte er mehr
erwartet? Ein wenig hastig überquerte
er den freien Raum bis zum Tor im
Palisadenzaun. Dann stand er draußen,
außerhalb der Waldhütten-Burg, war
also frei. Irgendwie anders hatte er sich
das vorgestellt. Er ging doch nach
Hause zurück und er ließ eine
Räuberhöhle hinter sich. Er war im
Begriff, wieder ein anständiger Mensch
zu werden, und er hatte dem
Verbrecherdasein abgeschworen. Die
zurückliegenden Monate würden für ihn
bald nur noch wie ein Alptraum sein.
Warum freute er sich nicht?
Auf der Wanderung wurde Christian
abgelenkt. Er durfte die Orientierung
nicht verlieren und musste auf der Hut
sein vor Waffenknechte aller Art.
Solange er nicht in Bremen in aller
Form begnadigt und wieder in die
Bürgergemeinschaft
aufgenommen
worden war, galt er als Räuber. Die
Vorstellung,
gewissermaßen
im
Angesicht
des
heimatlichen
Herdrauches gefangen genommen und
in einen Kerker geworfen zu werden,
versetzte ihn in Schrecken. Sogar am
Tor zitterte er noch.
Sicher fühlte er sich erst, als er in die
Gasse der Tischler einbog. Dort, hinter
jener sanften Biegung stand das Haus
126
von Meister Berthold. Christian
erinnerte sich durchaus der Auseinandersetzungen, die er mit seinem
Stiefvater gehabt hatte. Doch die Zeit
heilt
bekanntlich
Wunden.
Im
Rückblick erschien mancher Anlass
lächerlich, manche Schlussfolgerung
übertrieben. Als er das Haus betrat, war
er geradezu feierlich gestimmt. Er
dachte an das Gleichnis vom verlorenen
Sohn, auch wenn er nicht erwartete,
dass die Pflegeeltern tatsächlich für ihn
ein Fest ausrichten würden.
Meister Berthold war gerade damit
beschäftigt, bei einer Truhe die
Seitenteile anzupassen. Sein Sohn Fritz
half ihm. Sie redeten kein Wort, waren
so gut aufeinander abgestimmt, dass
kleine Gesten zur Verständigung
genügten. Mutter Hilde putzte einen
Zinnkrug, eine Neuanschaffung, die in
Ehren gehalten wurde. Eine Weile sah
Christian den dreien zu und fand es
lustig, dass sie ihn nicht gleich
bemerkten. Dann begann er, sich zu
wundern. So sehr konnten sie doch nun
wirklich nicht in ihre Arbeit vertieft
sein! Er räusperte sich. Nichts! Ihn beschlich die böse Ahnung, dass sie ihn
absichtlich übersahen. Die feierliche
Stimmung verflog und der alte Groll
kehrte zurück. Er erkannte seinen
Verschlag unter dem Dach wieder,
diesen einzigen Teil des Hauses, der
ihm gehörte. Alles stand wieder vor
ihm, die Streitereien um Kleinigkeiten,
die Ungerechtigkeiten, all das, was ihn
einst weggetrieben hatte, unabhängig
von der Verfolgung durch die Schergen
des Erzbischofs.
"Ich bin zurückgekehrt", sagte er
schließlich mit einer Stimme, die
herausfordernd und hart klang.
Meister Berthold konnte ihn nicht
mehr ignorieren, ließ sich aber trotzdem
Zeit, ehe er sich aufrichtete und mit
kaum weniger Kälte antwortete:
"Ja, unser undankbarer Pflegesohn ist
zurückgekehrt. Ich sehe es. Gefällt es
ihm nicht mehr unter den Räubern?
Lohnt es sich heuer nicht mehr, auf den
Landstraßen
die
Kaufleute
zu
überfallen? Dass sein Pflegevater sich
bei der Morgensprache verantworten
musste, berührt ihn selbstverständlich
nicht."
Sein Gesicht verdüsterte sich.
Zweifellos dachte er daran, wie er
seinerzeit im Zunfthaus nach vorn
gerufen wurde, wie die Blicke der
anderen Meister sich auf ihn hefteten,
als er Rede und Antwort stand. Man
wollte wissen, warum er auf die
Entwicklung des seiner Erziehung
anvertrauten jungen Mannes nicht mehr
Einfluss genommen habe, ob er
womöglich
insgeheim
damit
einverstanden gewesen sei. Eine gute
Gelegenheit für neidische Nachbarn,
sich (scheinheilig die Interessen der
Zunft vorschützend) am erfolgreicheren
Konkurrenten zu rächen. Sie stellten
hinterhältige Fragen, solche, die schwer
widerlegbare
Verdächtigungen
enthielten. Oder sie verteidigten den
Beschuldigten in einer Weise, dass sie
ihn zugleich demütigten. Und sie
nutzten
die
besonderen
Empfindlichkeiten des Meisters Berthold
aus. Der litt schon unter den kleinsten
Makeln.
Christian sah, dass er sich ehrlich
grämte wegen der vermeintlichen
Schande. Dennoch konnte er in sich
kein Mitgefühl finden. Zählt Ehre mehr
als Menschlichkeit? Hat der Heiland
etwa eines Titels wegen gelitten? Sind
die heiligen Märtyrer gestorben, um den
Leuten gefällig zu sein? Im Gegenteil!
Nur wer die Eitelkeit von sich wirft, ist
des Himmelreichs würdig. Christian
brachte nicht einmal eine Entschuldigung über sich.
"Ich wurde einer guten Sache wegen
verfolgt und musste fliehen, um nicht in
127
Gefangenschaft zu geraten", sagte er
stolz. "Inzwischen ist der Erzbischof
gezwungen, auf unsere gerechten
Forderungen einzugehen."
Mutter Hilde legte den Zinnkrug
beiseite und trat mit beschwörend
gehobenen Armen an den Pflegesohn
heran.
"Warum bist du so ein sturer Esel?
Warum kannst du dich nach all dem,
was du angerichtet hast, nicht einfach
deinem Vater zu Füßen werfen?"
Eine Blutwoge schoss Christian ins
Gesicht. Sich ihm zu Füßen werfen?
Das fehlte gerade noch! Sein Blick fiel
auf Fritz, der nichts sagte, aber alles
beobachtete, und entdeckte unverhohlene Feindschaft. Der wieder
aufgetauchte Stiefbruder war für ihn ein
Störenfried. Christian fühlte, dass er
sich bald nicht mehr würde beherrschen
können. Um es nicht bis zum Äußersten
kommen zu lassen, wandte er sich
abrupt ab und flüchtete zurück auf die
Gasse.
II
W
as hatte Christian sich nicht
alles erhofft? Wenige Augenblicke hatten seine Träume
vollständig zerstört. Wohin sollte er nun
gehen? Von seinen alten Freunden
hatten sich nur die Gemäßigten in der
Stadt halten können. Mit denen aber
war es ja am Ende zum Bruch gekommen. Es kostete Christian einiges an
Überwindung, den Weg zu Gottfrieds
Haus einzuschlagen.
Er hielt für möglich, kurzerhand
hinausgewiesen zu werden, erlebte aber
zunächst
eine
angenehme
Überraschung. Gottfried war gut
gelaunt und freute sich ehrlich, einen
Bekannten aus der Geheimbundära
wieder zu sehen. Er nötigte ihn, sich im
guten Zimmer niederzulassen und ließ
einen Krug Wein aus dem Keller holen.
"Du bist genau zur richtigen Zeit
zurückgekommen", sagte er, während er
für jeden einen Becher füllte. "Wir
stehen kurz vor dem vollständigen
Sieg."
"Ich hörte schon davon."
"Gerüchte verbreiten sich schnell.
Aber nun erzähle doch erst einmal, wie
es dir ergangen ist! Musstest du dich als
Knecht durchschlagen?"
Christian zögerte, wollte zunächst
vorsichtshalber lügen, entschloss sich
dann aber doch dazu, die Wahrheit
zumindest anzudeuten. Er sprach davon,
dass er nicht immer die Gesetze habe
beachten können. Die Verbindung zu
den Stedingern verschwieg er. Gottfried
nahm keinen Anstoß.
"Manchmal muss man sich halt auch
mit schmutzigen Dingen befassen",
meinte er. "Wichtig ist, sich hinterher
gründlich zu waschen."
Christian nickte, obwohl er nicht
wusste, was genau damit gemeint war.
Unterdessen lockerte der Wein die
Zungen. Aufgeräumt tauschten die
beiden Erinnerungen aus. Die frühen
Jahre erschienen ihnen seltsam verklärt
und
selbst
die
unerfreulichsten
Zwischenfälle
bekamen
einen
romantischen Glanz. Zwangsläufig
sprachen sie auch über ihre damaligen
Ziele, wobei Christian die Frage auf der
Zunge lag, ob sein Gastgeber dem
großen Ziel, Bürgermeister zu werden,
näher gerückt sei. Er wagte nicht, sie
auszusprechen.
Gottfried
kam
schließlich von selbst auf das Thema.
"Wir hatten damals alle so unsere
Flausen. Das Leben hat uns belehrt,
dass klangvolle Titel nicht das
128
Wichtigste sind." Er setzte sich in
Positur, etwas anmaßend, wie Christian
fand. "Ich übernehme demnächst das
Handelshaus eines Oheims. Neben
dieser Verantwortung könnte ich die
Pflichten eines Bürgermeisters kaum
erfüllen. Es reicht, wenn ich in den Rat
einziehe."
"Und du denkst, dass dir dies
gelingt?"
"Bei den Neuwahlen im Sommer bin
ich ein sicherer Kandidat."
Das Schweigen, das nun folgte, war
nicht frei von Spannung. Gottfried
spürte, dass er überzogen hatte, und
suchte nach einer versöhnlichen Geste.
Ein weiterer Gast indes befreite ihn aus
der Verlegenheit - Andreas. Auch der
war gut gelaunt. Als er Christian
gewahrte, stutzte er zunächst, schickte
auch einen misstrauischen Blick zu
seinem Förderer hinüber, wurde dann
aber rasch unterhaltsam. Er brachte ein
paar drollige Geschichte mit, die er nun
gekonnt zum Besten gab.
Nach dem Abendbrot erkundigte sich
der Heimgekehrte, der bislang nur
Gerüchte
kannte,
nach
dem
geheimnisvollen Vertrag, den der
Erzbischof mit der Bürgerschaft
abzuschließen
beabsichtigte.
Für
Gottfried war das ein gutes Stichwort.
Er kam sofort ins Schwärmen.
"Wir haben ihn weich geklopft. Er
hebt die ungerechten Zölle auf und zwar
ersatzlos. Er verpflichtet sich, an der
Weser von Hoya bis hoch ans Meer
keine Burgen mehr zu bauen. Die
vorhandenen Anlagen übergibt er an
uns, die Bürger. Wer hätte vor drei
Jahren für möglich gehalten, dass er
eines Tages so klein und erbärmlich um
Gutwetter bittet?"
"Ihm muss das Wasser bis zum Halse
stehen", ergänzte Andreas.
"Es sind vor allem die Wünsche der
Kaufleute berücksichtigt worden",
überlegte Christian laut.
"Gewiss! Wir haben ja auch am
meisten dafür gekämpft."
'Ja, nachdem die Handwerker unter
euch aus der Stadt gejagt worden sind',
dachte Christian bei sich und sagte:
"Hoffentlich sind alle Bürger glücklich
damit."
"Allen Leuten recht getan, ist eine
Kunst, die niemand kann."
"Gewiss!" sagte Christian.
Gottfried schickte unterdessen einen
Knecht in den Keller und ließ einen
neuen Krug Wein holen.
"Es ist wirklich ein großartiger
Kompromiss. Einen besseren hätte
niemand ausgehandelt."
Christian stutzte.
"Sagtest du Kompromiss? Vorhin
zähltest du nur Vorteile auf. Es gibt
auch Klauseln, die der Erzbischof
verlangt hat?"
"Jeder Vertrag ist letztlich ein
Kompromiss. Der Gerhard will den
Rücken frei haben für seinen Kreuzzug
gegen die Stedinger. Hast du erwartet,
dass sich ein Mann wie er ohne jeden
Grund auf Verhandlungen mit uns
einlässt, dass er uns aus reiner
Freundlichkeit Geschenke überreicht?"
"Ich bin kein Dummkopf. Ich meine
nur, dass man bei jedem Ding über die
Nachteile ebenso reden sollte wie über
die Vorteile. Mir scheint, ihr wollt nur
das Gute sehen."
"Hör
sich
einer
diesen
Kleingläubigen an!" rief Gottfried aus,
unerschütterlich in seiner guten
Stimmung. "Manche Zugeständnisse
sind buchstäblich umsonst. Was stört es
uns, wenn sich der Erzbischof mit
diesen Bauern herumschlägt? Mehr
noch - selbst bei dieser Klausel winkt
uns noch Gewinn. Von den frei
werdenden Gütern der Stedinger
erhalten wir jedes dritte. Auch von den
Strafgeldern bekommen wir einen entsprechenden Anteil."
"Wen meinst du, wenn du wir sagst?"
129
"Die Aufteilung wird in der
Verantwortung des Rates liegen."
'... womit klar ist, dass die Kaufleute
den Löwenanteil erhalten', ergänzte
Christian in Gedanken. Ihm erschien der
Vertrag durch und durch faul. Da er
aber mit seinen Einwänden gegen den
lärmenden
Optimismus
seiner
Gesprächspartner
nicht
ankam,
erkundigte er sich lediglich noch, ob die
Befürwortung des Vertragsentwurfs
einhellig sei in der Stadt.
"Die Stedingerklausel hat nicht allen
gefallen. Einige sehen in den Bauern
natürliche Verbündete. Aber das sind
Wirrköpfe. Wir müssen für unsere
Sache kämpfen, anstatt uns vor den
Karren Fremder spannen zu lassen."
Christian wollte dazu eigentlich
schweigen, weil er spürte, dass sein
Kredit allmählich schwand. Ihm fiel
wieder ein, dass er von seinen
Pflegeeltern im Unfrieden geschieden
war. Er brauchte ein Quartier, um nicht
winselnd zu ihnen zurückkehren zu
müssen. In seiner zunehmenden
Trunkenheit jedoch konnte er den Mund
nicht halten. Lallend ergriff er immer
offener Partei für die Stedinger.
"Vielleicht besiegen die Bauern das
Heer des Erzbischofs. Was macht ihr
dann? Vielleicht zerstören sie die
Burgen an der Weser, die Gerhard euch
übergeben will. Ja, sie stürmen sie, um
sich an euch zu rächen. Dann habt ihr
gar nichts gewonnen. Dann steht ihr
mächtig im Regen."
"Hör bloß auf! Was haben die nur mit
dir gemacht? Du bist kein Bauer
sondern ein Bürger. Begreife das
endlich!"
Christian begriff es nicht, wollte es
gar nicht begreifen. Mit der Sturheit des
Betrunkenen stritt er sich herum. Im
Eifer war er nahe daran, Geheimnisse
auszuplaudern. Zu seinem Glück
schrieben Gottfried und Andreas seine
sonderbaren Reden dem Wein zu. Sie
sahen ihm seine Ausfälle nach, so wie
man einem trotzigen Kind nichts übel
nimmt. Er bekam sein Quartier allein
schon deshalb, weil man ihn in seinem
ziemlich hilflosen Zustand nicht auf die
Straße lassen wollte, erst recht nicht bei
Dunkelheit. Wie tief er in den Becher
geschaut hatte, wurde ihm am nächsten
Morgen bewusst. Neben schrecklichen
Kopfschmerzen
gab
ihm
eine
Bemerkung Gottfrieds zu denken.
"Ein rothaariges Mädchen also ist
schuld am gegenwärtigen Zustand
deines Geistes! Wer hätte das gedacht
von unserem Frauenhasser?"
"Woher weißt du ...?"
Gottfried konnte sich kaum halten vor
Lachen.
"Du hast fast die ganze Nacht über
davon erzählt."
III
C
hristian blieb bei Gottfried
wohnen und das Zusammenleben im Alltag gestaltete
sich besser als erwartet. Er übernahm
kleine Arbeiten im Kontor, in die er
recht schnell hineinfand. Dafür bekam
er (neben Verpflegung und Unterkunft)
sogar einen kleinen Lohn, der ihm das
Gefühl gab, frei zu sein. Zu seinen
Pflegeeltern hatte er praktisch keine
Verbindung mehr. Als er Meister
Berthold einmal zufällig auf dem
Marktplatz sah, tat er so, als bemerke er
ihn nicht.
Am Abend empfing Gottfried häufig
Gäste, vor allem Parteigänger und
Geschäftspartner. Je näher der Tag der
Vertragsunterzeichnung
heranrückte,
desto länger dauerten die Zusammenkünfte. Gegenstand der Gespräche
130
war nicht der Vertragstext. Der stand
längst fest. Es ging schon um die Zeit
danach. In ganz Bremen rüsteten sich
die Leute für den Kampf um den
erwarteten Gewinn. Jeder wollte sich
ein Stück vom Kuchen sichern.
Während die Bürger ihre Einigkeit als
Grundpfeiler des erstaunlichen Sieges
lobten, waren sie insgeheim schon
wieder heillos zerstritten.
Christian hatte mit all diesen Dingen
nichts zu tun. Er war nur noch ein
mittelloser Angestellter, ein besserer
Knecht. Deshalb wunderte er sich, als
Gottfried ihn eines Tages zu einer
Versammlung ausdrücklich einlud. Er
sollte
sogar
als
Zeuge
der
Vertragsunterzeichnung
beiwohnen.
Welcher Umstand ihm diese Ehre
verschafft hatte, erfuhr er nie. Am wahrscheinlichsten erschien ihm, dass er in
der Delegation einen für die Zünfte des
Handwerks
vorgesehenen
Platz
blockierte. Der Gedanke an diese
Möglichkeit amüsierte ihn köstlich. Da
verzehrte sich Meister Berthold vor
Kummer, weil seine Zunft ihn seines
ungeratenen
Pflegesohns
wegen
gerüffelt hatte, und nun vertrat eben
dieser Pflegesohn alle Zünfte der Stadt
vor dem Erzbischof!
Die Vertragsunterzeichnung wurde
mit großem Gepränge inszeniert. Die
Bürger hatten daran nur einen
bescheidenen Anteil. Sie schmückten
ihre Häuser und trafen sich zu dem
einen oder anderen Freudenfest. Der
Erzbischof dagegen versetzte ganz
Niedersachsen in Aufruhr. Offenbar
legte er Wert darauf, dass jeder,
wirklich jeder von dem Vertrag erfuhr.
Ein Heer von Boten hetzte umher. Die
mächtigsten Adligen der Gegend um
das Stedingerland wurden als Zeugen
herbeizitiert, und zwar mit solchem
Nachdruck, dass ein Fernbleiben einem
Affront
gleichgekommen
wäre.
Unmengen feinster Speisen und ausge-
suchtester Weine sollten den großartigen
Rahmen
schaffen.
Die
abermalige Verschönerung der Wappen
auf dem Domplatz fiel da kaum noch
ins Gewicht.
Ein wenig aufgeregt war Christian
schon, als er mit elf anderen Bürgern
Bremens zum Palast des Erzbischofs
zog, obgleich er keinerlei Aufgabe
während des Zeremoniells zu erledigen
hatte. Von den Kleidern, die er trug,
gehörte kein einziges Stück ihm selbst.
Von Gottfried von Kopf bis Fuß ausstaffiert, kam er sich vor wie ein Diener.
Mit Sicherheit passte er nicht hinein in
diese
Gesellschaft
angesehener
Kaufleute. Die alten Familien waren
allesamt vertreten. Drei steinreiche
Emporkömmlinge ergänzten die Runde.
Alle platzten fast vor Selbstgefälligkeit.
Ihr Geltungsdrang ließ sich an diesem
Tag vortrefflich befriedigen. Auf dem
Weg vom Haus des Rates bis zum
Palast des Stadtherrn bildeten die Leute
Spalier. Die meisten von ihnen lebten
noch in der Illusion, dass auch für sie
persönlich
etwas
Nützliches
herausspringen könnte. Frauen jubelten
mit heller Stimme. Männer stemmten
Kinder in die Höhe.
Die Höfe des Palastes waren von
Fahrzeugen aller Art und Größe fast
gänzlich versperrt. Dazwischen hatte
man Pferde angepflockt. Offenbar
reichte der Platz in den Ställen nicht
mehr aus. Etliche gut eingewiesene
Dienstleute waren aber eifrig bemüht,
die Ordnung trotz allem aufrecht zu
erhalten. Sie eilten unermüdlich umher
und wiesen die Ankömmlinge nach
einem bestimmten Plan ein. Auch die
zwölf Bürgerlichen wurden sofort in
Empfang genommen und in eines der
vielen Zimmer geleitet, wo sie warten
sollten.
Nach einiger Zeit holte ein Mönch sie
dort wieder ab und führte sie mit
feierlichem Ernst in den großen Saal.
131
Christian war ein wenig enttäuscht, als
er eintrat. Er hatte hier die letzte
Steigerung, die absolute Krönung der
Pracht erwartet und fand sich einer
Leere gegenüber, die ihn unwillkürlich
an eine riesige Scheune denken ließ - im
Frühjahr, wenn fast nichts darin lagert.
Spärlich der Schmuck an den Wänden,
spärlich auch das Mobiliar. Vermutlich
wollte der Erzbischof dem Zeremoniell
dadurch eine besondere Erhabenheit
verleihen. Für die Prachtentfaltung blieb
noch genügend Gelegenheit beim für
den Abend vorgesehenen Festmahl.
Gesteigert wurde der spartanische
Eindruck des Saales noch dadurch, dass
sich kaum Menschen darin aufhielten.
Der Tür gegenüber, schier endlos weit
entfernt, saß vorerst nur Gerhard II
inmitten des Domkapitels. Der Einzug
erfolgte
streng
gemäß
der
Ständeordnung und die Bürgerlichen
waren zuerst dran. Damit sie sich nicht
vor den Kopf gestoßen fühlten, billigte
ihnen der Erzbischof als Ausgleich
einen
Platz
unmittelbar
am
Unterzeichnungstisch zu.
Nun kamen nach und nach die
hochrangigen Zeugen herein, jeweils
angekündigt von einem neben der Tür
stehenden Herold. Graf Heinrich III von
Bruchhausen erschien mit seinen beiden
Söhnen Heinrich dem Jüngeren und
Ludolf. Ansonsten bestand sein Gefolge
nur aus wenigen Rittern. Das beeinträchtigte
aber
keineswegs
sein
Selbstbewusstsein. Erst kurz vor dem
Kirchenfürsten beugte er den Rücken,
im letzten Moment bevor er einer
Unhöflichkeit schuldig geworden wäre.
Burchard von Wildeshausen zog eine
Anhängerschaft wie ein Herzog hinter
sich her. Er hatte wirklich jeden
aufgeboten, der in Frage kam,
unbekümmert darum, dass er sein Land
ohne einen einzigen erfahrenen
Hauptmann nahezu schutzlos zurückließ. Sein Gesicht drückte Missmut
aus. Es hieß, er wäre gern mit den
Zeichen
eines
Kreuzzugführers
erschienen, was Gerhard II ihm aber
verboten hätte.
Vielleicht grämte er sich auch, weil
nicht er sondern (wie seit eh und je) der
Graf von Oldenburg den Höhepunkt des
Einzugs bilden durfte. Daraus ging
hervor, wie sehr der Erzbischof noch
immer um dessen Mitwirkung beim
Kreuzzug buhlte. Christian hatte seinen
großen Namensvetter noch nie so nah
gesehen und staunte über dessen
frisches, jugendliches Auftreten. Rein
äußerlich entsprach der beleibte, ein
wenig träge Bruder des Grafen weit
eher seinem Bild von einem hochrangigen Adligen. Wer allerdings die
Gesichter der beiden genau studierte,
erkannte durchaus, wer von ihnen der
Machtmensch war und wer das glatte
Gegenteil davon. Das Gefolge der
Oldenburger
stand
dem
der
Wildeshausener zwar zahlenmäßig
nach, hatte aber einen sichtbaren
Vorteil, was die Vornehmheit betraf.
Zwei Männer des niederen Adels fielen
auf - der Edelherr von Stotel und der
Ritter von Westerholt. Jeder von ihnen
führte ein Aufgebot von fünf weiteren
Vasallen an.
Christian fühlte, wie sein Herz
heftiger zu schlagen begann. Wilhelm
von Westerholt, der Bruder seines
leiblichen
Vaters
Egbert
von
Westerholt!
War
da
irgendeine
Ähnlichkeit in den Zügen? Das von der
Sonne und vom salzhaltigen Wind gegerbte, vorzeitig faltig gewordene
Gesicht gab keine Auskunft mehr
darüber. Absurde Einfälle drängten sich
ihm auf. Wenn er nun plötzlich
aufstünde und sich dem Oheim zu
erkennen gäbe, ihm vor all diesen
Herren um den Hals fiele? Oder wenn
er ihm nun Grüße ausrichtete von seiner
Tochter, der Herrin über eine andere,
tief im Wald verborgene Burg? Doch er
132
ermahnte sich zur Ordnung. Gerade
entrollte ein Mönch den Vertag und las
ihn mit klarer, kräftiger Stimme vor.
Das eigentliche Zeremoniell begann.
Erzbischof Gerhard II bestätigte, dass
der Entwurf sein Wille sei und zugleich
sein Angebot an die Bürger Bremens.
Danach war der Rat an der Reihe,
dessen Sprecher sich im Namen der
Stadt mit dem Text einverstanden
erklärte. Anschließend traten die
Zeugen auf. Fünf von ihnen waren ausersehen, durch Siegel und Unterschrift
ihre Anwesenheit zu bestätigen - die
Grafen Christian II von Oldenburg,
Burchard von Wildeshausen und
Heinrich III von Bruchhausen sowie der
Edelherr von Stotel und der Ritter
Wilhelm von Westerholt. Sie traten
nacheinander
an
den
Unterzeichnungstisch und leisteten
beides in genau vorgeschriebener
Weise.
In Christian weckte solcherlei Pathos
Misstrauen. Die Erfahrung hatte ihn
gelehrt, dass eine Sache umso
fragwürdiger ist, je aufdringlicher sie
als großartig angepriesen wird. Unter
dem Vorwand, den Bürgerlichen
Sicherheit zu geben, wertete der
Erzbischof den Vertrag über Gebühr
auf. So sollte ihn später König Heinrich
bestätigen, ein Mann den Gerhard sonst
zu bekämpfen pflegte. Christian hörte
kaum zu. Ihn interessierten mehr die
kleinen Gesten am Rande. Feindselige
und einladende Blicke, ein kurzes
Zögern, verständnisinniges Nicken.
Dergleichen sagte mehr über die wahren
Verhältnisse aus als jene Urkunde, gab
auch Auskunft darüber, was sie einmal
wert sein würde.
Nach der Unterzeichnung trennten
sich die Bürgerlichen. Die Kaufherren
verließen den Palast, um am späten
Nachmittag
zum
Festessen
zurückzukehren. Sie wollten sich
umziehen, die betont seriöse Kleidung
ablegen und stattdessen ihren Reichtum
zur Schau stellen. Christian, der
anbehalten musste, was Gottfried ihm
überlassen hatte, blieb als einziger
zurück, was ihm zu erstaunlichen
Beobachtungen verhalf.
Selbst jemand, der sich nur auf den
Höfen und in einigen wenigen Räumen
aufhalten durfte, übersah nicht die
hektische Betriebsamkeit, von welcher
der Palast plötzlich erfüllt war.
Während die Gefolgsleute ähnlich den
Bürgerlichen den freien Nachmittag für
einen Gang durch die Stadt nutzten,
vielleicht auch für ein kleines Geschäft
im Viertel der Handwerker, blieben die
hochadligen Zeugen und ihre engsten
Vertrauten
verschwunden.
In
verschwiegenen Räumen saßen sie zu
geheimen Verhandlungen zusammen.
Näheres wussten Diener, die zuweilen
in kleinen Gruppen beieinander standen.
Obwohl sie leise sprachen, schnappte
Christian zuweilen ein paar Sätze auf.
Der Erzbischof schmiedete an einem
Bündnis der verfeindeten Verwandten
für seinen Kreuzzug. So rasch würde er
sie nicht wieder alle beieinander haben.
Plötzlich überkam Christian ein
unbezwingliches Gefühl des Ekels, ein
körperlicher Widerwille, als hätte er
Verdorbenes gegessen. Die Neugier
verflog. Er hielt es nicht mehr aus auf
den Höfen des Palastes, trat auf den
Domplatz hinaus und schlug den Weg
zu Gottfrieds Haus ein. Unterwegs aber
kehrte das Ekelgefühl zurück. Er
erinnerte sich der selbstzufriedenen
Gesichter der Delegierten. Was hatte er
mit diesen Leuten gemein? Gewiss, er
konnte bei Gottfried wohnen und
arbeiten. Doch welch einen Preis müsste
er dafür bezahlen! All diese Heuchelei,
all diese Selbstverleugnung! Er würde
das nicht mehr lange durchhalten. Er
kannte sich.
Als er das Haus betrat, stand sein
Entschluss fest, was ihm die Fähigkeit
133
gab, glaubhaft zu lügen. Sein
Pflegevater habe ihn zu sich bestellt und
eine solche Aussprache könne er nicht
einfach in den Wind schlagen. Er zog
sich um und schnürte heimlich sein
Bündel, was nicht lange dauerte, denn
seine Habseligkeiten waren nicht der
Rede wert. Am Stadttor wunderte sich
die Wächter, dass er um diese Zeit, kurz
vor Einbruch der Dunkelheit, noch nach
draußen wollte. Aber auch für sie hatte
er sich etwas zurechtgelegt. Er gab sich
als Boten des Rates aus und tat sehr
geschäftig.
IV
D
ie Nacht wurde empfindlich
kalt. Christian konnte nicht
schlafen. Um sich warm zu
halten, hüpfte er umher wie ein Gnom.
Dennoch war er guter Stimmung. Jenes
Gefühl, was er auf dem Wege nach
Bremen vermisst hatte, das Gefühl,
nach Hause zu gehen, es stellte sich
sonderbarer Weise jetzt ein. Er freute
sich darauf, die Leute aus der
Waldhütte-Burg wieder zu sehen, redete
in Gedanken schon mit ihnen. Ihm war,
als sei ein große Last von ihm
genommen worden, ohne dass er sich
erklären konnte, worin diese Last
eigentlich bestand.
Erst am Eingangstor fiel ihm ein, dass
manche ihm die Wochen in Bremen
vielleicht übel nahmen. Möglicherweise
fragten sie sich, warum er plötzlich
wieder da war, ob er gar als Spion
zurückkehrte.
Vor
derlei
Verdächtigungen aber bewahrte ihn sein
Freund Norbert. Ihm brauchte er nichts
zu erklären.
"Ich habe fest damit gerechnet", sagte
er. "Du wolltest mir nicht glauben,
wolltest unbedingt nachsehen, ob nicht
ein Wunder geschehen ist. Nun bist du
um eine Erfahrung reicher."
Während Christian durch die Anlage
lief, kam es ihm so vor, als sei er gar
nicht fort gewesen, zumindest nicht für
länger als einen Tag. Viel hatte sich
nicht geändert. Sogar sein Schlafplatz
war noch frei. Er packte sein Bündel
wieder aus und wollte sich von der
Wanderung ausruhen. Die Erschöpfung
hatte ihm am Schluss hart zugesetzt.
Dennoch fand er jetzt, da sich in einem
festen Haus auf einem weichen Lager
die Gelegenheit für erholsamen Schlaf
bot, lange keine Ruhe. Eine Stimme in
ihm sagte beharrlich, dass er noch etwas
erledigen müsse. Er schloss die Augen und öffnete sie im nächsten Moment
wieder. Dabei fiel sein Blick jedes Mal
auf ein Balkenkreuz schräg über ihm. Er
fragte sich, was es damit auf sich hatte,
doch seine Gedanken verwirrten sich
wie im Fieber.
Als er erwachte (nach wie langer Zeit
wusste er nicht), stand Ramira neben
seinem Lager. Sie beobachtete ihn aus
ihren klarblauen Augen aufmerksam, so
wie jemand, der eine Antwort auf eine
ihn sehr beschäftigende Frage sucht,
wie ein Arzt beinahe. Ihm war etwas
unbehaglich dabei. Er richtete sich halb
auf und fragte unsicher:
"Willst du etwas von mir?"
Sie schüttelte den Kopf und wandte
sich ab.
"Hast du schon lange dort
gestanden?"
"Nicht sehr lange."
Plötzlich fiel Christian die erste
Nacht bei Gottfried ein. Im Weinrausch
hatte er damals träumend von ihr
geredet.
"Ich erzähle manchmal im Schlaf so
Sachen ..."
Er brach ab, lauerte auf ihre Reaktion.
Doch er erfuhr nichts. Sie war leider ein
134
sonderbares Mädchen, in das man nicht
leicht hineinzublicken vermochte. Ihr
gleichgültiges Schweigen konnte alles
Mögliche bedeuten. Immerhin lud sie
ihn zum Essen ans Lagerfeuer ein.
"Die anderen warten schon. Ich
nehme an, dass du ziemlich hungrig
bist."
Nach dem Essen ging Christian zu
Franziska, um ihr Bericht zu erstatten.
Zuerst setzte er ihr die Lage in Bremen
auseinander. Sie hörte ihm aufmerksam
zu, wollte alles sehr genau wissen,
erkundigte
sich
nach
den
Hintergründen. Im Grunde war sie im
Nachhinein
froh
über
seinen
Ausbruchsversuch. Endlich erfuhr sie
aus
dem
Mund
eines
vertrauenswürdigen Kameraden die
Einzelheiten zu den seit langem
kreisenden Gerüchten.
"Wir mussten damit rechnen, dass
Gerhard sich eines Tages auf diese
Weise Handlungsfreiheit verschafft",
bemerkte sie, als sie alles wusste.
"Kaufleute sind als Freunde unzuverlässig. Sie verraten jeden, sobald
ihnen ein besseres Geschäft winkt. Das
sage ich, obgleich ich in einen
Kaufherrensohn unsterblich verliebt war
und ihn beinahe geheiratet hätte."
Christian
konnte
dem
nicht
widersprechen und fügte lediglich
hinzu:
"In der Bürgerschaft haben sich die
falschen Leute durchgesetzt. Ich
fürchte, das wird ihnen allen noch teuer
zu stehen kommen."
"Das soll unsere Sorge nicht sein."
"Die Vertragsunterzeichnung war ein
großes Ereignis."
"Das glaube ich dir."
"Aber du weißt noch nicht, wen der
Erzbischof alles als Zeugen bestellt
hat." Er suchte nach einem Übergang,
fiel dann aber doch mit der Tür ins
Haus. "Auch dein Vater war dabei."
Franziska zuckte zusammen.
"Mein
Vater?
Wilhelm
von
Westerholt? Er war in Bremen?"
"Ja, als Vasall des Grafen von
Oldenburg."
Nun zählte keine Politik mehr.
Christian musste einen ganzen Sturm
von Fragen beantworten. An vieles
konnte er sich so genau gar nicht mehr
erinnern. Jetzt bereute er, dass er am
Nachmittag
nach
der
Vertragsunterzeichnung
nicht
wenigstens versucht hatte, mit Wilhelm
ein paar Worte zu wechseln und etwas
über das Leben in der Wardenburg zu
erfahren. Franziska wäre ihm gewiss
sehr dankbar dafür gewesen.
Als er ging, wunderte er sich, dass ihr
trotz ihres Scharfsinns nicht aufgefallen
war, dass sie und ihr Vater auf verschiedenen Seiten standen. Mit keinem
Wort hatte sie es erwähnt. Vielmehr
redete sie so, als könne ein glückliches
Wiedersehen allenfalls noch zwei oder
drei Wochen auf sich warten lassen.
Sicherlich wollte sie die Wahrheit in
diesem Fall nicht gelten lassen.
135
12.Kapitel
I
A
n dieser Stelle sehe ich mich
genötigt, die Chronik zum
Zwecke einer Ergänzung zu
unterbrechen, da ich auf Berichte
gestoßen bin, die ich als bedeutsam
ansehe. Die Geschehnisse, um welche
es sich dabei handelt, betreffen Seine
Majestät Friedrich II, Kaiser des
Heiligen römischen Reiches deutscher
Nation, und Seine Hoheit Heinrich VII,
seinen Sohn, König über die deutschen
Lande an seiner Statt, sowie das
Verhältnis beider zueinander. In dem
Maße,
wie
der
Kaiser
sich
durchzusetzen vermochte, vollzogen
sich
Veränderungen,
deren
Auswirkungen bis hierher nach
Oldenburg und Bremen reichen.
Anno
Domini
MCCXXXI,
dreiundzwanzigsten Januar
am
Auf dem Reichstage zu Worms sieht
sich
Seine
Königliche
Hoheit
Heinrich VII, noch unter dem Eindruck
der strengen Ermahnung durch den
Kaiser, seinem Vater, gezwungen, den
Forderungen der mächtigsten Fürsten
der deutschen Lande nachzugeben,
dergestalt, dass er etliche seiner, den
Bürgerlichen
nützlichen
Gesetze
zurücknimmt und darüber hinaus allen
Städten
auf
Dauer
verbietet,
untereinander Bündnisse abzuschließen.
Anno Domini MCCXXXI, am ersten
Mai
Seine Majestät Kaiser Friedrich II
erlässt
in
Cividale
eine
Gesetzessammlung mit dem Namen
Statutum in favorem principum. Er
verzichtet darin ausdrücklich auf die
Ausübung gewisser Hoheitsrechte auf
den Gebieten der weltlichen und geistlichen Fürsten, so insbesondere auf das
Münzrecht. Außerdem untersagt er den
Städten, Pfahlbürger und Hörige in
ihren Mauern aufzunehmen, wie es
bisher durchaus Brauch war, sobald
Seuchen oder andere Umstände einen
Mangel an Arbeitskräften schufen.
Anno Domini MCCXXXI, im Herbst
Seine Hoheit Herzog Ludwig von
Bayern fällt einem hinterhältigen
Mordanschlag zum Opfer. Niemand
weiß, wer die feigen Mörder sind und
wer sie gedungen hat. Jedermann kennt
jedoch das schlechte Verhältnis des
ehemaligen Reichsverwesers für die
deutschen Lande zu Seiner Königlichen
Hoheit Heinrich VII, seinem früheren
Mündel. Deshalb wirft die Bluttat einen
Schatten
auf
letzteren
und
verschlechtert
dessen
ohnehin
ungünstige Lage.
Anno
Domini
Weihnachten
MCCXXXI,
an
Seine Majestät Kaiser Friedrich II
beruft in Ravenna einen Reichstag ein.
Er hatte dergleichen bereits einen
reichlichen
Monat
zuvor
zu
bewerkstelligen versucht. Die Heere der
Lombardischen Städte jedoch hielten
damals die Zufahrtswege besetzt und
verhinderten so die Anreise der Fürsten.
Seine Königliche Hoheit Heinrich VII
erscheint trotz ausdrücklicher Einladung
nicht und bleibt statt dessen im
elsässischen Hagenau, wobei er
behauptet, die Bedrohung sei nach den
ihm zugegangenen Meldungen noch
nicht vorbei. Vermutlich beabsichtigt er,
auf
diese
Weise
neuerliche
Demütigungen zu vermeiden. Von den
gefassten Beschlüssen halte ich drei für
so bedeutsam, dass ich sie in meiner
Chronik erwähnen möchte.
Primo: Ketzer sollen von nun an und für
immer grundsätzlich als Strafe den
Feuertod erleiden.
Secundo: Wenn sich eine Stadt einen
Rat wählt, so soll die Wahl erst dann
gültig genannt werden dürfen, wenn der
jeweilige Stadtherr seine Zustimmung
gegeben hat.
Tertio: Die aufsässigen Lombardischen
Städte werden mit ausdrücklicher
Zustimmung der Fürsten mit dem Bann
Seiner Majestät belegt.
allein in der Bibliothek. Hätte nicht ab
und an eine Maus geraschelt, wäre es
totenstill um ihn herum gewesen. Der
Lichtkegel der Öllampe begrenzte seine
Welt auf einen engen Teil des Raumes.
Da fragte er sich, ob er nicht tatsächlich
allmählich ein Trottel wurde, ein
Dummkopf mit dem Wissen eines
Pariser Professors, ein Prophet, den
niemand ernst nahm und dessen Tun
deshalb sinnlos war. Betrog er sich
nicht selbst, wenn er behauptete, mit
dem Schreiben am meisten bewirken zu
können? Er lebte ziemlich bequem in
seiner geistigen Welt.
Plötzlich zweifelte er sogar seine
Chronik an. Was wusste er denn von
den Verhältnissen in den Städten? Er
hatte sich in Bremen umgesehen, aber
nur wenige Eindrücke gesammelt,
winzige Ausschnitte gesehen, die
vielleicht typisch waren, vielleicht aber
auch völlig abwegig und kurios. Immer
verzweifelter wurde er, bis er sich sagte,
dass er wahrscheinlich überarbeitet sei.
Er musste sich für diesen Tag losreißen,
sich ins Bett legen und am nächsten
Morgen noch einmal über alles
nachdenken - über die Städte, über sich
selbst, über sein Werk.
Gerade in dem Augenblick, da er von
seinem Hocker aufstehen wollte,
vernahm er Schritte, die sich rasch
näherte. Seine überreizten Nerven
ließen ihn entsetzt zusammenfahren.
Wer rannte um diese Zeit noch im
Schloss umher? Er wäre selbst
angesichts
eines
Gespensts
mit
hässlicher Fratze nicht überrascht
gewesen. In Wahrheit kam Mechthild
herein, noch völlig angekleidet und in
heller Aufregung.
"Was ist geschehen?" fragte Otto
verwirrt.
Die junge Frau rang nach Atem, nicht
nur des schnellen Laufens wegen.
"Es geht zu Ende mit ihm. Er liegt im
Sterben."
Anno Domini MCCXXXII, im Mai
Seine Majestät Kaiser Friedrich II nötigt
Seine Königliche Hoheit Heinrich VII,
seinen beim Reichstag zu Ravenna nicht
anwesenden Sohn, in Aquileia mit ihm
zusammenzutreffen und dort feierlich
zu schwören, in seiner Politik nichts zu
unternehmen,
was
den
jüngst
beschlossenen Gesetzen zuwiderläuft,
sondern vielmehr alles zu tun, was
ihnen förderlich ist.
Anno Domini MCCXXXII
Seine Majestät Kaiser Friedrich II hält
sich abermals in Cividale auf und
bekräftigt dort alle die Städte
betreffenden Gesetze. Er verfügt
darüber hinaus, dass von nun an auch
der Verkauf und die Verpfändung von
Grundeigentum zu den Dingen gehören
mögen, welche der Zustimmung des
Stadtherrn bedürfen."
Otto von Oldenburg legte die Feder aus
der Hand und streckte den steif
gewordenen Rücken. Draußen war die
Dunkelheit hereingebrochen. Er saß
137
"Wer liegt im Sterben?"
"Dein Bruder. Komm mit hinüber in
den Palas!"
Otto starrte sie an. Er war wie
gelähmt. Trotz aller Gegensätze liebte
er seinen Bruder. Es gab in ihm eine
geheimnisvolle Anhänglichkeit, die ihn
nach jedem Streit verzeihen ließ. Und
noch ein anderes Gefühl stieg in ihm
auf, langsam zunächst, dann aber so
mächtig, dass es ihm die Kehle zudrückte - die Furcht vor der
Verantwortung für etwas, das er kaum
kannte, für die Grafschaft Oldenburg.
Wie ein Schlafwandler folgte er seiner
Frau.
II
D
as Obergeschoß des Palas war
durch unzählige Kerzen fast
taghell erleuchtet. Die Kerzen
standen aber nicht der Helligkeit wegen
dort. Sie hatten den Zweck, Gott, den
Allmächtigen, im letzten Moment noch
umzustimmen. Geweihte Kerzen als
letzter, verzweifelter Versuch, seitdem
der Arzt, seine Ohnmacht eingestehend,
nichts mehr tat. Vor dem Bett kniete der
Priester und sprach mit gedämpfter
Stimme
Gebete,
unermüdlich,
beharrlich. Gräfin Agnes saß apathisch
in einem Sessel. Der neunjährige
Johann weinte und versuchte vergeblich, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu
lenken. Das völlig verunsicherte Kind
war dankbar, als Mechthild und Otto
hereinkamen. Die junge Frau nahm ihn
zu sich und beantwortete leise seine
Fragen.
Christian litt seit drei Tagen unter
Kopfschmerzen und Schwindelanfällen,
wollte jedoch noch einiges erledigen,
das (in seinen Augen) keinen Aufschub
erlaubte. Seit der Erzbischof mit seinen
Bürgern in Frieden lebte, wurden die
Kreuzzugsvorbereitungen
geradezu
hektisch vorangetrieben. Boten jagten
zwischen den Höfen hin und her, ritten
ihre Pferde zu Schanden dabei. Der
Graf vertraute auf seinen Körper, den er
für kräftig hielt. Er zwang sich, am
Morgen so wie immer aufzustehen.
Seinen Angehörigen und Freunden
versicherte er, dass sie sich um ihn nicht
zu sorgen brauchten. Wenn sich das
Zimmer um ihn zu drehen begann,
gönnte er sich nur so lange Ruhe, wie
der Anfall dauerte. An jenem
unheilvollen Tag ging dann alles sehr
schnell. Er brach zusammen wie vom
Blitz gefällt. Seine Stirn war glühend
heiß. Er phantasierte. Am späten Abend
erst wurden seine Gedanken noch
einmal klar. Doch da hatte der Arzt ihn
schon aufgegeben. Es war dies nur noch
das letzte Aufbegehren des Lebens,
welches dem Tod häufig voranzugehen
pflegt.
Diese jähe Wende schmetterte die
Angehörigen vor allem nieder, der
gefürchtete plötzliche Tod. Bei jedem
hätte man es erwartet, nicht bei
Christian, dem immer das Glück zur
Seite stand, immer die Sonne lachte.
Salome, die alte Gräfin, die ganz selten
die Burg verließ, sie war trotz der
Krankheit ihres Sohnes zu ihrer Tochter
ins Kloster Bassum gereist. Nicht von
ungefähr fehlte in kaum einer Kirche
die
riesige
Darstellung
eines
Christophorus,
des
Schutzheiligen
gegen eben jenes schreckliche Ende, das
keine Erlösung aus langen Leiden ist
sondern ein Herausgerissenwerden
mitten aus glücklichem Dasein.
Otto trat an das Bett seines Bruders
heran. Jetzt dachte er nur noch an ihn
und war gänzlich erfüllt von Mitgefühl.
"Gib nicht auf! Wenn Gott es will,
lässt er ein Wunder geschehen. Ich habe
138
schon manchen wieder aufstehen sehen,
auf den niemand mehr wetten wollte."
Christian lächelte leicht. Sein
Gesichtsausdruck hatte sich verändert.
Keine Spur von Hochmut war mehr
darin zu finden, nicht mehr die
unerschütterliche Selbstsicherheit, in die
sich ein Hauch von Härte mischte, statt
dessen eine sonderbare Entspanntheit,
ein beinahe übersinnlicher Glanz.
"Du willst mich trösten. Dafür danke
ich dir. Aber es hat keinen Sinn. Sag
bitte dem Priester, dass er aufhören soll,
den Allmächtigen zu bedrängen!
Vielmehr soll er die letzte Ölung
vorbereiten."
"So sicher bist du dir, dass es das
Ende ist?"
"Ja, denn ich habe begriffen, aus
welchem Grunde ich sterbe. Darüber
möchte ich mit dir gern reden."
"Ich höre dir zu."
"Es gibt einen Geheimvertrag
zwischen mir und dem Erzbischof von
Bremen. Gerhard verzichtet darin auf
alle
lehnsherrlichen
Forderungen
gegenüber den Oldenburgern. Als Gegenleistung verpflichten diese sich
endgültig und unwiderruflich zur
Teilnahme am Kreuzzug gegen die
Stedinger."
Er schwieg und schloss für einen
Moment die Augen. Otto begriff nicht
recht.
"Was hat das zu tun mit deiner
Krankheit?"
"Das fragst gerade du? Erinnerst du
dich nicht mehr an unser letztes
längeres Gespräch? Wie du mir ins
Gewissen geredet hast und ich nichts
hören wollte? Nun, du warst im Recht,
damals und auch schon in den Jahren
zuvor. Leider weiß ich das erst jetzt,
nachdem Gottes Schwert auf mich
herab gefahren ist."
Otto war unbehaglich zumute. Nein,
auf diese Art wollte er nicht Recht
behalten.
"Gott kann auch verzeihen."
"Ja, das kann er. Sonst gäbe es für
mich keine Hoffnung mehr. Gott vergibt
dem reumütigen Sünder. Ich weiß jetzt,
dass irdische Dinge nichts gelten im
Vergleich zum Seelenheil. Ich habe
alles von mir geworfen, bin kein Graf
mehr, kein Angehöriger des Hochadels,
nur noch ein einfacher, unwürdiger
Mensch, der sich dem Allmächtigen
anvertraut wie ein unmündiges Kind
dem Vater."
Otto rannen Tränen über die Wangen.
"Du brauchst nicht um mich zu
weinen", sagte Christian, wieder mit
jenem übernatürlichen Lächeln. "Geh
deinen Weg weiter! Lass dich nicht
beirren! Dann wirst du eines Tages weniger zu bereuen haben als ich. Und nun
lass mich mit dem Priester allein!"
Gehorsam zog sich Otto zurück. Im
Nebenraum traf er Mechthild mit
Johann. Agnes hatte sich (auf ihre
Überredung hin) zu Bett gelegt. Als er
sie sah, wurde ihm schlagartig wieder
bewusst, dass er nun der Graf von
Oldenburg war. Christian hatte ja die
irdischen Dinge von sich geworfen. Und
er übernahm die Herrschaft in unruhiger
Zeit. Der Kreuzzug stand bevor, jener
Krieg, gegen den er mehr Abscheu denn
je empfand und an dem er sich (eines
von seinem Bruder abgeschlossenen
Vertrages wegen) wohl beteiligen
musste.
"Ich kann es nicht", sagte er und
verbarg sein Gesicht in den Händen.
"Was ist, wenn ich ablehne, wenn ich
mir den goldenen Reif nicht aufsetzen
lassen?"
Mechthild legte ihm den Arm um die
Schultern.
"Du weißt so wie jeder im Schloss,
dass dir keine Wahl bleibt. Du kannst
zurücktreten, sobald Johann volljährig
ist. Bis dahin aber musst du ihm die
Grafschaft bewahren."
139
Er
seufzte
und
erhob
sich
schwerfällig.
"Ja, genau so verhält es sich."
Mechthild spürte, dass sie ihm noch
irgendetwas Tröstendes sagen musste.
"Du wirst weise Entscheidungen
fällen und die Leute werden dich
mögen. Und außerdem hast du eine
kluge Frau."
Da konnte er sogar wieder lächeln.
"Meine kluge Frau werde ich jetzt
wohl mehr brauchen als je zuvor."
III
E
s war zu einer Regel in der
Waldhütte-Burg geworden, dass
jeden Dienstag ein Bote aus dem
Stedingerland mit Franziska redete und
diese die Neuigkeiten abends am Feuer
weitergab. Die Bauernsöhne lauschten
dabei mit angehaltenem Atem auf jedes
Wort. Sie dachten an ihre Familien und
sorgten sich wegen der Bedrohung, die
von den Kreuzzugsvorbereitungen des
Erzbischofs ausging. Die Flüchtlinge
aus Bremen sahen den Lauf der
Ereignisse meistens gelassener. An
jenem Tage aber war die Aufregung
allgemein. Schon bevor Franziska das
Wort ergriff, liefen Gerüchte um.
Offenbar stand der Krieg unmittelbar
bevor.
"Freunde! Die Universitas hat
beschlossen, den Feindseligkeiten des
Bremer
Erzbischofs
und
seiner
Anhänger
nicht
länger
tatenlos
zuzusehen. Noch in dieser Woche
sammelt sich ein Heer."
Jubel brach los. Etliche der jungen
Männer hatten sich ihre Schwerter und
Schilde mitgebracht und vollführten
einen Höllenlärm damit. Franziska biss
sich missmutig auf die Lippen. Leider
war sie verpflichtet, die Begeisterung
eher zu fördern als zu unterdrücken.
"Diese
Entscheidung
ist
den
Stedinger-Führern nicht leicht gefallen.
Krieg bedeutet, dass Frauen um ihre
Männer und Kinder um ihre Väter
trauern werden. Andererseits ist die
Zahl der Opfer vielleicht geringer, wenn
wir den ersten Schlag führen."
Nun wurde sie mit Fragen bestürmt.
Wem sollte der Angriff gelten? Der
Stadt Bremen? Einem Kloster der
Dominikaner? Einer Streitmacht des
Erzbischofs, die er heimlich zusammengezogen hat? Das wusste sie jedoch
selbst nicht. Sie hatte lediglich den
Befehl erhalten, ihre Anhängerschaft zu
einer genau bezeichneten Wiese im
Stedingerland zu führen.
Als
unmöglich
erwies
sich,
Freiwillige zu finden, die in der
Waldhütte-Burg bleiben sollten. "Eine
Handvoll Leute kann gegen einen
Angriff nichts ausrichten", war die
einhellige Meinung. Doch zum einen
forderte die Universitas ausdrücklich
eine Bewachung der Anlage und zum
anderen wollte Franziska, dass Pentia
und die kleine Beatrice Beschützer
hatten. Am Ende entschied das Los.
Während
der
Aufbruchsvorbereitungen herrschte eine
beinahe
ausgelassene
Stimmung.
Bedrückt waren nur Franziska und
Norbert,
die
ihr
Töchterchen
zurücklassen mussten. Am Nachmittag
verfügten sie, dass niemand sie stören
dürfe.
"Es ist nur für ein paar Tage", sagte
Norbert. "Höchstens für zwei Wochen."
Franziska antwortete nicht. Sie fragte
sich, ob er seinen Worten selber
glaubte. Zugleich überkam sie (einmal
mehr) die Verwunderung darüber, noch
140
immer Anführerin zu sein. Welche
Vorzüge hatte sie den anderen
gegenüber, von ihrer Abstammung
einmal abgesehen? Leider besaß sie
nicht einmal geheimes Wissen, wie es
vor allem die jungen Stedinger bei ihr
vermuteten.
"Es wird nicht nur für ein paar Tage
sein", flüsterte sie.
Beatrice schlief fest. Vorsichtig nahm
sie die Kleine ihrer Schwester aus dem
Arm. Sie hätte ihr zum Abschied gern
noch einmal in die Augen gesehen, aber
auch, dass sie nicht aufwachte, gefiel ihr
gut, bedeutete es doch, dass sie sich bei
ihr unbewusst geborgen fühlte, sich
ihrer noch erinnerte.
"Ich bin eine Rabenmutter, nicht
wahr?"
"Wie kannst du so etwas von dir
behaupten!" widersprach Pentia, ehrlich
empört. "Beatrice ist dein Kind und du
wirst es groß ziehen. Ich bin nur so
etwas wie eine Amme."
"Ich komme bald zurück. Ich beeile
mich."
Sie wusste, dass sie Unsinn redete,
aber ihr fiel nichts Besseres ein. Im
Übrigen verstand Pentia sie trotzdem.
Die Leute aus der Waldhütte-Burg
sollten innerhalb des Bauernheeres ein
Fähnlein bilden und waren folglich eine
selbständige Einheit. Leider verfügte
niemand von ihnen über Erfahrungen in
einer Schlacht. Franziska hatte von
ihrem Lehrer nur gelernt, mit den
Waffen umzugehen. Ziemlich schwach
erinnerte sie sich zudem an Übungen
vor der Burg des Vaters. Damals war sie
noch ein Kind gewesen, ein kleines
Mädchen, das sich um die Pflichten der
Männer nicht kümmern sollte.
Immerhin wusste sie, dass es eine
Fahne geben musste, damit sich jeder
im Getümmel orientieren kann. Pentia
erklärte sich bereit, sie zu nähen.
Ramira, die sich mit unerklärlicher
Starrköpfigkeit
weigerte
zurückzubleiben, sollte sie tragen. Als
Motiv schlug Franziska ein Symbol der
Waldhütte vor, setzte sich damit jedoch
nicht durch. Nur das Wappen der
Westerholts käme in Frage. Als sie das
für unmöglich erklärte, einigte man sich
auf eine leichte Abwandlung.
Christian versuchte noch bis zum
Abmarsch, die Artistin zum Bleiben zu
bewegen.
"Was versprichst du dir davon? Das
wird bestimmt nicht spaßig."
"Und warum bleibst du nicht hier?
Wird's für dich lustiger sein?
Außerdem: Was geht's dich eigentlich
an, du treulose Tomate?"
"Nun fang nicht wieder damit an!"
"Ich komme mit. Wie du siehst habe
ich (im Unterschied zu dir) sogar schon
einen festen Platz."
Sie stieß keck den Schaft der Fahne
auf den Boden.
"Nun gut! Dann habe ich ab jetzt
auch einen Platz. Ich beschütze dich."
"Monatelang flüchtest du vor mir wie
vor einem Geist und nun werde ich dich
nicht mehr los! Männer sind komische
Menschen!"
Das Waldhütte-Fähnlein traf als eines
der letzten im Sammellager der
Stedinger ein und wurde schon
ungeduldig erwartet. Franziska sollte
sich sofort im Zelt der Anführer melden. Dabei musste sie fast das gesamte
Lager durchqueren. Sie war verblüfft
über die gute Ausrüstung der Bauern.
Alle hatten eiserne Waffen, viele sogar
eiserne Brustpanzer und Beinschienen.
Franziska trug ein Kettenhemd und
einen sorgfältig gearbeiteten Wams aus
dickem Leder. Darauf war sie stolz
gewesen, doch nun kam sie sich darin
beinahe ärmlich vor. Vor dem Zelt traf
sie Tammo von Huntorf und erstatte
ihm Meldung.
"Ich fürchtete schon, auf euch
verzichten zu müssen", rief er
aufgeräumt.
141
Der ehemalige Schmied konnte sich
nicht gut verstellen. Deshalb glaubte
ihm Franziska seine Freunde über das
Wiedersehen. Zugleich staunte sie, dass
er sie offenbar nun ernst nahm. Als
Fähnleinführer zog er sie ins Vertrauen.
"Braucht ihr noch Waffen oder
Rüstungsteile?"
"Im Wald haben wir keine
Schmiede."
"Ich verstehe. Führe deine Leute dort
zu diesem großen Zelt! Vielleicht
finden sie etwas, was sie brauchen.
Natürlich sind das nur noch Reste."
Für die meisten lohnte sich der Gang.
Franziska entdeckte für sich einen
passenden, wenn auch nicht besonders
schönen Helm sowie zwei eiserne
Schalen zum Schutz der Oberschenkel.
Mit ihrem leichten Wams war sie
zufrieden. Auch ihr kurzes Schwert
tauschte sie nicht. Es war aus gutem
Stahl, schien allein für sie gefertigt zu
sein und hatte ihr schon manchen guten
Dienst erwiesen. Zudem sprach ein alter
Aberglaube dagegen, sich von einer im
Kampf geweihten Waffe ohne Not zu
trennen.
Für den Morgen des nächsten Tages
wurden
die
Hauptleute
und
Fähnleinführer zusammen zu einem
etwas abseits vom Lager befindlichen
Platz bestellt. Nun, da das Bauernheer
vollständig war, erläuterte Dietmar tom
Diek die politische Lage und beschrieb
in groben Zügen die Taktik, die er sich
ausgedacht hatte.
"Es ist uns gelungen, den Herzog
Otto von Lüneburg für ein Bündnis zu
gewinnen."
Die Versammelten bejubelten den
Erfolg mit Waffenrasseln. Dietmar
ermahnte sie mit erhobenen Händen zur
Ruhe.
"Wir wissen, dass der Herzog kein
wirklicher Freund von uns ist. Er steht
lediglich als erbitterter Feind des
Erzbischofs auf unserer Seite und hofft
auf persönliche Vorteile. Für uns kam
es darauf an, dass er seine Feldzüge mit
uns abstimmt. Das hat er getan. Er
verfügt über zwei Heere. Mit dem einen
belagert er Stade, mit dem anderen zieht
er gegen Bremen."
Wieder unterbrach ihn anhaltender
Jubel.
"Der Erzbischof weiß von diesen
Angriffen und ist, wie wir von
zuverlässigen
Gewährsmännern
erfahren haben, äußerst besorgt. Seine
Verbündeten im Kreuzzug helfen ihm
gegen den Lüneburger nicht. In seinen
Burgen westlich von Bremen steht
deshalb nur noch die halbe Besatzung.
Er zog seine Leute heimlich bei Nacht
ab, aber einige Bauern beobachteten sie
dabei."
Da stand jemand auf und brüllte:
"Auf die verfluchten Raubnester!
Räuchern wir sie aus! Keiner dort drin
soll am Leben bleiben!"
Die anderen drehten sich um. Das
war Wige, der da besprochen hatte. Sein
Stern begann zu sinken, weil er
Tammos Ausstrahlung und Dietmars
Klugheit wenig entgegensetzen konnte.
Er grollte innerlich, gab sich aber
äußerlich sehr forsch. Kaum eine
Versammlung verging, ohne dass er die
Worte der Anführer bekräftigte. Denen
war das oft gar nicht recht, denn die
Steigerung führte meistens zu einer
anderen Aussage. Auch diesmal sah
Dietmar sich veranlasst zu beschwichtigen.
"Aber, aber! Wir wollen kein Blutbad
anrichten. Nachdem wir die Burgen
zerstört haben, ziehen wir weiter."
Dann kam er zu Einzelheiten.
"Unser wichtigstes Angriffsziel ist
die Schlutterburg. Haben wir sie in
unserer Hand, können sich die kleinen
Kastelle und Wachtürme in ihrer
Umgebung nicht mehr lange halten."
Nach der Versammlung sollte sich
Franziska noch einmal persönlich bei
142
Tammo melden. Ihr Fähnlein sollte sich
sowohl auf dem Marsch als auch im
Kampf immer in seiner Umgebung
aufhalten. Sie ahnte, dass er sie nicht in
vorderster Front haben wollte. Ihr
persönlich war das durchaus angenehm,
ihre Leute indes empfanden es als
Schande.
"Vielleicht hätte ich mit Tammo
reden sollen", sagte Norbert in einem
stillen Winkel zu ihr.
"Und du verstehst etwas von
Belagerungen?"
"Nein, nur ..."
"Nichts weiter! Das ist jetzt ein sehr
dummer
Zeitpunkt,
um
auf
Gleichberechtigung zu pochen."
IV
A
m Nachmittag des übernächsten
Tages erschienen die Vorausabteilungen des Bauernheeres
vor der Schlutterburg, die wie
ausgestorben wirkte. Nur ab und an
zeigte sich zwischen den Zinnen der
Helm
eines
Spähers.
An
der
hochgezogenen Zugbrücke war aber zu
erkennen, dass die Besatzung den Angriff erwartete. Völlig unbehelligt
konnten die Stedinger die Burg
einschließen und Stellungen bauen.
Franziska stand mit ihrem Fähnlein auf
einer leichten Erhebung gegenüber dem
Tor. Unter ihr formierten sich zwei
Sturmgruppen. Sie näherten sich, hinter
gewaltigen Schutzschilden aus Holz
gegen Pfeile und Armbrustbolzen
geschützt, Schritt für Schritt von zwei
Seiten her dem Graben. An anderen
Stellen nahmen Schützen ihre Position
ein, um Aktionen auf der Mauer sofort
zu unterbinden.
Durch die Leibwächterrolle ihres
Fähnleins konnte Franziska vieles
beobachten, was den meisten anderen
verborgen blieb. Dietmar ging der erste
Teil der Belagerung zu glatt. Die Besatzung plänkelte nicht. Sie unternahm
nichts,
um
(tatsächliche
oder
vorgetäuschte) Stärke zu zeigen. Sie
stellte sich regelrecht tot. Wartete sie
auf ein nahendes Entsatzheer? Oder
plante sie irgendeine Hinterhältigkeit?
Der Abend brachte keine Antwort mehr.
Die Dunkelheit senkte sich herab, ohne
dass sich noch etwas ereignete.
Der nächste Tag begann so, wie der
vorige geendet hatte. Tammo und
Dietmar bestellten daraufhin sämtliche
Hauptleute hinauf auf den Hügel.
Während einer langen, hitzigen
Beratung wurde das weitere Vorgehen
besprochen. Was dabei herauskam,
blieb unbekannt, denn urplötzlich
entstand eine völlig neue Lage. Eine
Strickleiter rollte an der Mauer herab
und daran kletterte ein Mann hinunter.
Er trug keine Waffen bei sich, was er
mehrmals deutlich zu erkennen gab. Die
Bauern ließen ihn unbehelligt durch ihre
Reihen, während er zielstrebig auf die
Anführer zu lief. Er sah blass aus,
bewahrte sich ansonsten aber seinen
Stolz. Der Burghauptmann war er wohl
nicht, eher ein durch das Los
bestimmter Parlamentär.
"Wir übergeben euch die Burg, wenn
ihr uns in Waffen gehen lasst", sagte er
trocken.
Tammo und Dietmar sahen einander
an. Dass die Besatzung die Waffen
mitnehmen wollte, behagte ihnen nicht.
Das Bauernheer war offenbar drückend
überlegen.
Sonst
hätte
die
Burgbesatzung aus der sicheren Position
heraus gekämpft. Andererseits galt es,
die Zahl der Opfer gering zu halten.
Dietmar flüsterte nach reiflicher
Überlegung:
143
"Sie haben Angst wegen des
Blutbades bei der Eroberung vor drei
Jahren, können es sich aber nicht
leisten, ohne Waffen zu ihrem
Dienstherrn
zurückzukehren.
Wir
sollten annehmen."
So fiel die mächtige Burg des
Erzbischofs,
dazu
gedacht,
die
Stedinger auf Dauer einzuschüchtern,
ein weiteres Mal in die Hände der
Bauern, diesmal gar ohne einen
Schwertstreich. Während des Abzugs
der Waffenknechte wäre es aber
beinahe zu einem folgenschweren
Zwischenfall gekommen. Wige versuchte, einige Leute zu einem Angriff
auf die Flüchtenden aufzuwiegeln.
"Sie sind in unserer Hand!" brüllte er.
"Lasst sie nicht entkommen!"
Nur dem besonnenen Eingreifen
zweier Hauptleute war es zu verdanken,
dass sich die Stedinger inmitten der
allgemeinen Kreuzzugshysterie nicht
durch einen offenkundigen Vertragsbruch selbst ins Unrecht setzten. Die
Burg allerdings zerstörten sie diesmal
gründlich. Unter Tammos Anleitung
legten sie das Feuer so, dass die
Flammen nicht nur die brennbaren Teile
fraßen sondern durch ihre Hitze
zugleich die Mauern zum Bersten
brachten. Wo das nicht half, wurde
unterminiert. Drei Tage nahmen sie sich
Zeit für das Zerstörungswerk. Den Rest
sollten die Bauern der umliegenden
Dörfer erledigen.
Selbstverständlich blieb der leichte
Sieg nicht ohne Folgen. Wie
vorausgesehen,
flüchteten
die
Besatzungen der Wachtürme, als sie
vom Fall der Schlutterburg erfuhren. An
einigen Orten griff die ansässige
Bevölkerung zur Selbsthilfe. Das
Kernland der Stedinger war wieder frei
von feindlichen Waffenknechten. Damit
hätte man sich zufrieden geben und zurück nach Hause gehen können. Doch
wozu den Aufwand treiben, ein starkes
Heer zu sammeln und auszurüsten,
wenn beim Feldzug nicht mehr
herauskommt als die kampflose
Einnahme einer einzigen Burg? Jetzt
sollte ein wirklich großer Sieg her, der
den Erzbischof nachhaltig beeindruckt.
Die Anführer berieten, wohin sie sich
wenden sollten. Gegen Abend weihte
Dietmar die Fähnleinführer ein.
"Gerade erfuhren wir, dass der Graf
von Oldenburg von einem Tag auf den
anderen an einer geheimnisvollen
Krankheit gestorben ist. Ein Zeichen
Gottes."
Ein Raunen ging um. Dass dem
zweiten Christian alles zu gelingen
pflegte, was er anpackte, wussten sogar
die Bauern. Sie hatten ihn nicht zuletzt
deshalb am meisten gefürchtet unter den
Gefolgsleuten des Erzbischofs. Nun
also war er tot.
"Sicherlich herrscht jetzt Verwirrung
in der Grafschaft und diese günstige
Gelegenheit sollten wir uns nicht
entgehen lassen."
Zunächst herrschte Stille. Oldenburg,
das war ein ehrgeiziges Ziel! Dann aber
setzte sich das durch die Einnahme der
Schlutterburg
gewachsene
Selbstbewusstsein durch.
"Auf nach Oldenburg!" riefen
zunächst nur einige Vorwitzige.
"Auf nach Oldenburg! Auf nach
Oldenburg!" stimmten wenig später alle
anderen ein.
Die Männer waren heiß auf den
Kampf, stachelten sich gegenseitig auf,
hielten ihr Heer für unbezwinglich.
"Auf nach Oldenburg! Auf nach
Oldenburg!"
Der Marsch dauerte fünf Tage, denn
Dietmar bestand darauf, ihn gut
abzusichern.
Kleine,
berittene
Vorausabteilungen hielten Ausschau
nach
feindlichen
Hinterhalten.
Kundschafter versuchten, Näheres über
die Lage in Oldenburg herauszufinden.
Beunruhigendes ereignete sich nicht -
144
außer einem Zwischenfall, der freilich
äußerst mysteriös war. Wige hatte sich
am Morgen des dritten Tages geradezu
danach
gedrängt,
eine
der
Vorausabteilungen anzuführen. Und
ausgerechnet diese Gruppe kehrte nicht
zurück. Auf einer Lichtung nahe dem
Weg waren Kampfspuren zu sehen zertrampeltes Gras, zerbrochene Speere,
etliche Pfeile, allerdings kein Blut, geschweige denn ein Toter oder ein
Verletzter. Die Kundschafter, die
Dietmar sofort in alle Richtungen
ausschwärmen ließ, fanden weit und
breit
niemanden,
der
die
Vorausabteilung hätte angreifen können. Deshalb redeten bald alle von
Verrat. Die Anführer wollten dazu nicht
Stellung nehmen, wollten auf Beweise
warten. Fest stand aber bereits, dass zu
jener Gruppe ausschließlich gute
Bekannte von Wige gehört hatten.
145
13.Kapitel
I
W
ilhelm wurde durch den
Aufruf zur Heerfolge völlig
überrascht. Der Kreuzzug
gegen die Stedinger stand zwar dicht
bevor, doch waren die Vorbereitungen
dafür noch längst nicht abgeschlossen.
Er hätte das Ganze für eine Übung
gehalten, doch in der Botschaft stand
unmissverständlich:
"Schloss und Stadt Oldenburg sind in
Gefahr."
Nun fragte er sich, wie er innerhalb
eines Tages aus seinen Bauern ein
Fähnlein zusammenstellen sollte. Nach
altem Brauch musste aus jedem Dorf
nur ein Mann folgen. Als Wilhelm
gegen Mittag noch immer erst sieben
beisammen hatte, griff er kurz
entschlossen auf jene Waffenknechte
zurück, die gerade vor der Zugbrücke
Ausbildung erhielten, ungeachtet des
Umstandes, dass sie eigentlich zum
Grafen von Wildeshausen gehörten. Im
Übrigen war es den des langweiligen
Übens überdrüssigen Burschen recht,
dass sie mitgenommen wurden. Pferde
gab es zum Glück genug. Im Eilritt
erreichte
das
Fähnlein
Schloss
Oldenburg kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Da hatte der Ausguck auf dem
Bergfried bereits die Vorhut der
Stedinger gesehen. Unmittelbar hinter
den Mannen aus Wardenburg wurde die
Zugbrücke hochgezogen.
Das Schloss zu Oldenburg lag
außerhalb der Stadt und war durch einen
eigenen Ringgraben und ein eigenes
Befestigungssystem gesichert. Es ließ
sich auf zwei Wegen betreten. Wer von
der Stadt kam und die Vorburg
durchquert hatte, gelangte zu einem
Doppeltor - das Vordere Tor stand
außerhalb, die Hohe Pforte innerhalb
des Grabens. Der Hauptzugang befand
sich gegenüber, wo die Hunte
zusätzlichen Schutz bot. Sie war hier,
kurz vor der Mündung in die Weser,
schon beachtlich breit. Ein künstlicher
Damm trennte Fluss und Graben. Im
Westen floss die Haaren, ein eher
dürftiges Bächlein, das aber Sümpfe
bildete, die ein Fremder nicht leicht
durchschaute.
Graf Otto lief unermüdlich von einem
Ende des Schlosses zum anderen und
gab Anweisungen. Dabei kam es ihm
manchmal vor, als sei nicht er es, der
das alles tat, sondern ein anderer, der in
seine Haut geschlüpft war. Der kleine,
rundliche Mann entwickelte plötzlich
Kraft und Ausdauer wie ein junger
Bursche.
Der
dem
Frieden
verschworene Bücherfreund benahm
sich wie ein Ritter, den das
Kriegshandwerk seit Jahr und Tag
ernährte. Mehr gefühlsmäßig als
bewusst tat der neue Graf stets genau
das Richtige. Weil er damit rechnete,
dass die Bauern vor allem das Schloss
angreifen würden, stellte er dem
Bürgermeister der Stadt, so sehr der
dagegen auch protestierte, keine
Hilfstruppen bereit. Der Schutz der
verrammelten Tore und der Bürgerwehr
auf den Mauern musste genügen. Die
verwundbare Vorburg ließ Otto räumen,
deckte sie aber durch schwere
Armbruste und Schleudern, die auf den
am nächsten gelegenen Türmen in
Stellung gebracht wurden.
Der Graf hatte im Schloss eine
beachtliche
Streitmacht
zusammengezogen. Allerdings waren
seine
zwölf
Fähnlein
recht
unterschiedlich
geartet.
Das
Pflichtkontingent aus Oldenburg - zwei
Gruppen, deren Führer Oltman und
Liborius hießen, ein armseliges
Häuflein
aus
eilig
zusammengetrommelten Bürgern, die
lieber die Häuser ihrer Angehörigen
schützen würden - lagerte im Westen an
der Haaren, wo es vermutlich keinen
Schaden anrichten konnte. Auf den
Türmen im Norden und im Süden
standen die eigenen Waffenknechte mit
ihren schweren Geschützen bereit.
Denen vertraute Otto am meisten.
Sorgen bereitete ihm die Ostseite, wo
hinter dem Graben freies Gelände
begann. Fünf Fähnlein sollten dort
einem
denkbaren
Sturmangriff
begegnen. Die als unerschrocken bekannten Brüder Johann, Gieselbert und
Gerhard von Apen sowie die Herren
von Nethen und von Finkensolt führten
das Kommando. Wilhelm von Eversten
bezog mit seinen Leuten Posten links
und rechts des Tores im Norden.
Wilhelm von Westerholt und Nikolaus
von Manste waren an den Südabschnitt
befohlen.
Wilhelm stand auf der Mauer, die
dem Erdwall zwischen Hunte und
Schlossgraben folgte. Rechts ragte das
Dammtor auf mit seinen mächtigen
runden Bollwerken zu beiden Seiten.
Die Plattformen boten viel Platz für die
Geschütze und die dazugehörige
Munition aus schweren Steinen und
armdicken Pfeilen. Hinter ihm befand
sich das Huntetor. Die Verbindung
zwischen beiden Toren über den Graben
hinweg war breit und fest, damit sich
ein Ausfalltrupp sammeln konnte, ließ
sich aber trotzdem im Notfall teilweise
hochziehen. Reckte sich der Ritter ein
wenig hoch, sah er die träge fließende
Hunte und dahinter das Lager der
Stedinger. Die Bauern hatten sich am
frühen Morgen schon einmal mit zwei
Gruppen bis dicht ans Ufer herangewagt, waren aber mit einem Steinhagel
vom Dammtor zurückgetrieben worden.
Gerade
wollte
Wilhelm
die
Wachsamkeit seiner entlang der Mauer
aufgestellten Leute prüfen, als der Graf
erschien. Otto sah nicht glücklich, wohl
aber zuversichtlich aus.
"Ist dir etwas Bemerkenswertes
aufgefallen?"
Wilhelm hob die Schultern.
"Man kann noch nicht erkennen, was
sie planen. Nach dem gescheiterten
Vorstoß haben die Anführer offenbar
beraten. Jetzt eilen Kuriere durchs
Lager und es entsteht Bewegung."
"Was vermutest du?"
"Nahe liegend wäre, dass sie unsere
Verteidigung im Osten auf die Probe
stellen. Doch Gewissheit bekommen
wir erst in einiger Zeit."
"Warten wir also ein bisschen!"
Otto nutzte die sich anbietende
Ruhepause, ließ sich auf einen
Mauervorsprung sinken und blickte auf
die Krone des Bergfrieds, wo stolz die
Oldenburger Fahne wehte.
"Sie lassen nicht mit sich verhandeln.
Ich habe ihnen ein Angebot geschickt,
aber sie fühlen sich seit der Eroberung
der Schlutterburg sehr stark."
"Sie sind wirklich sehr stark."
"Oh ja! Hätte es keinen Verräter in
ihren Reihen gegeben, wäre ich hier in
eine üble Lage geraten."
"Ihr seid durch einen Verräter
gewarnt worden, Herr Graf?"
"Er heißt Wige. Ein unangenehmer,
schmieriger Kerl. Ich weiß nicht, was
ich mit ihm anstellen soll. Er hat sich
Lohn und Schutz verdient, aber ich will
ihn nicht in meiner Nähe behalten. Dem
kannst du nicht drei Meter über den
Weg trauen."
"Seht mal, Herr Graf! Einige
Fähnlein ziehen tatsächlich in Richtung
Osten."
Otto klopfte ihm auf die Schulter.
"Das bringt mich auf einen Einfall,
mit dem wir vielleicht das Schlimmste
verhüten können. Sie fassen meine
147
Bereitschaft zum Verhandeln als
Schwäche auf. Deshalb sollten wir
ihnen zeigen, dass wir gewarnt und gut
vorbereitet sind und dass sie keine
Aussicht auf den Sieg haben."
"Woran denkt Ihr, Herr Graf?"
"An einen Plan der dich betrifft,
lieber Wilhelm, dich und Nikolaus von
Manste. Das dort drüben ist ohne
Zweifel das Zelt ihrer Anführer. Sie
haben es zwar außerhalb der Reichweite
unserer Geschütze errichtet aber immer
noch ziemlich nah an der Huntebrücke."
"Das ist auch mir aufgefallen. Ein
Ausdruck ihrer Selbstsicherheit."
"Nun zu meinem Plan." Er flüsterte,
als könne man ihn sonst von der
anderen Seite her hören. "In einiger Zeit
ist ein Großteil der Männer nach Osten
abgezogen. Inzwischen sammelt ihr
einen Teil eurer Fähnlein. Dann öffnen
wir das Tor. Ihr gebt den Pferden die
Sporen, stürmt über die Brücke,
überquert die dann fast menschenleere
Wiese. Ehe sie etwas unternehmen
können,
steht
ihr
vor
ihrem
Führungszelt."
"Das ist großartig!" rief Wilhelm in
aufrichtiger Bewunderung aus.
"Ihr sollt sie aber nicht umbringen",
fuhr Otto fort. "Ich will noch immer
verhandeln. Sie sollen merken, dass
jeder, wirklich jeder von ihnen seinen
Kopf aufs Spiel setzt, wenn sie uneinsichtig bleiben. Darauf kommt es mir
an. Kein überflüssiges Heldentum! Ein
kurzer Ausfall, dann kehrt ihr zurück."
"Ich habe verstanden, Herr Graf."
Nikolaus von Manste war ebenso wie
Wilhelm von Westerholt ein erfahrener
Mann und für den Ausfall suchten sich
beide die besten Leute aus. Die
Operation begann geordnet und
zielstrebig, wie das sonst nur bei
Planspielen mit Stöckchen im Sand
gelingt. Graf Otto konnte zufrieden
sein. Die schweren Flügel des Tores
öffneten sich knarrend. Noch ehe die
Belagerer es bemerkten, galoppierten
die Reiter über die Brücke, immer zwei
nebeneinander und dicht aufgerückt.
Am anderen Ufer fächerten sich die
Ketten auf und bildeten zwei Trupps,
die sich trennten, um einer noch auf der
Wiese lagernden Einheit auszuweichen.
Dann preschten sie schon auf das
Führungszelt zu.
Die Wirkung bei den Stedingern
entsprach ganz den Erwartungen. Die
Männer auf der Wiese waren so verwirrt
über die Reiter, die da in einer
Staubwolke links und rechts an ihnen
vorbei jagten, dass sie ihnen wie
gelähmt nachblickten. Am Führungszelt
wurden immerhin Befehle gerufen.
Etwa zehn Leuten gelang es noch
rechtzeitig, Schwerter und Schilde zu
ergreifen und sich auf ihre Pferde zu
schwingen. Sie gehörten offenbar zu
einer Art Leibgarde.
Nikolaus von Manste hatte auf der
Ostseite freie Bahn und schlug mit
seinen Mannen, getreu dem Befehl, Zelt
und Einrichtung kurz und klein. Dann
drehte er ab und ließ Tammo, Dietmar
und drei Hauptleute leichenblass vor
Schrecken zurück. Wilhelm dagegen,
der es mit der Garde zu tun bekam,
stand
als
gewissenhafter,
dem
Althergebrachten streng verhafteter
Vasall vor zwei Schwierigkeiten. Zum
einen erforderte ein regelgerechter
Kampf, dass jeder sich auf der anderen
Seite Seinesgleichen als Gegner suchte,
was aber voraussetzte, dass das
feindliche Heer regelgerecht aufgestellt
war. Zum anderen hatte er zu fragen
vergessen, ob das Schonungsgebot für
alle Bauernkrieger galt oder nur für
deren Führer. Leider blieb ihm für die
Entscheidungen nur ein Augenblick. Er
rief noch: "Nur plänkeln!" Dann prallten
die beiden Trupps zusammen und
verkeilten sich ineinander.
Wilhelm wählte im Getümmel als
Gegner denjenigen aus, der die letzten
148
Befehle gerufen hatte. Es war ein
offenbar noch recht junger Mann mit
der hellen Stimme eines Knaben. Der
Ritter fragte sich, ob er wirklich den
Fähnleinführer vor sich hatte. Der
andere war ihm körperlich klar
unterlegen, führte sein kurzes Schwert
aber sehr geschickt. Er vergaß auch
nicht, den Schild fest am Körper zu
halten, und behielt das tänzelnde Pferd
gut in der Gewalt, hatte das Kriegshandwerk folglich bei einem Meister erlernt.
Der Kampf dauerte nur kurz. Als
Wilhelm sah, dass Nikolaus von Manste
abschwenkte, befahl er seinen Leuten,
sich zu lösen. Die Ausfalltrupps kehrten
ebenso schnell in die Burg zurück, wie
sie daraus hervorgebrochen waren. Den
Stedingern musste die Operation wie
der Überfall einer Gespensterschar
vorgekommen sein, selbst ihren
Anführern.
"Ich danke dir", sagte Otto von
Oldenburg, als Wilhelm ihm auf dem
Wall Meldung erstattete. "Nun können
wir nur noch beten, dass Gott ihren
Geist endlich erleuchtet."
Zwar traf schon bald die Meldung
ein, dass die Stedinger ihren Vorstoß
auf der Ostseite abgebrochen hätten,
doch musste das nicht viel besagen. Bis
zum späten Nachmittag blieb die Lage
völlig undurchsichtig. Dietmar tom
Diek lehnte sichtlich gereizt auch ein
zweites
Verhandlungsangebot
des
Grafen ab und gruppierte fast das ganze
Heer fächerförmig vor dem nur
notdürftig
wieder
hergerichteten
Führungszelt auf der Wiese.
"Dieser Narr wird doch wohl keinen
Frontalangriff planen!" rief Otto.
Die
zahlenmäßige
Größe
der
gegnerischen Streitmacht, die er nun
überblicken konnte, blieb nicht ohne
Eindruck auf ihn. Doch Wilhelm
schüttelte den Kopf.
"Ich halte ihn nicht für einen Narren.
Er weiß spätestens seit heute Morgen,
dass auf den Bollwerken des Dammtors
große Geschütze stehen und wird seine
Leute nicht in unsere Steine und Pfeile
hinein jagen."
Dennoch holte Otto vorsichtshalber
Wilhelm von Eversten mit seinen
Männern auf die andere Seite. Erst als
die Dunkelheit sich herab senkte,
übermittelte der Ausguck vom Bergfried eine erlösende Beobachtung.
Hinter dem Heer wurden Wagen
beladen und abgezogen. Ihnen strömten
die ersten Fähnlein nach.
"Ich verstehe", sagte Otto. "Jetzt
denkt jeder, sie holen sich bei uns
blutige Köpfe. In Wahrheit ziehen sie
längst gegen eine andere Burg. Du hast
recht, Wilhelm - dieser Dietmar tom
Diek ist wirklich kein Dummkopf. Er
hat nur einen kleinen, dicken,
verträumten Grafen unterschätzt."
Wilhelm hörte nur mit halbem Ohr
hin. Während er sich von der Meldung
des Ausgucks zu überzeugen versuchte,
fiel ihm eine Fahne auf und in seiner
Erinnerung tauchte ein während des
Ausfalls gesammelter Eindruck auf, ein
sehr kurzer, flüchtiger Eindruck. Er
glaubte, auf der Seite der Stedinger sein
eigenes Wappen gesehen zu haben. Das
Motiv der Westerholts war zu
kompliziert, als dass jemand sich
zufällig dasselbe ausdenken könnte.
Andererseits hatte sich das Bild so fest
in seinem Kopf eingegraben, dass er
auch nicht an eine Täuschung glauben
mochte. Wer also benutzte das
Westerholtwappen? Und vor allem:
Warum tat er es? Unwillkürlich dachte
er an seinen verschwundenen Sohn
Arnold. Den aber hätte er sicherlich
erkannt, selbst unter einem Topfhelm
und hinter einem Schild versteckt. Noch
als er sich erschöpft auf sein Lager
streckte, beschäftigte ihn die Frage und
sogar in die Träume hinein verfolgte ihn
die mysteriöse Fahne.
149
II
ber Nacht war Wilhelm von
Westerholt ein Held geworden.
Ihm und Nikolaus von Manste
schrieb man die Errettung von Schloss
und Stadt Oldenburg zu. Die sich um
ihn neuerdings rankenden Legenden
werteten ihn auf. Vornehme Familien
wollten ihre Söhne als Knappen von
ihm unterrichten lassen und boten ihm
viel Geld dafür. Ihm (dem Rang nach)
ebenbürtige
Ritter
ließen
ihm
ehrerbietig den Vortritt. Sogar der Graf
von Wildeshausen schlug neue Töne an.
Ohne auf den alten Streit über die
Lehnshoheit anzuspielen, lud er ihn höflich zu einer Beratung ein.
Auf dem Wege nach Wildeshausen
gingen Wilhelm aber noch andere
Dinge durch den Kopf. Er hatte sich mit
allen Mitteln bemüht, hinter das
Geheimnis des Westerholtwappens im
Stedingerheer zu kommen, leider
vergeblich. Wige, der Verräter, war
verschwunden, nachdem Otto von
Oldenburg ihn für seine Dienste
abgefunden hatte. Einer von Wilhelms
Gefolgsleuten behauptete, der Anführer
der Leibgarde müsse ein Südländer sein,
vielleicht ein Lombarde oder Sizilianer.
Er habe sein schwarzes Haar gesehen,
bevor er sich den Helm aufsetzte.
Zwischen den Stedingern und dem in
Süditalien weilenden Kaiser gab es
immerhin gewisse Verbindungen. Aber
ein
Sizilianer
mit
dem
Westerholtwappen, das ergab keinen
Sinn.
Wilhelm war noch immer der
Ansicht, dass sein Sohn Arnold etwas
damit zu tun hätte. Die Vorstellung, er
könnte noch am Leben sein, war gar zu
verlockend für ihn. Deshalb begann er,
sich
entsprechende
Möglichkeiten
zurechtzulegen. Vielleicht ließ er sich
gelegentlich von diesem Sizilianer
vertreten. Vielleicht hatte er gerade
einen anderen Auftrag zu erfüllen
gehabt. Der schwarzhaarige Mann
erschien ihm für einen Fähnleinführer
ohnehin zu jung.
Burchards Verhalten beim Empfang
des Gastes entsprach ganz dem Ton der
Einladung.
Das
hatte
seinen
Hintergrund in zwei Nachrichten aus
der zurückliegenden Woche. Die erste
erfreute ihn. Otto von Oldenburg, der
seit seinem Sieg über das Stedingerheer
als der starke Mann in der Region galt,
verzichtete
freiwillig
auf
die
militärische Führung im bevorstehenden
Kreuzzug, die ihm vom Erzbischof
offenbar (vertragsbrüchiger Weise!)
angeboten worden war. Die zweite
Nachricht dagegen beunruhigte den
Grafen. Otto drängte auf eine klare
Regelung
des
Abhängigkeitsverhältnisses
der
Westerholts. Diesbezüglich hatte er sich
bereits mit Gerhard II, dem Lehnsherrn
der Wildeshausener, in Verbindung
gesetzt. Burchard musste befürchten,
Wilhelm und dessen Burg bald
endgültig zu verlieren. Zugleich würde
sich
der
Einflussbereich
der
Oldenburger bedrohlich weit noch
Süden erweitern. Wenn sich hierbei
überhaupt noch etwas retten ließ, dann
nur mit Hilfe der Betroffenen, der
Westerholts selbst.
"Otto von Oldenburg hatte großes
Glück, dass ein Held wie du rechtzeitig
zur Stelle war, als ihm die Bauern auf
den Pelz rückten. Ich hoffe für dich,
dass ihn bei der Entlohnung nicht der
Geiz überkam."
"Ein Vasall hat die Pflicht, seinem
Lehnsherrn Heerfolge zu leisten. Er ist
kein Söldner, der besonderen Lohn
dafür verlangen kann."
"Er
hat
dich
mit
einem
Schulterklopfen nach Hause geschickt?
Ist mir je im Leben so viel
Ü
151
Undankbarkeit zu Ohren gekommen?!
Wilhelm, glaube mir, du bist ein zu
gutherziger Mensch für diese Raubtiere.
Sie missbrauchen dich und ziehen dir
am Ende das Fell über die Ohren. Weißt
du noch nicht, dass Otto seine Hand
nach deinem Land ausstreckt? Er war in
Bremen deswegen."
"Der Graf Otto sprach mit mir, eher
er bei Seiner Eminenz vorstellig wurde.
Seine Ziele sind ganz in meinem
Sinne."
Burchard biss sich auf die Lippen.
Wie hochfahren dieser Sumpfritter sich
gebärdet seit er vor Oldenburg ein paar
Bauern über den Haufen gerannt hat! Zu
seinem Bedauern musste er freundlich
bleiben, wollte er das Spiel nicht sofort
verlieren.
"Deine
Bescheidenheit
beweist,
welch ein vorbildlicher Christ du bist.
Es
ist
aber
auch
keineswegs
unchristlich, wenn jemand seinen
gerechten Lohn verlangt. Mir jedenfalls
wärest du mehr wert als ein
Schulterklopfen."
"Der Allmächtige bescherte mir und
meinen Bauern mehrere gute Jahre. Die
Scheunen sind voll. Ich brauche nichts."
"Erinnerst
du
dich
an
ein
Versprechen, dass ich dir bezüglich
deiner Tochter Agnes gab? Ich bin noch
immer entschlossen, einen Bräutigam
aus dem Hochadel für sie zu suchen."
Wilhelm wurde immer unbehaglicher
zumute. Er wollte das Gespräch
möglichst rasch beenden.
"Herr Graf, ich glaube, Ihr
überschätzt meinen Einfluss. Ich gab
vor etwas mehr als einer Woche Otto
von Oldenburg mein Wort. Nur er
könnte mich davon wieder entbinden.
Redet mit ihm über Euer Anliegen!"
Bei der Verabschiedung quälte sich
Burchard noch ein letztes Lächeln ab.
Wenig später brüllte er unfromme
Flüche und zertrümmerte zwei Stühle.
So wie er zuvor überlegt hatte, wie er
Wilhelm ködern könnte, so sann er nun
darauf, sich an ihm zu rächen.
Allerdings wollte er sich nicht durch
eine dumme Gewalttat ins Gerede
bringen und vor allem nicht seine Rolle
beim Kreuzzug gefährden.
Am nächsten Morgen kam er auf
einen Plan, der ihm geradezu genial
erschien, denn er war demütigende
Vergeltung gegen Wilhelm, formale
Erfüllung eines lästigen Versprechens
und Bereinigen einer persönlichen
Kalamität in Einem. Begeistert setzte er
ihn sofort in die Tat um. Der überrumpelte Priester erklärte noch, dass er
dergleichen so rasch nicht bewerkstelligen könne, dass er mindestens
einen Tag für die allernotwendigsten
Vorbereitungen benötige. Der Graf
jedoch bestand auf seiner Forderung.
"Heute Nachmittag und nicht später!
Ich will keine großartige Veranstaltung.
Du sprichst die üblichen Gebete. Die
Messdiener
schwenken
ihre
Weihrauchfässer. Zwei Lieder davor
und danach. Ich denke, dass wir es
zwischen Vesper und Abendessen hinter
uns bringen können."
Selten wurde die Hochzeit eines
Sohnes aus dem regierenden Hochadel
derart hastig und würdelos begangen
wie die zwischen Wilbrand von
Wildeshausen und Agnes von Westerholt. Als Zeugen mussten zwei Höflinge
herhalten, die sich der Graf willkürlich
auf dem Hof griff. Die Gemeinde
bestand hauptsächlich aus Mägden und
Knechten, die zufällig vorbeigekommen
waren und aus Neugier in die Kapelle
hinein geschaut hatten. Einige von
ihnen jagte Burchard gleich wieder
hinaus, damit sie ihre Arbeit fortsetzten.
Auch das Paar selbst bot kein dem
Anlass entsprechendes Bild. Wilbrand
lachte idiotisch, während Agnes vor
Wut kochte und (ihre viel gerühmten
Manieren völlig vergessend) den
Gefühlen freien Lauf ließ.
152
Zwei Wochen vergingen. Das Paar
(sofern man die beiden so nennen kann)
bewohnte das unterste Geschoß des
Bergfrieds. Eine elende Behausung! Die
den Haupthof umgebenden Gebäude
verdeckten die Sonne. Selbst im
Sommer fröstelte man wie in einer
Höhle. Agnes empfand die Wohnung
als weiteres Glied in einer Kette
unvermittelt über sie hereingebrochener
Erniedrigungen und hätte sie zutiefst
gehasst, wäre da nicht die Nähe zu
Heinrich von Wildeshausen gewesen.
Dem ältesten Sohn des Grafen, der sich
gemäß dem Willen des Erzbischofs
wieder ständig in der Burg aufhielt,
gehörte das Stockwerk direkt darüber.
Wilbrand hatte, nach einem kurzen
Glücksrausch am Tage der Hochzeit,
rasch begreifen müssen, dass Agnes ihn
als seine Gemahlin keineswegs mehr
achtete als zuvor. Sie entwickelte sogar
die üble Angewohnheit, ihre Launen
hemmungslos an ihm abzureagieren.
Jeden seiner Annäherungsversuche im
Schlafgemach wies sie so rabiat zurück,
dass
er
unübersehbare
Spuren
davontrug. Im ganzen Schloss amüsierte
man sich schon darüber. Dass er sie um
Haupteslänge überragte und mit einem
Arm hätte forttragen können, hinderte
sie nicht daran, ihn jämmerlich zu
verprügeln. Allmählich wurde das selbst
ihm, dem gutmütigen Trottel, zu dumm.
Trotz
seiner
Einfalt
hatte
er
herausgefunden, wo die schwache Stelle
seiner hartherzigen Gattin lag. Eines
Abends drohte er ihr.
"Wenn du mich nicht an dich heran
lässt, ist die Ehe nicht vollzogen und du
bleibst eine kleine Ritterstochter."
Wie von einem Tier gestochen,
sprang die junge Frau auf und schlug
ganz außer sich mit der bloßen Faust
gegen die steinerne Wand. Der Schmerz
indes brachte sie zur Vernunft. Dieser
Schwachkopf hatte Recht. Sie musste
sich etwas einfallen lassen.
"Weißt du, wir Mädchen haben Angst
vor dem ersten Mal", sagte sie,
scheinbar besänftigt mit niedlichem
Augenaufschlag. "Aus Angst macht
man manchmal Sachen, die man
hinterher bereut."
Sofort war Wilbrand bereit, ihr zu
verzeihen. Er fühlte sich wie in einem
Traum. Sie lächelte ihm zu und nahm
zwei Becher. In der Ecke stand noch ein
vergessener Krug Wein.
"Jetzt machen wir es uns richtig
behaglich."
Er wollte ihr helfen, doch das ließ sie
nicht zu.
"Du bist mein Gemahl und ich
verwöhne dich. Setz dich dort hin und
warte, bis ich fertig bin!"
Sie tranken und plauderten. Noch
immer lächelte sie. Er jedoch sah dieses
Lächeln plötzlich nur noch wie durch
einen Nebelschleier. So sehr er auch
kämpfte, aufrecht zu bleiben, eine
unbezwingliche Macht zog ihn zur
Seite. Nachdem er auf den Boden
gerollt war, entkleidete sie ihn und legte
ihn ins Bett. Dann nahm sie die Kerze
und schlich die Wendeltreppe hinauf.
Heinrich von Wildeshausen hatte
gerade sein Öllicht gelöscht - nach
langem Zögern, denn in der Dunkelheit
kamen die Gespenster, die ihn seit
Jahren verfolgten, die geheimen Ängste,
das unerklärliche Entsetzen. Während er
sich hellwach auf seinem Lager hin und
her wälzte, schossen ihm wirre Gedanken durch den Kopf. Todesangst und
Todessehnsucht schlugen unvermittelt
ineinander um. Manchmal wurde die
Qual so unerträglich, dass er das Licht
wieder anzündete.
An diesem Abend wurde sein
düsteres Grübeln durch zaghaftes
Klopfen unterbrochen. Sein Herz schlug
ihm bis zum Hals. Dabei fürchtete er
sich weniger vor einem Eindringling als
vor der Möglichkeit, den Verstand
verloren zu haben. Weil er argwöhnte,
153
niemanden vorzufinden, wagte er nicht,
die Tür zu öffnen. Das Klopfen aber
wiederholte sich. Durch die Spalten
drang deutlich ein Lichtschein. Dann
trat ein junges Mädchen mit schwarzen
Haaren, blassem Gesicht und langem,
hellblauem Kleid herein. Es stellte eine
Kerze auf die große Truhe und setzte
sich zu ihm aufs Bett.
"Du fühlst dich einsam, nicht wahr?"
"Du bist kein Hirngespinst? Du bist
wirklich da?"
"Aber ja! Du kannst mich berühren."
Sie beugte sich über ihn und tupfte
ihm mit einem Tuch die schweißnasse
Stirn trocken. Dies und das Licht der
Kerze befreiten ihn allmählich von
seinem Alpdrücken. Er richtete sich
halb auf und sah ihr ins Gesicht.
"Agnes! Was tust du hier? Wird dein
Mann dich nicht vermissen?"
"Mein Mann!" In ihre Stirn gruben
sich kurz zwei Falten ein. "Er schläft.
Ich habe ihm ein Mittel gegeben."
Jahrelang
hatte
Heinrich
die
Ritterstochter einfach übersehen. Sie
war ihm wirklich nicht aufgefallen,
ohne bösen Willen. Ihn hatten zu viele
eigene Sorgen geplagt. Und er war zu
selten in der Burg seines Vaters
gewesen. An diesem späten Abend aber
trat sie jäh in sein Leben. Plötzlich sah
er eine Leidensgefährtin in ihr. Er
verstand sehr gut, dass sie diesen
Wilbrand nicht ausstehen konnte. Er
begriff sogar, dass sein Vater sie mit der
Ehe absichtlich verletzt hatte.
"Wir müssen die Kerze so stellen,
dass man sie von draußen nicht sieht",
mahnte er.
"Soll ich sie auspusten?"
Heinrich wollte sie hindern. Sie hatte
es aber schon getan und sonderbarer
Weise kamen die Gespenster nicht
zurück. Er spürte das junge Mädchen in
seinem Arm und fühlte sich unsagbar
glücklich. Natürlich kam ihm auch in
den Sinn, dass er im Begriff war, einen
Ehebruch zu begehen. Er hatte jedoch
zuviel gelitten, um solchen Skrupeln
nachgeben zu können. Mit der
Ungeduld eines Hungernden, der
plötzlich ein Stück Brot in den Händen
hält und es dann gierig hinunterschlingt,
zerrte er Agnes die Kleider über den
Kopf. Sie war anderes als seine
verstorbenen Ehefrauen, gab sich ihm
nicht willenlos hin sondern setzte ihm,
um ihn aufzustacheln, spielerisch
Widerstand entgegen. Sie erschien ihm
sehr stark und sehr lebendig, nicht so,
als würde sie ihm bald hinweg sterben.
Wilbrand schlief bis tief in den
nächsten Vormittag hinein. Agnes und
Heinrich nutzten das, um die
Bettwäsche zu tauschen. So konnte sich
dann also jeder davon überzeugen, dass
Wilbrand seine Frau endlich entjungfert
hatte. Am meisten sorgte er selbst dafür,
dass wirklich auch die letzte Magd von
dem Ereignis erfuhr. Er war sehr stolz
auf sich.
154
14.Kapitel
I
B
ischof Johannes von Lübeck
brachte sein Pferd auf einem
Hügel zum Stehen, um das Heer
zu überblicken. Von seiner Warte aus
glich es einem riesigen Wurm, so wie es
sich da östlich der Weser durch die
Niederungen nach Norden wand. Es war
auffällig bunt, was nicht nur an den
Fahnen und Wimpeln der einzelnen
Einheiten lag und auch nicht nur an den
zahlreichen Heiligenstandarten, die man
im Hoffen auf höheren Beistand mit
sich führte, sondern vor allem an der
uneinheitlichen
Kleidung.
Dort
marschierte noch nicht das eigentliche
Kreuzzugsheer, nicht die von Burchard
befehligte Ritterschaft, sondern eine vor
allem aus Bürgerlichen bestehende
Streitmacht, die den Krieg einläuten
sollte, und zwar in Oststedingen. Dort
gab es wenig natürlichen Schutz für die
Bauern. Dort stand auch kein Heer der
Stedinger, wie Spione herausgefunden
hatten. Eine Gelegenheit also, dem
Kreuzzug mit einem leichten Sieg ein
gutes Omen voranzustellen.
Der Erzbischof war sich seiner Sache
so sicher, dass er das Geschehen von
seinem Palast in Bremen aus leitete.
Berittene Boten sollten ihn über das
Geschehen auf dem Laufenden halten.
Selbst das aber war mehr ein Ausdruck
von Ungeduld als von Besorgtheit.
Gerhard hatte durchaus nicht die Absicht, lenkend einzugreifen, vertraute
vielmehr
vollkommen
seinen
Parteigängern,
allen voran dem
Dominikaner Johannes. Dieser versetzte
sein Pferd wieder in einen leichten
Trab, um an die Spitze des Zuges
zurück zu gelangen. Mit seinen zarten
Händen und dem milchigen Gesicht
eines jungen Mädchens wirkte er fehl
am Platze. Doch außer ein paar frisch
angeworbenen Landsknechten kannte
ihn jeder der Männer. Und wer ihn
kannte, der begegnete ihm mit größter
Ehrfurcht - mit Betonung auf der
zweiten Silbe des Wortes.
Für den Erzbischof war in den
zurückliegenden Wochen vieles, aber
keineswegs
alles
wunschgemäß
verlaufen. Der Papst hatte den Kreuzzug
gegen die Stedinger genehmigt, ihn aber
in seiner Bedeutung geringer eingestuft
als die Palästinazüge. Das wirkte sich
unter anderem auf den himmlischen
Lohn aus, mit welchem die Teilnehmer
rechnen durften, was für nicht wenige
Ritter eine gewichtige Rolle spielte.
Immerhin sollten sie in einen Krieg
ziehen. Da war es nur natürlich, dass sie
über ihr Seelenheil mehr nachdachten
als gewöhnlich. Gerhard wollte eine
noch schärfere Bulle des Papstes, um
die Zögernden zu einer Entscheidung zu
bringen. Gewisse Anzeichen sprachen
dafür, dass Gregor IX nicht abgeneigt
sei. Vielleicht war das erwartete
Schreiben längst aufgesetzt und auf den
langen Weg über die Alpen geschickt
worden, nur eben noch nicht
eingetroffen.
Ein weiteres Ärgernis bildete das
freche
Zusammengehen
des
Lüneburgers mit den Bauern. Mit viel
Mühe war es dem Erzbischof gelungen,
den Herzog aus der Bremer Gegend zu
vertreiben. Der Schwerpunkt der Fehde
lag inzwischen bei Stade. Das band
zwar einen beträchtlichen Teil von
Gerhards Kräften, gab ihm aber die
Möglichkeit, eins vom anderen zu
trennen. Er beabsichtigte, Otto von
Lüneburg vor Stade festzunageln und
unterdessen ungestört die Stedinger
anzugreifen. Als die Zeit reif war,
schickte er das erste, das kleinere Heer
auf den Weg. Er wollte den Vorteil der
Lage nicht durch dummes Warten auf
eine Papstbulle verpassen.
Gottfried, der sich an ein bequemes
Leben gewöhnt hatte, litt sehr unter den
Strapazen des Marsches. Dabei konnte
er sich über das Wetter nicht einmal
beschweren. Es war ein Sommertag, der
27. Juni des Jahres 1233, aber keiner
von der heißen Sorte. Kühler Wind
wehte vom Meer herüber und ließ eher
an einen Frühlingsmorgen denken. Der
Kaufherr hatte sich bei einer
Ratssitzung, während eines heftigen
Streits über die Beteiligung der Bremer
Bürger am Kreuzzug, zu weit aus dem
Fenster gelehnt. Auf die Probe gestellt,
war ihm keine Wahl geblieben, wollte
er nicht sein Gesicht verlieren. Andreas
hatte sich gemeldet, um seinem
wütenden Gönner zu beweisen, wie sehr
er in der Not mit ihm rechnen könne.
Allerdings fiel ihm, dem Jüngeren und
Gesünderen, die Entscheidung weitaus
leichter.
Der Zug geriet plötzlich ins Stocken.
Als Andreas ausscherte, um die Ursache
zu erkunden, sah er eine Abordnung der
Bauern, die sich an die militärischen
Führer gewandt hatten, aber offenbar an
den geistlichen Führer Bischof Johannes
verwiesen worden waren. Dieser traf
soeben wieder an der Spitze des Heeres
ein.
"Es sieht so aus, als ob es zu
Verhandlungen kommt."
"Nein, das glaube ich nicht", sagte
Gottfried. "Der Erzbischof will einen
blutigen Auftakt für seinen Kreuzzug.
Er will die Bauern einschüchtern, indem
er ihnen seine Grausamkeit vorführt.
Was meinst du, weshalb er ausgerechnet
diesen Johannes mitgeschickt hat? Das
ist ein harter Hund, auch wenn er nicht
so aussieht."
"Und was heißt das für uns?" fragte
Andreas nachdenklich und antwortete
dann selbst. "Ihr Widerstand versteift
sich. Wir müssen ernsthaft kämpfen, um
sie niederzuringen. Es gibt Tote ..."
"Na, nun male nicht gleich den Teufel
an die Wand! Die Bauern wollen
verhandeln, weil sie auf verlorenem
Posten stehen. Hier in Oststedingen sind
wir ihnen himmelhoch überlegen."
"Ich mag das nicht glauben. Sie
kannten doch die Gefahr. Sollten sie
sich nicht darauf eingestellt haben?"
"Sie sind zwar Stedinger, hatten sich
in der Vergangenheit aber viel mehr als
ihre Brüder im Westen um eine
friedliche Beilegung des Streits bemüht.
Vermutlich waren sie der Überzeugung,
der Erzbischof werde sie dafür
schonen."
"Was er wohl auch hätte tun sollen,
wenn es sich wirklich so verhält, wie du
sagst."
"Zum Glück gibt es Entscheidungen,
für die wir beiden nicht den Kopf
hinhalten müssen, weder jetzt hier auf
Erden
noch
dereinst
an
der
Himmelspforte. Wir befolgen in diesem
Heer nur Befehle."
Andreas dachte bei sich: 'Wenn sich
Johannes auf die Verhandlungen
einließe, gäbe es nur noch einen Befehl
- Marsch, nach Hause!' Aber er hütete
sich, das auszusprechen.
Tatsächlich wies Johannes von
Lübeck die Abordnung der Bauern
schroff zurück. Mit der Begründung, er,
156
ein Bischof, verhandle nicht mit des
Satans Kreaturen, lehnte er jedes Gespräch ab. So blieb den Bauern keine
andere Wahl, als sich mit dem Mut der
Verzweiflung der Übermacht zu stellen.
In den Dörfern läuteten die Glocken.
Die Männer griffen zu Dreschflegeln,
Heugabeln und Zaunslatten, zu allem
eben, was sich irgendwie als Waffe
eignete. Eiserne Schwerter besaßen sie
nur wenige.
Die Schlacht war kurz und einseitig.
Die Kreuzfahrer bildeten aus Rittern
und erzbischöflichen Waffenknechten
eine Phalanx von Schwerbewaffneten
und walzten die Bauern nieder. Die
Bürgerlichen blieben in der Reserve und
brauchten bis zum Schluss nicht
einzugreifen. Dann fielen die Angreifer
über die Frauen, Kinder und Alten in
den Dörfern her und erschlugen
willkürlich etliche von ihnen. Wieder
galt der grausame Grundsatz aus den
Albigenserkriegen: Tötet sie alle! Gott
wird die Seinen heraussuchen.
Am nächsten Tag schon begann
Bischof Johannes von Lübeck das
Strafgericht vorzubereiten. Er betrieb
beträchtlichen Aufwand, um dem
Ereignis Erhabenheit zu geben. Mitten
auf einem freien Feld ließ er eine
gewaltige Tribüne errichten, die aus der
Ferne an einen Thron erinnerte. Der
Thron Gottes sollte das sein. Das
Jüngste Gericht sollte symbolisch vorweggenommen werden. Für die
Arbeiten beanspruchte er einen Teil des
Heeres, vor allem die Bürgerlichen, die
sich dafür ohnehin besser eigneten als
zum Kämpfen.
Am Gerichtstag selbst gab sich
Johannes als weiser, unabhängiger
Richter. Er sprach so leise, dass ein
Ritter die Worte laut wiederholen
musste, damit die Menschen auf dem
Platz vor der Tribüne sie überhaupt
hörten. Gewalt übte er niemals aus,
obgleich sie freilich auf seinen Wink
hin geschah. Die Gefangenen fragte er,
ob sie sich an den allgemein bekannten
Ketzereien beteiligt hätten. Wer das
bestritt, also leugnete, der galt als
unbußfertig. Wer gestand, war natürlich
ebenfalls
schuldig,
durfte
aber
immerhin darauf rechnen, nicht bei lebendigem Leib verbrannt, sondern aus
Gnade vor dem Entzünden der
Holzscheite erwürgt zu werden.
II
N
eun Tage waren vergangen seit
dem Angriff gegen Oststedingen. Während dort noch
immer Strafgerichte wüteten, näherte
sich das Hauptheer der Grenze
Weststedingens. Es bestand zur Hälfte
aus Rittern und Landsknechten, die den
Eid auf Burchard von Wildeshausen geschworen hatten. Die andere Hälfte
setzte sich zusammen aus einzelnen
Fähnlein verschiedener Grafschaften.
Die Oldenburger und Bruchhausener
beteiligten sich nur mit einem kleinen
Kontingent. Otto von Oldenburg war
dadurch ins Gerede gekommen. Er hatte
sich vor dem Erzbischof (wenig
glaubwürdig) mit der Bedrohung seines
Schlosses herausgeredet.
Eine beeindruckende Streitmacht
wälzte sich über eine der wenigen
genügend breiten und einigermaßen
befestigten Straßen dieser Gegend. Die
Ritter waren gepanzert und schwer
bewaffnet. Ihre bunten Helmbüsche
wippten im Wind. Selbst die Pferde
glänzten von blank poliertem Eisen. Für
die Knappen und die Männer der
Hilfstruppen reichte es immerhin noch
zu Lederwämsern und Kettenhemden.
Burchard hatte bei der Ausrüstung keine
157
Kosten zu scheuen brauchen, denn dem
Erzbischof von Bremen war für dieses
Unternehmen nichts zu teuer gewesen.
Einige Meilen vor dem Heer floss die
Ochtum. Anders als in Oststedingen
hatten die Bauern die Grenze hier durch
starke Verschanzungen gesichert. Um
die Anlagen rasch erobern zu können,
führten
die
Kreuzfahrer
riesige
Belagerungsgeräte mit sich. Diese
würden ihnen unter anderem erlauben,
zwei Behelfsbrücken zu errichten. Dass
der Marsch durch die Ungetüme
verlangsamt wurde, nahmen sie in Kauf.
Niemand konnte daran zweifeln, dass
westlich der Weser weitaus mehr
Widerstand zu brechen sein würde als
östlich davon. Darum scherten sich aber
die wenigsten im Heer. In den
Ortschaften, durch welche die Ritter
zunächst kamen, standen die Bewohner
(die nichts zu befürchten hatten) staunend am Rand. Sie betrachteten den
Zug mit Schaudern und Ehrfurcht - etwa
so wie die Verwüstungen eines
Hagelschlags,
welcher
auf
das
Nachbardorf
niedergegangen
war.
Kaum jemand von ihnen hatte je im
Leben einen solchen Aufmarsch
gesehen. Die Kreuzzugsteilnehmer
fühlten sich geschmeichelt.
Siegessicherheit pflegt immer mit
einem gewissen Maß an Leichtfertigkeit
einherzugehen.
Die
Befestigungsanlagen an der Ochtum
waren nur oberflächlich erkundet
worden. Burchard verließ sich ganz auf
seine Belagerungsmaschinen. "Mit
denen würden wir in zwei Tagen
Bremen erobern!" tönte er. Unklarheiten
umgaben auch das Heer der Stedinger,
welches nach dem Rückzug vor
Oldenburg noch für mancherlei Überraschung gesorgt hatte, inzwischen jedoch
spurlos verschwunden war. Auch
hierfür hatte der Graf einen Spruch bereit: "Die laufen wieder hinter ihren
Ochsen her über die Äcker." Die
Ereignisse in Oststedingen bestärkten
ihn in seiner Hochfahrendheit. Freilich
konnte er durchaus berechtigt darauf
verweisen, doppelt soviel Männer zu
befehligen wie seinerzeit Otto bei
seinem Sieg.
Burchard und sein Sohn ritten dem
Heer voran, nur gedeckt durch eine
besondere
Einheit
aus
zwölf
ausgewählten Rittern. Heinrich teilte die
Zuversicht seines Vaters nicht. Er war
während
der
Vorbereitungen
unentbehrlich gewesen, denn er besaß
jene Erfahrung und militärische
Schläue, die häufig über Sieg und
Niederlage entscheiden, manchmal
entgegen
jeder
vernünftigen
Voraussage. Er hatte sich mit der
Kampfweise der Stedinger befasst und
aufgrund seiner neuen Erkenntnisse das
Heer im letzten Moment noch einmal
umgeordnet. Auch Verbesserungen an
den Belagerungsmaschinen waren von
ihm veranlasst worden.
An jenem Tage, als das Heer sich auf
die Ochtum zu wälzte, hätte seine
innere Verfassung freilich kaum
widersprüchlicher
sein
können.
Einerseits war er fest davon überzeugt,
alles für einen Sieg Notwendige getan
zu haben. Andererseits verfolgte ihn
eine
seltsame
Verunsicherung.
Dutzende Kleinigkeiten erschienen ihm
wie
böse
Zeichen.
Wie
ein
abergläubisches, altes Weib hielt er
unentwegt
Ausschau
nach
dem
Menetekel. Besonders schlimm wurde
das, als er die Trümmer der Schlutterburg auftauchen sah. Die geborstenen
Mauern waren dick mit Ruß überzogen,
den noch kein Regenguss abgespült
hatte. Die Spuren wirkten so frisch, dass
er meinte, aus den Ritzen dünne Fäden
von Rauch aufsteigen zu sehen.
Plötzlich glaubte Heinrich, die
Zeichen zu verstehen: Sie kündigten
ihm seinen Tod an. Das Heer wird
siegen, er selbst aber auf einem
158
trostlosen Feld verbluten. Während die
anderen die fliehenden Stedinger
verfolgen, werden Tiere an ihm nagen.
Er sah die Szene so deutlich vor sich,
dass er nach einiger Zeit erschrocken an
sich
herunterblickte,
verwundert
darüber, noch vollständig zu sein.
Niemand indes sollte ihm nachsagen
können, ehrlos diese Welt verlassen zu
haben. Da er nun einmal dem Tode
geweiht war, wollte er wenigstens als
Held sterben.
Während er so grübelte, verlor er das
Gefühl für die Zeit und wusste
schließlich nicht einmal mehr, wo er
sich gerade befand. Erst als ein Ritter
ihn anstieß, fand er in die Wirklichkeit
zurück.
"Der Weg ist versperrt. Anscheinend
hat ein Sturm Bäume entwurzelt."
Heinrich hob den Kopf. Tatsächlich
bildeten knapp hundert Schritt voraus
etliche dicke, kreuz und quer
übereinander gestapelte Stämme ein
mannshohes Hindernis. Das sonderbare
Gebilde sah aus, als habe ein Riese
seinen Mutwillen getrieben. Dass dies
das Werk eines Sturmes war, mochte
der Grafensohn nicht glauben.
"Wo sind wir hier?"
"Noch mehr als zwei Meilen von der
Ochtum entfernt."
Heinrich strich sich nachdenklich
übers Kinn und sah sich um. Links zog
sich ein Wald mit dichtem Unterholz
hin. Das war nicht ungefährlich.
Immerhin breitete sich aber auf der
rechten Seite freies Land fast bis zum
Horizont aus. Dort zeigte sich weit und
breit kein Mensch. In der Ferne erst hoben sich die Umrisse eines Dorfes ab.
"Ein paar Knappen sollen sich die
Wiese ansehen. Ich will wissen, ob sie
die Belagerungsmaschinen trägt."
Wenig später schwärmten zwanzig
Männer aus. Im Heer entstand
unterdessen Unruhe wegen der für die
meisten unerklärlichen Stockung.
"Wir sollten die Baumstämme
einfach
beiseite
räumen
und
weitermarschieren", meinte Burchard.
Das war nahe liegend, aber Heinrich
hatte das Gefühl, als wolle eine innere
Stimme ihn warnen.
"Mir gefällt dieser Wald nicht",
brummte er.
"Ach was! Du siehst wieder einmal
Gespenster."
Die Hauptleute, die gewöhnlich mehr
dem Sohn vertrauten, stimmten in
diesem Fall dem Vater zu.
"Wir stehen hier ziemlich dumm
herum."
Heinrich verteidigte sich:
"Wir hätten Kundschafter aussenden
sollen. Dann wüssten wir jetzt, was
gerade hinter diesem Wald vor sich
geht. Das Hindernis ist von den Bauern
für uns aufgebaut worden. Vielleicht
wollen sie uns nur aufhalten, um Zeit zu
gewinnen. Vielleicht aber ..."
Burchard unterbrach ihn, um eine
spitze Bemerkung dagegen zu setzen, da
meldete ein Ritter die Beobachtungen
der Knappen.
"Die Wiese ist an einigen Stellen
sumpfig.
Zumindest
für
die
Belagerungsmaschinen müssten wir
Knüppeldämme bauen."
"Nein, da kommt zuviel zusammen!
Das sind keine Zufälle. Vater, befehlt
den Männern, sich auf eine Schlacht
einzurichten!"
"Das ist nicht dein Ernst! Wir machen
uns lächerlich."
"Sie sollen sich ihre Helme über den
Kopf stülpen. Bitte, hört einmal in
Eurem Leben auf den Rat Eures
Sohnes!"
"Oh nein! Nicht im Traum denke ich
daran! Warum habe ich dich
mitgenommen? Damit du die Männer
mit deinen Hirngespinsten verwirrst,
ihnen womöglich den Mut nimmst?"
Er wollte noch mehr sagen, war kurz
davor, sich in eine Orgie von
159
Beschimpfungen hineinzusteigern. Ein
Aufschrei jedoch veranlasste ihn, sich
wieder nach vorn zu wenden. Über den
Wall aus Baumstämmen kletterten
Bauern mit Schwertern und langen
Spießen. Das Gespenstische daran war,
dass
sie
aus
einer
schier
unerschöpflichen Quelle zu kommen
schienen. Die ersten besetzten den Weg.
Die nächsten strömten auf die Wiese
hinaus. Beide Gruppen bildeten
zusammen
eine
breite
Front.
Unterdessen formierte sich hinter der
ersten Reihe bereits eine zweite, dann
eine dritte.
Noch
waren
die
Stedinger
verhältnismäßig weit entfernt. Sie
näherten sich auch nur langsam, so dass
Heinrich Zeit hatte, seine Männer
leidlich zu ordnen. Auf dem Weg
konnten er allerdings höchstens fünf
Reiter nebeneinander aufstellen und auf
die tückische Wiese wollte er ohne Not
nicht ausweichen. Das Heer der
Kreuzfahrer stand den Regeln der
Kriegskunst nach völlig falsch. Es
wandte dem Feind seine schmale Seite
zu statt der breiten Front. Die meisten
Männer würden gar keine Gelegenheit
finden, in den Kampf einzugreifen.
Heinrichs entschloss sich unter diesen
Umständen zu einer ungewöhnliche
Taktik: Er ordnete das gesamte Heer in
der Form eines riesigen Schwertes an.
Die am schwersten bewaffneten Reiter
beorderte er in die Spitze. Sie sollten die
Phalanx
der
Stedinger
glatt
zerschneiden. Die übrigen Ritter
bildeten die Schneiden. Sie mussten
Angriffe von der Seite zurückschlagen.
In der Mitte versteckten sich die
ungenügend geschützten Knappen mit
den Belagerungsmaschinen.
Das
alles
war
eher
eine
Verzweiflungslösung denn ein Geniestreich. Konnte es der Spitze
gelingen, zu kämpfen und gleichzeitig
das Hindernis zu beseitigen? Konnten
die Schneiden einen massiven Angriff
auf einen bestimmten Punkt zurückschlagen? Die meisten Ritter
verloren ihre Waffenträger aus den
Augen. Die Knappen in der Mitte
wurden zusammengedrängt, dass sie
fast erstickten. Das auf dem unebenen
Grund
schwer
zu
bewältigende
Belagerungsgerät bildete eine tödliche
Bedrohung für sie.
Heinrichs Plan aber ging auf. Die
Bauern auf dem Weg mussten
zurückweichen. Ihre Spieße zerbrachen
an den Schilden und Rüstungen der
vorrückenden Panzerreiter. Auch die
hinteren Reihen konnten den gewaltigen
Stoß nicht abfangen. Wer sich nicht
rechtzeitig in Sicherheit brachte, den
zermalmten die Hufe der Streitrösser.
Schritt für Schritt schob sich das Heer
auf das Hindernis zu. Heinrich stellte
bereits eine Gruppe von Männern
zusammen, welche im Schutz der
Panzerreiter die Baumstämme beiseite
schieben sollten. Selbst er, der Schwarzseher, glaubte nun nicht mehr an die
große Schlacht. Eine letzte Anstrengung
und der Weg würde wieder frei sein.
III
D
ie Bauern hatten ihr Lager in
einer Talmulde errichtet. Dieser
Platz unweit des Dorfes
Hemmelskamp eignete sich dafür
hervorragend. Von der Straße aus
konnte er nicht eingesehen werden, weil
der Ausläufer eines Waldstücks
dazwischen lag. Ein fester Weg führte
bis zur Ochtum, wo eine geheime Furt
die Verbindung nach Weststedingen
herstellte. Zwei Quellen und ein
Brunnen sorgten für genügend Wasser.
160
Nur
ein
starker
Regen
hätte
Schwierigkeiten bereitet.
Schon seit einer Woche erwarteten
die Stedinger hier die Kreuzfahrer,
darauf rechnend, dass ein Mann wie
Burchard von Wildeshausen keine
Finessen versuchen, sondern auf brachiale Gewalt vertrauen würde, und
dass sein Sohn sich dagegen nicht
durchsetzen könnte. Ihr Heer war
inzwischen noch stärker als seinerzeit
beim missglückten Angriff gegen Oldenburg, denn das Blutbad bei den
Brüdern in Oststedingen hatte die Leute
in den Dörfern wachgerüttelt. Niemand
kümmerte sich in dieser Stunde mehr
um seine Felder.
Das Hindernis auf der Straße hatten
die Bauern erst am Vortag errichtet,
damit die Angreifer nicht zu früh
Verdacht schöpften. Dort tobte der
Kampf schon. Die Wartenden im Lager
hörten es deutlich, obwohl dichtes
Gestrüpp einen Teil des Lärms
verschluckte. Also würden auch sie
selbst bald den Rittern entgegentreten.
Ihre Blicke verfolgten jeden Schritt
Tammos von Huntorf, der in der Mulde
das Kommando führte. Dieser jedoch
wartete selbst auf ein Zeichen. Oberster
Befehlshaber war Dietmar tom Diek,
der von einem getarnten Punkt aus die
umkämpfte Straße beobachtete. Bei
seinem Plan spielte die Zeit eine
wichtige Rolle. Die Ritter sollten sich
möglichst dicht zusammen drängen und
tief in die Falle hinein laufen.
Andererseits konnten die 200 Leute,
welche die Sperre verteidigten, dem
Druck der gepanzerten Elitetruppen
nicht mehr lange standhalten.
Franziskas Fähnlein lagerte am Rande
der Talmulde. Dort gab es Schatten, was
ein Vorteil war, seit volle Bereitschaft
galt und jeder bis auf den Helm
vollständig gerüstet sein musste. Die
Pferde standen einige Meter entfernt an
die ersten Bäume des Waldes gebunden.
Um die Tiere hatte es Streit gegeben.
Sie galten im Bauernheer als Privileg,
das einige Hauptleute den Fremden aus
der Waldhütte nicht zugestehen wollten.
Tammo legte sich sehr ins Mittel, dass
sie ihnen nicht weggenommen wurden.
Der zum Bauernführer aufgestiegene
Schmied verhielt sich seit den
Ereignissen vor Oldenburg gegenüber
Franziska ausgesprochen respektvoll.
Seiner Überzeugung nach wäre es zu
jenem peinlichen Zwischenfall nicht
gekommen, hätten sich alle so mutig
und entschlossen verhalten wie sie.
Dass sie ein junges Mädchen war,
spielte nun endgültig keine Rolle mehr.
Sie wurden sogar anderen als Vorbild
gepriesen. Entsprechend hatte ihr
Fähnlein in der neuen Schlachtordnung
auch einen anderen Platz. Es sollte nicht
länger im Hintergrund bleiben sondern
von Anfang an vorn mitkämpfen.
Franziska
behagte
diese
Heldenlegende überhaupt nicht. Zum
einen wusste sie, dass sie nicht der
Wahrheit entsprach, jedenfalls nicht in
vollem Umfang. Sie war dem Überfall
ohne Überlegung und Plan begegnet
und wunderte sich im Nachhinein sehr,
dass niemand Schaden erlitten hatte.
Zum anderen mochte sie lieber (wie
einst in der Waldhütte) als Vermittler
auftreten. Wie kam sie dazu, Befehle zu
erteilen? War der Bogen nicht schon
überspannt? Und noch etwas belastete
sie neuerdings - sie wusste inzwischen,
dass sie vor Oldenburg ihrem Vater
gegenübergestanden hatte.
Während des Kampfes um das
Anführerzelt war alles so schnell
gegangen, dass sie die Wappen auf
Kleidung und Schilden nicht wahrnahm.
Beim Abzug des Heeres jedoch erkannte sie den Wimpel der Westerholts
auf dem Dammtor, schöpfte Verdacht
und fand schließlich die Wahrheit
heraus. Wenn Wilhelm aber als Vasall
der Oldenburger bei den Kreuzfahrern
161
kämpfte, steckte er vielleicht dort auf
der Straße mit in der Falle. Was sollte
sie tun, wenn sie in der Schlacht wieder
auf ihn träfe? Was würde er tun? Bliebe
ihnen überhaupt eine Wahl? Schlachten,
Kriege überhaupt gehören (wie schwere
Seuchen und Unwetter) zu jenen
Ereignissen, in welchen der einzelne
Mensch seine Bedeutung verliert,
fortgerissen, ohne Gelegenheit zu
wählen.
Diese Sorgen lenkten Franziska
immerhin von noch Schlimmerem ab,
zum Beispiel von der Möglichkeit des
eigenen Todes. Das Warten zerrte an
den Nerven. Norbert vermochte keinen
Moment still zu stehen. Zuerst
versuchte er, sich irgendwie zu
beschäftigen, brachte wieder und wieder
seine Ausrüstung in Ordnung, sah ein
Dutzend Mal nach den Pferden. Dann
lief er nur noch wie ein gefangenes Tier
auf und ab.
Ramira hingegen saß mit ihrem
Wimpel im Arm auf einem alten
Baumstamm und malte mit einem
Zweig Figuren in den Sand zu ihren
Füßen. Die Stimmung um sie herum,
die Aufregung, die Angst, nichts davon
schien bis zu ihr vorzudringen. Mit
dieser unnatürlichen Ruhe fachte sie ein
fast in Vergessenheit geratenes Gerücht
wieder an. "Sie ist doch eine Fee",
raunten die Männer einander zu "Wenn
es nachher in der Schlacht gefährlich für
sie wird, macht sie sich einfach unsichtbar." Christian war sich in dieser
Hinsicht nicht so sicher. Obwohl sie ihn
ständig mit spitzen Bemerkungen aufzog, hatte er sich nicht davon abbringen
lassen, bei jedem Kampf als Beschützer
in ihrer Nähe zu bleiben. Wie das bei
schüchternen
Männern
häufig
vorkommt, war er in seiner ersten Liebe
grenzenlos. Darüber vergaß er sogar
seine eigene Verwundbarkeit. Ihn
beunruhigte nur Ramiras seltsames Ver-
halten. Beharrlich versuchte er, sie zum
Reden zu bringen.
"Was ist mit dir? Fühlst du dich nicht
gut?"
Keine Antwort.
"Hast du Durst? Soll ich dir einen
Becher Wasser holen?"
Gereizt versetzte sie:
"Ich habe keinen Durst. Lass mich in
Frieden!"
Diese grobe Abfuhr tat ihr dann aber
doch Leid.
"Ich denke nach. Verstehst du? Ich
frage mich, ob das alles Sinn hat, dieser
Krieg, das viele Blut. Am Ende werden
wir doch verlieren."
"Du meinst, weil wir uns gegen die
von Gott eingerichtete Ordnung
wenden?"
"Ich weiß nicht, ob Gott das alles so
eingerichtet hat. Ich weiß nur, dass die
Herren am Ende immer wieder die
Herren sind. Das ist eine Erfahrung.
Tausende von Menschen müssen
sterben, nur weil irgendwelche Leute
irgendetwas ändern wollen, was nun
einmal nicht zu ändern ist."
"Sag das nur nicht zu laut!"
"Ich sage es nur leise und nur dir weil du nicht eher Ruhe gibst."
Jörg und Liemar aus Neudeich
stellten sich solche Fragen nicht. Seit
dem Überfall auf ihr Dorf empfanden
sie, wenn sie an den Erzbischof und
seine Parteigänger dachten, kaum etwas
anderes als Verbitterung und Hass. Der
kleinen Jule ging es inzwischen zwar
etwas besser. Für ihre nächsten
Angehörigen
war
sie
wieder
ansprechbar. Nach wie vor aber wollte
sie nicht nach draußen gehen. Kam ein
Fremder zu Besuch, versteckte sie sich
sofort. Niemand wusste, ob sie jemals
würde heiraten können, eine Familie
gründen, Kinder großziehen. Der Durst
nach Rache war noch längst nicht
gestillt. Bei Jörg und Liemar verdrängte
er sogar die Angst. Sie konnten es gar
162
nicht erwarten, endlich in die Schlacht
ziehen zu dürfen, um möglichst viele
Ritter zu töten.
IV
E
ndlich gab Dietmar tom Diek
den Befehl zum Angriff. Die
ersten Gruppen standen auf und
umgingen den Waldzipfel im Rücken
der Ritter. Franziska schloss sich mit
ihrem Fähnlein wenig später an.
Zwanzig Leute gehörten an diesem
Tage zu ihr, zwölf Bürgerliche und acht
Bauernsöhne. Es war nicht leicht
zusammenzubleiben, denn am Ende des
Waldzipfels, wo äußerst zügig ein
Schwenk im spitzen Winkel bewältigen
werden
musste,
entstand
ein
gefährliches Gedränge
Das Heer der Stedinger setzte sich
(von den schon vorher ausgegliederten
Männern an der Sperre einmal
abgesehen) aus zwei Teilen zusammen.
Auf der rechten Seite sammelten sich
jene Bauern, die weder Pferde noch
Rüstungen mit sich führten und nur mit
Lanzen, Äxten, Schwertern sowie
allerlei
geeignetem
Ackergerät
bewaffnet waren. Ihre Verwundbarkeit
glich sich dadurch aus, dass sie im
morastigen Boden nicht einsanken. Sie
hatten tellerartige Vorrichtungen an die
Schuhe gebunden und kannten die
tückischen Wiesen von zahlreichen
Erkundungen her. Zu Beginn der
Schlacht bot dieser Flügel allerdings ein
recht wirres Bild. Die Reihen gerieten
nach
dem
Schwenk
völlig
durcheinander und nur weil die Ritter
diese orientierungslose Menschenherde
nicht ernst nahmen, kam es zu keiner
Katastrophe. Jörg und Liemar, die ihre
Pferde abgegeben hatten, um auf der
vermutlich entscheidenden Seite dabei
sein zu können, waren lange Zeit
hoffnungslos eingekeilt.
Der linke Flügel blieb auf der Straße
und sollte verhindern, dass sich die
Kreuzfahrer aus der Umklammerung
wieder befreiten. Auf dem festen Grund
besaßen die Bauern aber keine Vorteile.
Dietmar tom Diek wusste, dass hier der
schwächste Punkt seines Planes lag und
hatte versucht, wenigstens einen Teil
seiner Leute ähnlich wie Ritter
auszurüsten. Das war ihm jedoch nur
annähernd gelungen und so blieb nur
eine tiefe Staffelung als Mittel. Fünf
Rotten hatte er auf der Straße hintereinander aufgestellt. Sobald die vorderste
ins Wanken geriet, sollte die folgende in
den Kampf eingreifen. Wer schon am
Anfang zu den ersten Reihen gehörte,
war dem Tod beklemmend nah, und
selbst für die dritte Rotte, zu der Franziskas Fähnlein gehörte, bestand noch
genug Gefahr für Leib und Leben. Im
Angesicht
des
gewaltigen
Kreuzzugsheeres verloren die Selbstbetrügereien, mit denen viele sich im
Lager
beruhigt
hatten,
ihre
Wirksamkeit. Manch einer wäre in
Panik geflohen, hätte er die Möglichkeit
dazu gehabt.
Während der rechte Flügel sich unter
Tammos Kommando auf der Wiese
allmählich ordnete und zu einer breiten
Front auseinander zog, ging auf der
Straße die Schlacht in ihre zweite
Phase. Entgegen den Erwartungen hielt
sich die erste Rotte verhältnismäßig
lange, vielleicht weil die Ritter sich so
rasch nicht neu orientieren konnten. Erst
als die zweite Rotte die erschöpften
Gefährten ablöste, wurde der Kampf
grausam. Eine Gruppe von einem
Dutzend Panzerreitern unternahm einen
energischen Durchbruchsversuch. Die
163
Wucht dieses Vorstoßes riss die dritte
Rotte in den Strudel des Gefechtes hinein, ehe sie den Befehl zum Eingreifen
erhalten hatte.
Von einem Moment zum anderen sah
sich Franziska in eine Welt versetzt, die
sie bislang nur von Höllendarstellungen
her kannte. Links und rechts fielen dicht
hintereinander zwei ihrer Kameraden
vom Pferd. Dem einen schoss ein Strahl
Blut aus dem Hals. Die Luft war erfüllt
von einem entsetzlichen Lärm, der sich
zusammensetzte aus unmenschlichen
Schreien, dem Krachen zersplitternden
Holzes und dem schrillen Kreischen
von Metall. Da blieb auch Franziska
nicht mehr sie selbst. Getrieben von
Hass und Todesangst zugleich, drang
sie auf die Ritter in ihrer Nähe ein.
Sämtliche moralische Bedenken waren
ausgelöscht.
Die
Kraft
schien
grenzenlos zu sein. Die Menschen
glichen Tieren, die tollwütig um sich
bissen.
Ramira sollte mit ihrem Wimpel
eigentlich stets in den hinteren, nicht
unmittelbar am Kampf beteiligten Reihe
bleiben, war aber von der Angriffswelle
überrollt worden. Nun stand sie
(gerüstet aber völlig unbewaffnet)
mitten im Getümmel und wurde hin und
her gerissen wie ein Boot auf schwerer
See. Auch sie hatte dergleichen noch
nie erlebt, obgleich ihr vom Schicksal
ansonsten wenig erspart worden war.
Bei ihr aber bewirkte der Schock, dass
sie abstumpfte, sich an ihre Aufgabe
klammerte und mechanisch handelte
wie eine Schlafwandlerin. Als ihr ein
heftiger Stoß den Wimpel entriss, setzte
sie alles daran, ihn zu retten. Sie sprang
vom Pferd und bekam tatsächlich den
Schaft zu fassen. Als sie sich jedoch
wieder in den Sattel schwingen wollte,
traf sie ein weiterer Stoß. Sie wäre unter
die Hufe geraten und zu Tode
getrampelt worden, hätte Christian sie
nicht am Arm gepackt.
Franziska verlor die Übersicht.
Zeitweilig glaubte sie, die Schlacht sei
verloren, denn auf jeden erschlagenen
Ritter kamen wenigstens fünf gefallene
Stedinger. Sie wusste nicht, dass die
schweren
Panzerreiter,
die
den
Durchbruch zu erzwingen versuchten,
inzwischen isoliert kämpften. Der vierten und fünften Rotte war es gelungen,
sich zwischen sie und die Hauptmasse
des Kreuzzugsheeres zu schieben. Trotz
großer Verluste auf Seiten der Bauern,
begann die Schlacht sich du drehen. Die
Panzerreiter
erhielten
keine
Unterstützung mehr. Für ihre Knappen
wurde die Enge auf der Straße zur
Baumsperre hin so groß, dass Panik um
sich griff. Auch gerieten immer mehr
Ritter, so verzweifelt sie sich auch
dagegen wehrten, auf die sumpfigen
Wiesen.
Als die vierte Rotte eine der
Belagerungsmaschinen eroberte, sah
Dietmar die Zeit für die dritte Phase der
Schlacht gekommen und befahl
Tammo, mit dem rechten Flügel vorzurücken. Das Kreuzzugsheer ließ
daraufhin
das
gesamte
schwere
Kriegsgerät im Stich, und igelte sich auf
einem erhöht gelegenen, trockenen
Teilstück der Wiese ein. Es war noch
immer stark und seine Führer hofften
offenbar, die Bauern durch andauernden
Widerstand allmählich zermürben zu
können. Allerdings gelang das Manöver
nicht wie geplant. Die noch immer
zwischen den fünf schweren Rotten der
Stedinger feststeckenden Panzerreiter
fanden keinen Anschluss und ergaben
sich. Andere Fähnlein erreichte der neue
Befehl nicht rechtzeitig, so dass sie auf
der Straße zerrieben wurden.
Jörg und Liemar stießen gemeinsam
mit hunderten ihrer Kameraden einen
Schrei aus, als sie endlich in die
Schlacht eingreifen durften. Dieser
Schrei brachte die Kreuzfahrer auf ihrer
Anhöhe zum Erschauern. Deren Ring
164
wies eine verwundbare Stelle auf. Ein
zwanzig Schritt breiter versumpfter Einschnitt konnte nur mit leicht gerüsteten
Männern besetzt werden. Tammo
erkannte das und beorderte den größten
Teil seiner Leute dorthin. Dann leitete
dumpfer Trommelwirbel den letzten,
den tödlichen Angriff ein. Die Stedinger
mit ihren künstlich verbreiteten
Schuhen überwanden den Morast im
Sturm. Ihre Gegner, die sich auf diesem
Gelände unsicher fühlten, wurden
überrannt. Die Kreuzfahrer mussten
hilflos mit ansehen, wie die Bauern ins
Innere der Igelstellung eindrangen. Ihre
Ordnung löste sich auf. Niemand gab
mehr Befehle. Nur einige kleinere
Gruppen hielten zusammen in der
Hoffnung, gemeinsam besser zu
entkommen. Die meisten kämpften nur
noch für sich allein.
Die schwer gepanzerten Ritter
fürchteten panisch das Moor und
drängten auf die Straße zurück, obwohl
diese längst fest in der Hand der
Stedinger war. Dabei spielten sich
grauenvolle Szenen ab. Die Bauern und
ihre Verbündeten vom linken Flügel
hatten einen hohen Preis bezahlt für
jenen
schmalen
Streifen
Land.
Franziska zählte nur noch zehn ihrer
Leute um sich. Die anderen waren
entweder tot oder lagen schwer verwundet irgendwo im Wald. Dass sie
selbst nur leichte Verletzungen erlitten
hatte, grenzte an ein Wunder. In den
übrigen Fähnlein sah es kaum besser
aus. So kam es, dass die Verteidiger
keine Gnade kannten. Wer sich der
Straße näherte, wurde niedergehauen,
was nicht schwer war, weil die Fliehenden keine Formationen mehr
bildeten.
In
einem
Blutrausch
erschlugen die Bauern über fünfzig
Ritter.
Während dieser letzten Phase der
Schlacht hielt sich Ramira mit dem
Wimpel tatsächlich dort auf, wohin sie
gehörte - eine Pferdelänge hinter der
Kampflinie im Rücken des Fähnleinführers. Christian blieb weiterhin bei
ihr, wobei er sich der Gefahr aussetzte,
als Feigling zu gelten. Beide hatten
einen guten Überblick über das
Geschehen, wobei ihnen nicht entging,
dass sich auch Franziska an dem
Massaker am Rande der Straße
beteiligte. Christian war außer sich vor
Entsetzen und fragte sich, ob nach
diesem Tag ein Zusammenleben wie
früher in der Waldhütte noch möglich
sein würde. Vielleicht wäre er ohne die
Verantwortung für Ramira einfach
geflüchtet, den letzten Zipfel Ehre
zurücklassend. Ab und zu warf er einen
Blick zu ihr hinüber. Auf ihrem Gesicht
zeichnete sich aber keine Gefühlsregung
ab. Sie blickte starr geradeaus und ihre
Gedanken schienen nur darum zu
kreisen, mit ihrem Wimpel stets am
richtigen Ort zu sein.
V
H
einrich von Wildeshausen hatte
jede
Verbindung
zum
Kreuzzugsheer verloren. Er
drehte sich um, hielt Ausschau nach
bewaffneten Bauern. Niemand verfolgte
ihn. Die Schlacht tobte weit entfernt an
mehreren Stellen zugleich überall dort,
wo es den Stedingern gelang, fliehenden
Rittern den Weg zu versperren.
Heinrich fragte sich, wieso er bis hierher hatte gelangen können. Er erinnerte
sich noch daran, wie sich die Reihen
auflösten und wie die stolze Streitmacht
im apokalyptischen Chaos versank.
Aber was war danach geschehen? Sein
Grübeln fand ein jähes Ende, als die
165
Erschöpfung ihn wie ein Hammerschlag
überwältigte. Seine Kraft reichte gerade
noch aus, um sich vom Pferd gleiten zu
lassen. Dann rollte er in ein Gebüsch
und fiel in Ohnmacht.
Beim Erwachen wusste er nicht, ob
nur ein kurzer Zeitraum vergangen war
oder womöglich ein ganzer Tag. Seine
Gedanken kehrten jedoch sofort zu
jener Frage vor dem Schwächeanfall
zurück: Was war geschehen? Er hörte
sich rufen: "Nicht zurück zur Straße!
Sie werden euch in Stücke hauen."
Niemand hatte seine Warnungen
beachtet. Das fliehende Heer benötigte
keinen Kommandierenden mehr. Wenn
er aber nicht mehr gebraucht wurde,
war es zweifellos an der Zeit, dass sich
sein Schicksal vollendete. In dem
manischen Drang, als Held zu sterben,
ließ er den Schild fallen und entledigte
sich sogar des Helmes. Dann warf er
sich blindlings in eine zufällige
Richtung und kämpfte wie im Rausch bis er sich plötzlich ohne Gegner wieder
fand.
Mühsam richtete er den Oberkörper
auf, was ihm Schmerzen bereitete. Um
die Wunden zu untersuchen, legte er
den Rest seiner Rüstung ab. Dabei
stellte er fest, dass die Verletzungen
nicht lebensgefährlich waren. Also biss
er die Zähne zusammen und erhob sich
gänzlich. Über den Busch hinweg überblickte er einen großen Teil der Wiese
und fand sie übersät mit reglosen
Leibern. An lebenden Menschen
entdeckte er nur ein paar Bauern, die
den gefallenen Rittern die Ausrüstung
abnahmen und auf einen Wagen luden.
Sobald der Wagen einzusinken drohte,
fuhren sie ihn zum Wald, wo sie ihn
wieder leerten. Auf der Straße ragten
die nutzlos gewordenen Belagerungsmaschinen wie Skelette riesiger
Tiere auf.
Schwankend kehrte Heinrich auf das
Schlachtfeld zurück und hatte bald die
ersten Leichen erreicht. Dabei fielen
ihm wieder seine Visionen ein. Mit
jedem Schritt erschien es ihm
sonderbarer, dass er noch lebte,
während diese Männer dort tot waren.
Umgekehrt hätte es doch sein müssen:
Das Heer erkämpft einen glänzenden
Sieg, während er unbeachtet verblutet.
Abermals ergriff ihn die irre Sehnsucht
nach dem Jenseits. Er lief direkt auf die
Stedinger zu. Die ließen sich aber bei
ihrer Arbeit durch ihn nicht stören. Er
packte einen von ihnen, schüttelte ihn
und schrie:
"Warum erschlägst du mich nicht?
Ich bin dein Feind. Ich habe das
Kreuzzugsheer angeführt."
Der auf so seltsame Weise
angegriffene Mann befreite sich mit
einer kurzen Bewegung und wich
erschrocken zurück. Dann unterhielt er
sich flüsternd mit seinen Kameraden.
Zweifellos hielt er den Fremden für
geisteskrank.
Dadurch jäh ernüchtert, beschloss
Heinrich, auf der Wiese noch
Verwundeten zu suchen, die ihn
vielleicht brauchten. Er ging von einem
der verstreut liegenden Körper zum
anderen, fand allerdings niemanden,
dem er helfen konnte. Schon willens,
sich zu Fuß nach Wildeshausen
durchzuschlagen, warf er noch einen
letzten Blick auf jenen Ort, wo das
stolze Heer untergegangen war, als
einer der Leiber seine Aufmerksamkeit
erregte. Er trat näher, drehte ihn um und prallte entsetzt zurück. Er hatte
seinen Vater gefunden.
In Burchards weit aufgerissenen
Augen spiegelte sich noch ein Rest
Verwunderung. Der Graf war bis zuletzt
überzeugt
gewesen,
dass
seine
gewaltige Streitmacht gegen einen Bauernhaufen unter keinen Umständen
verlieren könne. Er hatte fest daran
geglaubt, an diesem Tage das Rad der
Geschichte in der Hand zu halten. Die
166
Oldenburger würden abseits stehen
beim Einbringen der großen Ernte. Ihr
lächerlich kleines Kontingent brächte
ihnen eher Hohn als Anerkennung.
Diesem feigen Grafen Otto geschähe
das ganz recht, ihm, dem seine besten
Leute zu schade waren für ein vom
Papst
höchstselbst
angeordnetes
Unternehmen. Besonders hatte sich
Burchard über das Fernbleiben des
Wilhelm von Westerholt geärgert, jenes
Ritters, den neuerdings alle Welt als
Helden pries und der einmal sein
Lehnsmann gewesen war.
Heinrich hatte zu seinem Vater kein
so herzliches Verhältnis, um wirklich
Trauer empfinden zu können. Seine
Sorge galt der Grafschaft. Um sich
davon abzulenken, wandte er sich
praktischen Dingen zu. Burchard durfte
nicht auf dieser Wiese liegen bleiben,
sondern musste ins Schloss gebracht
werden. Heinrich lud ihn sich also auf
die Schultern und begab sich auf den
weiten Weg. Geschwächt durch die
Anstrengungen der Schlacht und die
Verwundungen, erreichte er aber nicht
einmal das nächste Dorf. Allein hätte er
sich vielleicht noch ein Stück weiter
schleppen können. Das wäre ihm aber
schäbig vorgekommen und so blieb er,
dem ungewissen Schicksal sich ergebend, bei dem Toten sitzen. Kurz vor
Einbruch der Dunkelheit kam ein Trupp
versprengter Ritter dort entlang. Die
besorgten einen Wagen und brachten
damit den alten und den neuen Grafen
an ihr Ziel.
Gegen Mittag des nächsten Tages traf
der Zug ein. Heinrich war halbwegs
wieder zu Kräften gekommen und
folgte zu Pferde in einer geliehenen,
schlecht passenden Rüstung dem auf
einem bäuerlichen Wagen aufgebahrten
Vater. Das alles sah so erschütternd aus,
dass selbst Menschen, die unter Burchards Launen gelitten hatten, in Tränen
ausbrachen. In der Stadt kamen die
Bürgersfrauen aus den Häusern gerannt.
Auf dem Hof des Schlosses strömten
die Mägde und Knechte zusammen. Erst
der Burgvogt sorgte dafür, dass der Graf
auf ein Lager gebettet wurde, welches
seinem Range entsprach.
Als die Gräfin vor das Portal des
Palas trat, bildeten die versammelten
Leute eine Gasse. Natürlich wusste
jeder, dass kaum jemand so sehr wie sie
Grund zur Erleichterung hatte - und
zugleich so sehr wie sie offiziell zur
Trauer verpflichtet war. Kunigunde de
Schodis indes schien die lauernd auf ihr
ruhenden Blicke nicht wahrzunehmen.
Auf ihrem Gesicht ließ sich weder
Freude noch Gram erkennen. Vielleicht
hatte die schreckliche Ehe in ihr
jegliche Fähigkeit zu starken Gefühlen
zum Absterben gebracht. Sie tat ruhig
und gemessen, was Sitte und Brauch
von ihr verlangten, und zog sich dann
wieder in ihre Kemenate zurück.
Von Agnes erwartete niemand eine
besondere Geste. Sie hielt sich im
Gedränge versteckt und schenkte dem
Toten kaum einen Blick. In Gedanken
entschlüpfte ihr sogar ein höchst sündiges Dankgebet. Allerdings war sie
auch ein wenig besorgt. Heinrich sah
keineswegs so entschlossen aus, wie sie
das von ihm erwartete. Er war doch nun
der Herr in Wildeshausen und sollte
dafür sorgen, dass sich die Verhältnisse
zum Besseren wendeten. Bisher hatte
sie seine Anfälle von Schwermut auf die
Tyrannei des Vaters zurückgeführt.
Am späten Abend fand sie endlich
eine Gelegenheit, mit ihm allein zu
reden. Sie umarmte ihn wie eine
Ehefrau und bestürmte ihn mit Fragen.
Während er von dem Gemetzel am
Hemmelskamper Wald berichtete, von
den 200 gefallenen Rittern, von seinen
Selbstvorwürfen und Zweifeln, da war
sie mit einem Mal nicht mehr das
gefallsüchtige Mädchen von einst
sondern eine erwachsene Frau mit
167
vernünftigen Ansichten. Sie wuchs über
sich hinaus, weil sie spürte, dass er sie
brauchte.
"Du musst deinen Schwermut
überwinden!" beschwor sie ihn. "Nur du
kannst die Grafschaft retten."
Beigesetzt wurde Graf Burchard zwei
Tage später in der Kirche des Klosters
von Rastede und zwar unmittelbar vor
dem Altar des Heiligen Martin. Der von
Bischof
Johannes
geleitet
Begräbnisgottesdienst stand so sehr im
Gegensatz zu den grauenvollen
Todesumständen auf der sumpfigen
Wiese nahe der Ochtum und der
kläglichen Ankunft in Wildeshausen,
dass es auf die Eingeweihten geradezu
zynisch wirkte. Der Erschlagene war
bereits zum Spielball höherer Politik
geworden, zu einem Gegenstand, über
den die Mächtigen nach Gutdünken
verfügten.
Weil das in diesen Tagen nicht anders
sein durfte, stieg er auf zu einem
kühnen Helden und einem Märtyrer
dazu. In ermüdenden Aufzählungen
pries der Bischof die Vorzüge des
Grafen. Da kam es schon mal vor, dass
ein Höfling sich über einen besonders
absurden Vergleich ein Schmunzeln
nicht verwehren konnte. Im Grunde
waren mittlerweile die meisten Leute im
Schloss und in der Stadt erleichtert über
Burchards Ableben. Sie erwarteten vom
Sohn eine bessere, zumindest eine
berechenbarere
Politik.
Insgeheim
dachte das sogar der Bremer Erzbischof,
der Lehnsherr.
In die Chroniken gingen nur die
salbungsvollen Lobpreisungen von der
Kanzel ein, nicht die geflüsterten
spitzen Bemerkungen im Kirchenschiff.
Und auch zu ihrer Zeit verfehlte die
Predigt ihre Wirkung nicht gänzlich.
Der Sieg der Stedinger über das
Kreuzzugsheer verbreitete in der
Gegend Angst und Schrecken. Niemand
wusste, was die Bauern nun als nächstes
unternehmen würden. Wagten sie
vielleicht einen neuen Angriff auf
Oldenburg oder gar auf Bremen? Die
Sitze der kleineren Herren und die
Klöster waren ohnehin nicht mehr sicher. Und wenn unter diesen
Umständen sogar ein Mann aus dem
Hochadel, ein regierender Graf, sein
Leben einbüßen konnte, was sollte dann
ein einfacher Gefolgsmann erwarten?!
Als Johannes die Stedinger als
Dämonen bezeichnete, als Ausgeburten
des Teufels, sprach er vielen in ihrer
Angst aus dem Herzen.
Auf dem Wege von Rastede nach
Wildeshausen fuhren Heinrich und
Agnes in verschiedenen Wagen. Sie
mussten vorsichtig sein, denn sie waren
schon ein wenig ins Gerede gekommen.
Natürlich ließ sich eine Beziehung wie
die ihre im Schloss nicht lange
verbergen. Nicht das Geschwätz der
Dienstleute an sich stellte die Gefahr
dar. Es kam vielmehr darauf an, gewisse
Regeln zu beachten, damit sich das
allgemein bekannte Geheimnis nicht
zum Skandal auswuchs. Agnes hatte
sich dazu überwunden, ihren einfältigen
Ehemann etwas besser zu behandeln.
Sie unterließ es, ihn öffentlich bloßzustellen, und sie verprügelte ihn auch
nicht mehr. Dafür redete sie ihm
Schuldgefühle ein. Wenn sie ihn nicht
an sich heran ließ (was die Regel war),
dann behauptete sie, ihn damit für
irgendein Vergehen zu bestrafen.
Umgekehrt strich sie die kleinsten
Gefälligkeiten übermäßig heraus. So
erreichte sie, dass er für lächerliche
Gegenleistungen willfährig ihren Befehlen gehorchte.
Heinrich indes gewann durch Agnes
neuen Lebensmut. Die Vorzeichen
hatten ihn immer wieder belogen, im
Guten wie im Bösen. Zwei blühende
Ehefrauen waren ihm in kurzer Zeit
hinweg gestorben, dieses blasse,
ungesund
schlanke
Ritterfräulein
168
hingegen hielt sich mit der Zähigkeit
einer Distel am Leben. Und auch er
selbst weilte noch auf Erden und strafte
das vermeintliche Menetekel Lügen.
Vielleicht war es ihm nicht gegeben, die
Zeichen richtig zu deuten.
Erst seit Burchard unter dem Stein
vor dem Altar des Heiligen Martin lag,
vermochte Heinrich seine Grafenwürde
auch innerlich anzunehmen. Während er
den Kirchturm des Klosters hinter
einem Hügel verschwinden sah,
schmiedete er erste Pläne für die
Zukunft. Zuerst wollte er die unselige
Fehde
mit
den
Bruchhausenern
beenden. Dabei hoffte er, dass die gemeinsame Bedrohung durch die
Stedinger seinen Onkel gesprächsbereit
stimmte. Der war zwar ein wilder
Geselle, aber zugleich bauernschlau.
Sicherlich konnte man ihn überzeugen.
Alles andere würde sich finden, die
wirtschaftlichen Verhältnisse in der
Grafschaft zum Beispiel. Heinrich nahm
sich vor, schon am nächsten Morgen
mit gründlichen Überprüfungen zu
beginnen.
169
15.Kapitel
I
S
elbstgefällig reckte sich Graf
Heinrich III von Bruchhausen
auf der Plattform des dicken
Wohnturms seiner Burg in die Höhe
und ließ den Blick über das Land
schweifen.
"Es ist niemand zu sehen",
konstatierte er schließlich, an seinen
gleichnamigen Sohn gewandt. "Alles
andere hätte mich auch sehr gewundert.
Sie wissen genau, dass sie hier ebenso
Prügel beziehen würden wie seinerzeit
vor Oldenburg."
Heinrich der Jüngere wiegte den
Kopf.
"Sie sind vielleicht inzwischen
stärker. Immerhin haben sie das
Kreuzzugsheer besiegt."
"Ach! Was war denn das für ein
Heer? Was man von der Streitmacht der
Wildeshausener halten sollte, wissen
wir doch aus eigener Erfahrung. Wie
die Hasen habt ihr sie gejagt, damals am
Otersenbach, du und dein Bruder und
eine Hand voll beherzter Männer. Weißt
du es nicht mehr?"
"Das weiß ich sehr wohl noch. Wie
könnte ich es vergessen? Aber damals
waren die Wildeshausener auf sich
selbst angewiesen, diesmal hat der
Erzbischof sie unterstützt."
"Viele Waffen vergrößern nur die
Beute der Feinde, wenn die Hauptleute
unfähig sind."
"Mein Vetter ist nicht unfähig!"
Er errötete, weil er den prüfenden
Blick seines Vaters bemerkte. Das
Verhältnis zwischen ihm und dem Sohn
Burchards von Wildeshausen war eine
besondere Geschichte. Sie hatte genau
genommen schon mit ihrer Geburt
begonnen. Dass man ihnen denselben
Namen gab (eine Tatsache, die bei spä-
teren Chronisten Verwirrung ohne Ende
stiftete) war eine kleine Geste zur
Vertrauensbildung in einer der wenigen
Friedenszeiten. Wirklich kennen gelernt
hatten sie sich erst als unternehmungslustige Jünglinge während eines
Turniers in Oldenburg. Damals galten
die Bruchhausener noch als bessere
Bauern und wurden auch entsprechend
behandelt. Heinrich von Wildeshausen
dagegen stand auf dem Gipfel des
Ruhmes als erfolgreicher Ritter. Die
jungen Mädchen kreischten, wenn sie
ihn sahen. Zwischen den Schranken
lieferten sich die gegensätzlichen
Vettern dann einen erbitterten Kampf,
bei dem am Ende beide nicht mehr auf
Leben und Gesundheit achteten und der
keinen Sieger fand. Seitdem sahen sie
einander mit anderen Augen, der
Schönling und der Bauernsohn.
"Am Otersenbach war er nicht dabei,
wohl aber am Hemmelskamper Wald.
Heinrich kennt sich aus. Er weiß, wie
man ein Heer führen muss."
"Nun reicht es aber!" unterbrach ihn
der Graf mit gespielter Empörung. "Was
hat er mit dir angestellt, dass du ihn
plötzlich liebst wie ein schönes Weib?"
Der Sohn wollte sich nicht länger
aufziehen lassen und lachte, als habe er
nur gescherzt.
"Sicher - wenn sie mit so vielen
Rittern und so guten Waffen gegen
einen Bauernhaufen verlieren, müssen
sie sich arg dumm angestellt haben.
Wahrscheinlich waren sie leichtsinnig."
"Burchard
ist
Opfer
seines
Größenwahns geworden."
"Hochmut kommt vor dem Fall!"
Beiden fiel ein Dutzend Geschichten
über den Wildeshausener ein. Dass sie
über einen Toten sprachen, störte sie
wenig. Sie waren den unberechenbaren
Widersacher endlich los. Das allein
zählte und war ihnen Anlass zu
lärmender,
wahrhaft
schändlicher
Heiterkeit. Burchard, der zu Lebzeiten
Dutzende Menschen ins Unglück
gestoßen hatte, besaß im Himmel
selbstverständlich
nicht
genügend
Ansehen, um einen Blitz gegen seinen
hämischen Bruder veranlassen zu
können. Von irdischer Strafe blieb
Heinrich III freilich nicht gänzlich verschont. Seine Frau Ermentrud erwartete
ihn auf der Treppe und zog ihn in die
gräflichen Gemächer hinein.
"Dass Ihr Euch nicht schämt, Mann!"
fauchte sie ohne Respekt. "Ihr wart so
laut, dass man Euch unten im Hof
gehört hat. Was sollen die Dienstleute
denken?! Ihr seid der Herr in der Burg
und müsst ihnen ein Vorbild sein."
Der riesenhafte Graf, der sich (nach
seinen eigenen Worten) weder vor
Himmel noch Hölle fürchtete, er wurde
plötzlich kleinlaut wie ein unartiger
Junge vor der scheltenden Mutter. In
den letzten Jahren hatte seine Frau
immer mehr das Zepter in die Hand
genommen. Ihm war allmählich klar
geworden, dass sie ihn an Verstand
überragte. Früher hatte er mitunter
polterig
auf
seiner
männlichen
Überlegenheit beharrt. Doch das fand er
nun albern. Da Ermentrud dasselbe
wollte wie er, nämlich die Grafschaft
wachsen und gedeihen lassen, war es
das Gescheiteste für ihn, einfach auf sie
zu hören. Immerhin rügte sie ihn
niemals in der Öffentlichkeit. Auf dem
Hof stand er als Herr und Gebieter da.
Und wehe dem, der das nicht anerkannte!
"Es ist nicht eben leicht, um solch
einen Menschen zu trauern", verteidigte
er sich vorsichtig.
"Glaubt Ihr denn, mir bereitet es ein
Leid, dass er tot ist, Mann?! Aber Ihr
müsst Haltung bewahren, jetzt mehr den
je. Sein Weg ist am Ende, unser
hingegen noch längst nicht."
Der Graf wurde hellhörig.
"Hast du einen Plan, Frau?"
"Kommt mit ins hintere Zimmer,
damit uns niemand belauschen kann!"
In der Kemenate dann setzte sie ihm
auseinander, was sie sich überlegt hatte.
"Der Erzbischof wird die Niederlage
nicht hinnehmen. Mit einer solchen
Schande kann ein Mann wie er nicht
leben. Also gibt es schon bald einen
neuen Kreuzzug."
Der Graf nickte. Das leuchtete ihm
ein.
"Wer aber soll diesen Kreuzzug
anführen? Die Wildeshausener liegen
am Boden und werden so rasch nicht
wieder aufstehen. Otto von Oldenburg
ist allem Anschein nach ein Zauderer,
vielleicht sogar ein Feigling. Er will
lieber verhandeln als kämpfen. Wer also
bleibt übrig?"
Der Graf überlegte. Was er dachte,
wagte er nicht auszusprechen.
"Auf uns könnte die Wahl fallen!"
kam Ermentrud ihm zuvor. "Natürlich
müssen wir etwas dafür tun. Darüber
werde ich noch nachdenken. Ihr aber
solltet schon heute so auftreten, als
wäret Ihr Euch Eurer Sache sicher."
Der Graf fühlte sich durch die
Belehrung keineswegs gedemütigt, war
ganz im Gegenteil obenauf. Heinrich III
von Bruchhausen, Kommandierender
des
Kreuzzugsheeres
wider
die
ketzerischen Stedinger - das klang gut.
Es klang sogar ein wenig unwirklich.
Bisher indes hatte Ermentrud noch
immer Recht behalten.
Obwohl der Graf nicht mit einem
Angriff der Bauern rechnete, war er
doch nicht so leichtfertig, keine
Vorbereitungen für den Ernstfall zu
treffen. Er hatte ein Dutzend Ritter und
etliche Mann Fußvolk zur Burg bestellt,
so dass er rasch die Mauern besetzen
lassen
konnte.
Kundschafter
171
schwärmten regelmäßig in die weitere
Umgebung aus.
Gegen
Abend
jenes
Tages
übernahmen die Söhne des Grafen
selbst den Ritt durch die Fluren. Sie
taten das gern, wobei sie sich allerdings
gewöhnlich unabhängig voneinander
Begleiter unter den Waffenknechten
suchten. Die Rivalität hatte dazu
geführt, dass sie seit Monaten nur noch
dann miteinander redeten, wenn es sich
nicht vermeiden ließ. Dass sie plötzlich
wieder zueinander fanden, hing mit
einer dunklen Bemerkung ihres Vaters
zusammen.
"Weshalb werden die Oldenburger
vor Neid erblassen?" fragte Ludolf.
"Was meint er damit?"
Heinrich hob die Schultern.
"Es muss mit den Stedingern
zusammenhängen."
"Mit dem Kreuzzug! Das denke ich
auch. Wir werden es besser machen als
diese Deppen aus Wildeshausen."
"Sofern wir uns einig sind."
Ludolf blickte forschend zu seinem
Bruder hinüber und fragte sich, ob der
mit seiner trocken hingeworfenen
Bemerkung auf etwas Bestimmtes
anspielen wollte.
"Selbstverständlich
halten
wir
zusammen!" beeilte er sich zu
versichern. "Ich bin manchmal ein
Hitzkopf. Das gebe ich zu. Aber wenn
es um die Grafschaft geht, dann kannst
du dich auf mich verlassen."
Er streckte Heinrich wie zum Schwur
die Hand hin und dieser schlug ein.
"Wir werden es ihnen allen zeigen."
Eine Woche später hatte Ermentrud
sich etwas überlegt, was in ihren Augen
dem Aufstieg ihres Mannes förderlich
sein konnte.
"Reist nach Holland zu meinen
Verwandten, Mann! Burchard war der
Gemahl meiner Schwester Kunigunde.
Obgleich sie unter ihm (Gott sei's
geklagt!) arg zu leiden hatte, ist eine
Blutschuld entstanden. Vielleicht wird
die Familie de Schodis einen neuen
Kreuzzug unterstützen. Erforscht ihre
Stimmung! Und bietet Euch immer
wieder als Feldherr an!"
Gleich am nächsten Morgen brach
der Graf auf. In Holland selbst nahm
man ihn freundlich auf, sobald er sich
mit einer Urkunde als ein angeheirateter
Verwandter der Familie de Schodis
auswies. Der Tod Burchards hatte sich
dort bereits herumgesprochen und zwar
in der Version des Johannes von
Lübeck. Heinrich wurde mit unzähligen
Fragen bestürmt. Die meisten konnte er
beim besten Willen nicht beantworten.
Manche erschienen ihm merkwürdig.
"Ist es wahr, dass er gegen zwanzig
Bauern gleichzeitig kämpfte und dass er
schon neunzehn von ihnen erschlagen
hatte, als der letzte ihm von hinten einen
Dolch in den Rücken bohrte?"
"Nun, das weiß ich nicht so genau ..."
"Habt Ihr denn nicht an seiner Seite
gefochten?"
"Doch, doch! Das heißt, mein Platz
war zur Zeit, als er starb, an einer
anderen Stelle."
"Ihr habt sie in die Zange
genommen!"
"Gewissermaßen. Ja, so könnte man
es vielleicht nennen."
Rasch hatte Graf Heinrich III
herausgefunden, dass ein Vetter seiner
Frau, ein Mann Mitte Fünfzig mit
Namen Leo, inzwischen das Oberhaupt
der Familie de Schodis war. Nach einer
Woche ergab sich die Gelegenheit zu
einem längeren Gespräch mit ihm. Leo
wirkte schon auf den ersten Blick äußerst energisch. Sein Gesicht schien mit
einer Axt geschnitten zu sein und ließ
keinerlei Gefühlsregungen erkennen.
Seine hagere Gestalt und sein
ausgeprägter Gehfehler nahmen ihm
nichts
von
seiner
herrischen
Ausstrahlung. Dem Grafen, der sich bei
seiner Mission auf brüchigem Eis
172
fühlte, war nicht wohl in seiner
Gegenwart.
Während des Gesprächs war noch ein
zweiter Mann anwesend, ein Feldherr,
der ihm nur als Floris von Holland
vorgestellt wurde. Seine rötlichen Haare
ließen vermuten, dass in seinen Adern
Wikingerblut floss. Er gebärdete sich
allerdings keinesfalls wie ein Barbar.
Gegenüber Leo de Schodis wirkte er
sogar freundlich und umgänglich.
Heinrich beunruhigte lediglich, dass er
seine Rolle bei dieser Unterredung nicht
erriet.
"Ich ritt nach Holland, um mich an
Eure Seite zu stellen in Eurer Trauer um
den Grafen Burchard", begann er, verlor
aber unter Leos stechendem Blick den
Faden und brach ab.
An seiner Stelle ergriff Floris das
Wort.
"Wir sind durch Boten des
Erzbischofs von Bremen und des
Bischofs von Lübeck gut unterrichtet.
Schon in wenigen Monaten soll ein
neuer Kreuzzug den Tod des Herrn von
Wildeshausen rächen und die Ordnung
an der Weser wieder herstellen. Deshalb
freut es uns, Euch bei uns begrüßen zu
dürfen. Angesichts Eurer angespannten
Beziehungen zu dem Ermordeten
erscheint uns Eure Haltung besonders
löblich."
Heinrich fühlte sich ertappt und
versuchte wortreich, die Fehde mit dem
Bruder herunterzuspielen. Ob er dabei
glaubwürdig wirkte, konnte er nicht
feststellen.
Leo
blieb
ebenso
undurchdringlich wie Floris verbindlich.
Als er sich am Ende als weltlicher
Führer des Unternehmens ins Gespräch
brachte, mangelte es ihm an einem
Übergang.
Auf
der
Heimreise
war
er
unzufrieden. Vor allem, dass die
Holländer sich bereits eifrig auf den
Kreuzzug vorbereiteten, gefiel ihm
nicht. Vermutlich stand der Heerführer
bereits fest. Vielleicht war es jener
Floris. Andererseits hätte die Mission
auch noch schlechter ausgehen können.
In seinem Gepäck lag immerhin ein
Empfehlungsschreiben des Leo de
Schodis an den Erzbischof.
II
S
eitdem Otto der Graf von
Oldenburg war, hatte er nur
noch selten Zeit, seine Chronik
weiterzuführen. Manchmal fragte er
sich auch nach dem Sinn dieser
Anstrengung. Einstmals wollte er angesichts seines Unvermögens, die
Gegenwart zum Besseren zu ändern der Nachwelt eine Warnung zurücklassen. Inzwischen war er ein
Herrscher. Sollte er da nicht selbst
bewerkstelligen, was er ursprünglich
von späteren Generationen erwartet
hatte?
Leider war die Rechnung so einfach
nicht. Schon in den ersten Monaten
seiner Regentschaft hatte er die
Erfahrung
gesammelt,
dass
die
Mächtigen dieser Welt offenbar über
weitaus weniger Macht verfügten, als
andere Menschen glaubten. Von zehn
Entscheidungen stand ihm allenfalls bei
einer die Wahl frei. In den anderen
Fällen war er durch die Umstände
festgelegt. Wer etwas bewirken wollte,
musste behutsam und geduldig sein und
sich mit winzig kleinen Erfolgen
zufrieden geben. Als er zum Beispiel
versucht hatte, den offensichtlich
benachteiligten
Oldenburger
Handwerkern zu helfen, waren die
Kaufleute mit einer Abordnung bei ihm
erschienen. Sie hatten ihm zu verstehen
gegeben, dass er aus verschiedenen
173
Gründen von ihnen abhängig war.
Wenn die Enttäuschung über derlei
Rückschläge ihn gar zu sehr
niederdrückte, blieb ihm doch wieder
nur seine Bibliothek als Trost. An
jenem Tage fügte er der Chronik einen
Abschnitt über die Ketzerverfolgung
hinzu.
fordert den tobenden Ketzerjäger zur
Mäßigung auf.
Anno Domini MCCXXXIII,
fünfundzwanzigsten Juli
am
Während des Hoftages zu Mainz
wendet sich auch Seine Königliche
Hoheit Heinrich VII gegen Konrad von
Marburg. Da der junge Herrscher von
Geburt her ein Hitzkopf ist, gebraucht
er dabei scharfe Worte. Seine Anhänger
verstehen die Rede als Auftrag, dem
Übel ein Ende zu bereiten. Ein paar
Ritter
lauern
dem
Ketzerjäger
unmittelbar nach dem Hoftag in einem
Hohlweg auf und erschlagen ihn.
"Anno Domini MCCXXXII
Der Herr Konrad von Marburg, von
seiner Heiligkeit Papst Gregor IX zum
Großinquisitor für die deutschen Lande
benannt, nimmt seine Aufgabe, den
falschen Lehren nachzuspüren, mit
fragwürdigem Eifer wahr. Anstatt
sorgfältig alle Indizien zu sammeln und
die verschiedenen Gesichtspunkte verantwortungsbewusst
gegeneinander
abzuwägen,
treibt
er
die
Gerichtsprozesse so hastig voran, dass
die Leute in Zorn geraten. Anstatt die
Verirrten gütig auf den rechten Weg zurückzuführen, wie Jesus Christus,
Gottes Sohn, es uns lehrte, verbrennt er
sie gleich zu Dutzenden auf dem
Scheiterhaufen. So geschehen zu Köln,
zu Trier, zu Straßburg, zu Goslar und zu
Erfurt.
Anno Domini MCCXXXIII
Ich vermag nicht zu sagen, ob Seine
Königliche Hoheit sich seinerseits ins
Unrecht setzte durch die offene
Einmischung in Dinge der Kirche.
Allem Anschein nach ruht Gottes Segen
nicht mehr auf seiner Regentschaft. Um
den Nachfolger des toten Herzogs
Ludwig von Bayern zur Gefolgschaft zu
zwingen, entsendet er ein Heer, das
jedoch nur mäßige Erfolge erringt. Zur
gleichen Zeit erheben sich unzufriedene
schwäbische Vasallen wider ihn. Weil
er hinter den neuen Schwierigkeiten
Intrigen seines Vaters vermutet, wendet
er sich auch gegen den Kaiser.
Anno Domini MCCXXXIII, im Juli
Der Großinquisitor gerät während seiner
Jagt nach angeblichen Ketzern in solche
Raserei, dass ihm der Blick für seine
tatsächliche Macht und für seine
Befugnisse mehr und mehr verschleiert
ist. Zweifellos fühlt er sich wie der
Herrgott selbst. In seiner Vermessenheit
versteigt er sich zu einer Klage gegen
den Grafen von Sayn. Dieser verteidigt
sich und erringt bei einem Prozess
durch mehrere Eideshelfer den Sieg.
Konrad erkennt das Urteil nicht an und
ruft eigenmächtig zum Kreuzzug auf.
Das ist sogar Seiner Eminenz dem
Erzbischof von Mainz zuviel und er
Anno Domini MCCXXXIII
Seine Heiligkeit Papst Gregor IX nimmt
die
Nachricht
vom
Tod
des
Großinquisitors mit Empörung auf und
fordert die Bestrafung der Schuldigen.
Zugleich ernennt er als Nachfolger den
Herrn Konrad von Hildesheim. Der
trägt nicht nur denselben Namen wie
sein Vorgänger sondern ist auch von
ähnlicher Wesensart. Zwar neigt er
nicht wie jener zu sinnloser Raserei und
174
Größenwahn, doch glaubt er ebenfalls
die Welt voll von Dienern des Satans,
die es wie Ungeziefer zu vertilgen
gelte."
hatte ihm die Grafschaft gefestigt und
reich hinterlassen. Wer aus vollen
Truhen verteilen kann, dem fällt es
leicht, sich Freunde zu verschaffen.
Nachdem
er
den
Marschall
verabschiedet hatte, sprang ihm
plötzlich ein kleines Mädchen entgegen.
Es hatte wohl schon seit einiger Zeit auf
diese Gelegenheit gewartet.
"Spielst du mit mir?" bettelte die
Kleine. "Zeigst du mir Bilder aus deinen
Büchern?"
Otto nahm sie auf den Arm und
drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
"Ich habe jetzt keine Zeit für dich,
mein Schatz. Du weißt doch, dass wir
heute Abend ein großes Fest feiern."
"Ich finde diese Feste langweilig."
"Aber es wird ganz viele Süßigkeiten
geben."
"Mit dir spielen ist schöner."
Mechthild kam hinzu und nahm sie
ihm ab.
"Ich habe dir doch gesagt, dass du
deinen Vater in Ruhe lassen sollst! Geh
zu deiner Erzieherin!"
Das gefiel Otto nun auch wieder
nicht.
"Eines Tages hört sie auf dich und
sieht mich nicht mehr an", meinte er
traurig
Salome war fünf Jahre alt und er
liebte sie leidenschaftlich. Andere
mochten enttäuscht sein, wenn sie nur
eine Tochter hatten, er nicht. Ihn störte
nicht einmal, dass sie vom Aussehen
her sehr nach ihm geriet, also klein und
rundlich war, so dass sie niemals eine
Schönheit werden konnte wie seine berühmte Schwester Kuni.
"Ich müsste zufrieden sein. Die
Grafschaft gedeiht. Die Leute mögen
mich. Selbst diejenigen, die mir das
Regieren nicht zugetraut hatten, sind
inzwischen stille geworden. Aber tief in
meinem Herzen weiß ich, dass ich am
falschen Platz stehe."
Otto wollte sich nun den Stedingern
zuwenden und der Frage, ob der
Erzbischof von Bremen sie zu Recht der
Ketzerei bezichtigte, doch ein Diener
rief ihn zu seinen Regierungsgeschäften. Am Abend sollte auf der
Oldenburg ein Fest stattfinden. Die
ersten Gäste waren eingetroffen und
verstopften mit ihren Fahrzeugen den
Hof. In den beiden Sälen wurde emsig
gearbeitet. Die Tafeln und die Bänke
waren aufzustellen, das schmückende
Beiwerk zu befestigen. Aus der Küche
drang Gewürzduft. Vor dem Portal des
Palas wartete der Marschall. Die Ställe
im Schloss reichten nicht aus, die
Pferde der Gäste unterzubringen. Der
Rat der Stadt Oldenburg versprach Abhilfe, stellte dafür aber unverschämte
Forderungen. Otto überlegte kurz und
sagte:
"Diesmal sitze ich am längeren
Hebel. Sie brauchen dringend das
Privileg über den Salzhandel. Sag
ihnen, dass ich sie bis zum Jüngsten
Gericht schmoren lasse, falls sie nicht
einen
angemessenen
Vorschlag
unterbreiten!"
Otto
beherrschte
seine
große
Grafschaft besser, als er selbst glaubte.
Die Ritter achteten ihn, weil er das
Schloss so geschickt gegen die
Stedinger
verteidigt
hatte.
Die
Kaufleute
schätzten
ihn
(trotz
gelegentlicher Reibereien) wegen seiner
Zuverlässigkeit und seiner vernünftigen
Art, mit Schwierigkeiten umzugehen.
Die einfache Bevölkerung schließlich
mochte ihn wegen seines freundlichen,
verbindlichen Auftretens. Freilich war
er in einer weitaus besseren Lage als
beispielsweise Heinrich der Bogener in
Wildeshausen. Sein Bruder Christian
175
"Vielleicht nimmst du alles zu
schwer. Du gehst härter mit dir ins
Gericht als es der Herrgott dereinst tun
wird."
"Nein, nein! Ich bin ja gar nicht
unzufrieden. Es macht mir aber eben
keinen Spaß. Ich bewahre die
Herrschaft nur für Johann. Wenn er alt
genug ist, weise ich ihn in die Regierungsgeschäfte ein und ziehe mich
allmählich nach Delmenhorst zurück."
"Wenn du meinst, dass ..."
Aufgeräumt umarmte er sie und
drückte sie an sich, ungeachtet der
Tatsache, dass Fremde ihnen zusahen.
"Bedenke, dass herrschen nicht nur
Feste ausrichten bedeutet! Vielleicht
kommt ein Krieg, aus dem wir uns nicht
heraushalten können. Vielleicht muss
ich dann hunderte meiner Männer in
den Tod schicken. Davon würde ich
krank werden. Glaub mir das und treibe
mich nicht zu falschem Ehrgeiz!"
"Ja, du hast Recht! Wir dürfen
niemals vergessen, dass wir nur Staub
sind ohne Gottes Gnade."
Der Kreuzzug gegen die Stedinger
schien Oldenburg nicht zu betreffen,
weder der gescheiterte noch der
geplante. Jedenfalls berührte er nicht die
Oldenburger Lebensart, jenen von der
Mutter der letzten beiden regierenden
Grafen begründeten und gepflegten
vornehmen Stil, der das Herrscherhaus
in ganz Niedersachen ins Gespräch
gebracht hatte. Zweimal im Jahr stellten
sich Adlige von nah und fern mit ihrem
Anhang ein. Die Feste waren
kostspielig, vor allem dann, wenn ein
Turnier voraus ging. Ein Teil der
Ausgaben zahlte sich allerdings aus
durch die Verhandlungen, die am Rande
in ungezwungener Atmosphäre geführt
wurden.
Diesmal hatten die Wildeshausener
und die Bruchhausener abgesagt. Bei
ersteren war es verständlich, bei
letzteren ein Affront. Darüber aber
ärgerte sich nicht einmal die alte Gräfin. Heinrich III und seine beiden Söhne
waren ungehobelte Klötze. Sie zu
entbehren, hatte mehr gute als schlechte
Seiten. Agnes von Isenbergen trug noch
Trauer, bildete aber dennoch den
glanzvollen Mittelpunkt des Festes. In
einem schwarzen Samtkleid, das durch
Goldschmuck und Diamanten auf
dezente Weise aufgeheitert war, sah sie
sehr hübsch aus. Das prächtige blonde
Haar verschwand nur unvollständig unter der Haube.
Der Zufall wollte, dass ungewöhnlich
viele Gäste ihre Kinder mitgebracht
hatten. Otto sprach darüber mit seiner
Mutter, die wie immer im Hintergrund
die Fäden zog und ohne deren
Einverständnis nichts geschah. Er
überredete sie, den Kleinen im vorderen
der beiden Säle ein eigenes Fest zu
bieten. So kam es, dass sie sich dort
unter der Aufsicht von eigens dafür
abgestellten
Dienstleuten
nach
Herzenslust
bei
verschiedenerlei
Spielen amüsieren und austoben
konnten. Die Erwachsenen fanden die
Idee zunächst ein wenig sonderbar,
waren dann aber begeistert davon. Der
achtjährige Johann bekam dabei einen
Vorgeschmack auf die Pflichten und
Rechte eines Grafen. Auf dem
Kinderfest fungierte er als Hausherr.
Als er eine standesgemäße Partnerin
brauchte, fiel die Wahl auf die kleine
Salome. Die war ganz außer sich vor
Freude und Stolz über die Ehre.
Auch Wilhelm von Westerholt stand
ohne eigenes Dazutun im Mittelpunkt.
Sein Ruf wurde ihm immer peinlicher,
doch
leider
konnte
er
nicht
widersprechen, ohne einen Skandal auszulösen. Otto hatte ihn vor dem Fest
beiseite genommen und inständig
gebeten, noch eine Weile gute Miene
zum bösen Spiel zu machen. Die Leute
liebten nun einmal die Legenden und
verlangten gebieterisch nach Helden.
176
Einmal mehr musste er die Geschichte
vom Überraschungsangriff auf das Zelt
der Stedingerführer erzählen. Weil er
das als den Wunsch seines Lehnsherrn
verstand, rang er sich sogar einige
Ausschmückungen ab. Natürlich kam
das Gespräch auch auf den missglückten
Kreuzzug
und
dabei
unweigerlich bis zu einem ziemlich
heiklen Punkt.
"Drei Kerle wie Ihr hätten das
Bauernpack am Hemmelskamper Wald
mit Leichtigkeit zu Paaren getrieben!
Warum wart Ihr eigentlich bei der
Schlacht nicht dabei?"
Wilhelm traf diese Frage aber nicht
mehr unvorbereitet. Er entgegnete ohne
Wimpernzucken:
"Ich hatte an jenem unglückseligen
Tag andere Verpflichtungen."
Da erstarrten die Zuhörer vor
Ehrfurcht und rätselten nachhaltig über
die geheimnisvolle Mission des Ritters.
Wenn es überhaupt etwas Gutes gab,
was
Wilhelm
diesen
Festen
abzugewinnen vermochte, so war es die
Möglichkeit, etwas
über seinen
verschollenen Sohn Arnold zu erfahren,
den er bei den Stedingern vermutete.
Leider musste er sich dabei mit
geradezu
hinterhältigen
Fragen
behutsam vortasten - und blieb erneut
erfolglos. Hätten er doch mit den
Wildeshausenern reden können!
III
I
m August des Jahres 1233 hatten
die
Ritter
der
Grafschaft
Wildeshausen
Heinrich
den
Bogener nach Sitte und Brauch als
neuen Herrscher anerkannt und ihm den
Lehnseid
geschworen.
Chronisten
späterer Jahre führten ihn als Heinrich IV auf, damit unterstellend, dass
Wildeshausen und Bruchhausen eine
Einheit bildeten, was aber für jene Zeit,
von der hier die Rede ist, keineswegs
zutraf.
Graf
Heinrich III
von
Bruchhausen
hätte
es
als
Kriegserklärung auffassen müssen, wäre
der Sohn seines gefallenen Feindes
ohne sein Wissen als sein Nachfolger
aufgetreten, zumal er selbst einen
gleichnamigen Sohn besaß. Heinrich
der Bogener vermied deshalb die
Nummerierung.
Das Verhältnis zu den Nachbarn war
ohnehin nicht seine größte Sorge,
angesichts der Verhältnisse in der
Grafschaft selbst. Er verstand noch
immer nicht, was um ihn herum vor sich
ging, spürte, dass man ihn belog, konnte
es aber nicht beweisen. Der Burgvogt
zum Beispiel war so einer, dem er nicht
über den Weg traute. An einem trüben,
windigen Herbsttag saß er ihm wieder
einmal gegenüber.
"Du
behauptest
also,
unsere
Getreidespeicher seien nur zur Hälfte
voll, weil der Sommer zu heiß war?"
"Niemand weiß, wofür der Herr im
Himmel uns strafen wollte."
"Immer, wenn du auf unsicheren
Grund gerätst, fängst du vom Herrgott
zu reden an! Der Sommer war nicht
durchgängig heiß. Es gab Regentage, an
denen sich die Felder erholen konnten.
Woran liegt es, dass bei den
Oldenburgern die Scheunen kaum
ausreichen?"
"Kein Feld ist wie das andere. Die
Äcker unserer Bauern liegen nicht gut.
Wenn es zu heftig regnet, fließt das
Wasser ab, ehe es den Durst des
Getreides stillt."
"Kein Feld ist wie das andere! Du
sagst es selbst! Deine Behauptung trifft
nur für wenige Äcker zu. Hältst du mich
177
für blind? Ich bin oft genug zu den
Dörfern gegangen. Ich habe die Ähren
gesehen."
Bebend vor Zorn sprang er auf,
beruhigte sich aber rasch, als sein Blick
auf die devote Miene des Burgvogts
fiel. Mit jähzornigen Auftritten konnte
er in Wildeshausen niemanden mehr
beeindrucken. Die waren hier alle
abgehärtet durch den tobsüchtigen
Burchard. Mit einer Handbewegung, in
der sich schon ein Anflug von
Resignation ausdrückte, setzte er sich
wieder auf seinen Stuhl. Blitzschnell
zog im Geist an ihm vorüber, was er in
den vergangenen Monaten schon alles
herausgefunden hatte.
Die Ritter waren jahrelang kaum
kontrolliert worden und hatten den
fortschreitenden Wahnsinn Burchards
ausgenutzt, in die eigene Tasche zu
wirtschaften. Der frühere Graf war
einerseits
krankhaft
misstrauisch
gewesen, andererseits blind gegenüber
wesentlichen Dingen. Die Höflinge
hatten
sich
in
Geheimbünden
organisiert.
Es
gab
heimliche
Verbindungen
nach
Bremen
zu
Erzbischof Gerhard II. Wohin Heinrich
der Bogener sich auch wandte, was er
auch anpackte, überall stieß er auf
zähen Widerstand.
"Ich danke dir für deine Auskunft",
sagte er erschöpft. "Du kannst gehen."
Der Burgvogt verneigte sich tief,
wobei sein Gesicht so undurchdringlich
blieb, dass Heinrich nicht wusste, ob er
ihn wirklich ehren oder vielleicht nur
verspotten wollte. Wenig später
begehrte ein Bote vorgelassen zu
werden, der gerade aus Bruchhausen
zurückgekehrt war.
"Ich hoffe, du hast erfreuliche
Neuigkeiten."
"Ich weiß nicht, ob Ihr sie als
erfreulich anseht, Herr Graf", antwortete
der Mann unsicher.
"Erzähl! Hat Heinrich III dich
empfangen?"
"Ja, ich konnte persönlich mit ihm
reden. Er las sich Euer Schreiben durch
und dachte lange darüber nach. Er beriet
sich auch mit seiner Gattin und seinen
beiden Söhnen. Ich denke, dass er Eure
Vorschläge ernst nimmt und dass er sie
wohlwollend prüft."
Der Bote gehörte zu den wenigen
Leuten im Schloss, auf welche Heinrich
sich uneingeschränkt verließ. Er kannte
ihn von Kindheit an und hatte als
Heranwachsender manchen Streich mit
ihm ausgeheckt.
"Du kannst mit mir offen reden. Ich
bin nicht Burchard, der die Wahrheit
nicht vertrug. Sag mir bitte auch deine
persönliche Meinung!"
"Ich habe nichts beschönigt. Ihr
braucht von den Bruchhausenern keine
Feindseligkeiten zu befürchten. Das ist
mehr als nichts."
"... aber weniger, als wir uns
ausgerechnet hatten! Er hält uns hin,
weil er eigene Pläne verfolgt. Vielleicht
schließt er mit uns eines Tages den
Bündnisvertrag doch noch ab, vielleicht
fällt er uns in den Rücken. Er ist ein
Halunke."
Nach diesem weiteren Rückschlag
hielt es Heinrich in den Räumen des
Palas nicht mehr aus. Er brauchte Luft,
wollte den freien Himmel über sich
sehen. Der kühle, feuchte Wind war ihm
dabei angenehm. Er atmete tief durch
und beruhigte sich langsam. Dann aber
beging er den Fehler, sich noch einmal
umzudrehen, wobei sein Blick auf drei
geschlossene Fensterläden am linken
Flügel des Gebäudes fiel.
Dahinter
befand
sich
die
Grafenwohnung, die seit Burchards Tod
nur noch von Kunigunde de Schodis
genutzt wurde. Die Witwe hatte sich
dorthin
zurückgezogen
und
buchstäblich selbst eingemauert. Da
niemand wusste, was sie den ganzen
178
Tag über trieb, baute sich um sie
allmählich eine Legende auf. Sie habe
ein Gelübde abgelegt, hieß es. Dafür
wurde sie von den Dienstleuten wie eine
Heilige verehrt. Es galt als Ehre, ihr das
Essen vor die Tür stellen zu dürfen. Nun
legte man Gelübde aber in der Regel
aus einem bestimmten Anlass ab, zum
Beispiel als Sühne für eine schwere
Sünde. Da niemand Kunigunde selbst
ein solches Vergehen zutraute, büßte sie
zweifellos für einen anderen. Von den
geschlossenen Fensterläden ging etwas
Düsteres aus. Auf dem Schloss laste ein
Fluch, munkelten die abergläubischen
Frauen. So hatten sie zwar auch zu
Lebzeiten Burchards schon geredet, nun
aber übertrafen sie sich noch einmal
selbst mit ihren Erfindungen. Heinrich
lief ein Schauder über den Rücken und
er musste sich abwenden.
Agnes fiel ihm ein, seine Schwägerin
und Freundin. Sonderbarer Weise
überkamen ihn in ihrer Gegenwart nur
selten Gedanken an Tod und Untergang.
Ihm war, als ginge ein Zauber von ihr
aus, der alle bösen Geister vertrieb. Ob
jener Zauber auch diesmal wieder
wirkte? Unsicher begab er sich auf die
Suche nach ihr und traf sie in der
Unterburg. Sie stand inmitten einer
Gruppe von Handwerkern und erteilte
Anweisungen. Die magere junge Frau
mit den tiefschwarzen Haaren sah
merkwürdig
aus
inmitten
der
stämmigen, blonden Männer. Doch sie
verstand es, sich zu behaupten. Ihr half
selbstverständlich, dass jeder von ihren
besonderen Beziehungen zum Grafen
wusste. Sie konnte ihm im Bett
manches einflüstern. Sogar die selbstherrlichen Höflinge bemühten sich um
das Wohlwollen der Ritterstochter.
Doch Agnes besaß zudem auch ein
gutes Gespür für ihre Möglichkeiten
und Grenzen. Auf die Intrigen in der
Oberburg ließ sie sich nicht ein. In der
Unterburg hingegen konnte sie als
Herrin auftreten.
Heinrich bewunderte sie und hätte ihr
stundenlang zusehen können. In seinen
Augen beruhte ihr Erfolg übrigens auf
einem dritten Vorzug. Sie litt nicht
unter den Verhältnissen in der
Grafschaft, weil sie sich mehr als ihre
gegenwärtige Stellung nicht einmal
erträumt hatte. Sie strahlte Selbstvertrauen und Zuversicht aus, was die
Leute in der Unterburg ihr durch ein
erstaunliches Maß an Zuneigung
dankten. Der junge Graf vergaß den
verlogenen Burgvogt, die gescheiterte
Bruchhausen-Mission
und
die
geschlossenen
Fensterläden
der
Grafenwohnung. Er sah nur noch sie
und als sie ihn ihrerseits bemerkte,
strahlte er sie an.
"Es ist eine Freude, zu sehen, wie du
hier für Ordnung sorgst. Ohne dich
würde mir das alles über den Kopf
wachsen."
Sie widersprach zwar, war aber im
Stillen
glücklich
über
sein
Eingeständnis. Ihre Liebe zu ihm hatte
sich keineswegs abgekühlt, seit sie ihn
besser kannte und um seine Schwächen
wusste. Dass er ihre Zuneigung so
unbefangen erwiderte, trotz des
Geredes, dem er sich dabei aussetzte,
lag auch daran, dass er sie brauchte. Sie
mochte es, wenn er ihr von neuen
Schwierigkeiten
berichtete.
Er
wiederum nahm sie gern als Beichtschwester und konnte inzwischen kaum
noch etwas vor ihr verbergen. Selbst
wenn er äußerlich so gut gelaunt war
wie in diesem Augenblick, ahnte sie die
Sorgen, die ihn gerade noch geplagt
hatten. Als er sie bat, ihm in seine Wohnung im Bergfried zu folgen, zögerte sie
nicht.
Kaum war die Tür hinter ihnen
zugefallen, umarmten sie einander
leidenschaftlich und küssten sich auf
den Mund. Die Unbeschwertheit währte
179
jedoch nur kurze Zeit, denn plötzlich
kam Heinrich ein mittlerweile eine
knappe
Woche
zurückliegender
Zwischenfall wieder in den Sinn. Durch
Gewohnheit unvorsichtig geworden,
hatten sie mitten in einer ziemlich eindeutigen Pose den unvermittelt im
Zimmer stehenden Wilbrand nicht
bemerkt.
"Ich kann dich nicht mehr umarmen,
ohne mir einzubilden, dass er uns
zusieht."
"Heute stört er uns ganz bestimmt
nicht."
"Und das soll mich beruhigen? Sein
Verschwinden
ist
die
größte
Gemeinheit, die er uns antun konnte.
Weißt du etwas Neues über ihn?"
Agnes schüttelte den Kopf. Wilbrand
neigte schon seit mehreren Wochen
dazu, sich heimlich davonzustehlen.
Manchmal brach er am späten Abend
noch auf. Das führte jedes Mal zu
großer Aufregung, weil niemand
wusste, inwieweit er noch seine Sinne
beieinander hatte. Zum Glück blieb er
meistens friedlich. Mehrmals brachten
Bauern ihn zum Schloss zurück, weil er
sich hoffnungslos verirrt hatte. Wurde
er hinterher zur Rede gestellt,
verweigerte er jede Begründung. Es
schien, als lebe er in einer eigenen Welt,
zu der er niemandem Zugang gewährte.
Kaum jemand dachte darüber nach,
weshalb seine einseitige Zuneigung zu
Agnes (in der er viel zu lange die
freundliche Schwester Franziska wieder
zu erkennen geglaubt hatte) allmählich
verblasste. Dass er seiner angetrauten
Frau aus dem Wege ging, beseitigte
verschiedene Schwierigkeiten auf bequeme Weise. Die meisten waren
einfach nur froh darüber und benahmen
sich umso ungezwungener. Nun aber
war er spurlos verschwunden, und zwar
genau seit jenem Zwischenfall.
"Er wird eines Tages wieder
auftauchen."
"Glaubst du das wirklich?"
Agnes hob die Schultern.
"Was weiß ich! Wir haben ihn doch
nicht davongejagt. Sein Schicksal liegt
nun in Gottes Hand."
Sie umarmte ihn wieder und drängte
sich diesmal so dicht an ihn, dass er ihre
Brüste spüren musste. Da wurde für ihn
auch dieses letzte Ärgernis unwichtig.
Hastig löste er die Schnüre ihres
Kleides, drängte sie zum Bett und
versuchte
in
einem
langen,
leidenschaftlichen Liebesakt neues
Vertrauen in seine Kraft zu gewinnen.
IV
K
aum hatte der Chor der Mönche
seinen Gesang beendet, wandte
sich Erzbischof Gerhard II
schon vom Altar ab und bemühte sich,
zum Ausgang zu gelangen. Er musste
sich Gedanken eingestehen, die sich
während eines Gottesdienstes nicht
ziemen, schon gar nicht für einen
Kirchenfürsten. Freilich war er ganz
offensichtlich nicht der einzige an
diesem Morgen im Dom zu Frankfurt,
dem diese Sünde unterlief. Jeder spürte
die gereizte Stimmung, die dem Hoftag
vorausging. Eigentlich standen keine
schwerwiegenden Entscheidungen an.
Dem Kaiser bereitete sein Südreich so
viele Sorgen, dass er die deutschen
Lande vernachlässigen musste. Die
Fürsten verschoben ihren nächsten
Angriff gegen den König auf einen
späteren, für sie günstigeren Zeitpunkt.
Unruhe war erst aufgekommen in Folge
eines Gerüchts, dem nach Heinrich VII
seinerseits einen Vorstoß beabsichtigte,
um seine gefährdete Position wieder zu
festigen. Der Bremer Erzbischof
180
fürchtete nun Komplikationen für
seinen zweiten Stedinger-Kreuzzug.
"Es gibt Hinweise, dass die
Ketzerfrage eine Rolle spielen wird",
flüsterte er seinem ihn begleitenden
Dompriester zu. Dabei beobachtete er
voller Misstrauen, dass mehrere als königstreu bekannte Grafen absichtlich
zurückblieben, zweifellos um ungestört
reden zu können.
"Das muss nicht heißen, dass auch
unsere Angelegenheit zur Sprache
kommt",
entgegnete
der
Angesprochene.
"Leider
lässt
es
sich
nicht
ausschließen. Dieser junge Hitzkopf
braucht ein überzeugendes Beispiel und
unsere
Niederlage
erlaubt
die
Schlussfolgerung, Gott hätte auf der
Seite dieser widerspenstigen Bauern
gestanden."
Die
Versammlung
begann
verhältnismäßig ruhig. Der König gab
vor, den Hoftag als ein großes Fest der
Eintracht
zu
begehen.
Mit
umständlicher Korrektheit vollzog er
die notwendigen Zeremonien. Als sich
dann ein schwäbischer Adliger erhob
und eine Beschwerde vorzutragen
begehrte, stellte er sich verwundert. Der
Edelmann behauptete, in seinem Land
sei der Friede gestört, seit ein
Dominikanerkonvent sich dort niedergelassen habe, und nannte auch
Beispiele. Von schlimmer Willkür war
die Rede, von Übergriffen auf junge
Mädchen.
"Sie gebärden sich wie Eroberer und
achten weder das Recht noch die alten
Bräuche. Will jemand sie zur
Verantwortung ziehen, so drohen sie,
ihn der Ketzerei zu bezichtigen."
Sofort erhob sich wütender Protest
seitens
der
anwesenden
Kirchenvertreter.
Die
geistlichen
Fürsten
und
die
verschiedenen
Mönchsorden waren sich dabei in
seltenem Maße einig. Gleichzeitig aber
(und mindestens ebenso laut) meldeten
sich auch Männer zu Wort, welche die
Aussagen des schwäbischen Adligen
bestätigten.
Der
König
hob
beschwichtigend die Arme.
"Wie soll ich mir eine Meinung
bilden, wenn ein Stimmengewirr
herrscht wie beim unseligen Turmbau
zu Babel?"
Kraft
seiner
Vollmachten
als
Gastgeber verfügte er, dass zuerst die
Kläger zu Worte kämen. Die Berichte
ähnelten einander in auffälliger Weise,
steigerten sich aber fortlaufend. Selbst
Bischöfe wurden nicht geschont. Einer
von ihnen hatte sich angeblich mit dem
beschlagnahmten Vermögen der mit
seinem Segen Verurteilten schamlos
bereichert. Am Ende stand der neue
Großinquisitor Konrad von Hildesheim
selbst im Mittelpunkt der Vorwürfe.
Es war schwer nachzuprüfen,
inwieweit die Behauptungen der
Wahrheit entsprachen. Niemand aber
konnte übersehen, dass jemand den
Ablauf genau geplant hatte. Die
einzelnen Beteiligten wussten wie bei
einem Schauspiel ihre Einsätze und
manches erinnerte an jenen Hoftag, in
dessen Anschluss Konrad von Marburg
erschlagen worden war. Etliche Geistliche verließen deshalb den Raum.
Gerhard konnte das zu seinem eigenen
Bedauern nicht tun, weil er über das
letzte Ziel dieser Vorführung Bescheid
wissen musste.
Der König ließ unterdessen immer
mehr die Maske fallen. Als die
Teilnehmer vom Dominikanerorden
ihre
Verteidigungsreden
hielten,
unterbrach er sie ständig und drängte sie
zur Eile. Es sei nicht genug Zeit mehr
vorhanden für schwülstige Predigten.
Dann ordnete er eine Pause an. Er habe
genug zum Sachverhalt gehört und
werde nun nachdenken, um zu einem
Urteil zu gelangen.
181
Auf dem Hof standen die zwei Lager
einander
wie
feindliche
Heere
gegenüber. Kein Wort wurde von der
einen zur anderen Seite gewechselt.
"Ich frage mich, wie weit er dieses
Possenspiel noch treiben will", sagte
Gerhard zum Dompriester. "Nach
meinem Eindruck will er vor allem die
Zuschauer niederen Standes beeindrucken. Er will Volkszorn sähen,
den er später für seine Politik ausnutzen
kann."
"Ich verstehe ihn dennoch nicht. Was
nutzt es ihm, wenn das gemeine Volk
die Dominikaner misshandelt? Selbst
der Tod des Marburgers war nicht von
Vorteil für ihn."
"All diese Fragen sind berechtigt.
Vielleicht schlägt er nur um sich wie ein
weidwundes Tier."
Im Stillen schmiedete der Erzbischof
auch Pläne für den Fall, dass sich der
König ausdrücklich gegen einen neuen
Stedinger-Kreuzzug ausspräche. Er
konnte sich sowohl beim Papst als auch
beim Kaiser beschweren. Bei Gregor IX
wäre ihm der Erfolg so gut wie sicher.
Bei Friedrich II käme es darauf an, was
den Ausschlag gibt - die Abneigung
gegen das Vorgehen der Inquisitoren
oder der Gegensatz zum abtrünnigen
Sohn. Zudem konnte es der Erzbischof
auch auf eine Auseinandersetzung mit
Heinrich anlegen, dessen Stern sank. Er
betete aber, all das möge ihm erspart
bleiben.
Nach der Pause geschah zunächst
genau das, was jeder hatte erwarten
müssen - der König verurteilte mit
scharfen Worten die Ketzerverfolgung
in den deutschen Landen.
"Ich weiß, dass es Lehren gibt,
welche die Worte unseres Heilands
Jesus Christus in falscher, ja
gefährlicher Art auslegen, und dass es
die Pflicht der Regierenden ist, Urheber
und Verfechter solcher Verirrungen
entschlossen zu bekämpfen. Jener
Konrad von Hildesheim aber und jene
Mönche vom Orden des Heiligen
Dominicus sind weit davon entfernt, in
der genannten Weise der Kirche zu
nutzen. Vielmehr betreiben sie die
Politik fremder Mächte."
Diese fremden Mächte nannte er auch
beim Namen. Der Papst und der Kaiser
hätten einen Bund geschlossen, um
nördlich der Alpen das Unterste
zuoberst zu kehren. Alle Gesetze seien
in Gefahr.
"Seid auf der Hut!" rief er
beschwörend.
Seine Rede wurde leidenschaftlich
und kämpferisch. Aus den hinteren
Reihen antworteten ihm begeisterte
Zurufe.
Gerhard
indes
verzog
geringschätzig den Mund und flüsterte:
"Ich denke, er steht mit dem Rücken
an der Wand. Wenn er anfängt, um das
gemeine Volk zu buhlen, muss es
wirklich böse für ihn aussehen."
Der Dompriester nickte.
"Das ist keine starke Rede, trotz der
groben Worte."
An diesem Eindruck der meisten
adligen Teilnehmer änderte sich auch
nichts, als der König ein neues
Landfriedensgesetz ankündigte. Dabei
konnte er mit breiter Zustimmung
rechnen, denn es versprach allen
Vorteile, die vom Handel lebten, nicht
nur den Kaufleuten selbst. Fraglich
blieb aber, wie die Bestimmungen
gegen die Störenfriede durchgesetzt
werden sollten. Daran waren schon
etliche Erlasse dieser Art gescheitert.
Kurz vor Sonnenuntergang endete die
Versammlung. Die Stimmung hatte sich
nicht gebessert. Noch immer standen
sich die zwei Lager gegenüber und in
der Luft lag die Gefahr, dass abermals
einem Hoftag unmittelbar eine Bluttat
folgte. Wie beabsichtigt, hatte die Rede
des Königs bei den nicht stimmberechtigten Teilnehmern der niederen
Stände
einen
tiefen
Eindruck
182
hinterlassen. Blitzschnell eilte die
Kunde durch die Straßen der Stadt. An
jeder Ecke standen die Bürger in
Gruppen
wild
gestikulierend
beieinander. Schon in den nächsten
Tagen würde die Flut die Dörfer und die
Nachbarstädte erreichen.
Niemand wusste, was sich aus dem
Volkszorn noch entwickeln konnte.
Gerhard II aber, der an diesem Tage
kaum an etwas anderes dachte als an
seinen Kreuzzug, konnte mit dem
Ergebnis gut leben. Der König hatte die
Stedinger mit keinem Wort erwähnt.
Außerdem war er viel zu sehr in
schwäbische und bayrische Konflikte
verstrickt, um sich an der Nordseeküste
in
irgendwelche
Angelegenheiten
einmischen zu können. Vielleicht waren
seine Tage ohnehin gezählt. Immerhin
hatte er sich unter den Mächtigen
weitere Feinde geschaffen.
183
16.Kapitel
I
N
ach
der
Schlacht
am
Hemmelskamper Wald trennte
sich Franziska mit ihren
Leuten vom Hauptheer, denn Dietmar
tom Diek wollte, dass die WaldhütteBurg wieder eine Besatzung erhielt. In
den ersten Tagen hätten Angreifer
allerdings leichtes Spiel gehabt. Nicht
allein die körperliche Erschöpfung
lähmte die jungen Leute, sondern auch
(das sogar vor allem) der Eindruck des
schrecklichen Geschehens. Sie waren
gänzlich
unvorbereitet
in
den
Todesstrudel gerissen worden, die
Bürgerlichen
ebenso
wie
die
Bauernsöhne. Selbst Franziska, die sich
schon seit mehreren Jahren allein durchschlagen musste, ging es nicht anders.
Sie hatte Hässliches erlebt und auch
getan. Niemals aber war ihr etwas
widerfahren, was sich mit dem
Geschehen am Hemmelskamper Wald
vergleichen ließ. Nachdem sie einen
Tag lang reglos vor der Haupthütte
gesessen hatte, ungekämmt und ohne
etwas zu essen, begann Norbert sich um
sie zu sorgen. Trotz seiner eigenen
Erschütterung redete er ihr zu.
"Uns trifft keine Schuld. Die
Kreuzfahrer sind ins Land der Stedinger
eingedrungen."
Christian stand nur fünf Schritte
entfernt. Seine innere Spannung war so
groß, dass er die Beherrschung verlor.
"Du machst es dir leicht!" schrie er.
"Alle Schuld abwälzen! Ich habe dich
und die anderen beobachtet. Ihr seid
nicht nur Befehlsausführer gewesen.
Die Ritter wollten fliehen. Ihr hättet sie
nur laufen lassen brauchen. Es war nicht
nötig, sie zu erschlagen."
Dann fiel er in ähnlicher Weise auch
über Franziska her. Plötzlich aber riss
ihn jemand am Arm herum und gab ihm
eine kräftige Ohrfeige. Verblüfft
erkannte er Ramira, der er niemals so
viel Kraft zugetraut hätte.
"Halt endlich den Mund!" fuhr sie ihn
an. "Fühle dich nur nicht als Heiliger,
weil du dich beiseite geschlichen hast!"
Ein paar Flüche brummend, trollte er
sich. Nun jedoch zerriss das Geschrei
eines Kindes die Stille. Beatrice war
inzwischen fast zwei Jahre alt und hatte
sich zu einem niedlichen kleinen
Mädchen entwickelt. Sie besaß die
schwarzen Haare der Mutter, allerdings
nicht deren Widerstandkraft. Mit ihrem
schmalen, blassen Gesichtchen geriet
sie eher nach ihrer Tante Agnes, der
Freundin des Grafen von Wildeshausen.
Im Unterschied zu dieser war sie jedoch
sehr empfindsam. Die behutsame
Fürsorge der anderen Tante Pentia hatte
diese Eigenschaft eher verstärkt als
abgemildert. Schon der Tod eines
Vogels konnte ihr Alpträume bereiten.
Zudem übertrugen sich die Stimmungen
der
Erwachsenen
in
geradezu
verwirrendem Maße auf sie. Bei
Christians Entgleisung war sie sofort in
helle Aufregung geraten. Pentia beugte
sich zu ihr herab und redete lange
beruhigend auf sie ein. Dann ging sie
mit ihr ins Haus, wobei sie den anderen
einen vorwurfsvollen Blick zuwarf.
Nach einer Woche hatte sich
Franziska so weit erholt, dass sie wieder
ihre Rolle als Anführerin wahrnahm.
Das war allen eine große Erleichterung,
denn hundert Fragen des Alltags erforderten Entscheidungen. Es gab
sieben Verwundete. Drei von ihnen
brauchten ständig Pflege. Weil Pentia
und Ramira die Pflichten über den Kopf
wuchsen, mussten einige Männer sich
zu Frauenarbeiten herablassen, so gern
sie sich auch davor drückten. Doch
Franziska litt nahezu ständig unter
Kopfschmerzen. Ein Gebräu aus
verschiedenen
Kräutern,
welches
Ramira ihr manchmal gab, half nur
zeitweilig
und
rief
manchmal
Magenbrennen und Übelkeit hervor.
Nach einer weiteren Woche wurde
Franziska
zum
Empfang
neuer
Anweisungen zu den Anführern der
Universitas beordert. Als sie aufbrach
(ohne Begleiter übrigens), litt sie noch
mehr als gewöhnlich. In der Nacht
zuvor hatte sie von grünen, schuppigen
Ungeheuern geträumt, welche einige
ihrer Kameraden fraßen - genau
diejenigen, die am Hemmelskamper
Wald gefallen waren. Während die
Bestien sie zerkauten, schrieen sie: 'Du
hast uns hierher geführt. Wir verfluchen
dich.' Im Bemühen, sich abzulenken,
lief sie zügig und hielt erst inne, als sie
keine drei Schritte weit mehr sehen
konnte. Zum Schlafen legte sie sich an
Ort und Stelle zwischen den Bäumen
nieder.
Am nächsten Tag fühlte sie sich
etwas besser, so dass sie im
Stedingerland hellwach war. Ihr fiel auf,
dass auf den Feldern viel weniger Leute
arbeiteten, als zu dieser Jahreszeit notwendig gewesen wäre. Dafür sah sie auf
den Wegen etliche Bauern in Waffen,
die keiner sinnvollen Beschäftigung
nachgingen. Der Krieg hatte das
Marschland und seine Menschen
verändert. Die durch den Erzbischof
betriebene
neuerliche
Aufrüstung
verhinderte, dass wieder normales
Leben einzog.
In Neudeich wollte Franziska sich für
einen Tag ausruhen. Der Bauer Jörg und
seine Frau Luise erinnerten sich noch
gut an sie und begrüßten sie mit
ehrlicher Freude. Später trafen auch
Liemar und Gudrun ein. Die junge Frau
trug ein auffälliges Kleid mit allerhand
Zierrat. Man hätte sie darin durchaus für
ein unverheiratetes Mädchen halten
können und manch einer fragte sich, ob
sie ihrem Mann treu war. Die kleine
Jule half am Herd. Nach Luises
Anweisungen holte sie Geräte und
Zutaten heran. Sie tat das gewissenhaft,
doch ohne ein Wort zu sprechen und
überhaupt in der Art einer beweglich
gewordenen Puppe. Am Abend setzten
sich Jörg und Liemar mit Franziska
zusammen.
"Ich hatte gehofft, nach dem Sieg
würde sich alles zum Besseren
wenden", sagte die Anführerin aus der
Waldhütte. "Die Männer kehren auf den
Acker zurück, die Frauen besorgen ohne
Angst den Haushalt. Unterwegs aber..."
"Nichts hat sich gebessert", fiel Jörg
ihr verbittert ins Wort. "Der Krieg hat
jetzt erst richtig begonnen."
"Wie soll das enden? Wann ist alles
wirklich vorbei?"
Franziska dachte unwillkürlich an
Ramira
und
deren
Warnungen.
Inzwischen hatte sogar Liemar viel von
seiner Zuversicht verloren.
"Das ist wie mit den Drachen aus den
Märchen. Schlägt man ihnen einen Kopf
ab, wächst ein anderer nach."
Bauer Jörg fügte hinzu:
"Nur noch der Schutz der Grenzen ist
wichtig. Was das Heer braucht, wird
sofort
herangeschafft,
auf
das
Ausbessern der Deiche aber darf man
die Universitas nicht mehr ansprechen."
"Und das meint er wörtlich!" rief
Liemar,
zunehmend
aufgebracht.
"Wenn du sie tadelst, nennen sie dich
Verräter."
"Ihr habt die Universitas doch einst
gelobt für ihre Umsicht und ihre
Gerechtigkeit."
"Seitdem dieser Wige übergelaufen
ist, trauen sie jedem alles zu. Sie sind
schrecklich misstrauisch geworden."
"Was ist eigentlich aus Wige
geworden?"
185
"Dietmar tom Diek hat ihn in Bremen
aufspüren und entführen lassen."
"Und dann?"
"Er wurde gefoltert und anschließend
lebend in ein Sumpfloch geworfen - zur
Abschreckung."
Eine längere Pause entstand, ehe
Bauer Jörg zusammenfasste:
"Das Misstrauen vergiftet das Leben
bei uns. Du kannst deinem Nachbarn
nicht mehr trauen. Vielleicht ist er ein
Spitzel der Universitas und zeigt dich
beim nächsten Streit an. Umgekehrt
reden manche Bauern nicht mehr
miteinander, weil sie sich gegenseitig
für Spitzel halten, ohne es zu sein."
Franziska war nun noch mehr
beunruhigt hinsichtlich ihrer Vorladung.
Wollte man etwas von ihr verlangen,
was sie mit ihrem Gewissen nicht
vereinbaren konnte? Wie sollte sie sich
verhalten? Grundsätzlich "Ja!" sagen
und hinterher nach Auswegen suchen?
Unüberwindliche Schwierigkeiten erfinden?
Das Haus der Anführer glich
inzwischen einer kleinen Flachlandburg.
Die Verteidigungsanlagen waren fertig
gestellt. Dem Hauptgebäude fehlte für
einen Palas allenfalls der Turm. Auch
die Umgangsformen hatten sich
verfeinert. Tammo von Huntorf, der
ehemalige Schmied, wirkte ungezwungen und gut gelaunt. Er begrüßte
die junge Ritterstochter wie eine
langjährige Bekannte.
"Ich fand noch gar keine Gelegenheit,
dir für deinen Beitrag zu unserem
großen Sieg zu danken. Dein Mut ist
schon sprichwörtlich geworden. Es
heißt, dass durch dich das göttliche
Wunder eine jedermann sichtbare
Gestalt annahm."
Franziska hatte sich vorgenommen,
Auseinandersetzungen
zu
meiden.
Durch den sonderbaren Tonfall indes
ließ sie sich zu einer gewagten
Entgegnung herausfordern.
"Ich bin keine Heilige Jungfrau. Ich
habe unverheiratet ein Kind. Den Dank
verdienen die, welche auf dem
Schlachtfeld verblutet sind."
Der Bauernführer musterte sie
forschend. Doch letztlich gefiel ihm ihre
Ehrlichkeit und so drohte er ihr, eher
wohlwollend als tadelnd, mit dem
Finger:
"Hüte deine Zunge, damit sie dich
nicht eines Tages in Schwierigkeiten
bringt!"
Dann führte er sie in einen
Nebenraum, wo Dietmar tom Diek und
ein
Hauptmann
warteten.
Dazu
aufgefordert, berichtete sie mit einem
Dutzend Sätzen kurz und knapp über
die Lage in der Waldhütte-Burg. Die
Männer nickten.
"Was denkst du, weshalb der Graf
von Wildeshausen euch unbehelligt
lässt?" fragte Dietmar dann.
"Es ist schwer, unbemerkt bis zu uns
vorzudringen. Da wir keinen Schaden
anrichten, lohnt der Aufwand nicht."
Beim letzten Satz bemerkte sie, wie
ein Lächeln über Dietmars Gesicht
huschte. Zweifellos hatte er Pläne mit
ihr und ihren Leuten. Darüber sprach er
aber vorläufig nicht. Er wies lediglich
darauf hin, dass die Waldhütte-Burg
weiterhin wichtig sei für die Stedinger,
und stellte weitere (frisch geschmiedete)
eiserne Waffen in Aussicht.
Nach
Neudeich
zurückgekehrt,
erzählte Franziska sofort von ihren
Erlebnissen. Sie war erleichtert, denn
sie hatte Schlimmeres erwartet. Jörg
und Liemar allerdings warnten sie besorgt wegen ihrer spitzen Bemerkung
gegenüber Tammo.
"So etwas kann lebensgefährlich
sein."
"Ach was! Nicht bei Tammo. So sehr
kann ich mich in ihm nicht täuschen."
Bauer Jörg schüttelte den Kopf.
"Weißt du, ob hinter einem Pfeiler ein
Lauscher gestanden hat? Der ist
186
vielleicht zu Dietmar gegangen und vor
dem musst du dich in Acht nehmen."
Auf dem Weg zurück zur WaldhütteBurg ließ Franziska immer wieder die
Szenen bei den Anführern an sich
vorüberziehen und versuchte, sich auf
Einzelheiten zu besinnen, auf Gesten,
hingeworfene Bemerkungen. Sie fand
aber nichts, was die Ansicht Jörgs und
Liemars untermauerte.
Drei Monate später glich die
Waldhütte-Burg
wieder
einem
friedlichen Dorf. Franziska hatte die
Vorladung der Universitas fast wieder
vergessen und litt auch nur noch selten
unter Kopfschmerzen. Da platzte ein
Befehl herein, der alle (und besonders
die junge Fähnleinführerin) jäh wieder
daran erinnerte, dass sie eben doch noch
immer Teil eines Heeres waren, unter
kriegsähnlichen Bedingungen.
Die Anweisung war kurz und
unmissverständlich. Franziska sollte mit
ihren Leuten und einigen Mann
Verstärkung die zwischen Oldenburg
und Wildeshausen gelegene, strategisch
bedeutsame Wardenburg erobern. Der
Hauptmann erwähnte nebenher, dass sie
sich dort ja gut auskennte. Sie wusste
nicht, ob er sie mit diesem Zynismus
kränken wollte oder wirklich nicht
begriff, was er ihr da zumutete. Einen
Moment lang erwog sie, ob sie sich
rundheraus weigern sollte, sah aber bald
ein, dass ihr die Entscheidung nicht frei
stand. Da war nicht nur die Universitas,
der sie einen Eid geschworen hatte,
sondern da redeten auch ihre Anhänger
mit, die sich Vorteile versprachen von
dem Unternehmen.
II
D
er Aufbruch wurde mehrmals
verschoben. Der Herbst ging
vorüber mit mehreren Stürmen
und reichlich Regen. Mitte Dezember
fiel der erste Schnee des Winters. Nach
Weihnachten stellte sich strenger Frost
ein. Die Waldhütte-Burg wirkte wie
ausgestorben, weil ihre Bewohner sich
in die Häuser verkrochen. Fenster und
Türen
waren
mit
Fellen
und
zerschlissenen
Kleidungsstücken
verstopft. Nur der Rauch, der aus den
Kaminschornsteinen stieg, kündigte von
Leben. Die Stedinger erfochten noch
einige Siege, schlugen allerdings keine
Schlacht mehr, welche jener am
Hemmelskamper Wald auch nur
annähernd gleich kam. Mitte Januar
begann Franziska schon zu hoffen, die
Universitas würde auf die Eroberung
der Wardenburg verzichten. Als jedoch
der Frost etwas nachließ (ohne dass der
Boden
deshalb
auftaute),
traf,
zusammen mit zwanzig bewaffneten
Bauernsöhnen als Verstärkung, der endgültige Befehl zum Abmarsch ein.
Auf Schleichwegen erreichte die
kleine Einheit unbemerkt den Wald, der
an das die Burg umgebende Kulturland
grenzte.
Dann
sandte
die
Fähnleinführerin
als
Wanderer
verkleidete Kundschafter aus, welche
die schlechte Nachricht brachten, dass
sich in der Gegend etliche fremde
Waffenknechte aufhielten. Die Grafen
hatten Vorsorge getroffen. Mit Gewalt
ließ sich da nichts gewinnen, denn für
eine Belagerung waren sie viel zu
schwach.
Nach längerem Überlegen entschloss
sich Franziska zu einer List. Sie teilte
ihre Anhängerschaft auf in sieben
Gruppen von je drei bis vier Leuten. Die
sollten sich verhalten, als wären sie
heimatlose
Gesellen
oder
der
versprengte Rest eines geschlagenen
187
Heeres. Zunächst schlugen sie den Weg
nach Oldenburg ein und zeigten der
Burg die Seite. Die Besatzung ging vorsichtshalber in Stellung. Als die
sonderbaren Eindringlinge an der
nächsten Gabelung jedoch nach links
abbogen und die Lethe überquerten, so
dass sie in einen schlauchförmigen
Landstrich hineingerieten, aus dem sie
wegen des Vehnemoors auf der anderen
Seite nicht wieder heraus kamen,
amüsierten sich die Männer auf den
Mauern. Vor diesen Feinden (wenn sie
denn welche waren) brauchten sie sich
nicht in Acht zu nehmen. Die waren
offenbar fremd. Im Westen war die
Burg
durch
die
Sümpfe
des
Lethebogens zuverlässig geschützt.
Während die Waffenknechte ihre
Posten nach und nach wieder verließen,
sammelte Franziska ihre Leute im
Schutze eines kleinen Waldstücks um
sich.
"Hört genau zu!" sagte sie, unnötiger
Weise mit gedämpfter Stimme. "Es
muss nachher alles sehr schnell gehen."
Die anderen nickten.
"Durch den Sumpf führt nur ein
einziger, kaum erkennbarer Pfad. Ich
gehe voran und ihr folgt mir als Kette.
Erst zehn Schritt vor der Pforte kommen
wir wieder auf festen Boden. Dort lösen
wir die Kette auf und stürmen die
niedrige Mauer des Wirtschaftshofes."
"Und wie erreichen wir den
Haupthof?" wollte Norbert wissen. "Es
gibt doch sicherlich auch eine Mauer
zwischen den beiden Höfen."
"Das Verbindungstor ist immer
offen."
"Und wenn nicht?"
"Alles andere ist noch viel unsicherer.
Kommt jetzt!"
Während sich die Kette formierte,
redete Christian auf Ramira ein, um sie
zum Zurückbleiben zu bewegen.
"Geht das schon wieder los?!" fauchte
sie ihn an.
"Warum bist du immer gleich
beleidigt?"
"Ruhe jetzt!" mischte Franziska sich
ein "Wer wann wo und wofür eingesetzt
wird, bestimme ich."
Nach
diesem
Machtwort
des
Fähnleinführers sprach niemand mehr.
Um den von der Burg aus gut zu
überblickenden
Sumpf
schnell
überwinden zu können, ließen alle die
entbehrlichen Teile ihrer Ausrüstung
zurück. Dazu gehörte auch der Helm,
der die Sicht behinderte. Zum Schutz
musste der Schild genügen.
Franziska hob ihr kurzes Schwert und
rannte los. Es sah lustig aus, wie der
Trupp sich einer großen Schlange gleich
im Laufschritt den geheimen Pfad
entlang wand. Der groteske Anblick war
vielleicht der wichtigste Grund, weshalb
in der Burg niemand Alarm schlug. Auf
dem Gelände des Wirtschaftshofes
hielten sich nur drei Waffenknechte auf,
welche dienstfrei hatten und verschlafen
am Backofen lehnten. Die Pforte ließ
sich ohne Anstrengung aufstoßen, weil
der Eichenbalken nicht in der dafür
vorgesehenen Halterung lag. Allerdings
handelten
die
drei
Verteidiger
vorbildlich. Weil sie auf verlorenem
Posten standen, versuchten sie, das Tor
in der Zwischenmauer zu erreichen. Als
ihnen das nicht gelang, riefen sie einer
Magd zu, sie solle es verriegeln.
"Ich habe es geahnt!" keuchte
Norbert.
Noch herrschte auf dem Haupthof
heilloses Durcheinander. Doch von der
Zwischenmauer aus boten die Angreifer
im Wirtschaftshof für Bogenschützen
ein gutes Ziel. Franziska war nahe
daran, die Flucht zu befehlen, als
Ramira plötzlich den Schild fortwarf,
auf das Tor zu lief und (ohne auf die
Rufe des entsetzten Christian zu achten)
einem Eichhörnchen gleich darüber
hinweg kletterte. Von innen her konnte
sie es ohne weiteres öffnete, denn die
188
Magd hatte zwar den Riegel vorgeschoben, doch niemand war stehen
geblieben.
Auf dem Hof entstand dann eine sonderbare Situation. Verteidiger und Angreifer bauten sich drohend auf.
Zwischen
ihnen
bildete
das
Brunnenhaus
eine
Art
Grenzmarkierung. Alle hielten die
Schwerter blank in den Händen, blieben
aber wie angewurzelt stehen. Die
"Ich bin nicht blind. Du hast dich den
Stedingern angeschlossen?"
"Ja, Vater."
Wilhelm nickte bedächtig.
"Sie sind es, die dich hierher
geschickt haben?"
"Ja. Sie wollen die Burg um jeden
Preis besitzen."
Wilhelm nickte abermals.
"Ich werde mit dir noch reden,
später!"
Dann stapfte er die Treppe hinunter
und wandte sich auf dem Hof an seine
Männer:
"Wir sind unaufmerksam gewesen
und haben uns von bewaffneten
Stedingern überrumpeln lassen."
Einige der Waffenknechte riefen:
"Noch haben wir nicht verloren.
Befehlt Ihr den Angriff, hauen wir sie in
Stücke."
"Der Feind steht schon innerhalb der
Mauern. Da ich vor meinem Lehnsherrn
für euch verantwortlich bin, habe ich
die Übergabe bei freiem Abzug
ausgehandelt."
Nun brach ein Sturm des Protestes
los.
"Diese Schande werdet Ihr uns nicht
antun! Wir brauchen vor diesen Tölpeln
nicht zu fliehen."
"Ich habe es so beschlossen."
Wenig später zogen die Angehörigen
der Burgbesatzung in voller Rüstung
und Bewaffnung ab. Hinter der
Zugbrücke wandten sie sich nach
Norden, denn sie standen (anders als
ihre Vorgänger) in den Diensten der
Oldenburger. Dass Graf Otto die
Wardenburg hatte verstärken lassen,
hing übrigens weniger mit den Bauern
als mit den südlichen Nachbarn zusammen. Die unklaren Zustände in
Wildeshausen seit dem Tod Burchards
und das neue Selbstbewusstsein der
Bruchhausener erfüllten ihn mit Sorge.
Mit den Waffenknechten zogen auch
Martha und Rotbert. Wegen des
Verteidiger waren sowohl der Zahl als
auch der Bewaffnung nach überlegen,
fühlten sich aber unsicher wegen der
Überrumpelung. Die Angreifer standen
in Gefahr, bei einem länger dauernden
Gefecht den Kürzeren zu ziehen.
Franziska suchte in der Menge ihren
Vater, entdeckte ihn jedoch nicht. Da
lief sie plötzlich, zur Verblüffung von
Freund und Feind, entlang einer Lücke
zwischen den niedrigen Gebäuden auf
der Nordseite und der Mauer zum
Turm. Auch dort war die Überraschung
so groß, dass sie niemand aufhielt. Erst
vor der Burgherrenwohnung wurde sie
gepackt. Doch Wilhelm gab seinen
Leibwächtern ein Zeichen, sich zurückzuziehen. Dann starrten beide,
Vater und Tochter, sich eine Zeitlang
an, ohne ein Wort über die Lippen zu
bringen.
"Ich dachte, dass sich dein Bruder
Arnold hinter der Fahne verbirgt", sagte
der Ritter schließlich.
"Auf Arnold braucht Ihr nicht mehr
zu warten, Vater. Ich kann jetzt aber
nicht viele Worte verlieren."
189
Durcheinanders, welches den Aufbruch
begleitete, fand die Mutter nicht einmal
Gelegenheit, ihre verloren geglaubte
Tochter zu umarmen. Wilhelm wollte
später folgen. Die Mägde und Knechten
blieben überhaupt. Sie beruhigten sich
rasch, seit sie die Angreifer in
Augenschein nehmen konnten und
ihresgleichen in ihnen sahen.
Franziska wartete gehorsam in der
elterlichen Wohnung. Während sie auf
den Hof hinunter schaute, wurde ihr
bewusst, welch eigenartige Dinge sich
da abspielten. Wilhelm hatte die Lage
fest im Griff. Während er die Burg an
die Stedinger übergab, befehligte er
Freund und Feind gleichermaßen - und
sowohl die einen als auch die anderen
hörten auf ihn. Er war kein Mann der
großen Politik, hatte immer nur sein
kleines Land zwischen den Mooren am
Ende der Welt geliebt. An dieses Land
und an seine Bewohner dachte er auch
jetzt. Er wollte den Krieg davon
abhalten.
Als die letzten Waffenknechte über
die Zugbrücke an der Lethe geritten
waren, kam er in den Turm zurück und
erteilte seiner Tochter Anweisungen.
"Du meldest deinen Hauptleuten, dass
du die Burg nach hartem Kampf erobert
hast."
"Ja, Vater."
"Bei der Verwaltung kannst du dich
auf die Dorfältesten verlassen. Spiel
dich nicht als Herrin auf, sondern höre
auf ihren Rat!"
Er redete streng mit ihr, doch sie
spürte zugleich, dass er sie ernst nahm
und ihr die Aufgabe zutraute. Erst ganz
zuletzt erkundigte er sich, warum er auf
Arnold nicht mehr länger warten solle,
und ließ sich ausführlich von dem Mord
an ihm im Geheimgang der Burg von
Wildeshausen berichten. Damit war
seine Hoffnung auf ein Wiedersehen
mit dem Lieblingssohn endgültig dahin.
Aber er hatte Franziska zurück. Und er
war (trotz allem) stolz auf sie. Dass sie
der Statthalter der Stedinger in seinem
Land wurde, sah er an als ein Geschenk
des Himmels.
"Was ist aus Pentia geworden?"
"Sie hat mich die ganze Zeit über
begleitet. Es geht ihr gut. Ich werde sie
in den nächsten Tagen hierher holen."
Von ihrem unehelichen Kind erzählte
sie nichts.
Am nächsten Morgen, nachdem er
sich ein letztes Mal überzeugt hatte,
dass in seiner Burg alles an seinem
Platz war, verabschiedete er sich. Etwas
in ihm drängte ihn, sie wenigstens kurz
an sich zu drücken, doch er versagte es
sich. Zärtlichkeiten führten nach seiner
Überzeugung nur dazu, dass die Kinder
zimperlich wurden. Da ihn seine
Tochter vertreten sollte, musste er sie
wie einen Sohn behandeln.
III
G
enau in dem Moment, als
Wilhelm von der Plattform des
Turms aus nicht mehr zu sehen
war, setzten bei Franziska die
Kopfschmerzen wieder ein. In der
darauf folgenden Nacht schlief sie
keinen Moment und fürchtete, den
Verstand zu verlieren. Schon am
nächsten Tag aber ging es ihr wieder
besser und sie ritt über die Dörfer, wie
sie das in ihrer Kindheit bei ihrem Vater
und auch schon bei ihrem großen
Bruder gesehen hatte.
Am Westerholthof, dem alten Sitz der
Familie, der nun von Bauern in Pacht
genommen war, stiegen in ihr
Erinnerungen an unbeschwerte Tage
auf. Umgekehrt hatten auch die Leute
190
sie noch nicht vergessen. Eine Frau
nötigte sie, mit ins Haus zu kommen,
eine Kleinigkeit zu essen und sich zwei
in der Zwischenzeit zur Welt
gekommene Kinder anzusehen. Auch in
Achtermeer, dem Dorf am Ende des
Kulturlandzipfels, traf sie auf diese
Herzlichkeit, obwohl die Bauern dort
als Sturköpfe verschrien waren. Am
nächsten Tag inspizierte sie (nun schon
beinahe ohne Kopfweh) den nördlichen
Zipfel der Herrschaft - Oberlethe sowie
die
Landstriche
Depenstroh,
Wiebersriehe und Am Wittemoor.
Am dritten Tag hatte sie sich in ihre
neue Rolle bereits gut hinein gefunden.
Sie war auf vertrautem Grund und
Boden. Wie von Wilhelm vorhergesagt,
unterstützten die Dorfältesten sie
bereitwillig. Solange sie sich nicht über
die alten Bräuche hinwegsetzte, konnte
sie dieses Land eine Zeit lang fast ohne
Mühe regieren. Im Süden, wo sich das
Nutzland links und rechts der Lethe
meilenweit erstreckte, empfing man sie
bereits als Herrin - ohne besondere
Ehrung aber mit Respekt, genau so, wie
das seit Jahr und Tag hier üblich war.
Während
sich
Franziska
den
Verwaltungsaufgaben widmete, führte
Norbert das Fähnlein. Seit die Burg
eingenommen war, gab es für die
Männer zunächst keine sinnvolle
Aufgabe mehr. Die Oldenburger
wollten vermutlich den von Erzbischof
Gerhard mehr den je betriebenen
Kreuzzug abwarten und unternahmen
nichts, um das verlorene Gebiet
zurückzuerobern. Zum Glück hatte es
Norbert nicht mit verwilderten Landsknechten zu tun sondern mit Männern,
die lieber Nützliches taten, als zu
trinken und zu würfeln. Der Vorschlag,
die Straßen auszubessern und die
marode Lethebrücke zu erneuern, kam
von ihnen selbst. Sie stellten nur eine
Bedingung - sie wollten Land in
Aussicht gestellt bekommen.
"Das würde sie sehr anspornen",
sagte Norbert am Abend zu seiner
Freundin. "Können wir uns darauf
einlassen?"
Franziska legte den Kopf in die
Hände und überlegte.
"Es wäre hinterhältig, ihnen etwas zu
versprechen, was wir ihnen in Wahrheit
nicht geben können. Ich darf die
eigenen Bauern nicht verärgern."
"Ich verstehe. Bei uns in der Stadt
sind die Leute auch nicht erfreut, wenn
Fremde kommen und ansässig werden
wollen."
"Morgen spreche ich das mal in Littel
an. Dort wollen die Bauern Land
gewinnen und schaffen es allein nicht."
"Das wäre etwas für die Stedinger.
Mit dem Entwässern kennen sie sich
aus."
"Und was wird aus den anderen?"
Norbert hob die Schultern.
"Entweder sie machen mit oder sie
kehren zurück nach Bremen. Zwingen
können wir sie nicht."
Die Bauern in Littel wollten die
Fremden erst in Augenschein nehmen,
ehe sie sich entschieden. Während der
Erneuerung der Lethebrücke, kam öfter
jemand von ihnen vorbei und sah zu.
Weil der Fleiß und das Geschick der
Burschen aus dem Marschland sie
überzeugten, wurden sie zugänglicher.
Dennoch musste Franziska noch
mehrere Nachmittage geduldig mit Vertretern des Dorfes reden, ehe ein
verbindlicher Vertrag zustande kam.
Die Eigentumsverhältnisse von buchstäblich jedem im Plan vorgesehenen
neuem Feld waren zu klären.
Die feierliche Siegelung der fertigen
Urkunde fand auf dem Hof der
Wardenburg
statt.
Vor
dem
Brunnenhaus stand ein Tisch. Rechts
und links davon verfolgten jeweils fünf
Zeugen der betroffenen Parteien die
Amtshandlung. Franziska war eigenartig zumute, als sie das schwere
191
Familiensiegel in die Hand nahm. Ob
ihr Vater wohl guthieße, was sie tat? Er
hatte ihr alle Rechte und Pflichten
übertragen. Sie durfte in seinem Namen
handeln. Dennoch blieb ein Zweifel,
denn sie regierte auch als Statthalter der
Universitas, die hier auf Oldenburger
Gebiet nichts bestimmen durfte.
Gleichwie! Sie konnte nicht mehr
zurück. Also drückte sie das Siegel auf
das Wachs.
Uneingeschränkte Freude bereitete
ihr eine andere ihrer Pflichten. Pentia
war inzwischen mit Beatrice auf die
Wardenburg umgezogen. Franziska ließ
es sich nun nicht mehr nehmen, jeden
Tag mit ihrer Tochter zu spielen. Wer in
dieser Zeit etwas von ihr begehrte,
wurde abgewiesen. Keine Nachricht
war wichtig genug dafür.
Anfangs verhielt sich die Kleine
zurückhaltend. Sie sah die Mutter als
eine fremde Frau an und suchte ständig
nach Pentia. Doch das änderte sich
allmählich, denn sie sehnte sich im
Grunde sehr nach Liebkosungen. Die
abweisende Art, die mitunter bei ihr
auftrat, rührte wohl daher, dass sich die
Männer in der Waldhütte-Burg nicht
genug auf ihre empfindsame Seele
eingestellt hatten. Für grobe Späße war
sie nicht geschaffen.
"Soll ich dir das Brunnenhaus
zeigen?" flüsterte Franziska ihr ins Ohr,
während sie sie auf dem Arm hielt.
Das Mädchen nickte.
"Aber du musst selber laufen. Du bist
nämlich schwer."
Das Brunnenhaus der Wardenburg,
eine scheußliche Fehlplanung des
größenwahnsinnigen Burchard, war für
Beatrice ein richtiges Schloss, gerade
groß genug, um noch nicht davor zu
erschrecken. Die Erkundung erforderte
eine Menge Zeit. Die Pfeiler, die den
steinernen Baldachin trugen, mussten
untersucht werden, und zwar jeder der
sechs einzeln. In einen waren Zeichen
eingeritzt. Franziska staunte, als die
Kleine sie ihr zeigte. Sie selbst hatte sie
noch nie gesehen, obwohl sie zweifellos
alt waren. Beachtung verdienten auch
die Eiszapfen, die sich in einer
schattigen Ecke dem Tauwetter zum
Trotz noch hielten.
Ins Innere des Bauwerks zu gehen,
erforderte bereits einiges an Mut. Da
gab es zunächst eine Barriere - zwei ein
wenig zu hoch geratene Stufen, die
Beatrice auf Händen und Füßen
krabbelnd überwand. Dann umrundete
sie den Ziehbrunnen nicht weniger als
zehnmal. Sehr interessant war auch die
große Kurbel mit dem im Ungewissen
verschwindendem Seil. Mit dieser
Vorrichtung konnte sie nichts anfangen.
Franziska ließ sie deshalb in das tiefe
Loch hinein blicken, was ihr aber nicht
behagte. Lustiger war, wie die Mutter
mit der Kurbel einen Eimer Wasser
herbeizauberte.
Nach vier Wochen hatte sich das
Leben in solchen Maße normalisiert,
dass Uneingeweihte den Machtwechsel
nicht bemerkten. Ein wandernder
Krämer erkundigte sich immer wieder
nach Wilhelm und war noch bei seiner
Weiterreise überzeugt, der Ritter liege
krank im Bett, was die Familie
verheimlichen wolle. Dass die Zeit der
Stedingerherrschaft dennoch im Gedächtnis der Leute blieb, lag
ausgerechnet an Ramira, die Dank eines
Zufalls einen erstaunlichen Aufstieg
erlebte. Beim Stöbern im Obergeschoß
des Herrenhauses entdeckte sie eine
hinter Mehlsäcken in Vergessenheit
geratene Truhe. Diese enthielt fast nur
wertlosen
Plunder
ausbesserungsbedürftige Kleider, bunte Tücher,
Reste von Brokat, billigen Schmuck.
Die Gauklerin, der niemand eine
sinnvolle Aufgabe zuwies, nähte sich
nun aus dem Material phantasievolle
Kostüme. Eines Tages erschien sie als
Prinzessin auf dem Hof.
192
Die Verwandlung war unglaublich,
gemessen an den bescheidenen Mitteln,
die ihr zur Verfügung standen. Ihr rotgoldenes Lockenhaar fiel ihr offen auf
die Schultern. Nur ein mit kleinen
Steinen besetzter Reif, der in der Sonne
funkelte, hielt es in Stirnhöhe
zusammen. Das Kleid war aus hellblau
gefärbter Seide. Den zerfaserten unteren
Saum
verbarg
eine
prächtige
Brokatborte.
Ein
Gürtel
mit
handtellergroßen
Gliedern
wirkte
beinahe zu klobig für ihre zierliche
Taille. Den Umhang hatte sie aus einem
Dutzend verschiedenen Fellstücken
gefertigt. Ein Fürspann aus Silber (das
einzige Stück von Wert) hielt ihn am
Hals zusammen.
Ramira trug aber nicht nur fürstliche
Kleidung, sie benahm sich auch ihr
entsprechend - so als spielte sie eine
Rolle in einem Schauspiel. Da der Hof
jedoch keine Bühne war, löste der
Auftritt eine Welle heiterer Neugier bei
den Mägden und Knechten aus, die
sofort ihre Arbeit aus der Hand legten.
Wäre die Gauklerin unsicher geworden,
hätte man sie gnadenlos verspottet.
Doch sie verzog keine Miene und
bahnte
sich
mit
königlicher
Hochnäsigkeit ihren Weg.
Schon am nächsten Tag ging wieder
das alte Gerücht um, sie sei eine Fee.
Vielleicht hatte es ein Spaßvogel aus
der Waldhütte in harmloser Absicht in
die Welt gesetzt. Da jedoch zufällig
gerade in jenen Wochen die ersten
Frühlingsblumen durch die dünn
gewordene
Schneedecke
brachen,
breitete es sich auch unter den Bauern
der Gegend aus und eine Welle der
Verehrung setzte ein. Anders als nach
ihrer Ankunft in der Waldhütte förderte
sie die Legende diesmal. In einer Ecke
des Lagerraums, worin sie die Truhe
entdeckt hatte, richtete sie sich eine
Residenz ein.
Franziska sah sich das alles eine
Weile mit an, dann nahm sie die
Freundin beiseite und fragte sie, was sie
sich dabei eigentlich denke. Diese gab
ihr allerdings eine Antwort, die sie verstummen ließ.
"Was glaubst du, wie lange der
Zauber hier anhält? Vier Wochen noch,
vier Monate? Irgendwann jagen sie uns
davon. Ich kann dir nur raten, dich zu
amüsieren wie ich, solange du es noch
kannst - anstatt Urkunden zu schreiben,
die sowieso im Feuer landen!"
Ob sich Ramira tatsächlich amüsierte,
sei dahingestellt, ihre selbst gewählte
Rolle geriet aus dem Ruder. Sie wurde
zu Festen genötigt, zu Kindstaufen, zu
Hochzeiten, zu Hauseinweihungen.
Erfahrene
Bauern
erbaten
sich
Ratschläge zu Dingen, von denen sie
nicht das Geringste
verstand.
Allerdings war sie als Gauklerin auch
Meisterin der Täuschung. Kam sie mit
Worten nicht weiter, nahm sie die Leier
und
sang.
Ihre
melancholischmystischen
Lieder
trafen
das
Lebensgefühl der Leute im Land
zwischen den Sümpfen. Die hörten ihr
ehrfürchtig zu und legten in jedes Wort
eine besondere Bedeutung hinein.
Nur Christian ärgerte sich. Dabei
gönnte er ihr den Erfolg durchaus. Er
fürchtete jedoch, als entbehrliches
Überbleibsel einer vergangenen Zeit
beiseite geschoben zu werden. Seiner
Meinung
nach
beruhen
zwischenmenschliche
Beziehungen
allein auf gegenseitiger Abhängigkeit.
Liebe ließ er nur als Beschreibung eines
romantischen
Wunsches
gelten
(obgleich er für das rothaarige
Gauklermädchen genau das fühlte, was
man gemeinhin darunter versteht). Bald
stand für ihn fest, dass sie auf ihn, den
schüchternen Jungen, immer hochmütiger herabblicken würde, je mehr sich
ihre Position als gute Fee festigte.
193
Tatsächlich musste er sich, wollte er
mit ihr reden, ihrer knapp bemessenen
Zeit wegen, immer erst anmelden. Das
verbitterte ihn, da er selbst bei
Franziska, die den Ritter Wilhelm
vertrat, ohne weiteres vorsprechen
durfte. Erst recht konnte Norbert sich
meistens kurzfristig losreißen von
seinen Pflichten, um mit seinem alten
Freund kurz zu plaudern.
"Habe ich es nicht immer gesagt, dass
ein Mann mit Weibern nichts als Ärger
bekommt?!" kehrte er zurück zu seiner
alten Überzeugung. "Nun bin ich also
durch das Leben einmal mehr auf diese
Wahrheit gestoßen worden!"
Einmal verwünschte er Ramira mit
grimmigem Zorn. Ein andermal redete
er sich ein, sie sei ihm völlig
gleichgültig. Zuweilen nahm er sich
auch vor, ihr Grobheiten an den Kopf zu
schleudern. Tatsächlich aber schlich er
in großen Bogen wortlos um sie herum
und grämte sich.
194
17.Kapitel
I
I
n Bökenbraken war der Teufel
los. Auf dem Anger herrschte
ohrenbetäubender Lärm, weil ein
paar
Dutzend
Menschen
sich
gleichzeitig Gehör zu verschaffen versuchten. Die beiden Söhne des Grafen
von Bruchhausen, die auf je einer
Wassertonne standen, waren längst
nicht mehr zu verstehen.
"Nördlich der Huntemündung haben
sie fünf Dörfer gebrandschatzt."
"Und jetzt sind sie mit einem Heer
auf dem Wege hierher."
"Es war ein Fehler, die Holländer hier
anzusiedeln. Das sind Fremde."
"Was soll das Gejammer? Sie sind
nun einmal da und wir müssen uns
gegen sie wehren."
Das Wetter stand übrigens im krassen
Gegensatz zur Stimmung der Leute.
Man konnte schon Frühlingskleider
anziehen, wenngleich erfahrene Bauern
meinten, der Winter werde sich noch
einmal zurückmelden. An einen
Spaziergang dachte an diesem Sonntag
freilich niemand. Im Durcheinander der
Meinungen setzte sich allmählich
folgende Ansicht durch.
"Wir Dörfler kommen gegen ein
ganzes Heer nicht an. Die Herren
müssen uns schützen. Dafür entrichten
wir unsere Abgaben. Was ist mit dem
zweiten Kreuzzug, von dem alle Welt
redet? Die Adligen legen die Hände in
den Schoß."
Unvermittelt richtete sich der von
Heinrich dem Jüngeren und Ludolf
entfesselte Sturm gegen sie selbst. Sie
hatten die Bauern aus Bökenbraken und
den
umliegenden
Dörfern
zusammengerufen und ihnen eingeredet,
von den Stedingern bedroht zu sein. Die
Leute waren zunächst misstrauisch
gewesen, denn sie hatten bisher keine
schlechten Erfahrungen mit den
Marschlandbewohnern von der Weser
gesammelt. Nur mit Lügen war es den
Grafensöhnen gelungen, den Volkszorn
doch noch zu entfachen. Von da an
dauerte es dann allerdings nicht mehr
lange, bis ihnen die Lage entglitt.
"Wir wollen euch doch helfen!"
schrie Ludolf aus Leibeskräften. "Wir
sind ja hierher gekommen, weil wir
euch nicht vergessen haben."
"Was will der Graf unternehmen?"
fragte der Dorfschulze.
"Wir stellen ein Heer auf, brauchen
dazu aber eure Hilfe. Ihr wollt doch
nicht, dass fremde Landsknechte eure
Felder verwüsten."
"Landsknechte sind wie die Cholera."
"Nur Männer der Grafschaft sollen
dazugehören. Jedoch kann euch
niemand zwingen, zu den Waffen zu
greifen. Ihr müsst euch freiwillig
melden!"
Wieder schwoll der Lärm an. Nun
aber entwickelte sich die Stimmung in
die gewünschte Richtung. Vor allem die
jüngeren Leute wollten beim Krieg
dabei sein und feierten den Sieg mit
blutrünstigen Sprüchen schon im
Voraus.
Zur selben Zeit beriet sich
Heinrich III im Turm seiner Burg mit
seiner Frau Ermentrud. Die Art, wie
seine Söhne die Bauern aufwiegelten,
gefiel ihm von Tag zu Tag weniger. Er
hatte ohnehin nur halbherzig seine
Zustimmung gegeben.
"Durch diese Hitzköpfe geraten wir
vielleicht früher in einen Krieg, als uns
lieb sein kann."
"Warum sorgt Ihr Euch, Mann, da
doch alle Zeichen für uns sprechen?"
Ermentrud gab ihre spröde Art auf und
sprach ungewohnt beschwörend. "Ihr
werdet der Erste unter den Grafen der
Gegend sein."
Heinrich wandte sich verblüfft um,
ließ sich aber schließlich mitreißen. Das
war schon ein großer Traum! Er stellte
sich eine neue Burg vor, eine viel
größere, an einer anderen Stelle. Ein
steinerner Palas mit einem prächtigen
Saal! Die mächtigsten Adligen der
Gegend kommen zu den Festen, auch
der Graf von Oldenburg, dieser dicke,
weichliche Otto, der sich verschätzt hat.
"Ihr müsst noch einmal nach Holland
reisen, Mann."
Ermentruds Stimme riss ihn aus
seinen Träumen.
"Ja, gewiss! Ich werde mich bei Leo
de Schodis in Erinnerung bringen."
"Fallt nicht mit der Tür ins Haus!
Lasst ihn nicht zu früh merken, dass Ihr
Feldherr werden möchtet!"
Das war freilich leichter gesagt als
getan.
Dieser
Leo
mit
dem
scharfkantigen Gesicht war Heinrich
unheimlich. Wenn er durch den Raum
ging und dabei das Bein nachzog, kam
er ihm vor wie der Teufel in Person.
Der Bruchhausener kannte sich auch in
den holländischen Machtverhältnissen
nicht aus. Auf den ersten Blick gehörte
die Familie de Schodis keineswegs zu
den mächtigsten Fürstenhäusern. Allem
Anschein nach aber verstand es deren
Oberhaupt, sich durch persönliche
Beziehungen Einfluss zu verschaffen.
Der Graf aus Deutschland hatte leider
nicht viel anzubieten und war im
Grunde ein Bittsteller.
Heinrich gab zunächst vor, sich für
den Kreuzzug nur seines erschlagenen
Bruders wegen zu interessieren.
"Sind die Ritter aus Brabant und
Flandern dem Aufruf gefolgt? Wollen
sie sich wirklich einer Sache annehmen,
die sie selbst kaum betrifft?"
Über Leos hartes Gesicht huschte ein
Lächeln. Die Züge wirkten dadurch aber
nicht freundlicher.
"Ich will nicht den Glaubenseifer der
holländischen Adligen in Frage stellen",
fügte Heinrich vorsichtshalber hinzu.
"Mitunter jedoch muss ein Mensch sich
zwischen zwei gleichermaßen wichtigen
Forderungen entscheiden."
Leo wurde immer fröhlicher,
vielleicht auch hämischer.
"Die Ritter erkennen die besondere
Bedeutung dieses Kreuzzugs. Das
Beispiel an der Weser könnte anderen
Bauern zum Vorbild dienen. Ein Feuer
muss man bei seiner Entstehung
bekämpft." Fast beiläufig schloss er mit
den Worten: "Die Heere sammeln sich
bereits."
"Die Heere? Sind es gar mehrere?"
"Zwei sind es hier im Norden - eines
in Brabant und eines in Flandern. Eine
dritte Streitmacht steht am Rhein."
Heinrich war für einen Moment
sprachlos. Wenn sich die Heere schon
sammelten, musste es auch bereits
Hauptleute geben.
"Das werden meine Gemahlin und
deren leidgeprüfte Schwester mit
Erleichterung und Freude hören", sagte
er und merkte sofort, dass er nicht gut
heuchelte. "Kann ich mit den
Heerführern reden?"
"Die Streitmacht aus Brabant wird
durch den Herzog selbst befehligt. Zu
seinem Stellvertreter ernannte er
kürzlich Floris von Holland."
"An Letzteren erinnere ich mich von
meinem vorigen Besuch her und es
beruhigt mich, einen Mann wie ihn
unter den Befehlenden zu wissen. Ich
hatte einen ausgezeichneten Eindruck
von ihm."
Sein säuerliches Gesicht sagte das
Gegenteil. Doch er besaß bessere
Aussichten, als er ahnte. Leo de Schodis
hatte sich nach ihm erkundigt und hielt
ihn für einen fähigen und tapferen
196
Kämpfer.
Allerdings
waren
die
politischen Verflechtungen in Holland
so vielschichtig, dass er trotz seiner
Beziehungen einem Schützling nur
begrenzt helfen konnte, zumal wenn es
sich um einen Fremden handelte. Dass
er sich dennoch bemühen wollte, lag an
seiner Sorge um den Erfolg des
Kreuzzuges. Nach seinem Geschmack
tummelten sich unter den Führern zu
viele vornehme Männer des Hochadels.
Der Bruchausener hatte sich immerhin
mit einer Hand voll Leuten in einer
winzigen
Burg
gegen
seine
übermächtigen Verwandten behauptet.
"Ich werde ein Schreiben an den
Herzog
verfassen
und
darin
ausdrücklich auf Euch hinweisen."
"Wie meint Ihr das?" fragte Heinrich,
nun völlig überrascht.
"Ich gehe davon aus, dass Ihr das
Blut Eures Bruders rächen wollt, und
halte es für meine Pflicht, Euch zu
helfen."
Mit dem Herzog von Brabant traf der
Gast von der Weser in dessen Schloss
zusammen. Er wurde zu einem
Festmahl geladen. Obwohl ein Diener
ihm einen besonderen Platz zuwies,
blieb unklar, ob er tatsächlich geehrt
werden sollte. Heinrich neigte eher zu
der Annahme, dass der Hofstaat
regelmäßig
in
dieser
Weise
zusammenkam. Die große Tafel war
überfüllt mit Köstlichkeiten, wobei die
ungewöhnliche Zahl exotischer Gerichte
auffiel.
Die
Holländer
unterhielten Handelsbeziehungen, die
selbst bei den Bremer Kaufleuten Neid
erweckten und die dem Herzog von
Brabant in mehrfacher Hinsicht nutzten.
Er mästete sich an den Steuern, tätigte
selbst gewinnbringende Geschäfte und
kaufte Waren aus fernen Ländern zu
günstigen Preisen.
Heinrich sah, wie der Gastgeber an
einer der Stirnseiten thronte und vor
eifrig beipflichtenden Zuhörern seine
Ansichten zu irgendeinem Gegenstand
darlegte. Aufwändig und elegant
gekleidet, stellte er seinen Reichtum
und seine Bedeutung zur Schau.
Vermutlich war er eitel und geltungssüchtig. Letzteres mochte auch die
Erklärung sein, dass er sich hatte zum
Heerführer ernennen lassen. Heinrich
konnte sich diesen Schönling nicht in
einer Rüstung vorstellen, geschweige
denn im Getümmel einer Schlacht.
Da war Floris von Holland aus
anderem Holz geschnitzt. Nicht
grundlos hatte man ihn dem Herzog an
die Seite gestellt. Vielleicht wurde ja
auch ein Haudegen wie der Graf von
Bruchhausen noch gebraucht. Mit neuen
Hoffnungen traf Heinrich nach dem
Festmahl mit den beiden Männern in
einem Nebenraum zusammen. Er
übergab das Schreiben des Leo de
Schodis und verfolgte gespannt ihren
Gesichtsausdruck, während sie es lasen.
Doch der Herzog, der sich für
Einzelheiten nicht interessierte, reichte
die Rolle Schulter zuckend sofort an
Floris weiter. Dieser wiederum wollte
selbstverständlich keinen Konkurrenten
und überspielte seine Verärgerung nur
unvollkommen
durch
Höflichkeitsfloskeln.
II
E
igentlich wollte Heinrich III
gleich am nächsten Morgen abreisen. Der Herzog jedoch hielt
ihn zurück, vielleicht wegen einer Bitte
des Leo de Schodis. Er solle sich
wenigstens noch das Lager ansehen. Als
Begleiter erhielt er einen Mann, den
man
anderenorts
für
einen
197
Handwerksmeister hätte halten können.
Er hieß Gerhard von Diest, gehörte
einem eher unbedeutenden Adelshaus
an, genoss aber eine besondere Stellung
im Heer, weil er sowohl über
ungewöhnliches technisches Wissen als
auch über Organisationstalent verfügte.
Ein Kriegsmann war er im Grunde
nicht. Nur weil er vom Schicksal (in der
Person des Herzogs) dazu bestimmt
war, einen Kreuzzug vorzubereiten, gab
er dafür sein Bestes.
Anfangs hielt Heinrich wenig von
ihm. Im Unterschied zu seinem
Namensvetter, dem Erzbischof von
Bremen, war der Edelherr von Diest ein
freundlicher Mensch. Angesichts seiner
Aufgabe wirkte er beinahe zu
geschwätzig. Doch allmählich lernte der
Bruchhausener ihn schätzen. Sie
erreichten eine Bucht, die (jeweils
vorübergehend) teilweise als Hafen,
teilweise als Werft ausgebaut war.
"Der Schlachtplan steht noch nicht
fest", erklärte Gerhard. "Wir erwägen
aber die Möglichkeit, vom Wasser her
anzugreifen."
Heinrich blickte sich um.
"Hier entsteht eine beachtliche
Flotte!"
"Wir haben bis jetzt vierundneunzig
Schiffe, die halbfertigen mitgerechnet.
Am Ende sollen es über dreihundert
sein."
"Alle in dieser Größe?"
"Ja. Eine Flotte aus kleinen Schiffen,
wie ein Hornissenschwarm! Wichtig ist,
dass wir die Boote an der Küste entlang
heil bis zur Wesermündung bringen. In
einen Sturm dürfen wir mit ihnen nicht
geraten."
Zwei Tage später ließ sich Heinrich
erneut bei Leo de Schodis anmelden.
Für sich allein wäre er weniger
hartnäckig gewesen. Er hatte die
Bettelei gründlich satt, ahnte jedoch die
vorwurfsvollen Blicke seiner Frau
Ermentrud nach einem Misserfolg. Dass
er richtig entschieden hatte, merkte er
bald. Leo fühlte sich durch Floris von
Holland brüskiert. In sein vertrocknetes
Gesicht stieg für einen Moment die
Zornesröte. Nunmehr war es für ihn
eine Sache der Ehre, dem Bruchhausener doch noch eine ehrenvolle
Stellung zu verschaffen. Er setzte ein
Schreiben auf und versiegelte es.
"Übergebt das Arnold von Gavre!"
"Wer ist das?"
"Einer der Hauptleute des Heeres aus
Flandern. Lasst Euch von meinen
Dienern zu ihm führen!"
Das Lager in Flandern wirkte weniger
gepflegt als der Flottenhafen in Brabant.
Reiterei und Fußvolk sammelten sich
dort. Die Männer saßen zwischen den
Zelten und vertrieben sich die Zeit mit
Glücksspiel und Wein. Als Heinrich bei
den Kommandierenden eintrat, sah er,
dass auch Arnold von Gavre, der
Heerführer, kein vornehmer Herr war.
In
seiner
abgenutzten
braunen
Lederkleidung hätte man ihn für den
Hauptmann einer Räuberbande halten
können. Doch dieses Eindrucks schämte
er sich nicht. Auf dem Kopf trug er
einen Filzhut mit einer Adlerfeder.
Darunter quollen dichte, schwarze
Haare hervor und fielen wirr in Stirn
und Nacken. Auch sein Gebaren war
grobschlächtig. Den Gast knurrte er zur
Begrüßung an:
"Du siehst nicht so aus, als ob du bei
uns im Heer kämpfen willst. Was willst
du also?"
Wortlos reichte der Bruchhausener
das Schreiben des Leo de Schodis
herüber. Arnold von Gavre überflog es
kurz und warf es dann verächtlich auf
einen Tisch.
"Der hat mir gar nichts zu sagen. Mag
er mich anschwärzen, wenn es ihm
gefällt! Ich lasse mich nicht erpressen."
Nun
wurden
zwei
Männer
aufmerksam, die sich bisher im
Hintergrund gehalten hatten. Die
198
Gebrüder von Bethune wirkten im
Aussehen
und
Benehmen
wie
Zwillinge, obwohl sie ein Jahr trennte.
Auch sie trugen verwegene Kleidung,
waren allerdings blond.
"Wer will dich anschwärzen?" fragten
sie wie aus einem Munde.
"Ein Wichtigtuer!"
Mit einer Handbewegung deutete
Arnold von Gavre an, dass es nicht
lohne, lange darüber zu reden. So stand
es um Heinrichs Anliegen erneut nicht
gut. Anders als im Palast des Herzogs
fühlte er sich diesmal aber auf sicherem
Grund, denn diese drei Hauptleute
waren im Wesen wie er. Vermutlich
hätte er sich an ihrer Stelle ähnlich
verhalten. Nunmehr jeden höfischen
Anstand fahren lassend, packte er den
verdutzten Arnold von Gavre am
Kragen, schüttelte ihn und erklärte:
"So lasse ich nicht mit mir reden!"
Beinahe hätte er eine Prügelei
ausgelöst. Doch letztlich war dies die
einzig mögliche Art, sich hier Respekt
zu verschaffen. Am Abend saß er
wieder an einer reich gedeckten Tafel.
Die aber erinnerte kaum an das
Festmahl des Herzogs. Auf rohem Holz
und unter freiem Himmel standen große
Schalen mit fettigem Braten. Die
Männer spießten die Stücke mit ihren
Messern auf und warfen die Knochen
hinter sich. Der Wein floss in Strömen.
Beim dritten Becher verbrüderte sich
Heinrich mit Arnold von Gavre und den
beiden Edelleuten von Bethune. Nach
dem sechsten spielte das Schreiben des
Leo de Schodis wieder eine Rolle
(obwohl es jetzt niemand mehr
verständlich vorlesen konnte).
Am nächsten Tag stellte sich heraus,
dass der oberste Feldherr für das Heer
aus Flandern noch gesucht wurde, da
die drei Hauptleute, die das Lager
befehligten, als nicht vornehm genug
galten. Heinrich kam eher in Frage.
Arnold von Gavre, der lieber ihn wollte
als irgendeinen hochmütigen Spross aus
dem Hochadel, gab ihm Ratschläge.
"Verlass dich nicht auf Leo, sondern
rede über die Angelegenheit mit dem
Herzog! Den kostet es nichts, dich zu
unterstützen. Vielleicht macht es ihm
sogar Spaß, sich in die Angelegenheiten
von Flandern einzumischen."
Heinrich bedankte sich und brach
sofort zum Schloss des Herzogs auf.
Dort allerdings musste er sich einen Tag
lang gedulden, weil gerade eine
Abordnung aus dem Rheinland eingetroffen war. Entschädigt wurde er
durch die Gespräche, die er zufällig
verfolgen konnte, und durch die
Eindrücke, die er sonst noch sammelte.
Das dritte Heer stand den anderen
beiden offenbar kaum nach, weder was
die Zahl der Ritter noch was die
Ausrüstung anging. Wer die Mittel
bereitstellte,
blieb
im
Dunkeln.
Zweifellos waren mehrere mächtige
Kirchenfürsten beteiligt.
Um sich abzustimmen, hatten sich der
Feldherr Dietrich von Cleve und sein
Stellvertreter Adolf VII von Berg
persönlich auf die Reise nach Holland
begeben. Heinrich sah beide nur im
Vorübergehen
und
fand
keine
Gelegenheit, sie zu sprechen. Dietrich
von Cleve erinnerte in seiner Art an
Floris von Holland, war aber wenigstens
einen Kopf größer - ein Riese, nach dem
sich die Leute umdrehten. Adolf von
Berg hatte seine besten Jahre hinter
sich. Sein Gesicht war zerfurcht wie das
des Leo de Schodis. Allerdings brannte
in den Augen noch das Feuer des
erfahrenen Kämpen.
Auf der Heimreise hatte Heinrich von
Bruchhausen
allen
Grund
zur
Zufriedenheit. Wie von seiner Frau
Ermentrud vorausgesagt, war ihm das
Schicksal immer in den entscheidenden
Momenten
beigesprungen.
Eine
Urkunde des Herzogs sicherte ihm das
Kommando über die Truppen aus
199
Flandern zu, sobald diese an der Weser
einträfen. Mit Arnold von Gavre und
den Gebrüdern von Bethune würde er
dann Hauptleute haben, denen er
vertraute.
Einflussreiche
Männer
sorgten dafür, dass der Kreuzzug gut
vorbereitet wurde. Ein abermaliger
Misserfolg schien ausgeschlossen.
Dennoch gab es da etwas, das
Heinrich beunruhigte. Der neue
Kreuzzug war eine Angelegenheit von
Fremden geworden - aus Brabant, aus
Flandern, aus dem Rheinland. Er, der
Bruder des Märtyrers Burchard, musste
betteln, um in angemessener Stellung
teilnehmen zu dürfen. Wer auch immer
die Fäden im Hintergrund zog, ob der
Erzbischof von Bremen, der Papst oder
noch ein anderer, er hatte die Herrscher
der betroffenen Gegend einfach
übergangen. Wer bürgte dafür, dass sich
dieser kommende Krieg wirklich nur
gegen die Stedinger richtete? Gegen
seinen Bruder hatte die Burg von
Bruchhausen standgehalten, für jene
Heere dort im Westen war sie im
Ernstfall nur ein lästiges Hindernis auf
dem Wege. Im Grunde war es heller
Wahnsinn, einen solchen Sturm zu
entfesseln wegen ein paar Meilen
Marschland.
III
H
einrich der Bogener schreckte
hoch durch wildes Geschrei, das
vom Hof her zu ihm herunter
drang. Er saß im Keller des Palas, wo
die Truhen mit den Dokumenten
standen, und überprüfte Urkunden, da er
den begründeten Verdacht hegte, darunter seien Fälschungen aus der Zeit
seines Vaters. Der Lärm störte ihn, doch
er dachte sich nichts dabei. Vielleicht
war ein Pferd durchgegangen. Erst, als
er überhaupt keinen Gedanken mehr
fassen konnte, stieg er über eine Holztreppe hinauf in die Eingangshalle, um
die Ursache zu ergründen. Auf dem Hof
hatte sich eine Menschenmenge
versammelt und brüllte etwas im Chor.
Verwundert, aber noch immer arglos,
trat er vor die Tür, wo ihn ein Orkan
von Schmährufen empfing. Der Tumult
galt also ihm! Doch was wollten all
diese Leute? Nur zwei kamen ihm
bekannt vor. Vielleicht gab es
Beschwerden wegen der zuweilen
tatsächlich empörenden Selbstsucht
einiger seiner Ritter. Dann hörte er
genauer hin und begriff endlich.
"Warum müssen die Bruchhausener
Euren Vater rächen?"
"Lasst uns gleichfalls ein Heer
aufstellen!"
Heinrich war von dem Aufruhr völlig
überrascht. Er wusste zwar, dass seine
beiden Vettern in der Nachbargrafschaft
Stimmung
gegen
die
Stedinger
entfachten und dass sich dort etliche
Bauernsöhne freiwillig meldeten, um
der
angeblichen
Gefahr
entgegenzutreten. Dass die Welle aber
so rasch zu ihm herüber fluten würde,
darauf hatte er sich nicht vorbereitet. Im
Übrigen bezweifelte er, dass die
Schreihälse die Meinung der Mehrheit
vertraten. Wer hatte diesen Leuten
eigentlich den Zutritt zum Haupthof
gewährt? Wo blieben die Waffenknechte? Warum griffen sie nicht
ein, da doch offensichtlich ihr Burgherr
bedrängt wurde? Um Zeit zu gewinnen,
hob Heinrich beschwichtigend die Arme
und rief:
"Selbstverständlich werde ich meinen
Vater rächen. Schon lange plane ich, ein
Heer aufzustellen. Ehe ich aber damit
200
beginnen kann, muss ich verschiedene
Vorbereitungen veranlassen."
"Was sind das für Vorbereitungen?
Die Lehensritter bringen die Ausrüstung
für sich und ihre Knappen mit."
Der Graf dachte über die Antwort
einen Moment zu lange nach. Schon
setzten wieder vereinzelt Schmährufe
gegen ihn ein. Zu seinem Glück
tauchten im letzten Moment die Waffenknechte doch noch auf und
bereiteten dem Spuk ein vorläufiges
Ende. Heinrich gab sich freilich nicht
der schwachen Hoffnung hin, dass die
Sache damit endgültig erledigt sei, und
rief sofort seine engsten Vertrauten im
Rittersaal zusammen.
"Was
erlauben
sich
diese
Halunken?!" rief er aufgebracht und lief
vor Zorn auf und ab. "Sie kennen weder
Respekt noch Höflichkeit. Man sollte
herausfinden, wer sie sind, und sie bestrafen."
"Das wäre im Augenblick nicht
klug", gab jemand zu bedenken.
"Weshalb?"
"Die Stimmung in der Grafschaft ist
schlecht. Hinter dem Zwischenfall
stehen vermutlich nicht nur einige
wenige Hitzköpfe."
Heinrich schüttelte den Kopf.
"Was versprechen sich diese Leute
von einem Krieg gegen die Stedinger?
Hat der erste Kreuzzug nicht genug
Schaden angerichtet?"
"Ein zweiter Kreuzzug würde die
Leute von anderen Ärgernissen
ablenken."
Heinrich kehrte zu seinem Stuhl
zurück.
"Dergleichen hilft uns nur für kurze
Zeit", erklärte er resignierend. "Es wäre
glatter Selbstmord, würden wir uns jetzt
ernstlich an einem Krieg beteiligen. Die
Waffen unserer Ritter sind zu einem
Großteil alt und unbrauchbar. Was uns
der Erzbischof gab, ist in der Schlacht
am Hemmelskamper Wald verloren
gegangen, und noch einmal will er uns
nicht helfen, warum auch immer. Wir
müssten bei den Bürgern Bremens
Anleihen aufnehmen. Leider stehen wir
aber bei einigen Kaufherren ohnehin
tief in der Kreide. Wir sind schon regelrecht abhängig von ihnen."
Zwei Wochen lang versuchte der
Graf, weiter so zu regieren wie bisher
und sich um den Kreuzzug nicht zu
bekümmern. Die aufgehetzten Bauern
aber kamen wieder, wie es zu befürchten gewesen war, und zwar in
einem geradezu bedrohlichen Aufmarsch. Sie brachten dicke Knüppel
mit, sogar einige Schwerter und sie
hatten unterwegs etliche Gleichgesinnte
aufgelesen. Die Waffenknechte an den
Toren stellten sich ihnen in den Weg,
merkten aber, dass sie ohne Blutvergießen kaum Erfolg haben würden, und
ließen es nicht zum Äußersten kommen.
Der
Graf
beobachtete
die
Zusammenrottung von seiner Wohnung
im Bergfried aus. Zweifellos waren
diese Leute nicht mit Versprechungen
zu befriedigen. In ihrem Aufstand kam
mehr
zum
Ausdruck
als
die
Unzufriedenheit über eine zu lasche
Einstellung zum Kreuzzug. Der neue
Herrscher war allgemein unbeliebt.
Inwieweit bestimmte Edelleute dazu
beigetragen hatten, sei dahingestellt.
Jedenfalls genügte inzwischen jeder
Anlass für eine offene Rebellion.
Während sich der Hof mit Leuten
füllte, übermannte Heinrich das Gefühl,
der Lage nicht mehr gewachsen zu sein.
Obwohl er sich bewusst war, wie
kläglich er damit handelte und wie sehr
er mancher Leute Erwartungen in ihn
damit
enttäuschte,
sammelte
er
resignierend ein, was er an Essbarem im
Turm fand, knotete es in einen Umhang
und schlich sich ins Erdgeschoß. Von
dort aus gelangte er über eine Klappe
im Boden in ein Kellergewölbe, das
wiederum der Ausgangspunkt für den
201
Geheimgang war. Unterdessen gerieten
die Eindringlinge im Hof völlig außer
Rand und Band. Sie benahmen sich wie
Eroberer, richteten Zerstörungen an,
provozierten Prügeleien. Die Bewohner
der Burg wollten sich das nicht länger
gefallen lassen. Da aber der Graf
unauffindbar war, herrschte lange
Verwirrung
und
Uneinigkeit.
Schließlich scharte der Vogt alle
verfügbaren Waffenknechte um sich
und ließ gewaltsam Ordnung schaffen.
In den folgenden Tagen griff
Anarchie um sich. Da Heinrich
ungeklärte Verhältnisse zurückgelassen
hatte, konnte der Vogt auf keine
Vollmachten verweisen. Das nahmen
andere Höflinge zum Anlass, ihn zu
verdrängen. Allzu viel brachte ihnen das
aber nicht ein, weil die Ritter vom
Lande ihnen die Unterstützung und
natürlich
auch
die
Abgaben
verweigerten. Im Schloss selbst wurden
die Mägde und Knechte aufsässig.
Agnes hatte immerhin noch ein paar
persönliche Anhänger. Das waren vor
allem Männer, die sie ihrer Anmut
wegen bewunderten. Für die Mehrzahl
der Höflinge allerdings galt sie ohne
den Grafen als das Ritterstöchterchen
aus dem Land der Sümpfe (wenn nicht
gar als Hure). Genug damit beschäftigt,
sich selbst zu schützen, konnte sie sich
nicht mehr um die Ordnung in der
Vorburg kümmern. Übrigens ahnte sie,
wo sich Heinrich aufhielt, denn sie
kannte die Gänge aus jener Zeit, als sie
(frisch verliebt) dort unten nach den
Spuren alter, romantischer Legenden
gesucht hatte, und sie wusste, dass er
während des Aufruhrs im Turm war. Sie
verbot sich jedoch, der Frage auf den
Grund zu gehen. Er musste freiwillig
aus seinem Versteck kommen.
Wie oft hatte sie als Heranwachsende
davon geträumt, in Wildeshausen mehr
zu sein als ein armes Mädchen, dem
nicht einmal der Schmuck gehörte, den
es trug! Nun war sie praktisch die
Herrin, weil sich niemand sonst aus der
Grafenfamilie mehr sehen ließ. Aber sie
hatte sich das alles ganz anders
vorgestellt. Auf diesem Schloss lastete
wohl tatsächlich ein Fluch. Zum ersten
mal in ihrem Leben fragte sie sich ernsthaft, ob die Einfachheit in der Burg
ihrer Eltern vielleicht doch das bessere
war.
Als Heinrich wieder auftauchte,
fragte sie ihn nicht, wo er gewesen sei.
Die Höflinge unterwarfen sich ihm
erstaunlich bereitwillig. In den Tagen
der Anarchie hatten sie gemerkt, dass
ihre Einkünfte litten, wenn es überhaupt
keine Ordnung mehr gab. Aber die
heimlichen Betrügereien ließen sich nun
kaum noch eindämmen. Der Graf gab es
auf, die Urkunden zu prüfen. Wenn er
auf Fälschungen stieß und die
Schuldigen dann doch nicht zur
Rechenschaft ziehen konnte, führte ihm
das nur einmal mehr seine Ohnmacht
vor Augen.
Zu einem Aufruhr des Kreuzzugs
wegen kam es übrigens nicht mehr.
Diejenigen, die im Kampf gegen die
Stedinger zu Ruhm und Reichtum
gelangen wollten, bildeten auf eigene
Faust
mehrere
Fähnlein
und
unterstellten sich den Bruchhausenern.
Niemand hinderte sie daran. Im
Gegenteil, als Heinrich über einen
Boten von seinem Namensvetter und
Oheim
um
eine
nachträgliche
Genehmigung ersucht wurde, erteilte er
diese ohne jede Bedingung.
IV
202
B
ischof Johannes von Lübeck, der
zugleich Prior des ersten
Konvents der Dominikaner in
Bremen war, hatte eine neue,
schneeweiße Kutte angelegt und auch
auf seinem Gesicht spiegelte sich die
Heiterkeit eines Festtages wider. Er
stand am Fenster jenes Zimmers,
welches Gerhard II wie kein anderes im
Palast liebte, und blickte hinab in den
von Sonne überfluteten Hof. Seine
feingliedrigen Hände umfassten dabei
fast zärtlich ein Kruzifix aus Ebenholz.
"Dieser Tag gehört uns", bemerkte er,
tief in Gedanken versunken.
Der Erzbischof verstand nicht recht,
worauf sein Gast anspielte, mochte aber
auch nicht danach fragen. Er ahnte, dass
Johannes ihm dann eine philosophische
Rede halten würde und ihm fehlte der
Sinn für solche Art, die Welt zu sehen.
Dennoch verband die beiden Männer
weit mehr als die Gesinnung. Es gab
Momente, in denen Gerhard sich
eingestand, in seinem Denken und
Handeln sehr irdisch gebunden zu sein.
Da er (nach seiner Überzeugung) auf
Erden unermüdlich für Gott kämpfte,
empfand er das nicht als Makel. Aber er
wünschte, dass seine Taten ins rechte
Licht gesetzt würden durch einen, der
dafür wohlklingende Worte fand.
"Die Holländer haben uns nicht
enttäuscht. Ihr Glaubenseifer ist
lobenswert", bemerkte Johannes weiter,
während er sich vom Fenster wegdrehte
und gemessen zu einem Stuhl schritt.
Dazu konnte sich Gerhard ohne
weiteres äußern.
"Ich war es leid, die große Aufgabe
durch das Gezänk jener Kleingeister
gefährdet zu sehen. Die Oldenburger
drücken sich mit unverschämten Lügen
vor ihren Pflichten. In Wildeshausen
herrschen haarsträubende Zustände.
Und dieser Emporkömmling aus
Bruchhausen, der sich plötzlich
anbiedert, dessen Ziele sind leicht zu
durchschauen." Er redete sich in Eifer
und achtete nicht darauf, welchen
Gegensatz er dabei zu seinem vornehmen Gast bildete. "Ich will sie
vorerst nicht mehr sehen, alle drei nicht.
Sie sollen um meine Gunst betteln. Das
werden sie nämlich nötig haben nach
unserem Sieg. Ich bin hier der Herr."
Er hielt die markige Rede vor allem
für sich selbst, denn dass er Johannes
damit nicht beeindrucken konnte, das
wusste er. Der Dominikaner verfügte
über eine unerschütterliche innere
Zuversicht. Selbst ein Unglück wie die
Schlacht am Hemmelskamper Wald
vermochte ihn nicht aus dem Gleichgewicht zu werfen. Nach seiner
Überzeugung vollzog sich alles auf
Erden nach Gottes ehernem Plan. Der
Allmächtige hatte im ersten Kreuzzug
nicht die aufrührerischen Bauern
belohnt, sondern die verdorbenen
Wildeshausener bestraft. Nun, da die
Arbeit verrichtet war, konnte er das
einstige Werkzeug zerbrechen.
Beide Männer schwiegen eine
Zeitlang. Dann lenkte Johannes das
Gespräch
auf
einen
anderen
Gegenstand:
"Der neue Generalinquisitor hält sich
in der Stadt auf?"
"Ja. Er traf vor zwei Tagen ein."
"Ihr hattet schon eine Gelegenheit,
mit ihm zu reden?"
"Wir
sprachen
über
den
bevorstehenden Kreuzzug. Der Heilige
Vater wünscht gewisse Einzelheiten zu
erfahren."
Johannes zog die Augenbrauen hoch.
"Eine weitere Untersuchung? Ich
glaubte, Gregor habe sich inzwischen
zur Genüge von der Ketzerei der
Stedinger überzeugt."
Gerhard strich sich ein wenig ratlos
übers Kinn.
"Ich kenne Konrads Auftrag nicht
genau."
"Was haltet Ihr von ihm? Er trägt
denselben Namen wie sein Vorgänger,
der Märtyrer - Konrad von Marburg,
Konrad von Hildesheim. Nomen est
omen?"
"Ihr solltet Euch Eure Meinung aus
eigenem Erleben bilden. Ich habe ihn
eingeladen. Er müsste bald hier sein."
Tatsächlich meldete ihn ein Diener
wenig später an.
"Herr Konrad von Hildesheim,
Generalinquisitor seiner Heiligkeit
Papst Gregor IX."
Auf den ersten Blick wirkte der neue
Konrad weit weniger forsch als der
sprichwörtlich gnadenlose Marburger.
Langsam, fast zögerlich trat er ein.
Dann verharrte er einen Moment, als
wisse er nicht, wie ein Erzbischof zu
begrüßen sei. Auch von Statur her war
er eher ein Kaufmann als ein Ritter. Das
alles stimmte Johannes skeptisch, doch
ließ er sich nichts anmerken.
"Ich hoffe, Ihr konntet den Tag im
Sinne Eures Auftrages nutzen."
"Ich bin an keinen besonderen
Auftrag gebunden. Allerdings fand ich
vieles vor, was mich erfreute. Das
werde ich vor Seiner Heiligkeit nicht
unerwähnt lassen."
"Darf ich fragen, worauf Ihr
anspielt?"
"Auf
den
Kreuzzug
selbstverständlich. Ich bin beeindruckt
vom Eifer Seiner Eminenz bei der
Bekämpfung der Ketzerei. Mancher
hätte nach der schweren Niederlage im
ersten Krieg sein Vertrauen in Gottes
Gerechtigkeit verloren." In seine Augen
kam Feuer. "Die Nachwelt wird es Euch
danken. Ungeheuerlich wären die
Folgen, bliebe der Sieg jener auf
Abwege
geratenen
Bauern
unwidersprochen."
Johannes tauschte einen kurzen Blick
mit Gerhard. Konrad von Hildesheim
war also doch aus dem gleichen Holz
geschnitzt wie sein Vorgänger. Der
Erzbischof wagte nun, etwas offener zu
reden.
"Haltet Ihr es für möglich, dass dem
Kreuzzug noch etwas im Wege stehen
könnte."
"Wenn es so sein sollte, dürft Ihr,
Eminenz,
Euch
davon
nicht
beeindrucken lassen."
In diesem Moment kam abermals der
Diener herein.
"Eine Abordnung des Rates der
Stadt."
Gerhard zog unwillig die Stirn in
Falten.
"Was wollen diese Leute schon
wieder? Sie sollen warten." Dann
überlegte er es sich anders und rief den
Diener zurück. "Nein, später habe ich
erst recht keine Zeit. Mögen sie gleich
hereinkommen."
Gottfried verneigte sich ehrerbietig,
in seinen Augen aber spiegelte sich
bereits ein gewisses Maß an Gereiztheit.
"Eminenz, Ihr hattet uns vor
Jahresfrist vertraglich zugesichert, uns
sämtliche Burgen an der Weser von
Hoya bis ans Meer zu übergeben. Nur
mit der Hälfte von ihnen ist das bislang
geschehen. Die Besatzungen der Euch
noch immer unterstehenden Bollwerke
schikanieren und behindern unsere
Schiffe. Wir bitten Euch ..."
"Will der Rat andeuten, dass ich mich
an abgeschlossene Verträge nicht halte?
Die Gründe für die Verzögerungen
nannte ich bereits vor zwei Wochen."
Durch Gottfrieds Körper ging ein
Beben. Für einen Moment sah es so aus,
als wolle er mit geballten Fäusten auf
den Kirchenfürsten losgehen. Dieser
aber blieb völlig unbeeindruckt.
Herrisch stand er da, wie eine steinerne
Figur. Der Abordnung blieb nichts
anderes übrig, als sich einmal mehr mit
vagen Versprechungen abspeisen zu
lassen. Johannes und Konrad befürworteten die strenge Haltung.
204
"Die Bürgerlichen müssen eine harte
Hand im Nacken spüren, sonst werden
sie übermütig", meinte der Bischof.
Der
Generalinquisitor
wollte
Genaueres wissen über jenen Vertrag.
"Diesen Brocken habe ich ihnen
hingeworfen, damit sie sich dem
Kreuzzug anschließen", antwortete der
Erzbischof. "Aber ich bin enttäuscht
von ihnen. Das ist die Art der Krämer sie begehren alles und wollen nichts
geben dafür."
"Insofern braucht auch Ihr Euch nach
den Vereinbarungen nicht bis in die
letzte Einzelheit hinein zu richten",
schloss Konrad.
Im weiteren Verlauf des Nachmittags
stellten die drei Kirchenmänner immer
mehr Gemeinsamkeiten in ihren
Ansichten und Zielen fest. Der letzte
Rest Misstrauen gegenüber dem
Abgesandten des Papstes verschwand.
205
18.Kapitel
I
D
as Land war flach wie das Watt,
doch mittendrin ragte kegelförmig ein Berg auf. So
sonderbar, wie er in dieser Gegend
insgesamt wirkte, mutete auch sein Gipfel an. Drei Gebilde standen dort, die
das Sonnenlicht grell zurückwarfen.
Ihre Form ließ sich aus der Ferne nicht
bestimmen, doch mit Phantasie konnte
man sie für die drei Golgatha-Kreuze
halten. Mitten durch eine öde
Landschaft, in der nur einige wenige
Dörfer sich verloren, zog sich, nahezu
schnurgerade, eine erstaunlich gut
ausgebaute Straße. Auf dieser fuhren
fünf prächtige Kutschen, die - den
Wappen an den Türen nach bedeutenden Fürsten gehörten. Offenbar
hatten es die Herren eilig, denn die
Kutscher trieben ihre Pferde mit
Peitschenknallen an.
Am Fuße des Berges verschmälerte
sich die Straße und verlor sich
schließlich in der Wiese. Da außerdem
der Hang steil anstieg, konnten die
Pferde ihre Last nicht mehr ziehen und
die Männer mussten den Weg, gegen
ihre Gewohnheit, zu Fuß fortzusetzen.
Erstaunlicher Weise nahmen sie die
Strapazen
bereitwillig
auf
sich.
Während sie (zumeist auf Händen und
Füßen kriechend) ihre fülligen Leiber
Meter um Meter nach oben schleppten,
verfärbten sich ihre Gesichter dunkelrot
und über die Stirnen rann der Schweiß.
Als sie dem Ziel ganz nahe waren,
erwiesen sich die drei Figuren als
vergoldete Skulpturen, was die Männer
aber nicht störte. Im Gegenteil! In ihre
Augen trat der Ausdruck wilder Gier
und ihre Gesichter verzerrten sich zu
bösartigen Fratzen. Vor ihnen tauchte
unterdessen ein behaartes Wesen auf
mit Hörnern auf dem Schädel und
einem langen Quastenschwanz am
Hintern.
"Hebe dich hinweg, Satanas!" schrie
der Papst und fuhr hoch von seinem
Lager. "Zurück in die Hölle mit dir,
hinterhältiger Versucher!"
Er erwachte endgültig und beruhigte
sich. Ein Traum hatte ihn genarrt.
Niemals würde sich der Teufel
leibhaftig in die Gemächer des Heiligen
Vaters wagen! So rief er denn nach
seinen Dienern und begann ohne Hast
sein normales Tagewerk. Allerdings
gingen ihm die Visionen der Nacht
nicht aus dem Sinn. Sooft er Zeit zum
Nachdenken fand, erinnerte er sich
wieder daran. Hatte womöglich Gott,
der Allmächtige, über den Traum mit
ihm gesprochen? Um sicher zu gehen,
nahm er einen Priester beiseite und
beriet sich mit ihm.
"Könnte es sein, dass in der
Geschichte eine Botschaft verschlüsselt
ist?"
"Ja, das halte ich für möglich. Jene
Fürsten erweckten den Anschein, als
strebten sie dem gekreuzigten Heiland
zu, begehrten in Wahrheit aber das
Goldene Kalb. Vielleicht soll der Traum
Euch, Heiliger Vater, vor falschen
Frömmlern warnen. Manche Leute
umschmeicheln Euch und prahlen
selbstgefällig mit ihren Taten für Gott,
womit sie nichts anderes beabsichtigen,
als ihre Gier nach Reichtum und
weltlichen Genüssen zu überdecken.
Konntet Ihr einen der Herren erkennen?"
"Nein, leider nicht."
Das stimmte nicht ganz. Die Männer
hatten sehr wohl Gesichter besessen,
Gregor konnte sich nur nicht mehr
erinnern. Erst beim Zubettgehen wurden
die Bilder in seinem Kopf wieder klarer,
so als löse sich ein Nebel vor ihnen auf.
Einer der Fürsten war ganz sicher ein
Erzbischof
aus
dem
Norden
Deutschlands. Nach und nach erstand
die ganze Angelegenheit vor ihm. Die
Bauern, die keinen Kirchenzehnt mehr
entrichteten und angeblich Priester
misshandelten. Gerhard II von Bremen,
der einen Kreuzzug gegen sie
unternommen und eine Niederlage
erlitten hatte. Der Herzog von Brabant,
der sich seit einigen Monaten mit
verwunderlichem Eifer für die Ausmerzung der Ketzerei an der Weser
einsetzte.
Ist das die Botschaft des Traumes?
Sind Gerhard und seine Anhänger jene
Leute, die sich gottesfürchtig geben und
dabei selbstsüchtig nur ihre eigenen
Ziele verfolgen? Gregor hatte einem
neuerlichen Kreuzzug bereits seine
Zustimmung erteilt. Nun kamen ihm
Bedenken. Vielleicht war alles ganz
anders, als er (den Berichten
vertrauend) bisher glaubte. Er stellte
sich eine Räuberbande vor, die sich erst
gemeinsam auf ein Opfer stürzt und
dann in Streit um die Beute gerät. Der
Sieg der Bauern, eine Frucht der Gier
ihrer Gegner? Gregor mochte diese Stedinger nicht. Ganz bestimmt hatten sie
sich der Ketzerei schuldig gemacht.
Doch man darf den Teufel nicht mit
dem
Beelzebub
austreiben.
Unvorstellbar
die
Folgen
einer
abermaligen Niederlage binnen eines
Jahres!
Der Papst entwarf einen eigenen Plan.
Durch Verhandlungen beruhigt sich die
Lage. Ein Vertrag regelt das Verhältnis
zwischen den Bauern und dem
Erzbischof. Allmählich verschwindet
das Misstrauen und es ist wieder
möglich,
in
den
Dörfern
zu
missionieren. Die Dominikaner werden
auf ihre besondere Aufgabe sorgfältig
vorbereitet. Sie gewinnen die Herzen
der Bauern und trennen allmählich die
Unverbesserlichen
von
den
Belehrbaren. Hinrichtungen kommen
nur ausnahmsweise vor, so dass sie
abschrecken ohne zum Aufstand zu
reizen.
Dies war die Lehre aus den
schrecklichen Albigenserkriegen. Die
Kämpfe hatten damals im Süden
Frankreichs
ganze
Landstriche
verwüstet und dem Ansehen der Kirche
schweren Schaden zugefügt. Noch
immer mussten die Brüder aus den
Orden der Franziskaner und der
Dominikaner unendlich viel Geduld
aufbringen, um das Zerstörte neu
aufzubauen. Gewalt allein ist im Ringen
um die Reinheit des christlichen Glaubens ein schlechtes Mittel, zumal wenn
sie ohne Aufsicht von weltlichen Herren
angewendet wird.
Gregor wusste, dass ihm seine
Bedenken spät kamen, wahrscheinlich
zu spät, um den Krieg noch zu
verhindern. Immerhin aber brach sein
Legat in diesen Tagen planmäßig in die
deutschen
Lande
auf,
um
Verhandlungen zu verschiedenen Gegenständen zu führen. Bei dieser
207
Gelegenheit sollte er sich mit dem
Erzbischof von Bremen in Verbindung
setzen und den Kreuzzug verbieten. Der
Bote erreichte den Würdenträger am
nächsten Morgen buchstäblich im
letzten Moment. Sein Wagen stand
bereits am Tor und der Kutscher redete
mit den Wächtern. Und er war nicht
erfreut über den Auftrag. Schon beim
Überfliegen des Schreibens erkannte er
das Undankbare an dem Unterfangen.
"Ich werde tun, was ich kann",
erklärte er lakonisch.
Im selben Moment setzte sich die
Kutsche wieder in Bewegung und
rumpelte unter dem Torbogen hindurch
hinaus aus der Stadt Rom.
II
H
einrich der Bogener ritt über die
Dörfer, um nach dem Rechten zu
sehen. Seit jenen unglückseligen
Tagen, die er in den Geheimgängen
seines Schlosses zugebracht hatte, auf
der Flucht vor seinen eigenen
Untertanen, war es erstaunlich ruhig um
ihn geworden. Die Aufrührer gehörten
inzwischen
zum
Kreuzzugsheer
Heinrichs III von Bruchhausen und es
hieß, dass sie auch dort unangenehm
auffielen. Unter den Rittern und
Höflingen von Wildeshausen hatte sich
(ohne Eingreifen des Grafen) eine vom
Burgvogt geführte Gruppe durchgesetzt.
Heinrich der Bogener war klug genug
gewesen, sich mit diesen Leuten gut zu
stellen. Dabei verzichtete er zwar
endgültig auf einen Teil seiner
Autorität, erreichte aber stabile Verhältnisse, wie sie selbst zu Zeiten seines
Vaters niemals geherrscht hatten.
Während einige wenige Familien sich
weiterhin nach Belieben bereichern
konnten, mussten alle anderen notgedrungen nun wieder ehrlich leben. Die
Speicher
füllten
sich.
In
die
Schatzkammer kehrten wie von
Geisterhand spurlos verschwundene
Gegenstände zurück.
Völlig zufrieden war der Graf
natürlich nicht, denn er fühlte sich
zuweilen wie eine Puppe in der Hand
eines mutwilligen Kindes. Er wusste
nicht einmal so genau, wer in Wahrheit
das Sagen hatte. Dass der Burgvogt ihm
gegenüber als Führer und Sprecher der
Gruppe auftrat, besagte nicht alles.
Viele Gerüchte gingen um. Einige
Diener behaupteten, die herrische
Gemahlin des Burgvogts ziehe heimlich
die Fäden. Heinrich der Bogener war zu
klug, um sich auf den Frieden zu verlassen.
Aber
er
genoss
seine
Wiederauferstehung.
Agnes von Westerholt begleitete ihn,
so wie sie es häufig tat. Wilbrand war
inzwischen für tot erklärt worden. Das
brachte
ihr
zwar
gewisse
Einschränkungen, weil sie nun als
Witwe galt, eröffnete ihr aber die
Möglichkeit, eines Tages rechtmäßige
Gräfin zu sein. Leider empfand
Heinrich eine abergläubische Scheu vor
der Ehe.
"Wenn ich dich heirate, wirst du bald
sterben", versicherte er ihr, sobald sie
ihn darauf vorsichtig ansprach.
Auch die Höflinge, von denen er
abhing, missbilligten den Plan. Sie
drängten den Grafen vielmehr zu einer
gewinnbringenden Partie. Somit ruhten
die Hoffnungen der jungen Frau in
erster Linie auf einer Schwangerschaft.
In unzähligen Gebeten schon hatte sie
Gott und alle Heiligen um ein Kind angefleht. Bisher vergebens! Allmählich
beschlich sie die Angst vor der
Unfruchtbarkeit. Sollte sie durch solch
ein Unglück kurz vor ihrem großen Ziel
208
scheitern? Doch nein, das mochte sie
nicht glauben! Sie war entschlossen,
den lieben Gott buchstäblich zu
belagern. Nicht zum ersten Mal hatte sie
durch Hartnäckigkeit das scheinbar
Unmögliche schließlich noch erreicht.
"Es ist nicht zu trocken und nicht zu
feucht", sagte Heinrich, während er den
Blick schweifen ließ. "Wenn das so
bleibt, werden wir eine gute Ernte
haben."
Die Saat des Hafers auf den Äckern
zu ihrer Rechten war bereits
abgeschlossen. Gegenüber bestellten
fünf Bauern ein Feld mit Gerste. Als sie
den Grafen sahen, verneigten sie sich
kurz und setzten ihre Arbeit dann fort.
"Gott hat genügend Plagen über
Wildeshausen ausgeschüttet", sagte
Agnes. "Nun sind die Verfehlungen der
Vergangenheit gesühnt."
"Den sieben mageren Jahren folgen
die sieben fetten."
In diesem Moment zog eine
Staubwolke seine Aufmerksamkeit an.
Sie stieg hinter einem Dorf auf und ließ
sich durch nichts erklären.
"Was ist das?" rief Heinrich.
Agnes hob die Schultern.
Bald aber erkannten die beiden
gepanzerte Männer, die über ein frisch
bestelltes Feld ritten und es dabei
verwüsteten. Einem ersten Trupp folgte
ein zweiter. Dahinter am Horizont
zeigte sich ein dritter. Ein ganzes Heer
rückte heran.
"Was haben diese Leute in meinem
Herrschaftsbereich zu suchen?" rief der
Graf. "Ich lebe mit niemandem in
Fehde."
Unterdessen hatte der erste Trupp das
Dorf erreicht. Ob die Bauern sich
widersetzten, war schwer zu sagen.
Vermutlich beugten sie sich der rohen
Gewalt. Heinrich indes packte der Zorn
und er gab seinem Pferd die Sporen.
"Bleibe du hier! Ich werde diese
Gesellen zur Rede stellen."
Agnes überhörte absichtlich, dass sie
zurückbleiben sollte, und folgte ihm in
einem gewissen Abstand. Vor dem
Ettertor beluden vier Männer einen
behelfsmäßig gebauten Wagen mit
Mehlsäcken und riefen sich dabei kecke
Sprüche zu. Den heranpreschenden
Heinrich beachteten sie zunächst nicht.
Selbst als er sie ansprach, ließen sie sich
in ihrer Beschäftigung nicht stören.
"Woher stammt dieses Mehl?"
wiederholte der Graf seine Frage mit
drohendem Unterton.
Einer der vier bequemte sich zu einer
beiläufigen Antwort.
"Das ist zur Versorgung der Truppe
beschlagnahmt. Uns trifft keine Schuld.
Wir führen hier nur Befehle aus."
"Befehle? Wer befielt dergleichen in
einem meiner Dörfer?"
"Adolf von Berg."
Heinrich folgte dem Fingerzeig und
fand in der Nähe des Angers die beiden
Feldherren
des
rheinischen
Kreuzzugsaufgebots Adolf VII von
Berg und Dietrich von Cleve.
"Veranlasst
sofort,
dass
die
Bewaffneten die Gegend verlassen!"
brüllte er, ohne sich mit Grußformeln
aufzuhalten. "Ihr seid mit Euren Leuten
ohne meine Erlaubnis in mein Land eingedrungen. Ich sehe Euch als Feind an
und
werde
mich
entsprechend
verhalten."
Die beiden wandten sich ihm zu und
betrachteten ihn einen Augenblick lang
sehr verwundert. Sie schienen darüber
zu rätseln, warum er in solche Erregung
geraten war.
"Hinter uns liegt ein beschwerlicher
Marsch" sagte Dietrich dann. "Wir
brauchen Verpflegung."
"Nicht aus meinem Dorf."
"Woher sonst? Selbstverständlich
wird Euch der entstehende Schaden
ersetzt. Wir sind doch keine Räuber."
"Auf die lächerliche Entschädigung
verzichte ich. Verschwindet! Sonst
209
werdet ihr die Schwerter meiner Leute
zu fühlen bekommen."
"Ihr seid allem Anschein nach ein
ungestümer junger Mann, aber für
derart dumm halte ich Euch denn doch
nicht."
Heinrich biss die Zähne aufeinander
und war zum Äußersten entschlossen.
Mit blankem Schwert trat er auf einen
Ritter zu, der gerade eine Tür
aufbrechen wollte.
"Fort hier oder ich spieße dich auf
wie eine Wildsau!"
Der Mann prallte vor Überraschung
zurück.
"He, lass mich in Frieden! Bist du
überhaupt einer von uns?"
Er vergaß, dass er ebenfalls eine
Waffe trug. Das vor Wut verzerrte
Gesicht des Grafen beeindruckte ihn
sichtlich. Einige seiner in der Nähe
stehenden Kumpane waren weniger
ängstlich, bildeten einen Halbkreis und
drohten:
"Störe uns nicht und mache uns nicht
wütend - oder du siehst bald
durchlöchern wie ein Stück Käse aus."
"Wohlan! Dann versucht es, mich zu
durchlöchern!"
Die Mischung aus Zorn und
Ohnmacht ließ ihn, der vor kurzem vor
seinen widersetzlichen Bauern in den
Geheimgang geflüchtet war, plötzlich
tollkühn werden. Vermutlich hätte er
tatsächlich nicht eher geruht, bis er ein
Märtyrer seiner maroden Grafschaft
geworden wäre. Doch abermals geschah
etwas Überraschendes. Eine junge Frau
warf sich zwischen die Schwerter und
verhinderte
den
Kampf.
Die
Waffenknechte waren normalerweise
nicht zimperlich. Der Kleidung nach
hatten sie es aber mit einer Herrin zu
tun und ein gewisses Maß an
ritterlichem Anstand gebot sich
während eines Feldzuges zu Ehren des
Heilands. Jemand bemerkte unbeholfen:
"Das ist gefährlich! Wir hätten Euch
verletzen können."
Agnes sah nicht nach links und nicht
nach rechts. Sie packte den verdutzen
Heinrich am Arm und zog ihn hinter
sich her aus der Belagerung. Dabei kam
er wieder zur Vernunft. Beide
schwangen sich auf ihre Pferde und
galoppierten zum Tor hinaus.
Da platzte es aus Agnes heraus:
"Bist du nicht mehr bei Verstand?
Wolltest du allein ein ganzes Heer
besiegen?"
"Entschuldige! Der Zorn hat mich
überwältigt."
"Und was tun wir jetzt?"
"Wir reiten zum Schloss. Wenigstens
das soll ihnen nicht in die Hände
fallen."
Sofort
nach
seiner
Ankunft
veranlasste Heinrich der Bogener die
Vorbereitung zur Verteidigung. Die
Höflinge standen dabei uneingeschränkt
auf seiner Seite, denn immerhin lagerten
im Schloss auch ihre eigenen
Reichtümer. Leider standen nur wenige
Männer zur Verfügung. Die schweren
Steinschleudern, die vergessen in einem
Winkel des Vorburghofes verrotteten,
waren
unbrauchbar.
Man
hätte
rechtzeitig
die
durchgerosteten
Beschläge erneuern müssen. Der Graf
schlug vor, nur die Oberburg zu halten
und die vor gelagerten Abschnitte
kampflos aufzugeben, setzte sich damit
jedoch nicht durch.
"Dann
erkennen
sie
unsere
Schwäche!" warnte jemand.
"Wir sollten Holzfiguren auf die
Mauern stellen, um sie zu täuschen,"
schlug ein anderer vor.
Noch ehe eine Einigung über die
Taktik erzielt war, trafen die
Kreuzfahrer aus dem Rheinland vor den
Mauern ein. Dabei trat die tatsächliche
Größe des Heeres zutage. Reiter und
Fußvolk zusammengerechnet, bestand
es aus annähernd tausend Mann. Wer
210
sich mit dieser Streitmacht anlegen
wollte, musste gut gerüstet sein. Für die
Wildeshausener traf das nicht zu.
Dennoch lehnte Heinrich, noch immer
wütend über die erlittene Demütigung,
erst einmal ab, als Dietrich von Cleve
Zuwendungen aus den Speichern des
Schlosses verlangte. Nicht einmal auf
einen verhältnismäßig günstigen Handel
ließ er sich ein.
So nahm die Belagerung ihren
Fortgang. Mit Leichtigkeit riegelten die
Rheinländer die Tore ab. Fast
spielerisch eroberten sie dann die
ausgedehnte Unterburg. Trotz aller Täuschung der Verteidiger waren sie sich
ihrer Sache sicher. Doch die Einnahme
des gesamten Schlosses planten sie gar
nicht. Ohne sich anzustrengen, warteten
sie ab, wie sich alles zu ihren Gunsten
entwickelte. Der Graf zierte sich lange,
stand aber allein da, seit die Höflinge
von dem Angebot der Kreuzfahrer
wussten. Das Getreide zu verkaufen,
war ihnen recht, zumal sie hofften, sich
das Geld später in die eigene Tasche
stecken zu können. Heinrich bekam Tag
und Nacht Schauergeschichten über die
Gegner erzählt. Diese Leute seien zu
allem fähig. Ein Blutbad würden sie
anrichten und sich dann viel mehr
nehmen, als sie bislang forderten.
Schließlich gab er nach.
Die
Kreuzfahrer
verschwanden
wieder aus der Umgebung des
Schlosses. Für das weitere Umland
indes war der Spuk noch längst nicht
vorbei, denn die Feldherren erkannten
schnell, dass ihnen hier niemand
ernsthaft die Stirn bieten konnte. Wenn
sie etwas benötigten, bedienten sie sich
in den Dörfern. Sie forderten Tribut wie
in einem besetzten Land. Nicht einmal
kirchliche Einrichtungen waren sicher.
Der Abt des Klosters von Rastede
beklagte sich bitter beim Bremer Erzbischof. Der beeilte sich, eine
großzügige Entschädigung zu zahlen,
um einer Beschwerde beim Papst
vorzubeugen, dessen Legat sich
angemeldet hatte. Am Grundübel
änderte das nichts. Der Feldzug, der
vorgeblich den Märtyrer Burchard
rächen sollte, ruinierte zuerst die
Grafschaft Wildeshausen.
III
R
uhm und ein langes Leben
unserem Feldherrn!" brüllte
Arnold von Gavre.
Seine Stimme war schon deutlich
verändert von den Ehrungen der
zurückliegenden Stunden. Auch den
Bethune-Brüdern hatte der Wein
zugesetzt. Während sie sich erhoben,
stützten sie sich gegenseitig. Nur
Heinrich III hielt noch immer wacker
durch.
Vermutlich
war
seine
Trinkfestigkeit
diejenige
seiner
Eigenschaften, die ihm am ehesten den
Respekt der Holländer verschaffte. Über
diese wenig schmeichelhafte Erklärung
mochte er aber nicht nachdenken. Da
hörte er lieber auf die Sprüche, welche
die Männer ihm widmeten. Sogar gereimte Hymnen gab es darunter,
holperig und ziemlich inhaltsleer, doch
nicht ohne einen gewissen urwüchsigen
Charme, wie er fand.
"Unser Heinrich schlägt den Ketzern
den Schädel ein,
ja, jucheh, so wird es sein."
Arnold ließ sich schwer auf die Bank
zurück fallen und legte dem Grafen
einen Arm um die Schultern. Er gehörte
zu jener Sorte von Menschen, die von
einem gewissen Grad der Betrunkenheit
an ein unbezwingliches Bedürfnis nach
Zuwendung verspüren.
211
"Du bist ein Freund. Ich sage das
nicht zu jedem. Eigentlich kann ich die
Deutschen nicht leiden. Aber, du, du
bist ein Freund."
Am anderen Ende der Tafel war die
Stimmung weniger brüderlich. Dort
saßen unter anderen die Söhne des
Grafen, denen das Treiben ringsum
Unbehagen bereitete. In Arnold von
Gavre und den Bethune-Brüdern sahen
sie Konkurrenten. Diese drei Fremden
hatten sie buchstäblich von der Seite des
Grafen gedrängt. Mit welchem Recht?
Beide zweifelten stark daran, dass die
Adligen aus dem Bremer Umland gegen
die Stedinger überhaupt auf Hilfe
angewiesen waren. Aber selbst im Falle,
dass es sich so verhielte, hatten die
Ankömmlinge die verdammte Pflicht,
die Sitten der Gastgeber zu achten und
sich
unterzuordnen.
Stattdessen
gebärdeten sie sich, als seien sie selbst
nun die Herren.
"Das sind ja sonderbare Gestalten, die
da in Flandern das Kreuz ergriffen
haben."
"Diebe und Räuber, denen zu Hause
der Boden unter den Füßen heiß
geworden ist. Sieh sie dir doch einmal
genau an! Von denen würdest du
keinem dein Kind anvertrauen."
"Das nenne ich sauber! Die Holländer
knüpfen die Verbrecher nicht auf so wie
wir, sondern schicken sie in Christi Namen in andere Länder."
Die beiden taten sich keinen Zwang
an und störten sich auch nicht daran,
dass die Geschmähten jedes ihrer Worte
verstehen konnten. Die zunehmend
finsteren Gesichter spornten sie sogar
noch an. Im Grunde legten sie es
regelrecht an auf eine handfeste
Auseinandersetzung.
"Sie fallen über die Dörfer her wie
einstmals Etzel mit seinen Hunnen."
"Schlimmer noch."
Nicht ganz einig waren sie sich bei
den betroffenen Orten. Aber deswegen
stritten sie sich nicht. Nun, diese
Halunken räuberten und vergewaltigten
halt überall, wohin sie kamen!
Irgendwann war einer der Fremden
mit seiner Geduld am Ende.
"Nehmt das sofort zurück!" brüllte er
schräg über die Tafel hinweg. "Die
beschlagnahmte Wurst werden wir
bezahlen und vergewaltigt haben wir
niemanden."
Ludolfs Antwort ließ nicht lange auf
sich warten.
"Fehlt euch Jammerlappen der Mut,
eure Schandtaten einzugestehen?"
Der andere sprang mit flammendem
Blick auf und riss dabei einen Teil der
Tafel um. Drei Becher flogen durch die
Luft. Diejenigen, über die sich der
Weinregen ergoss, waren sofort bereit,
sich an der entstehenden Prügelei zu
beteiligen. Ehe die Feldherren begriffen,
was ihnen gegenüber vor sich ging, wirbelten bereits die Fäuste. Ludolf hatte
zunächst gewisse Vorteile, weil er so
ungestüm wie kein anderer zuschlug.
Seine Lage verschlechterte sich aber
drastisch, als sich die von ihm
Getroffenen voller Verbitterung gegen
ihn zusammenschlossen. Ein satter Hieb
in den Magen nahm ihm die Luft. In
einem Moment der Unaufmerksamkeit
ging seine Nase in Trümmer. Das
wiederum wollte Heinrich der Jüngere
nicht ungesühnt lassen. In diesem Fall
überdeckte der Familiensinn alle Rivalität mit dem Bruder.
"Alle Bruchhausener zu mir!" rief er.
Bald waren wenigstens zehn Männer
auf jeder Seite in die Schlägerei
verwickelt. Und das Handgemenge
drohte auszuarten. Beide Parteien
fühlten sich in ihrer Ehre verletzt. Norddeutschland gegen Holland, so lautete
nun das Motto. Zum Glück hatte
niemand eine eiserne Waffe in
Reichweite. Allerdings waren einige auf
den Einfall gekommen, die Tafel zur
Herstellung von Knüppeln zu zerlegen.
212
Wollten die Heerführer verhindern,
dass ihre Leute sich vor der Schlacht
schon gegenseitig dezimierten, mussten
sie schleunigst eingreifen. Die BethuneBrüder waren dabei keine Hilfe. Sie
regten sich über den Lärm auf, begriffen
aber nicht einmal, woher er kam.
Arnold von Gavre hingegen schien
plötzlich wieder nüchtern geworden zu
sein.
"Wollt ihr wohl aufhören, ihr
Höllenhunde!" brüllte er.
Dabei warf er sich mutig zwischen
die Streithähne. Der Graf von
Bruchhausen unterstützte ihn.
"Benehmt euch anständig! Was sollen
unsere Gäste von uns denken?"
Allmählich gelang es den beiden
tatsächlich, Frieden zu stiften, und
Arnold vermochte sich noch zu einer
kurzen Ansprache aufzuraffen.
"Denkt an die Beute! Sie wird
gewaltig sein und alle Verluste mehr als
ausgleichen."
Sein Bedürfnis nach Harmonie brach
wieder durch. Er war sich nicht zu
schade,
zu
einem
Dutzend
Bruchhausener Rittern persönlich zu
sprechen. Mit feuchten Augen trat er
vor sie hin und nötigte sie, mit ihm
anzustoßen. Ludolf wollte sich der
trunkenen Anbiederei mit einer spitzen
Bemerkung entziehen. Ein strenger
Blick seines Vaters indes hinderte ihn
daran.
Wirklich
beseitigt
waren
die
Gegensätze nicht. Die Angehörigen der
verschiedenen Heere gingen einander
aus dem Wege. Die zertrümmerte große
Tafel wurde ersetzt durch zwei kleinere,
eine für die Bruchhausener, eine für die
Holländer. Über den Zwischenraum
wanderten giftige Blicke hin und her.
Heinrich der Jüngere und Ludolf
beruhigten sich erst, als sie aufgefordert
wurden, noch einmal über die
Neuigkeiten aus Bremen zu berichten.
"Ihr wart also gestern in der Stadt und
habt den päpstlichen Legaten gesehen?"
"Richtig. Als wir am Palast ankamen,
fuhr er gerade mit seiner Kutsche
davon, und für einen Moment konnten
wir sein Gesicht erkennen."
Ludolf ergänzte seinen Bruder:
"Er hatte schlechte Laune, sehr
schlechte Laune."
"Und von einem Diener wissen wir,
dass die Fetzen geflogen sind", nahm
Heinrich den Faden wieder auf.
"Gerhard soll gebrüllt haben wie ein
Besessener."
"Und der Legat hat tatsächlich im
Namen des Papstes den Kreuzzug
verboten?"
"Ja, das hat er. Aber Gerhard wird
sich an das Verbot nicht halten."
"Dafür kann ihn der Papst seines
Amtes entheben."
"Kann er, wird er aber nicht. Damit
würde er nämlich die Ketzer aller
Herren Länder rebellisch machen."
Obwohl keiner der Männer Papst
Gregor je gesehen hatte, beharrten alle
auf ihrer Meinung über ihn und sein
künftiges Verhalten. Es kam zum Streit,
in
dessen
Verlauf
sich
die
Bruchhausener
beinahe
noch
untereinander in die Haare geraten
wären.
213
19.Kapitel
I
G
raf Otto wirkte etwas sonderbar
zwischen
den
vollständig
gerüsteten
und
schwer
bewaffneten Rittern, die auf dem Hof
von Schloss Oldenburg zum Aufbruch
bereit neben ihren Streitrössern standen.
Seit seinem schon beinahe legendären
Sieg über die Stedinger kam jedoch
niemand mehr auf den Einfall, über ihn
zu lachen. Selbst, dass es ihm beim
Befehlen an Stimmgewalt mangelte, tat
seiner Autorität keinen Abbruch. Wenn
er redete, herrschte völlige Stille. Wer
trotzdem nichts verstand, erkundigte
sich hinterher nach allen Einzelheiten.
"Ihr verstärkt die Kette am
Zwischenahner Meer. Nikolaus von
Manste führt das Kommando. Leider
weiß ich nicht, ob das Heer aus Brabant
schon bis dorthin vorgedrungen ist. In
jedem Fall müsst ihr euch klug
verhalten. Ihr dürft den Kreuzfahrern
nicht den Durchzug verweigern. Ihr
habt
aber
das
Recht,
gegen
Plünderungen und Übergriffe mit aller
Härte
vorzugehen.
Wenn
sie
irgendetwas dringend benötigen, sollen
sie dafür reichlich bezahlen."
Die Ritter schlugen mit dem Schwert
gegen den Schild zum Zeichen, dass sie
entschlossen waren, ihrem Lehnsherrn
unter Einsatz ihrer ganzen Kraft zu
dienen. Dann ließen sie sich von ihren
Knappen in den Sattel heben und
trabten polternd vom Hof über die
beiden Zugbrücken an der Hunte.
Otto blickte ihnen nach und fühlte
sich nicht gut dabei. Zum einen
fürchtete er einen Zusammenstoß mit
den Kreuzfahrern, zum anderen schämte
er sich eines Hintergedankens. Er ging
davon aus, dass die Holländer auf ihrem
Marsch bis an den Rand des
Stedingerlandes immer den Weg des
geringsten
Widerstandes
wählen
würden. Am Zwischenahner Meer,
weitab von größeren Ortschaften,
winkte ihnen keine nennenswerte Beute.
Der Aufmarsch der Oldenburger
Streitmacht reichte vermutlich, sie am
Durchzug zu hindern. Natürlich würden
sie dann einen anderen Weg benutzen.
Beschämt erinnerte sich der Graf an
jenes bösartige Gebet, welches den
heiligen Florian zum Anzünden des
Nachbarhauses ermunterte. Doch er trug
in erster Linie die Verantwortung für
seine Grafschaft - mit ihren Feldern,
Dörfern und Menschen.
Die Umgebung der Oldenburg sah
aus wie mitten im Krieg. Otto ahnte,
welche Gefahr da von Westen her
drohte, und hatte buchstäblich jeden
verfügbaren Mann aufgeboten. Am
Zwischenahner Meer wartete ein ganzes
Heer. An den anderen, für gepanzerte
Reiter
und
Belagerungsgeräte
geeigneten Straßen wachten Gruppen
von fünf bis zehn Rittern und noch
einmal doppelt soviel Fußvolk. Diese
Gruppen standen über berittene Kuriere
miteinander in Verbindung. Falls es irgendwo zu Schwierigkeiten kam, ließ
sich rasch ein zweites Heer zusammenziehen.
Einige
Meilen
vor
Oldenburg schließlich sollte in zwei
Tagen eine Art Schild für den äußersten
Notfall aufgespannt werden. Für dieses
dritte Heer waren vorerst nur wenige
Männer vorgesehen. Aus den im Falle
einer Niederlage zurückflutenden Teilen
der anderen Heere ließ es sich aber
deutlich vergrößern.
Während Otto noch auf dem Hof
stand und zum Tor hinüber blickte, das
gerade wieder verriegelt wurde, legte
ihm jemand die Hand auf die Schulter.
Erschrocken fuhr er herum, lächelte
aber dann, weil er seine Frau erkannte.
Mechthild war für ihn in diesen Tagen
besonders wertvoll, denn sie kümmerte
sich fast allein um den Alltag im
Schloss und um die wirtschaftlichen
Fragen der Grafschaft.
"Die Männer, die du gerade
verabschiedet
hast,
reiten
zum
Zwischenahner Meer, nicht wahr?"
"Ja. Damit ist das Heer dort
vollständig. Ich fürchte aber, dass der
Herzog von Brabant sich beim
Erzbischof beschwert."
"Gerhard weiß, dass wir unsere
Lehnsleute zu den Waffen rufen, und er
gab uns dafür ausdrücklich seinen
Segen."
Otto musste lachen.
"Jetzt machst du einen Scherz!
Gerhard glaubt, dass wir für den
Kreuzzug rüsten. Wie wollen wir ihm
erklären, dass unsere Ritter nicht an der
Grenze zum Stedingerland stehen sondern genau auf der anderen Seite?
Wollen wir sagen, dass sie sich in ihrer
Heimat verlaufen haben?"
"Er weiß bestimmt längst, was hier
gespielt wird. Doch er kann vorläufig
nicht viel gegen uns unternehmen, weil
er seine Kräfte woanders braucht."
"Und nach dem Sieg?"
"Die Fremden sind eine Plage.
Gerhard wird sie nach Hause schicken,
sobald sie ihre Schuldigkeit getan
haben. Wir hingegen sind dann immer
noch stark."
Otto blieb skeptisch.
"Es haben schon bedeutendere Herren
gemeint, dass sie stark seine - bis man
sie eines besseren belehrte."
"Wir können erwägen, was wir
wollen - am Ende gelangen wir doch
immer
wieder
zu
denselben
Ergebnissen."
"Ja, damit hast du wohl Recht."
Ein Ritter, den er durch einen Diener
zu sich bestellt hatte, beanspruchte seine
Aufmerksamkeit - Wilhelm von Westerholt.
"Ich habe eine besondere Aufgabe für
dich. Die Wardenburg ist bekanntlich
noch immer in der Hand der Stedinger
und dieser Umstand bringt uns
vielleicht in Schwierigkeiten. Die
Kreuzfahrer könnten auf den Einfall
kommen, sie gewaltsam zu erobern. Wir
müssten sie dann in unser Land lassen,
mit allen Folgen."
"Was genau soll ich tun?" fragte
Wilhelm.
Otto blickte ihn aufmerksam an. Die
Frage war überflüssig, denn die Antwort
lag auf der Hand. Der Graf wusste aber,
dass die Burg von der Tochter des
Ritters gehalten wurde.
"Wir könnten die Burg selbst
zurückerobern und den Holländern
zuvor kommen."
"Wenn Ihr mich für würdig und
geeignet befindet, diese Aufgabe zu
erfüllen..."
"Wenn du lieber an einem anderen
Platz stehen würdest, hätte ich dafür
Verständnis."
Der Vasall indes schüttelte energisch
den Kopf. Da die Wardenburg nun
einmal seine Burg sei, käme kein
anderer in Frage, in ihr die alte Ordnung
wiederherzustellen. Nur, was die
Anzahl der benötigten Gefolgsleute
betraf, erbat er sich Bedenkzeit.
Wilhelm ließ sich seine Gefühle nicht
anmerken, doch in seinem Innern
brodelten sie umso mehr. Bisher, als die
Dinge noch in der Schwebe waren, hatte
er sich eingeredet: 'Da Franziska die
Burg verwaltete, gibt es nichts zu
befürchten! Komme ich zurück, wird sie
mir sagen, was sich inzwischen ereignet
hat, und einfach zurücktreten. Sie ist
eine gehorsame Tochter.' Nun stiegen
Zweifel in ihm auf. Er hatte wochenlang
nichts mehr von ihr gehört. Vielleicht
215
war sie gar nicht so frei, dass sie ihm
die Burg ohne weiteres übergeben
konnte. Vielleicht hatten die Stedinger
Macht über sie gewonnen und sie der
Familie entfremdet. Wenn die Bauern
aus dem Wesermarschland schlimme
Ketzer waren, wie es der Erzbischof
behauptete, wenn sie gar mit dem
Teufel im Bunde standen, dann
verfügten sie vielleicht auch über
Magie. Sie könnten Franziska verhext
haben. In seiner Verzweiflung wandte
er sich an Martha, was er im
Zusammenhang
mit
seinen
Vasallenpflichten selten tat.
"Ich muss doch meine Pflicht
erfüllen!" sagte er.
"Ja, das musst du", antwortete sie
ihm.
Dabei aber warf sie ihm einen langen
Blick zu, der mehr offenbarte als ihr
Mund.
Am nächsten Morgen meldete er sich
schon zeitig beim Grafen und erklärte,
mit zehn Gefolgsleuten auskommen zu
wollen. Otto zog erstaunt die
Augenbrauen hoch.
"Mit nur zehn Männern? Hast du
bedacht, dass die Eroberung der Burg
nicht misslingen darf?"
"Jawohl, das habe ich bedacht. Ich
bürge mit meiner Ritterehre dafür, dass
ich Euch, Herr Graf, die Burg innerhalb
der nächsten drei Tage zurückgewinne."
Otto nickte. Er konnte sich nicht
vorstellen, was Wilhelm plante, doch er
vertraute ihm. Dass er für diese
Angelegenheit
weniger
Männer
bereitstellen musste, als eingeplant, kam
ihm gelegen.
"Gottes Segen sei mit dir und deiner
Anhängerschaft!" sagte er, damit die
endgültige Entscheidung fällend. "Du
wirst noch heute aufbrechen."
II
E
s gab Tage, da war Beatrice die
leibhaftig gewordene Zumutung.
Franziska fragte sich, woher ihre
Launenhaftigkeit kam. Bei einer
verwöhnten Prinzessin auf einem
Schloss mit zahlreichen Räumen und
Scharen von Dienstboten hätte sie das
verstanden. Ihr Töchterchen aber war in
einer Hütte mitten im Wald zur Welt
gekommen. Hatte die Kleine vielleicht
unter dem gelegentlichen Mangel
gelitten? Nein, auch das nicht, denn
Pentia war stets für sie da gewesen, so
dass sie immer erhalten hatte, was sie
brauchte - an Essen, Trinken und
Kleidung und auch an Liebe. Aber es
blieb nun einmal eine Tatsache, dass
sich das Mädchen ungewöhnlich entwickelte. Franziska gelangte am Ende
ihrer Überlegungen immer zu der
Überzeugung, selbst der Schuldige zu
sein. Dieser Gewissensbisse wegen war
sie eine besonders geduldige und
nachgiebige Mutter, was wiederum
Beatrice nicht entging, und was sie
gelegentlich schamlos ausnutzte.
"Warum willst du den Brei nicht
essen? Hast du keinen Hunger?"
"Mag nicht!" krähte die Kleine und
schüttelte energisch den Kopf.
"Wenn du jetzt nichts isst, kriegst du
später Hunger."
"Mag nicht!" wiederholte Beatrice
mit der Sturheit eines kleinen Tyrannen,
der um seine Macht weiß.
"Tu's mir zuliebe! Ich würde mich
sehr, sehr freuen, wenn du deinen Brei
isst."
Das Mädchen zögerte. Manchmal war
der Mutter die eigene Tochter beinahe
unheimlich. Kann ein so kleines Kind
einen Erwachsenen bewusst demütigen
und womöglich dann noch erwägen,
wann es genug des bösen Spiels ist?
216
Viele hätten wohl empfohlen, den
Trotzkopf mit ein paar Ohrfeigen zu
überzeugen. Doch genau das brachte
Franziska nicht fertig. Sie lag fast auf
den Knien vor Beatrice, als Norbert
sichtlich aufgeregt hereinkam.
"Bewaffnete nähern sich der Burg."
"Wie viele sind es? Wollen sie uns
angreifen?"
"So genau weiß das noch niemand.
Vielleicht ist die Gruppe, die wir
gesehen haben, nur die Vorhut."
Die Kleine ärgerte sich, nicht mehr
beachtet zu sein, und begann, gellend zu
schreien. Franziska war nahe daran, den
Kopf zu verlieren, da kam Pentia herein.
Kaum hatte Beatrice sie erspäht, hörte
sie mit dem Weinen auf und stürmte der
Tante entgegen. Die Mutter stellte sich
abermals die Frage, wie boshaft ein
Kind sein kann. Ohne Absicht sagte
Pentia fast genau dasselbe wie ihre
Schwester kurz zuvor. Beatrice sollte
ihr zuliebe den Brei essen - und sie tat
es. Andererseits nahm die Kleine häufig
auch Wohltaten von Franziska dankbar
an. Das alles wirkte gerade so, als wisse
sie
genau
Bescheid
über
die
Verwandtschaftsverhältnisse und wolle
mit der leiblichen Mutter stückweise
eine Rechnung begleichen.
Von der Plattform des Turms aus
waren etwa zehn Reiter zu erkennen.
Ihre Rüstungen und Waffen erzeugten
Lichtblitze, sobald das Sonnenlicht in
einem bestimmten Winkel auf sie fiel.
Offenbar hatten sie es nicht eilig. Sie
folgten jener Straße, die von Oldenburg
nach Wildeshausen führte, über die man
aber auch die Wardenburg erreichte.
Erst an der Abzweigung würde sich ihr
wahres Ziel herausstellen.
"Es ist immer noch nur diese eine
Gruppe", bemerkte Norbert.
"Wahrscheinlich ziehen sie vorbei",
entgegnete
Franziska.
"Vielleicht
bringen sie etwas Wertvolles nach
Wildeshausen."
Doch kaum hatte sie das gesagt,
zuckte sie zusammen und starrte nun
nur noch schweigend zu den Reitern
hinüber.
"Was ist mit dir?" wollte Norbert
wissen. "Was hast du gesehen?"
"Ich bin mir noch nicht ganz sicher",
flüsterte sie nach einer ganzen Weile.
"So rede doch! Du machst mir ja
Angst!"
"Der Ritter an der Spitze der Gruppe
trägt eine Fahne mit dem Wappen der
Westerholts. Das könnte Vater sein."
"Der Graf von Oldenburg will die
Gegend zurück haben. Damit mussten
wir rechnen."
"Das meine ich nicht. Sieh doch!
Wenn er die Burg belagern will,
benötigt er viel mehr Leute. Um uns zu
überraschen, dürfte er sich nicht so
offen zeigen. Und vor allem: Er hat
Frau und Kind mitgebracht! Der
Jüngling dort hinten ist Rotbert."
"Und was schließt du daraus?" fragte
Norbert.
"Er will, dass ich ihm die Burg
übergebe."
Unterdessen
sprach
sich
die
Nachricht
vom
Anrücken
einer
geheimnisvollen Gruppe bewaffneter
Männer in der Burg herum. Immer mehr
Leute kamen auf die Plattform und bedrängten Franziska mit Fragen.
"Was hat das zu bedeuten? Müssen
wir kämpfen?"
Etwas gereizt befreite sie sich aus
dem Kreis und stieg die enge
Wendeltreppe des Turms herunter, bis
sie auf dem Hof anlangte. Manches von
Wilhelms Befürchtungen entsprach
durchaus der Wahrheit, wenn auch nicht
alles. Tatsächlich konnte sie seine
Erwartungen nicht so leicht erfüllen.
Zunächst war sie sich nicht sicher, ob
ihre Leute ihr bei einem solchen Befehl
die Treue halten würden. Sie hatte der
Universitas einen Eid geschworen.
Übergabe ohne Not war glatter Verrat.
217
Sie erinnerte sich der grausamen
Bestrafung des Verräters Wige und der
strengen Bestimmungen seit seiner der
Flucht vor der Belagerung Oldenburgs.
Es konnte durchaus unter den jungen
Stedingern einen Spitzel geben.
Der erste Mensch, den sie wieder
bewusst wahrnahm, war ihre Freundin
Ramira. Die Gauklerin hatte in den
zurückliegenden Tagen ihr Feenkostüm
weiter verbessert. Besonders gelungen
war ihr dabei der Haarschmuck. Ein
sehr feines, fast unsichtbares Netz hielt
ein Geriesel verschiedenfarbig glitzernder Steinchen fest. Wenn die Sonne
schien, wurden die Betrachter ganz wirr
vor
Lichtblitzen
und
anderen
geheimnisvollen Effekten.
"Wer hoch fliegt, wird tief fallen",
warnte Franziska.
Ramira indes schüttelte seelenruhig
den Kopf.
"Ich fliege nicht, ich genieße lediglich
den letzten Tag als adliges Fräulein.
Gerade weil ich noch auf dem Boden
stehe, mache ich das."
"Was meinst du mit dem letzten
Tag?"
Ramira zuckte, verständnislos ob der
Frage, mit den Schultern.
"Stell dich doch nicht so an! Das
Stück ist zu Ende. Wir ziehen den
Vorhang zu, packen die Puppen in den
großen Holzkasten und gehen heim."
"Mein Gott! Wie du das sagst! Wir
haben leider kein richtiges Zuhause."
Schweigend umarmte Ramira ihre
Freundin und flüsterte:
"Das Leben geht weiter. Es passiert
Gutes und Schlechtes, immer im
Wechsel. Übrigens habe ich eine Idee,
wie wir die Burg an deinen Vater
verscherbeln, ohne dass die von der
Universitas uns was anhaben können."
Franziska löste sich mit einem Ruck
und riss ungläubig die Augen auf.
"Wirklich?"
"Es wird höhere Gewalt sein."
Dann erklärte Ramira im Flüsterton
ihren Plan. Franziska war sofort
begeistert davon und fragte verwundert:
"So etwas fällt dir ganz plötzlich
ein?"
"Oh nein! Ich habe von Anfang an
immerzu daran gedacht, wie wir hier
wieder herauskommen."
III
I
mmer noch sehr langsam näherten
sich die Reiter der Burg.
Franziska befahl, die Zugbrücke
hochzuziehen und die Mauern zu
besetzen. Sehr viele wehrfähige Männer
standen nicht zur Verfügung, doch da
auch die Angreifer nicht zahlreich
waren, reichten sie aus. Witze flogen
hin und her über den armseligen
Haufen, der da anzuklopfen wagte. Ein
wenig Verwirrung entstand nur, als
Christian über eine Strickleiter die
Mauer hinunter kletterte und ohne
Waffen zu den Belagerern hinüber lief.
"Welchen Grund gibt es denn, mit
denen zu verhandeln?" murrten die
Männer. "Sie werden selber merken,
dass sie uns nicht beeindrucken
können."
Doch Franziska klärte sie alsbald auf:
"Er verhandelt nur zum Schein. In
Wahrheit spioniert er sie aus. Ich will
wissen, ob ein größeres Heer im
Anmarsch ist. Vielleicht müssen wir die
anderen Männer herbeirufen."
Das sah jeder ein und tatsächlich
blieb Christian nur kurz bei den Rittern
auf der Wiese. Den Mienen und Gesten
nach
war
es
zu
einer
Auseinandersetzung gekommen, die
zum Abbruch der Gespräche geführt
hatte. Etwas derartiges berichtete der
218
Parlamentär dann auch, als er über die
Strickleiter wieder die Mauerkrone
erreichte. Und er fügte hinzu:
"Sie fühlen sich sehr sicher, was
bedeuten könnte, dass sie auf
Verstärkung warten."
"Ist dir noch etwas Besonderes
aufgefallen?" gab Franziska ihm ein
neues Stichwort.
"Nein, nur ... es war mir dort
irgendwie unheimlich."
Mehr sagte er nicht, aber die vage
Andeutung regte die Phantasie an.
Niemand witzelte mehr, alle waren
irgendwie angespannt, obwohl sich
eigentlich nichts zum Schlechten entwickelt hatte. In dieser sonderbaren
Atmosphäre sorgte Ramira für große
Unruhe, als sie plötzlich in ihrem besten
(selbst genähten) Kleid und mit all
ihrem (unechten) Schmuck die Mauer
entlang lief.
"Was tust du hier?" wurde sie alle
drei Schritt gefragt.
Sie gab jedoch keine Antwort. Ihr
Gesicht war bleich und sie sah so aus,
als konzentriere sie sich auf irgendetwas
mit aller Kraft.
"Sie versucht, einen Zauber zu
bannen", gaben sich die Männer selbst
die Antwort und ein kalter Schauer lief
ihnen über den Rücken.
Eigentlich stand Ramira bei den
jungen
Stedingern
und
den
Bürgerssöhne in nicht so hohem
Ansehen wie bei den einfacher
denkenden, für Hokuspokus eher
einzunehmenden
Bewohnern
der
Dörfer. In gewissem Umfange aber
hatte sie mit ihrer Ausstrahlung auch sie
erreicht. In diesen Stunden der
Unsicherheit und der Verwirrung
herrschte
sie
über
alle.
Die
erwartungsvollen Blicke richteten sich
nicht mehr auf Franziska und Norbert,
die militärischen Führer, sondern auf
die vermeintliche Magierin.
Ihre Körpersprache ließ Böses ahnen.
Über der Zugbrücke begann sie
unvermittelt am ganzen Körper zu
zittern. Sie wehrte sich, ballte die
Fäuste. Letztlich aber schien das Unsichtbare stärker als sie zu sein. Sie
wich erschöpft zurück, versuchte es ein
zweites
Mal,
scheiterte
wieder.
Schließlich kehrte sie taumelnd auf den
Hof zurück. Ansprechbar war sie immer
noch nicht. Die Burgbesatzung voll
beklemmender Zweifel zurücklassend,
verschwand sie im Palas. Wenig später
kam sie in ihrem zerlumpten
Gauklerinnengewand zurück. Dabei
starrte sie ängstlich immerfort zum Tor
hinüber, so als sähe sie etwas
Schreckliches, was die anderen nicht
wahrnahmen. Plötzlich verbarg sie mit
einem Aufschrei ihr Gesicht hinter den
Armen. Im selben Moment fiel die
Zugbrücke krachend herunter und gab
den Angreifern den Weg auf den Hof
frei.
Als Wilhelm und seine Gefolgsleute
in die Burg hinein ritten, war an
Widerstand nicht zu denken. Die
Verteidiger ließen ihre Waffen fallen
und rannten kopflos umher. Manche
flüchteten nach draußen auf die Wiese.
Andere warfen sich vor dem alten und
neuen Burgherrn in den Staub und
bettelten um Gnade. Es dauerte recht
lange, bis alle wieder zur Vernunft
kamen. Niemals hätte Franziska mit
einem derart durchschlagenden Erfolg
des Planes ihrer Freundin gerechnet. Sie
erkannte aber auch neidlos an, dass
Ramira ihre Rolle mit unglaublicher
Vollkommenheit gespielt hatte.
Die Zeit der Legenden war vorbei.
Mit Wilhelm von Westerholt hatte auch
der normale Alltag wieder Einzug
gehalten. Von den Alteingesessenen
fragte sich mancher, ob ihm die Ereignisse der zurückliegenden Wochen von
einem Traum vorgegaukelt worden
waren. Auch Franziska erging es so. Ihr
219
Vater
hatte
wieder
von
der
Burgherrenwohnung Besitz ergriffen
und bestellte sie zu sich. Gehorsam
folgte sie dem Knecht, der sie holen
kam, und fand überhaupt nichts Ungewöhnliches dabei. Das Gespräch
knüpfte
unmittelbar
an
das
vorangegangene, ein paar Wochen
zurückliegende an. Franziska hatte Burg
und Land vorübergehend für den Ritter
verwaltet und erstattete nun Bericht.
Sie fühlte sich sogar noch ein Stück
weiter zurückversetzt. Mit neun Jahren
war
sie
zur
Erziehung
nach
Wildeshausen geschickt worden und
seither hatte sie nur noch zweimal vorübergehend auf dem Hof ihrer Kindheit
gelebt. Wenn es ihr schlecht ging, so
erinnerte sie sich noch immer mit
Wehmut an jene glückliche Zeit, als sie
sich noch völlig geborgen fühlen konnte
in dem kleinen Land zwischen den
Sümpfen. In wenigstens jedem zweiten
dieser niemals verblassenden Bilder
stand ihr Vater im Mittelpunkt. Sie hatte
schon als ganz kleines Mädchen
leidenschaftlich gern für ihn gearbeitet.
Die Arbeit war die einzige Möglichkeit,
seine Zuwendung zu erlangen.
Obgleich sie ihn liebte, bekam sie
stets Herzklopfen, wenn sie vor ihm
stand. Auch diesmal erwartete sie
beinahe ängstlich seine Antwort,
nachdem sie ihren Bericht beendet
hatte. Leider konnte sie sein Gesicht
nicht sehen, weil er am Fenster stand
und nach draußen blickte. Doch als er
sich umdrehte, stellte sie sofort
erleichtert fest, dass er zufrieden war.
Dass er dann trotzdem nur die Fehler
erwähnte, hatte nichts zu bedeuten. Ein
ausdrückliches Lob erteilte er niemals.
Er hielt sich ohnehin nicht lange bei den
zurückliegenden Wochen auf, weil die
Zukunft ihn mehr bewegte.
"Willst du in der Burg bleiben?"
erkundigte er sich.
"Ich werde nicht bleiben können,
Vater. Die Fremden, die Ihr hier seht,
sind meine Leute und ich bin ihr
Anführer im Heer der Stedinger. Sie
wären mit Recht enttäuscht von mir,
würde ich sie im Stich lassen."
Wilhelm atmete hörbar ein und aus.
Da war wieder so eine Frage, bei der er
mit sich im Widerstreit lag. Er hätte an
ihrer Stelle genau so gehandelt. Ein
Hauptmann darf niemals seine Leute im
Stich lassen. Andererseits war der Ritter
- nach allem, was er durch seinen
Aufenthalt in der Nähe Ottos von
Oldenburg wusste - fest davon
überzeugt, dass die Bauern diesmal
unterliegen würden. Durfte er seine
Tochter in ein Gemetzel ziehen lassen?
Gab es nicht auch eine Vaterpflicht?
Franziska erriet seine Gedanken und
baute ihm eine Brücke.
"Die Männer aus Stedingen werden
vielleicht nicht gehen, wenn ich sie
nicht begleite. Sie haben noch ihre
Waffen bei sich und könnten Ärger
bereiten."
Der Vater sah sie scharf an. Mit ihrer
Befürchtung konnte sie Recht haben.
Trotzdem war ihm klar, dass sie sich
opferte.
"Aber Pentia wird bleiben ... und
dieses Kind!"
Obwohl er nicht direkt gefragt hatte,
beichtete Franziska ihm nun auch noch
dieses Geheimnis. Abermals blieb er
sehr ruhig.
"Du siehst gewiss ein, dass ich das
nicht gutheißen kann", bemerkte er
lediglich.
Als drei Tage später die Stunde des
Abschieds kam, fühlte auch Franziska,
dass dieser zweite Kreuzzug für die
Bauern unter einem schlechteren Stern
stand als der erste - weil sie ihren Vater
kannte und weil sie sich jäh erinnerte an
Ramiras Worte vor der Schlacht am
Hemmelskamper Wald. Da brauchte sie
gar nichts zu wissen von den Heeren
220
aus dem Westen. Aber sie nahm sich
Wilhelm zum Vorbild und zeigte
niemandem, was sie dachte.
221
20.Kapitel
I
D
ie Ochtum, ein dürftiges
Flüsschen, das sich zum
Transport schwerer Lasten nicht
eignete, hatte seit Beginn der Feindseligkeiten zwischen den Stedingern und
dem Bremer Erzbischof ständig an
Bedeutung gewonnen. Hinter dem
Wasserlauf lagen die Dörfer in einer
baumlosen Ebene völlig ungeschützt.
Ein siegreiches Heer konnte (ein
gewisses
Maß
an
Ortskenntnis
vorausgesetzt) bis tief ins Innere des
Marschlandes vordringen, ohne auf ein
weiteres natürliches Hindernis zu
stoßen. Da die Universitas um diese
Verwundbarkeit wusste, hatte sie im
Laufe der Jahre immer mehr Verteidigungsanlagen erbauen lassen. An den
Brücken standen inzwischen Türme, die
sogar manch einer Burg zur Ehre
gereicht hätten.
Anders als vor Jahresfrist standen die
Bauern diesmal nicht einer einzigen
großen Streitmacht gegenüber sondern
einer Gruppe aus mehreren Heeren, von
denen jedes beachtet werden musste.
Sie planten deshalb keine kühnen
Vorstöße ins feindliche Land. Die
Angreifer sollten sich vielmehr direkt
an den Befestigungsanlagen die Zähne
ausbeißen. Ein Schwerpunkt in der
Verteidigungslinie war die einzige für
Panzerreiter passierbare Brücke bei
Hasbergen. Der Ort lag ein Stück vom
Fluss entfernt, denn früher war der
Ufersaum stark versumpft gewesen.
Später hatten die Bewohner einen Streifen des Landes entwässert und eine
Straße sowie die Brücke gebaut. Noch
später waren beiderseits der Straße
(wiederum durch Entwässerung) einige
Felder
entstanden.
Schilfbarrieren
zeigten an, wo das Kulturland endete
und die noch unberührten Sümpfe begannen.
Beim
Bau
der
künstlichen
Befestigungsanlagen
hatten
die
Stedinger
die
natürlichen
Gegebenheiten ausgenutzt. Der Fluss
ersetzte den Graben und an den schwer
passierbaren Mooren genügte ein knapp
mannshoher Wall. Die beiden aus
Baumstämmen
errichteten
Türme
schützten die Brücke, die am meisten
gefährdete Stelle. Sie hatten mehrere
Stockwerke. Von der oberen Plattform
aus und durch ein Dutzend Schießscharten konnten die Verteidiger den
Angreifern übel mitspielen. Es gab
sogar besondere Vorrichtungen, um ein
durch Brandpfeile ausgelöstes Feuer
rasch zu löschen, ohne dass sich dafür
jemand ungeschützt dem Feind zeigen
musste.
Tammo von Huntorf trug die
Verantwortung für mehrere Meilen
Grenze. Zwar rechnete er fest damit,
dass die Schlacht bei Hasbergen
geschlagen werden würde, doch musste
er, um vor Überraschungen sicher zu
sein, zwölf Gruppen aus zehn bis
zwanzig Mann von seinem Hauptheer
abzweigen und zu den gefährdeten
Punkten beordern. Während er entlang
der Front nach dem Rechten sah, ritt er
stets einen prächtigen Schimmel, von
dem es hieß, er sei eine Kriegsbeute und
habe einmal einem Grafen gehört.
Genau wusste das niemand. Die
Geschichte war nicht einmal sehr
wahrscheinlich, denn ein Pferd gewöhnt
sich selten so schnell an einen neuen
Herrn. Doch die meisten glaubten gern
an sie.
Der größere Teil der knapp 4000
Mann umfassenden Streitmacht der
Stedinger wurde von Dietmar tom Diek
befehligt und stand einige Meilen weiter
nördlich an der Einmündung der
Ochtum in die Weser. Die Gegend
erschien für eine große Schlacht zwar
denkbar ungeeignet, weil das von den
Flussläufen sowie mehreren kleinen
Waldstücken
und
Moorstreifen
zerschnittene Gelände einem Ritterheer
keine Möglichkeit zur Entfaltung bot,
doch lagerten (warum auch immer)
gerade hier die meisten der Kreuzfahrer.
Genau genommen lagerten sie nicht,
sondern vollführten ständig (manchmal
bei Fackelschein mitten in der Nacht)
verwirrende Manöver. Immer neue Formationen entstanden und aus keiner davon ließ sich ein sinnvoller Plan
ableiten. Deshalb hatte Dietmar
entschieden,
in
verhältnismäßig
zentraler, zugleich aber geschützter
Stellung den weiteren Lauf der
Ereignisse abzuwarten. Er hoffte, das
entscheidende Manöver der Feinde
rechtzeitig zu durchschauen und seine
Leute
dann
noch
entsprechend
aufstellen zu können.
Franziska saß mit ihrem Fähnlein
etwas abseits auf einer kleinen Anhöhe.
Sie lagerten schon seit ein paar Tagen
hier und hatten sich inzwischen aus
Zweigen und Laub fünf behelfsmäßige
Behausungen gebaut. Da das Wetter gut
war, reichte ihnen das aus. Einen dicken
Regen wollten sie allerdings lieber nicht
erleben. Rechts vor ihnen ragten die
beiden Türme beiderseits der Brücke
auf. Dahinter war die Straße gut zu
erkennen. Eigentlich handelte es sich
nur um einen Fahrweg. Die Wagen der
Bauern hatten zwei Spuren tief in den
unbefestigten Untergrund gewalzt. Die
Umrisse der Häuser von Hasbergen
verschwammen
im
Dunst
des
Frühnebels. Auf der Fläche zwischen
Dorf und Fluss war kein einziger
Mensch zu sehen, was etwas sonderbar
wirkte, weil es auf Stedingerseite hinter
den befestigten Wällen von Leuten
wimmelte.
"Nur gut, dass wir hier oben bleiben
dürfen!" bemerkte Christian. "Die
stehen sich da unten ja gegenseitig auf
den Füßen herum."
"Freue dich nicht zu früh!" dämpfte
ihn Norbert. "Was Tammo uns erlaubt
hat, kann er den anderen nicht so
einfach verbieten."
"Du meinst, die kommen alle hier
hoch?"
"Nicht alle - bloß jeder zweite."
Missmutig versetzte Christian einem
Stein einen Tritt und beobachtete, wie
weit er rollte. Die Langeweile drückte
zunehmend allen aufs Gemüt, doch fiel
er mit seiner schlechten Laune dennoch
auf. Nachdem er den fünften Stein in
Richtung Fluss geschossen hatte, wurde
es Norbert zuviel.
"He, was ist los mit dir? So rasch
werden sie uns nun auch wieder nicht
auf den Pelz rücken."
"Ach, lass sie doch! Wenn sie uns
wenigstens
die
Pferde
nicht
weggenommen hätten! Das waren
unsere Pferde. Mit welchem Recht ..."
"Das richtet sich nicht gegen uns. Die
Pferde sind ..."
"Na, wo sind sie? Ich weiß es nicht,
du weißt es nicht, niemand hier weiß es.
Sie sind weg."
"Sie sind nicht weg, sie sind
woanders. Wir brauchen sie hier nicht."
Mit diesen Worten wandte er sich
brüsk ab. Er hatte keine Lust, sich als
Sündenbock herzugeben für jemanden,
der offenbar Streit suchte. Und während
er überlegte, wohin er sich wenden
sollte, fiel ihm auf, dass er Franziska
nicht sah. Er begab sich also auf die
Suche und entdeckte sie nach einiger
Zeit abseits der anderen in einer Mulde.
"Warum versteckst du dich?"
"Weil ich meine Ruhe haben will."
223
"Ich bin gerade vor Christian
geflüchtet, weil er heute unausstehlich
ist."
"Wann darf man denn schlechte
Laune haben, wenn nicht kurz bevor
man sich totschlagen lässt?"
Er setzte sich zu ihr.
"Solche bösen Worte kenne ich gar
nicht von dir."
"Ich habe genug von dem allen",
sagte sie. "Warum bin ich nicht auf der
Wardenburg geblieben? Ist sie nicht
mein Zuhause?"
"Wir alle haben uns gewundert
darüber. Aber wir haben uns auch
gefreut. Wir vertrauen dir."
Sie seufzte.
"Am Vorabend der Schlacht darf man
nicht an den Tod denken, weil man ihn
sonst herbeilockt."
"Genau so ist es!" Er legte einen Arm
um ihre Schulter. "Lass uns an das
Leben danach denken! Ich nehme dich
mit nach Bremen. Dort angekommen,
müssen wir selbstverständlich erst
einmal unsere Verhältnisse in Ordnung
bringen. Beatrice soll nicht zum Gespött
der gehässigen Leute werden."
Franziska wurde hellhörig und
befreite sich von seinem Arm.
"Nach Bremen? Was soll ich denn
dort?"
"Nun ja, weil ..."
"Weil eine Frau ihrem Mann
nachfolgen soll?"
Da drohte abermals ein Streit. Bei
Franziska war Norbert jedoch zu
größerer Geduld bereit als bei Christian.
Zudem hörte er sich an diesem Tag viel
lieber ihre Vorwürfe an als ihre düsteren
Todesahnungen.
"Es sollte nur ein Vorschlag sein. Du
weißt, dass ich dich zu nichts zwingen
würde."
Er wäre seiner Freundin auch auf ihre
Burg gefolgt, fürchtete aber, dass ihre
Eltern sich gegen die Ehe ihrer Tochter
mit einem Bürgerlichen stemmen
würden.
"Schon gut!" lenkte sie ein. "Wir
reden darüber nach der Schlacht. Heute
sollten wir uns nur schwören, dass wir
uns einen anständigen Lebensunterhalt
suchen. Ich möchte lieber arm sein, als
weiterhin ..."
Sein Kuss verschloss ihr den Mund
und sie ließ es geschehen.
Christian,
der
nun
keinen
Gesprächspartner mehr hatte, tobte
seinen Zorn wieder an Steinen aus. So
recht erklären konnte er sich nicht, was
da in ihm vorging. Mit dem Krieg hing
es wohl nicht allein zusammen. Er
musste sich regelrecht zwingen, den
Ernst der Lage gegenwärtig zu behalten.
In der Nacht hatte er in einem wüsten
Alptraum nicht grimmige Kreuzfahrer
vor sich gesehen, sondern schillernde
Feen, die ihn umtanzten und dabei mit
Spottversen überschütteten. Rasend vor
Wut war er dabei geworden. Die Feen
bestanden aber aus Luft. Wenn er sich
eine von ihnen greifen wollte, stießen
seine Arme auf keinerlei Widerstand. Er
konnte durch die sonderbaren Wesen
glatt hindurch laufen. Allerdings
bildeten sie immer gleich wieder den
Kreis um ihn.
Unbewusst kam er Ramira immer
näher, bis er ihr gegenüberstand. Sie
blickte ihn aus ihren klaren grau-blauen
Augen starr an. Er empfand das als
Herausforderung und stichelte:
"Warum bist du nicht dort geblieben,
wo man dich verehrt? Dich hätte
bestimmt niemand gezwungen, an einer
Schlacht teilzunehmen."
Sie verbog geringschätzig die
Mundwinkel und drehte sich weg, ohne
ihn einer Antwort zu würdigen.
"Kennst du mich nicht mehr?"
empörte er sich.
"Du ödest mich an!" fauchte sie
zurück.
224
"Ich öde dich an, ja?!" schrie er außer
sich, ohne sich um die anderen zu
kümmern, die durch den Lärm auf ihn
aufmerksam wurden. "Gut, ich werde
dich bestimmt nicht mehr belästigen.
Und wenn du mich auf Knien ..."
"Auf Knien? Ha, davon träumst du,
nicht wahr?" Sie hatte sich ihm wieder
zugewandt und drang nun wie eine
Furie auf ihn ein. "Hör auf, mir deine
Wohltaten aufzudrängen! Hörst du?
Und lass dir nicht einfallen, mich
während der Schlacht zu beschützen!
Wenn ich Gefallen daran finde, ins Gras
zu beißen, dann ist das verdammt noch
mal meine Sache. Ich trage den Wimpel.
Das ist meine Aufgabe, und die werde
ich erledigen. Allein!"
Er prallte erschrocken zurück.
Während sie ihn mit flammendem Blick
ansah, traute er ihr allen Ernstes zu, ihn
vor den Augen der Kameraden zu
verprügeln. Und dagegen hätte er sich
wahrscheinlich nicht einmal gewehrt.
Sein Zorn schlug um in tiefe
Niedergeschlagenheit. Er lief ein Stück
und ließ sich dann einfach fallen. Auf
dem Rücken liegend, starrte er den
Himmel an. Weiße Wolken zogen
langsam vorüber und ihm kam die Idee,
dass jede von ihnen einen Teil seines
Lebens darstellte. In der einen meinte er
ein Werkzeug seines Stiefvaters zu
erkennen, in einer anderen ein Haus aus
der Waldhütte-Burg. Vor allem die
verpassten Gelegenheiten waren es, die
ihn beschäftigten. Er wurde von einer
schrecklichen Angst vor dem Tode
gepackt. Wenn er jetzt stürbe, hätte er
niemals richtig gelebt, so schien es ihm.
II
A
m frühen Morgen des 27. Mai
1234 besetzten Waffenknechte
das Dorf Hasbergen. Sie
gehörten zu jenem Teilheer, welches die
Kreuzfahrer
aus
Bruchhausen,
Wildeshausen und Flandern umfasste
und von Graf Heinrich III kommandiert
wurde.
Offensichtlich
war
eine
Absprache mit dem Schulzen vorausgegangen, denn die Bauern öffneten freiwillig das Ettertor und die Ritter
richteten keine Zerstörungen an. Der
Heerführer wollte lediglich sicher sein,
dass sich die kämpfenden Stedinger
während der zu erwartenden Schlacht
dort nicht festsetzten. Die Hasbergener
wiederum hatten keine Wahl, auf
welche Seite sie sich stellten.
Tammo von Huntorf war durch
Kundschafter gut unterrichtet und hatte
schon am Vorabend die Vorbereitungen
auf den Waffengang eingeleitet.
Franziska und ihr Fähnlein waren vom
Hügel herab an den Wall beordert
worden und zwar eine knappe halbe
Meile nördlich der Brücke. Dort
bildeten sie zusammen mit etwa 150
anderen eine Reserve. Südlich der Brücke lagerte eine zweite Gruppe dieser
Art. Tammo rechnete damit, dass die
Angreifer sich auf die beiden Türme
konzentrieren würden. Auf dem
Höhepunkt der Schlacht sollte die
Reserve einen Zangenangriff in den
Rücken der Kreuzfahrer unternehmen.
Da die meisten Stedinger im Gegensatz
zu den Rittern keine eisernen Rüstungen
trugen, stellte die Ochtum für sie kein
großes Hindernis dar. Sie konnten den
Fluss schwimmend oder auf winzigen
Flößen rasch überwinden.
"Ich frage mich, ob es klug war,
ihnen das Dorf zu überlassen", raunte
Norbert. "Sie können sich jetzt Zeit
lassen und uns beobachten. Wir
dagegen haben keine Möglichkeit mehr,
sie zu vertreiben."
225
"Wie willst du das Dorf verteidigen?
Bei dieser Trockenheit könnten die
Ritter die Schlehdornhecke in Brand
stecken - und die Häuser gleich mit."
"Du hast Recht. Trotzdem gefällt mir
das alles nicht. Irgendwie sitzen wir hier
in der Falle."
Christian und Ramira hatten fast
zwanzig Schritt voneinander entfernt
Stellung bezogen. Die Gauklerin wirkte
wie immer erstaunlich ruhig. Der
Wimpel lag neben ihr. Die Leute aus
der Reserve waren streng angewiesen,
sich dem Feind nicht zu zeigen.
Norberts Annahme, dass die Ritter
abwarten würden, bestätigte sich nicht.
Kaum hatten sie Hasbergen fest in der
Hand, marschierten sie in breiter Front
über den trocken gelegten Streifen auf
den Fluss zu. Offenbar wussten sie über
das Gelände gut Bescheid, vielleicht
durch ortskundige Bauern, die für Lohn
Auskünfte gaben. Von den Türmen her
wehte ihnen ein Pfeilregen entgegen,
doch die Geschosse blieben in den
Schilden stecken oder prallten von den
Rüstungen ab. Auch die Knappen und
Waffenträger waren gut geschützt.
"Da nutzen nur Steinschleudern",
sagte Franziska. "Warum haben sie die
nicht gebaut? Es gibt doch geschickte
Handwerker in ihren Dörfern."
"Sie sind keine Ritter", entgegnete
Norbert. "Ihnen fehlt in mancher
Hinsicht die Erfahrung."
Aus der Nähe richteten die Pfeile
dann allerdings doch einigen Schaden
an. Nachdem die Kreuzfahrer den Fluss
erreicht
hatten,
begannen
ihre
Schwierigkeiten. Um ans andere Ufer
sie gelangen, mussten sie entweder die
Brücke erobern oder einen neuen festen
Übergang bauen. Dreimal gelang es
Gruppen von zwanzig bis dreißig Mann
zwar, auf den Deich hinauf zu klettern.
Dort aber schlug ihnen dann erbitterter
Widerstand entgegen. Die Schlacht
verlief ganz nach Tammos Plan. Die
Ritter erlitten erste Verluste und es war
angesichts
ihrer
fortlaufenden
Misserfolge zu hoffen, dass ihre
zunächst unerschütterlich scheinende
Moral allmählich abnehmen würde.
Vielleicht hatte der eine oder andere die
Katastrophe am Hemmelskamper Wald
miterlebt.
Aus Ungeduld wartete Tammo aber
nicht ab, bis sich die Waage noch mehr
zur Seite der Bauern hin neigte, sondern
befahl schon bald den Zangenangriff.
Die Reserve beiderseits der Brücke
überstieg den Wall, überwand den Fluss
und drang auf die Kreuzfahrer von der
Flanke her ein. Die Wirkung war jedoch
geringer als erwartet, denn während die
Stedinger vorrückten, hatten die
Kreuzfahrer genügend Zeit, sich neu
aufzustellen. Jeder dritte von ihnen
sicherte hinten und an der Seite ab,
während die anderen den Kampf um die
Brücke fortsetzten.
Was beim Durchqueren des Flusses
noch ein Vorteil gewesen war, erwies
sich im Gefecht als entscheidender
Nachteil. Die Bauern hatten Mühe, den
gepanzerten
Gegnern
Schaden
zuzufügen. Umgekehrt waren sie selbst
mit ihren Lederwämsern und leichten
Kettenhemden sehr verwundbar. Um
nicht in den sicheren Tod zu rennen,
fochten sie nicht mit letzter Entschlossenheit. Mit Plänkeln aber
konnten sie das Ritterheer nicht in
Verlegenheit bringen. Es wurde nicht
wie am Hemmelskamper Wald auf
engen Raum zusammengedrückt, sondern verschaffte sich ohne große Mühe
den Platz, den es brauchte.
Gegen Mittag hatten die Angreifer
den Durchbruch noch immer nicht
geschafft, weder an der Brücke noch an
einer der anderen Stellen, an denen sie
ihn versuchten. Allerdings entstand
zunehmend der Eindruck, dass sie die
Oberhand gewännen. Sie stürmten nicht
mehr blindlings, sondern gingen ziel-
226
strebig vor. So brachten sie zwei
Steinschleudern in Stellung, mit denen
sie die beiden Türme buchstäblich
weich klopften. Irgendwann würden sie
in sich zusammenfallen.
Tammo begriff, dass er alles auf eine
Karte setzten musste, wollte er die
Stellung halten. Gedeckt durch die
hohen Bollwerke scharte er seine besten
Leute um sich und stattete sie für einen
Ausfall mit den wenigen vorhandenen
Pferden aus. Die anderen sollten sich
bereithalten, um zu Fuß zu folgen,
sobald sich eine Möglichkeit dafür
ergebe. Und diesmal gelang die
Überraschung. Die Stedinger trafen ihre
Feinde in einem Moment, als sie sich
gerade nach einem Vorstoß zurückzogen. Die Brücke und ein großer
Bereich davor waren frei. Blitzschnell
hatte Tammo mit seiner Schar beides erobert.
Von diesem Moment an trug die
Schlacht einen anderen Charakter. Hatte
sie zuvor beinahe behäbig gewirkt und
auf beiden Seiten wenige Opfer
gefordert, wurde sie nun unerbittlich
und blutig. Die Ritter, sich überlegen
fühlend, wollten nicht zurückweichen,
die Bauern, von ihren nachrückenden
Kameraden gedrängt, konnten es nicht.
Tammo, dem als Heerführer einige
Fehler unterlaufen waren, zeichnete sich
als Kämpfer durch seine Kühnheit und
seine urwüchsige Kraft aus. Zur
Unterstützung griffen die Reserven von
den Seiten her ebenfalls wieder an.
Ob der Ausfall wirklich erfolgreich
verlaufen wäre, wenn die Ritter wie
bisher ihre kaltblütige Ruhe bewahrt
hätten, lässt sich im Nachhinein schwer
sagen. Aber auch auf ihrer Seite spielte
ein Feldherr eine wichtige Rolle - als
Unglücksbringer. Graf Heinrich III von
Bruchhausen ärgerte sich schon seit
einiger Zeit maßlos, dass die Eroberung
der Brücke samt der sie beschirmenden
Türme nicht gelang. Der Ausfall nun
machte ihn rasend.
"Warum erschlagt ihr diese räudigen
Hunde nicht?" brüllte er.
Zugleich gab er seinem Streitross die
Sporen und stürmte bis ganz nach vorn.
Dort spaltete er mit wuchtigen Schwertstreichen in dichter Folge drei Bauern
den Kopf. Dass er sich durch die Reihen
des verachteten Packs hindurch schob
wie ein heißes Messer durch ein Stück
Butter, brachte ihn zum Frohlocken. Er
übersah dabei jedoch, dass er mitten in
die von der Brücke her heran
drängenden Stedinger geriet und dass
von seinen eigenen Leuten niemand ihm
folgte. Plötzlich trafen ihn die Hiebe
von
allen
Seiten.
Irgendwann
verwundete ihn einer davon tödlich. Er
starb bei einer sinnlosen Tollkühnheit.
Die
Bauern
gewannen
nun
Oberwasser. Tammo schien sich zu
vervielfachen. Mal hier mal dort war
sein schneeweißes Pferd zu sehen. Und
überall, wo es auftauchte, wichen die
Ritter schon bald zurück. Sie flüchteten
nicht, verloren nicht völlig den Kopf,
gaben aber Schritt für Schritt immer
mehr Gelände preis und gerieten in eine
immer schlechtere Lage. Etwa auf
halbem Wege zwischen Hasbergen und
der Ochtum wurden sie eingekreist.
III
T
rotz aller weingeschwängerten
Verbrüderungen waren die
Gräben
zwischen
den
Bruchhausenern und Wildeshausenern
auf der einen Seite und den Holländern
aus Flandern auf der anderen auch
unmittelbar vor dem Aufbruch des
Heeres noch tief gewesen. Sie hatten
227
sogar die Wahl eines Führers verhindert. Die einen wollten nach wie vor nur
Heinrich III folgen, die anderen mit
derselben Sturheit nur Arnold von
Gavre. Allerdings bestand Erzbischof
Gerhard energisch darauf, dass alle
zusammen marschierten und kämpften.
Er bekam einen Wutanfall, als er von
den neuerlichen Kindereien erfuhr, und
hob (weil er den Bruchhausener als
Schuldigen ansah) selbstherrlich den
Holländer auf den Schild. Daraufhin
zettelten die für ihre Wildheit
berüchtigten Wildeshausener (jene, die
seinerzeit Heinrich den Bogener in den
Geheimkeller getrieben hatten) einen
regelrechten Aufstand an. Dabei erwiesen sich die Einheimischen als
überlegen. Arnold von Gavre fürchtete
um sein Leben, trat freiwillig zurück
und beruhigte seine Leute.
Erst der Ausfall der Bauern mit
seinen Folgen hatte das Heer
zusammengeschmolzen. Die Frage nach
dem Heerführer war vom Schicksal
endgültig geklärt worden. Die durch
Heinrichs Tod verunsicherten Ritter aus
Wildeshausen und Bruchhausen hätten
den (vor drei Tagen bei ihnen noch tief
Reihen der Kreuzfahrer zu bringen. Der
Widerstand versteifte sich.
Der Ausgang der Schlacht war wieder
offen. Hin und wieder versuchten die
Stedinger, ihre Reihen an einer
bestimmten Stelle zu verstärken und
durch eine energische Attacke einen
Vorteil zu erreichen. Das glückte ihnen
aber ebenso wenig wie den Rittern der
Ausbruch aus dem Kessel. Bliebe das
den ganzen Nachmittag über so, musste
der unterliegen, dessen Kräfte zuerst
erlahmten, und wer das sein würde, ließ
sich schwer voraussagen. Arnold von
Gavre wollte sich darauf nicht einlassen
und suchte nach einem Ausweg. Dabei
verfiel er auf eine List.
Er ritt ein ganz besonderes Streitross,
einen prächtigen Rappen aus besonderer
Zucht, noch stattlicher als Tammos
Schimmel. Das Tier trug neben seinem
gerüsteten Herrn noch einen eigenen
Panzer,
ohne
darunter
zusammenzubrechen. Schon oft hatte
Arnold damit in einer fremden Stadt den
Anlass für einen Menschenauflauf
gegeben. Natürlich rankten sich auch
schon Legenden darum. Der verwegene
Holländer ließ sie sich gern erzählen
und amüsierte sich köstlich
darüber. Auf die ungeheure
Wirkung seines Rappen
setzte er nun sein ganzes
Vertrauen. Er wendete ihn,
weil er von hinten noch
größer aussah, und ließ ihn
dann rückwärts gegen die
Reihen
der
Stedinger
gehen. Tatsächlich waren
die Bauern für einen
Moment so entsetzt über
das
vermeintliche
Ungeheuer, dass sie das
Kämpfen vergaßen. In ihrem Ring
entstand eine Lücke, welche von nachrückenden Rittern sofort vergrößert
wurde.
verhassten) Holländer auf Knien
angefleht, sie zu retten, wäre dafür Zeit
gewesen. Tatsächlich gelang es Arnold
von Gavre, wieder Ordnung in die
228
Der weitere Verlauf der Schlacht
erinnerte an das Auseinanderbiegen
eines Hufeisens, wie es halbnackte
Muskelmänner
zuweilen
auf
Jahrmärkten vorführten. Arnold feuerte
seine Leute unablässig an und schlug
auch selbst kräftig drein. Die Bauern
erkannten die Gefahr und versuchten
mit allen Mitteln, die Bresche wieder zu
schließen. Dabei jedoch vernachlässigten sie eine Stelle auf der
gegenüberliegenden Seite. Den Rittern
gelang ein zweiter Durchbruch. Das
Heer der Stedinger war damit in zwei
Teile zerschnitten.
Wenig später schoss einer der
Kreuzfahrer mehrere brennende Pfeile
steil gen Himmel - ein verabredetes
Zeichen. Tammo von Huntorf verwirrte
das, denn nach seiner Überzeugung
hätte eine Reserve spätestens während
der Einkreisung eingegriffen. Doch
wieder irrte er sich, denn Arnold von
Gavre, dieser mit allen Wassern
gewaschene Teufelskerl, der sich schon
in der halben Welt herumgeschlagen
hatte, er war (anders als der
Bauernführer)
kaltblütig
genug
gewesen, die Wende der Schlacht
abzuwarten für den tödlichen Schlag.
Wie die Reiter der Apokalypse tauchten
die Bethune-Brüder mit ihren Leuten, in
eine Staubwolke gehüllt,
hinter
Hasbergen auf, ritten einen Bogen und
fielen dann dem südlichen Teil des Stedingerheeres in den Rücken. Für eine
wirkungsvolle Abwehr blieb keine Zeit
mehr. Schon beim ersten Ansturm
wurden
Dutzende
Bauern
niedergemetzelt. Die anderen liefen
kopflos in alle Richtungen davon und
wurden gejagt wie Hasen.
Franziska und ihre Gefährten
gehörten zum nördlichen Teil des
Heeres. Wo sie waren, hatte sich seit
einiger Zeit nichts Besonderes mehr
ereignet.
Sogar
vom
Auseinanderbrechen
des
Belagerungsringes spürten sie nicht
viel. Die ihnen gegenüber stehenden
Ritter wirkten müde und waren nur
darum bemüht, die Stellung zu halten.
Das Geschrei auf der anderen Seite aber
entging ihnen nicht und sie ahnten, dass
dort etwas Schreckliches geschah.
Es dauerte nicht lange, da wurden sie
auch selbst von der tödlichen Welle
erfasst. Der Untergang des südlichen
Heeres bewirkte, dass sich die gesamte
Streitmacht der Kreuzfahrer nunmehr
dem nördlichen zuwandte. Der Druck
wurde übermächtig, die Bauern mussten
zurückweichen.
Unglücklicherweise
endete kurz hinter ihnen der trocken
gelegte Landstreifen. Mit Entsetzen
merkten sie, wie ihre Füße mit jedem
Schritt tiefer einsanken. Die Ritter
folgten ihnen nicht, blieben aber als
eiserne Mauer stehen und versperrten
ihnen den Rückweg. Armbrustschützen
machten sich ein Vergnügen daraus, die
Fliehenden abzuschießen.
An einen Zusammenhalt der Fähnlein
war nicht mehr zu denken. Franziska
erkannte für einen Moment den
Wimpel, den Ramira eigensinnig selbst
jetzt nicht fortwarf. Aber wo waren die
anderen? Es gab einige Wege durch den
Sumpf. Die aber kannten nur wenige
und ein einziger falscher Schritt konnte
den Tod bedeuten.
"Wir müssen weg von hier!" rief
jemand.
Franziska drehte sich um und
erkannte Norbert.
"Wenigstens du bist noch hier", sagte
sie erleichtert.
"Wir müssen weg!" wiederholte er
eindringlich.
Der schmale Saum, auf dem ein
Mensch gerade noch Halt finden
konnte, war schon mit Leichen übersät.
Wie die anderen liefen die beiden auf
und ab, ohne wirklich zu entkommen.
Nur durch Zufall stießen sie dabei auf
einen Ortskundigen, der sich gerade
229
anschickte, eine Gruppe zu führen. Die
Armbrustschützen bemerkten das aber
und töteten einen nach dem anderen.
Das Grauen, das Franziska nun erlebt,
überstieg noch die Eindrücke von der
Schlacht bei Hemmelskamp. Norbert
wurde unmittelbar neben ihr von einem
der Bolzen genau in den Kopf getroffen.
Sie wollte sich über ihn werfen, doch
jemand stieß sie von hinten vorwärts nicht weil er sie retten wollte, sondern
weil sie ihm den Weg versperrte.
Irgendwann fand sie sich an einem
Ort wieder, von dem aus sie keinen
Kreuzfahrer mehr sah. Aber auch ihre
Begleiter waren verschwunden. Wohin?
Wo hatte sie sie verloren? Wie viele
waren am Ende noch übrig? Sie wusste
es nicht. Und schon drängten sich ihr
die nächsten Fragen auf. Durfte sie an
diesem Fleck bleiben oder musste sie
weiter fliehen? In welche Richtung
konnte sie fliehen? Sie versuchte, ihre
Gedanken zu ordnen. Hasbergen lag mit
ziemlicher Sicherheit südlich von ihr.
Wo das war, bestimmte sie mit Hilfe der
Sonne. Als nächstes prüfte sie, ob sie
eine Verletzung erlitten hatte, denn
Kriegswunden verursachten manchmal
rätselhafter Weise keine Schmerzen.
Offenbar war alles in Ordnung mit ihr.
Nur eine unsägliche Erschöpfung
drückte sie zu Boden. Sie wusste, dass
sie sofort einschliefe, würde sie dem
Drang nachgeben, sich hinzulegen. Also
schleppte sie sich vorwärts - immer in
nördlicher Richtung. Als sie dabei den
Fluss erreichte, schwamm sie hindurch.
230
21.Kapitel
I
D
ie
Erschöpfung
spiegelte
Franziska
Trugbilder
vor.
Immer wieder glaubte sie,
gerüstete Reiter von vorn auf sich zukommen zu sehen. Sie hatte eine
panische Angst, sich zu verirren und
versehentlich zum Ort des Gemetzels
zurückzulaufen
oder
von
den
Kreuzfahrern eingeholt zu werden. Die
kamen mit ihren Pferden, wenn sie
wollten, schnell voran, zumal sich ihnen
wohl niemand mehr entgegen stellen
konnte. Sie meinte, schon endlos lange
unterwegs zu sein, ohne einen
Menschen getroffen zu haben. Da sah
sie plötzlich Häuser, wenn auch (statt
eines vollständigen Dorfes) nur eine
Siedlung mit wenigen niedrigen Hütten.
Dass sich niemand darin regte,
beunruhigte sie zunächst und ließ sie
einen
Augenblick
lang
zögern
hineinzugehen. Doch dann überwog die
Hoffnung gegenüber den Bedenken. Es
stellte sich heraus, dass die Siedlung
von ihren Bewohnern überstürzt
verlassen worden war. In den leeren
Häusern hatten Überlebende der
Schlacht Unterschlupf gefunden, unter
ihnen Ramira und Christian. Sie saßen
nebeneinander an eine Wand gelehnt
und wirkten wie aus Holz geschnitzte
Figuren. Ihre Kleidung war bis zum
Hals hinauf von Schlamm durchtränkt,
der allmählich zu einem brüchigen
Kokon trocknete. In den Gesichtern
glichen dunkle Streifen einer Bemalung
mit magischen Zeichen. Franziska trat
an die beiden heran.
"Habt ihr euch wieder versöhnt?"
Sie spürte, wie unsinnig diese Frage
unmittelbar nach dem Gemetzel von
Hasbergen war. Ihr Gehirn arbeitete
nicht mehr richtig. Es verweigerte den
Dienst wie ein scheuendes Pferd. Den
anderen beiden erging es aber ähnlich.
"Wir hatten noch keine Zeit",
entgegnete Christian tonlos. "Das holen
wir nach, wenn wir im Himmel sind."
Und Ramira fügte hinzu:
"Der Wimpel ist im Moor geblieben.
Tut mir leid. Du musst dir von deiner
Schwester einen neuen nähen lassen."
Franziska wollte noch fragen, wie die
beiden entkommen waren, doch ihr
fehlte selbst dazu die Kraft. So setzte sie
sich neben sie und schloss die Augen.
Mochte da kommen, was will!
Wieder herausgerissen aus ihrem
Dämmer wurde sie durch das Geschrei
eines Mannes. Zunächst dachte sie, die
Kreuzfahrer näherten sich der Siedlung.
Doch als sie genauer hinhörte, verstand
sie, dass von Tammo die Rede war.
"Er sammelt das Heer wieder. Der
Krieg ist noch nicht verloren."
"Was für ein Heer will er denn
sammeln?" sagte Christian vor sich hin.
Franziska blickte zu ihm hinüber.
Nein, sie konnte sich auch keine zweite
Schlacht mehr vorstellen, vor allem
keine siegreiche. Doch noch weniger
wollte sie an die endgültige Niederlage
glauben. Sie schloss wieder die Augen
und sah Tammo an der Spitze einer
gewaltigen Streitmacht. Das Heer der
Ritter prallte davon ab wie ein Stück
Holz von einer Wand. Diese
Traumgespinste begleiteten sie auch
noch, als alle gemeinsam aufbrachen.
Sie schloss sich an, ohne zu wissen
warum. Offenbar hatte jemand die
Führung übernommen. Sie fragte nicht
danach, war gleichgültig gegenüber
dem Schicksal geworden.
Die Nachricht, dass Tammo von
Huntorf die versprengten Reste des bei
Hasbergen
geschlagenen
Heeres
sammle, beruhte auf einem Gerücht,
von dem niemand wusste, wie es
entstanden war. Die Führung über die
Leute in der Siedlung hatte einer der
Hauptleute übernommen. Dessen Pläne
beruhten in Wahrheit auf der Annahme,
dass der größere Teil der StedingerStreitmacht im Norden noch bereit
stünde. Wenn es noch eine Wende in
diesem Krieg geben sollte, konnte sie
nur von dort ausgehen. Somit erschien
es als das Klügste, dem Heer des
Dietmar tom Diek entgegen zu ziehen.
An jenem Schicksalstag war aber
auch dort, an der Mündung der Ochtum
in die Weser unweit des Dorfes
Altenesch, die Zeit nicht stehen
geblieben. Die Bauern erwachten am
frühen Morgen in der selbst gewählten
Enge zwischen den beiden Flüssen. Wie
schon seit fast einer Woche hatten sie
die Nacht neben ihren Waffen
verbracht,
jederzeit
bereit,
aufzuspringen und zu kämpfen. Am
anderen Ufer der Flüsse begannen die
Ritter wieder mit ihrem Verwirrspiel.
Die Aufstellung der Kreuzfahrer
ergab noch immer keinen erkennbaren
Sinn. Zwei Drittel von ihnen hatten um
das Dorf herum noch weniger
Bewegungsfreiheit als die Stedinger.
Sie waren in etlichen mehr oder minder
großen Gruppen über ein ziemlich
weiträumiges Gebiet verteilt. Es gab in
dieser Gegend nur kleine Stücke
zusammenhängenden Landes mit genügend festem Untergrund. Dort saßen
die Männer fest wie auf Inseln. Am
anderen Ufer der Weser, wo sich die
übrigen Ritter aufhielten, gab es
immerhin eine Wiese, die sich zur
Entfaltung eignete. Hier aber bildete die
Weser ein nahezu unüberwindliches
Hindernis. Sie führte verhältnismäßig
viel Wasser und wälzte sich als breites
dunkles Band vorbei. Eine Brücke
führte nur über die Ochtum. Nach
Überzeugung der Stedinger drohte
ihnen vorläufig allein dort eine Gefahr.
Hin und wieder zeigten sich auf
einem Hügel mehrere Gestalten. Das
war immerhin etwas Neues. Die Bauern
rätselten, wer sie wohl seien und
wonach sie Ausschau hielten. Einiges
sprach dafür, dass es sich (unter
anderen) um die Heerführer handelte,
also um den Herzog von Brabant und
um Adolf VII von Berg. Vielleicht
berieten sie sich mit einigen ihrer
Hauptleute dort oberhalb des möglichen
Schlachtfeldes. Hieß das nun, dass der
große Angriff bevorstand?
Wenig später bestellte auch Dietmar
tom Diek seine Hauptleute zu sich. Er
fragte sie der Reihe nach, was sie von
der gegenwärtigen Lage hielten. Die
meisten rechneten mit einem Angriff
noch an diesem Tag, als dessen Ziel sie
die Ochtum vermuteten - wenn nicht an
der Brücke so an einer auffällig
schmalen Stelle einige hundert Schritt
stromaufwärts. Die Männer, die östlich
der Weser lagerten, sahen sie als
Reserve an.
"Vielleicht
sollten
wir
ihnen
zuvorkommen", warf Dietmar ein. "Sie
stehen dort bei Altenesch nicht gut. Die
Gruppen können sich gegenseitig kaum
helfen."
"Sie
einzeln
angreifen
und
nacheinander aufreiben?"
"Das wäre eine Möglichkeit. Sagt mir
eure Meinung dazu!"
Stille trat ein. Die Männer wussten
nicht, ob der Plan ernst gemeint war.
Der schlaue Dietmar stellte sie
gelegentlich auf die Probe, um sich von
ihren Fähigkeiten zu überzeugen und sie
zum Überlegen anzuregen.
"Ich vermute, dass sie mit so etwas
rechnen und sich darauf eingerichtet
haben", begann schließlich einer
vorsichtig.
"Woran denkst du?"
"Fallen, Hinterhalte..."
232
Ein anderer sagte:
"Die Gruppen können einander zwar
nicht helfen, stehen aber in Verbindung.
Sie verständigen sich durch Zeichen."
"Ich seid also dagegen? Bedenkt, dass
wir vielleicht wertvolle Zeit verlieren,
wenn wir nur abwarten!"
Von Zweifeln geplagt, entschieden
sich am Ende zwei Drittel gegen den
Plan. Dann äußerte sich Dietmar selbst.
"Sie haben tatsächlich Fallen
gegraben.
Ich weiß
es
durch
Kundschafter. Die Stellung erscheint für
einen Angriff tatsächlich wenig
geeignet. Dafür lässt sie sich umso
besser verteidigen. Uns bleibt gar nichts
anderes übrig, als abzuwarten. Erst,
wenn sie sich bis zum Wasser wagen,
können wir ihnen etwas anhaben.
Vermutlich läuft ihr Plan darauf hinaus,
dass wir die Geduld verlieren und dann
ins offene Messer laufen."
Am späten Vormittag kam Bewegung
ins Kreuzfahrerheer. Die beiden größten
Gruppen marschierten auf die Ochtum
zu, die anderen rückten nach. Das Ziel
war die Brücke, wo die Stedinger eine
starke Verteidigung aufgestellt hatten.
Da es allerdings (anders als bei
Hasbergen) keine Türme gab und auch
nur einen niedrigen Wall, befahl
Dietmar, den Rittern keine Zeit zu
geben, sich festzusetzen. Die Bauern
strömten in großer Zahl ans andere Ufer
und bildeten dort einen Brückenkopf,
noch ehe ihre Gegner dort eintrafen.
Zu Beginn des Gefechts waren die
Stedinger den Kreuzfahrern der Zahl
nach leicht überlegen. Dafür hatten jene
die besseren Waffen. Um einen Vorteil
zu erringen, verstärkten beide Seiten
allmählich ihr Aufgebot. Bei den
Bauern kam Verstärkung über die
Brücke heran, bei den Rittern griffen
nach und nach die anderen Gruppen ins
Geschehen ein. So entwickelte sich aus
einem Scharmützel eine regelrechte
Schlacht.
Kurz nach Sonnenhöchststand neigte
sich die Waage auf die Seite der
Stedinger. Die einzelnen Gruppen der
Kreuzfahrer standen sich gegenseitig im
Weg. Die Bauern konnten ihre Reihen
schneller auffüllen. Ihre Überlegenheit
vergrößerte sich und führte dazu, dass
sie Land gewannen, erst langsam,
Schritt für Schritt, dann immer
schneller. Dabei liefen die Ritter Gefahr, in ein für sie ungünstiges Gelände
abgedrängt zu werden. Vielleicht hatten
ihre Hauptleute das eingesehen.
Jedenfalls ließen sie zum Rückzug
blasen.
II
D
er Sieg, der verhältnismäßig
wenig Opfer gekostet hatte, hob
bei
den
Stedingern
die
Stimmung. Angesichts der verwirrenden
Manöver ihrer Feinde waren sie
unsicher geworden. Nun fühlten sie sich
wieder wie in den Tagen nach der
Schlacht am Hemmelskamper Wald.
Gott stand auf ihrer Seite, denn sie
verteidigten ihr Land und ihr gutes
Recht.
Musikinstrumente
wurden
hervorgeholt. Einige Bauern bildeten
einen Kreis. Wer es konnte, führte einen
Tanz vor.
Mitten in das fröhliche Treiben hinein
platzte ein Alarmruf, den zunächst fast
jeder (seiner Unglaubwürdigkeit wegen)
für falsch hielt:
"Sie greifen von der Weser her an!"
Wie konnte das sein? Wie konnten
die Ritter den breiten Fluss überwunden
haben? Und doch war es so. Die Bauern
wussten noch nichts von der Flotte
kleiner und mittelgroßer Boote, welche
233
die Holländer entlang der Nordseeküste
heran geführt und in der Weser nahe der
Mündung geankert hatten. Während der
Manöver blieb sie stets unauffällig im
Hintergrund und wurde erst am
Vormittag des 27. Mai an den Schauplatz
des
Entscheidungskampfes
beordert. Zu dieser Zeit waren die
Bauern zu sehr mit den Geschehnissen
an der Ochtum beschäftigt, um das
Verhängnis, das sich auf der anderen
Seite ihres Lagers anbahnte, genügend
wahrzunehmen.
Als sich die Ritter in der Schlacht um
die Brücke zurückzogen, schlug die
große Stunde des Gerhard von Diest.
Der Erfinder und Organisator, für den
der Krieg nichts anderes war als eine
technische Herausforderung und der
dabei kaum andere Mittel anwendete als
er es für eine Handelsmission ins ferne
Nowgorod getan hätte, er sollte das
Zünglein an der Waage werden, der
handelnde Arm des Schicksals, das sein
endgültiges Urteil über das Staatswesen
der Universitas Stedingorum sprach.
Gemessen an den Menschenmassen, die
sich dort bei Altenesch in Waffen
gegenüberstanden, befehligte er eine lächerlich
kleine
Abteilung.
Die
allerdings bestand ausschließlich aus
Leuten, die er sich persönlich
ausgesucht hatte und die seine
Anweisungen äußerst schnell und genau
ausführten. Ehe die vom Ufer aus
zusehenden Bauern begriffen, was da
vor ihren Augen vor sich ging,
formierten sich etwa hundert Boote zu
einer breiten Behelfsbrücke, welche
tatsächlich von einem Ufer der Weser
bis zum anderen reichte.
Kaum war der Übergang vollendet,
stürmten auch bereits die ersten Ritter
darüber hinweg. Um die Boote nicht
übermäßig zu belasten, ließen sie ihre
Pferde zurück. Die Stedinger wehrten
sich zwar gegen den Ansturm, waren
aber noch immer zu überrascht, um
planvoll handeln zu können. So gelang
es den Kreuzfahrern nun ihrerseits einen
Brückenkopf zu errichten und damit das
Werk des Gerhard von Diest zu sichern,
über das pausenlos Verstärkung eintraf.
Die übrigen Boote kamen ein Stück
weiter nördlich zum Einsatz, wo sie
einen Großteil der Verbände aus dem
Raum Altenesch auf die Ostseite der
Weser brachten. Die sollten von dort
aus ebenfalls in den Brückenkopf
hineinstoßen. Das Lager der Stedinger
wurde auf der sträflich vernachlässigten
Flussseite
ungeheurem
Druck
ausgesetzt. Erst hundert Schritt vom
Ufer entfernt, gelang es den Bauern,
wieder
eine
Verteidigungslinie
aufzubauen. Beinahe wären sie einfach
überrannt worden.
Die Ritter hatten durch ihre Kriegslist
einen großen Vorteil erreicht, die
Schlacht aber noch nicht entschieden.
Die Behelfsbrücke trug nur eine
begrenzte Zahl gerüsteter Männer
gleichzeitig und wurde auch bei
vorsichtiger Belastung immer wieder
beschädigt.
Während
der
Ausbesserungen kam der Marsch ans
andere Ufer ins Stocken. Die Stedinger
fanden dadurch Gelegenheit, ihr Heer
umzustellen. Dietmar tom Diek begriff,
dass die Ritter sich (wenn er nichts
dagegen unternähme) allmählich zu
einem furchtbaren, eisernen Keil formieren würden. Die Bauern mussten
unbedingt versuchen, den Brückenkopf
zu beseitigen und die Boote zu
versenken. Doch am späten Nachmittag,
als es endlich gelungen war, die ganz
auf
die
Ochtum
ausgerichteten
Einheiten auf die andere Seite des
Lagers zu beordern, wagte der
Heerführer den Angriff nicht mehr. Das
Bewusstsein, auf welch dumme Art er
sich hatte übertölpeln lassen, nagte noch
immer an seinem Selbstbewusstsein.
Zudem bedrängte ihn sein Gewissen.
Durfte er fast dreitausend ihm
234
vertrauende
Menschen
in
den
möglichen Tod hetzen?
Um diese Zeit traf Tammo von
Huntorf mit knapp fünfzig, dem
Gemetzel von Hasbergen entronnenen
Männern ein. Mehr Pferde hatte er nicht
auftreiben können und zu Fuß war die
Strecke an einem Nachmittag nicht zu
bewältigen. Beide Bauernführer hatten
sich ihr Wiedersehen anders vorgestellt.
Dietmar erfuhr, dass es das kleinere
Heer nicht mehr gab, und Tammo sah
das größere, auf das er seine letzte
Hoffnung gesetzt hatte, in äußerster
Bedrängnis.
"Könnte es sein, dass uns die Ritter
des Arnold von Gavre in den Rücken
fallen? Hattet ihr sie dicht hinter euch?"
"Nach meinem Eindruck ist eine
Vereinigung
der
Heere
nicht
vorgesehen. Arnold von Gavre erobert
gerade das südliche Stedingen."
"Schlimm genug! Das bedeutet, dass
wir kein Rückzugsland mehr haben.
Wenn wir heute nicht siegen, sind wir
verloren."
"Uns kann nur noch ein Wunder
retten!"
"Ja. Ich lasse das Signal zum Angriff
geben. Bis zum Abend wird sich
entschieden haben, ob Gott noch mit
uns ist oder nicht." Er verließ das Zelt,
kam aber noch einmal zurück. "Sag
deinen Leuten, sie sollen nichts über
Hasbergen erzählen."
Tammo nickte.
Die Schlacht um den Brückenkopf
sollte alles übertreffen, was sich bisher
während des Krieges zwischen den
Stedingern und dem Erzbischof
zugetragen hatte. Mehr noch: Um im
Bremer Umland Vergleichbares zu
finden an Heldentum und an Schrecken,
an Größe und an Wahnsinn, muss man
weit zurückblättern im Buch der
Geschichte, vielleicht bis in jene Zeit,
als die Franken Tausende Sachsen
töteten, um deren Herzog Widukind in
Wildeshausen zur Unterwerfung zu
zwingen. Es war dabei eine seltsame
Ironie des Schicksals, dass sich dort auf
deutschem Boden am Ende Holländer
gegenseitig abschlachteten, die Siedler,
die vor ein paar Generationen die
Heimat verlassen hatten, um in der
Fremde ihr Glück zu machen, und die
Nachkommen der Zurückgebliebenen.
Wie viele entfernte Verwandte mochten
sich dabei in wildem Hass gegenüber
gestanden haben?
Was den Bauern bei ihrem
Aufbäumen ungeheure Kräfte verlieh,
war paradoxer Weise gerade die
Ausweglosigkeit, die sie spürten.
Obwohl
Tammo
seinen
Leuten
tatsächlich verboten hatte, über das
Desaster von Hasbergen zu reden,
wusste
bald
jeder
Bescheid.
Andererseits glaubte niemand an die
Menschlichkeit der Kreuzfahrer. Wenn
es also zu sterben galt, so sollte der Tod
zumindest würdig sein. Der Ansturm
war so wuchtig, dass die Ritter bis fast
an den Fluss zurückgeworfen wurden.
Dort ging es dann allerdings auch für
sie um Leben und Tod - Siegen oder in
den Fluten der Weser ertrinken.
Als die Lage für die Kreuzfahrer am
gefährlichsten war, kam über die
Behelfsbrücke eine besondere Art von
Verstärkung heran. Mitten zwischen
Männern in Rüstungen schritt in würdigem Ernst völlig unbewaffnet eine
Gruppe
von
Geistlichen
aus
verschiedenen Orden in ihren langen
Kutten und Talaren. Sie stellten sich
hinter die Kämpfenden und sangen, so
laut sie konnten: "Mitten wir im Leben
sind mit dem Tod umfangen" sowie
"Heiliger Gott! Heiliger, starker,
heiliger, barmherziger Heiland! Übergib
uns nicht dem bitteren Tod!" Etliche
von ihnen bezahlten ihren freiwilligen
Eifer mit dem Leben, doch sie starben
ohne Klagen in der frommen Gewissheit, als Märtyrer gefallen zu sein. Und
235
sie waren ein Teil des Irrsinns, den jener
Nachmittag gebar.
Keine Taktik zählte mehr. Niemand
schonte seine Kräfte. Jeder dachte nur
noch daran, den Feind zu töten. Viele
Bauern opferten sich dafür sogar selbst.
Sie sprangen einen Ritter an und stießen
ihm, während sie selbst ein Dutzend
Mal durchbohrt wurden, den Dolch
unter dem Helm genau in den Hals. Die
Verluste auf beiden Seiten waren
entsetzlich. An einigen Abschnitten
ebbten die Kämpfe ab, weil Dutzende
übereinander liegende Leichen die
Fronten trennten. Auf der Seite der
Heldentum der Stedinger hätte daran
noch etwas ändern können.
Noch immer versuchte Dietmar tom
Diek zu tun, was in der neuen Lage
geboten schien. Er ritt zwischen seinen
Truppen umher, gab Anweisungen,
munterte auf. Bald jedoch wurde er zum
Spielball
einer
allgemeinen
Fluchtbewegung. Selbst auf sein Pferd
griff die Panik über. Es bäumte sich auf
und warf den Reiter ab. Der Feldherr
stürzte und brach sich beide Beine.
Unfähig, sich wieder aufzurichten,
wurde er von den eigenen Leuten zu
Tode getrampelt.
Als sich das Schicksal der Stedinger
bei Altenesch schon längst entschieden
hatte, war die Gruppe mit Franziska und
ihren Freunden noch immer unterwegs,
um sich den vermeintlich glücklicheren
Brüdern anzuschließen. Kurz vor
Einbruch der Dunkelheit sahen sie ein,
ihr Ziel an diesem Tag nicht mehr zu
erreichen, und schwärmten aus, um
nach geeigneten Herbergen zu suchen.
Plötzlich erschienen Reiter am Horizont. Ramira, gewarnt vom besonderen
Gefühl der Gaukler für Gefahr, wollte
sofort davonlaufen. Dabei aber hätte sie
ihre Freundin Franziska im Stich lassen
müssen, die noch unter dem Eindruck
von Hasbergen stand und sich nicht
zurechtfand. Selbstverständlich blieb
nun auch Christian. Die Ritter hatten es
eilig. Vermutlich lautete ihr Auftrag,
zügig bis tief ins Marschland
einzudringen, um dort versteckte
Truppen der Stedinger aufzuspüren. Das
hinderte sie jedoch nicht, all jene zu
jagen, die sich unvorsichtig verhielten.
Christian fand einen umgestürzten
Baum - kein vorzügliches Versteck,
aber immer noch das Beste weit und
breit. Ramira führte Franziska beim
Arm dorthin. Leider entdeckte sie einer
der Reiter, ehe sie sich hinter die
Deckung geworfen hatten, und sprengte
im vollen Galopp auf sie zu. Christian
Stedinger fiel Tammo von Huntorf.
Die Entscheidung fiel wieder durch
das Eingreifen einer Reserve. Die
Bauern achteten schon längst nicht
mehr auf die Brücke über die Ochtum.
Nicht einer von ihnen stand mehr dort,
als Dietrich von Cleve seine
Rheinländer über sie hinweg führte.
Aber letztlich geschah ohnehin nur das,
was früher oder später hatte geschehen
müssen. Im Grunde war der Krieg mit
dem Brückenschlag über die Weser entschieden gewesen. Kein noch so großes
236
konnte mit knapper Not den Hufen des
Pferdes ausweichen. Franziska hatte
weniger Glück. Das Schwert traf sie am
Kopf, zwar nur mit der flachen Seite,
jedoch mit voller Wucht. Sie fiel um
wie ein vom Blitz gefällter Baum und
blieb regungslos liegen.
Ramira beugte sich über sie, um sich
die Wunde anzusehen. Sie besaß ein
wenig Erfahrung im Heilen mit
einfachen Mitteln. Die Verletzung sah
nicht schlimm aus. Lediglich ein paar
dünne Fäden Blut sickerten zwischen
den dichten, schwarzen Haaren hervor.
Doch das war nur der erste flüchtige
Eindruck. Franziska kam nicht wieder
zu sich. Ihr Atem wurde immer
schwächer und setzte schließlich ganz
aus.
Nun
packte
Ramira
die
Verzweiflung.
"Wach auf! Bitte, wach auf!" schrie
sie immer wieder.
Christian zog sie ein Stück beiseite,
weil er fürchtete, sie würde den
Verstand verlieren. Dann untersuchte er
die Verwundete selbst noch einmal. Als
er sich umdrehte, sah er, dass Ramira
auf den Knien lag und inbrünstig betete
- darauf hoffend, dem Allmächtigen
noch ein Wunder abtrotzen zu können.
Er sah aber auch, dass die Reiter sich
noch immer in der Nähe aufhielten und
nach Opfern suchten.
"Komm! Wir müssen fort. Für
Franziska können wir nichts mehr tun.
Ihr Herz schlägt nicht mehr."
"Wir können sie doch nicht einfach
hier liegen lassen!"
"Nur ihr Körper liegt hier. Ihre Seele
ist bei Gott."
Dann zog er sie mit Gewalt hinter
sich her - erst hinter den Baumstamm,
dann bis zu einem leeren Stall, in
welchem sie die Nacht verbrachten.
III
R
amira und Christian erfuhren
erst Wochen später, was sich
tatsächlich am 27. Mai bei
Altenesch zugetragen hatte. Da sie aber
überall auf kleine Trupps von
Kreuzfahrern trafen, die sich offenbar
im Land der Stedinger ungehindert
bewegen konnten, mussten sie von einer
Katastrophe ausgehen. Sie suchten nicht
mehr nach Kameraden. Nur noch das
eigene Leben zählte. Das zu retten, war
schwer genug. Sie kannten sich nicht
aus, wussten nicht, aus welcher
Richtung ihnen die größte Gefahr
drohte, hatten seit über einem Tag
nichts mehr gegessen.
Viele Bauernfamilien verließen aus
Angst vor den Kreuzfahrern überstürzt
ihre Häuser, auch jenseits der Grenzen
des Marschlandes. Nun irrten sie auf
den
Wegen
umher.
Andere
verbarrikadierten sich - in der lächerlich
anmutenden Absicht, ihr Hab und Gut
zu verteidigen. Dann gab es noch die
Unredlichen, die den allgemeinen
Aufruhr ausnutzten, um zu stehlen.
Freilich waren letztere nicht in jedem
Falle gemeine Schurken. Auch Ramira
und Christian reihten sich unter ihnen
ein, als sie in einem offen stehenden
Haus ihren Hunger stillten.
Über den Tod ihrer besten Freunde
Franziska und Norbert redeten die
beiden kein einziges Mal. Umso öfter
dachten sie daran. Für die Gauklerin
war der Verlust noch größer als für den
Bürgerssohn. In ihrem bisherigen Leben
hatte ihr das Schicksal immer wieder
die wichtigsten Menschen im ungünstigsten Augenblick entrissen. Meistens
war eine verhältnismäßig glückliche
Zeit vorausgegangen. Abstürze nach
großen Hoffnungen zermürben. Sie
237
rauben nach und nach den Glauben,
dem Fluch je zu entkommen.
Christian fühlte den schwindenden
Lebenswillen bei seiner Freundin. Jetzt
wünschte er sich eine ihrer wütenden
Attacken oder wenigstens einen
ungerechten Vorwurf. Tatsächlich lief
sie völlig gleichgültig neben ihm her
und er hätte wahrscheinlich mit ihr
anstellen können, was er wollte. Dabei
war es unmöglich, sie aufzumuntern.
Sprach er sie an, antwortete sie einsilbig
oder gar nicht. Ihm blieb nichts anderes
zu tun, als sie immer weiter
mitzuschleppen.
Am dritten Tag nahm der Alptraum
noch immer keine Ende, im Gegenteil.
Sie gelangten in ein Gebiet, durch das
die Kreuzfahrer schon einmal gezogen
waren. Von mehreren Dörfern zeugten
nur noch die qualmenden Reste der
Häuser. Und immer wieder fanden sie
Tote, in Gruppen oder allein, Männer
und Frauen, auch Kinder. Allem
Anschein nach wollten die Sieger das
Land der Stedinger nicht nur erobern
sondern gänzlich entvölkern. Unklar
war nur, ob noch jemand den Befehl
führte oder ob sich der Krieg schon
verselbständigt hatte und die Trupps auf
eigene Faust plünderten.
Ein paar Meilen weiter verstopfte
eine beträchtliche Zahl flüchtender
Bauernfamilien
die
Wege.
Das
Durcheinander stieg noch dadurch, dass
verschiedene einander widersprechende
Gerüchte umgingen. Die Menschen
strömten mal in diese, mal in jene
Richtung und rannten sich dadurch
beinahe gegenseitig um. Ramira und
Christian blieben in dem Knäuel
stecken.
Allerdings
hatte
der
unfreiwillige Aufenthalt auch etwas
Gutes - sie trafen Bekannte aus dem
Dorf Neudeich wieder. Bauer Jörg
drängte sich zu ihnen durch und sprach
sie an.
"Kenne ich euch nicht von der
Hochzeit her?"
Die beiden nickten. Kaum aber hatten
sie ein paar Sätze gewechselt, wurden
sie in ein Feld abgedrängt und Jörg
fürchtete, seine Angehörigen aus den
Augen zu verlieren.
"Kommt mit!" schlug er vor.
Sie folgte ihm und erfuhren, dass die
Bewohner von Neudeich geschlossen
aufgebrochen waren. Weil der Bruder
des Erzbischofs sie seinerzeit von
Norden her überfallen hatte, wollten sie
sich in Richtung Süden retten. Dabei
wären sie jedoch unweigerlich auf jene
Reiter gestoßen, vor denen Ramira und
Christian gerade flohen.
"Ihr müsst schnellstens umkehren!"
rieten sie eindringlich.
"Seit ihr ganz sicher? In der Angst irrt
man sich leicht."
"Wir haben sie gesehen - dreißig
Mann. Sie waren uns zeitweilig dicht
auf den Fersen."
Jörg strich sich nachdenklich übers
Kinn.
"Wenn sie so nah sind, können wir
ihnen mit den Frauen und Kindern nicht
mehr entkommen."
Beklommenes Schweigen breitete
sich aus. Dann war Liemar derjenige,
der den Bann brach.
"Sagtet ihr, dass es ungefähr dreißig
Männer sind?"
"Vielleicht auch vierzig."
"Wenn sich nun ebenso viele Männer
bei uns fänden, könnten wir uns ihnen
in den Weg stellen. Wir haben noch
unsere Waffen."
"Aber sie sind viel besser ausgerüstet
als ihr", warnte Christian. "Sie werden
euch allesamt töten."
"Mag sein, dass sie das am Ende tun.
Aber dazu werden sie Zeit brauchen..."
Die Neuigkeiten sprachen sich rasch
herum und es geschah etwas
Erstaunliches. Obwohl sich kaum
jemand an diesem Tage noch einer
238
Illusion hingeben konnte, meldeten sich
mehr Freiwillige als notwendig.
Tatsächlich sollte niemand von ihnen
überleben. Die meisten starben während
des Scharmützels. Einige wurden
verwundet, gefangen genommen und
später als Ketzer verbrannt. Ihr Plan
aber ging auf. Sie beschäftigten die
Ritter nicht nur bis in den Abend hinein,
sie erweckten in ihnen auch die
Annahme, dass die Stedinger noch nicht
endgültig niedergerungen seien. Aus
Furcht vor einem Hinterhalt rückte die
Schar von nun an sehr viel vorsichtiger
und damit langsamer vor. Die
Flüchtenden
gewannen
einen
ausreichend großen Vorsprung.
Die von den regierenden Herren in
Auftrag gegebenen Chroniken enthalten
derlei Heldentum nicht. Verzeichnet
sind die Taten eines Arnold von Gavre,
eines Gerhard von Diest, eines Dietrich
von Cleve. Der Mut der Gegner wird
erwähnt, wo er geeignet erscheint, den
Ruhm zu steigern. In Wahrheit aber
stand die Moral von Männern wie Jörg
und Liemar weit über jener der
Kreuzfahrer, denn sie zogen in den
sicheren Tod, damit ihre Familien leben
konnten.
Eine Frau schenkte Ramira und
Christian frische Kleidung. Die war
nicht nur sauberer sondern verwandelte
die beiden zudem in Dorfbewohner, was
ihnen eine mildere Behandlung
versprach, falls sie doch noch den
Kreuzfahrern in die Hände fielen. Als
sie mit der Gruppe weiter zogen, sahen
sie auch die kleine Jule wieder. In den
zurückliegenden Monaten hatte sie sich
in der Geborgenheit ihres Dorfes soweit
erholt, dass jemand, der sie nicht von
früher her kannte, sie einfach für ein
besonders scheues Kind hielt. Durch die
Flucht aber wurden die Erinnerungen in
ihr wieder wach. Sie benahm sich eigenartig, war zuweilen unberechenbar.
Eine Zeitlang lief sie brav neben Luise
her, dann rannte sie plötzlich voller
Angst davon und hörte auf niemanden
mehr. Einmal geriet sie dabei in eines
jener tückischen Sumpflöcher, die einen
Menschen in kurzer Zeit völlig
verschlingen können. Christian warf
sich ohne zögern flach auf den Boden
und kroch dann bis dicht an das Loch
heran. Zugleich band er sich den Strick
ab, der seinen Kittel zusammenhielt.
Den warf er nun dem Kind zu.
"Knote ihn dir fest ums Handgelenk!"
rief er.
Zum Glück war Jule wieder
ansprechbar und tat, was er ihr anwies.
Zwei andere Männer packten ihn dann
bei den Beinen und zogen ihn zurück
auf die Straße.
Mehrere Tage lang waren die
Flüchtenden unterwegs. Obwohl sie
keinen Kreuzfahrern mehr begegneten,
wurde der Marsch zu einem Gang durch
die Hölle. Sicherheitshalber mieden sie
die Dörfer, auch noch, als sie das
Stedingerland längst hinter sich
gelassen hatten. Dadurch litten sie
Hunger. Etliche Frauen und Kinder
brachen zusammen und mussten von
den anderen mitgeschleppt werden.
Schließlich waren alle so geschwächt,
dass sie aller Gefahr zum Trotz, ein paar
Männer ins nächste Dorf schickten. Zu
ihrem Glück hatten sie inzwischen das
Gebiet der Friesen erreicht. Die waren
den Stedingern freundlich gesonnen und
versorgten die Ankömmlinge mit dem
Notwendigsten.
Zur gleichen Zeit, als die Bewohner
von Neudeich nach Norden zu den
Friesen flüchteten, bestatteten die
Kreuzfahrer die bedeutendsten unter
ihren Toten in der Kirche von Warfleth.
Zwei wurden dabei besonders geehrt Heinrich III, der Graf von Bruchhausen,
der bei Hasbergen gefallen war, und
Gerhard von Diest, der Hauptmann der
Bootsflotte, den bei Altenesch auf recht
merkwürdige Weise sein Streben nach
239
Vollkommenheit ins Verderben geführt
hatte.
Auf dem Höhepunkt der Schlacht um
den Brückenkopf kamen die Bauern
einmal so dicht ans Wasser heran, dass
sie einige Boote versenken konnten.
Gerhard bemerkte das und wollte den
Schaden schnellstens beheben. Seine
Leute rieten ihm, zu warten, bis die
Ritter wieder die Oberhand gewonnen
und etwas Raum zurückerobert hätten.
Darauf aber wollte er sich nicht
einlassen. Nach einem kurzen Streit lief
er selber los. Er starb allerdings nicht
durch einen Pfeil oder einen Speer.
Vielmehr verlor er durch einen heftigen
Stoß das Gleichgewicht, stürzte
zwischen zwei Boote und wurde zerquetscht.
240
22.Kapitel
I
E
inige Wochen waren vergangen
seit den Gemetzeln bei Altenesch und Hasbergen. Um eine
Seuche vorzubeugen und vielleicht
auch, um das Grauen des Krieges
wenigstens äußerlich zu mildern, hatte
der Erzbischof schon bald die Räumung
der
Schlachtfelder
angeordnet.
Viertausend Leichen waren geborgen
worden, in der Mehrzahl Bauern. Die
tatsächliche Zahl der Opfer aber lag
wesentlich höher, denn blutige Kämpfe
hatte es auch anderenorts gegeben und
die erschlagenen Frauen und Kinder
wurden durch die Chronisten grundsätzlich nicht berücksichtigt. In einem
Blutrausch waren die Sieger über dutzende eroberte Dörfer hinweggefegt,
alles niederhauend, was sich bewegte.
Es rächte sich nun, dass viele
Kreuzfahrer Fremde waren, Männer
also, denen gleichgültig sein konnte,
wenn sie nur verbrannte Erde
zurückließen. Ein Fürst, der die Hand
auf einen fruchtbaren Landstrich legt,
will ihn nicht menschenleer vorfinden.
Wer durch das ehemalige Stedingen ritt
(sofern er es wagte) fühlte sich in die
Unterwelt versetzt. Aus zerschmetterten
Häusern ragten einzelne Balken heraus,
wie Arme, die Hilfe herbeiwinken
wollten. Hier und dort qualmte noch ein
Scheiterhaufen. Das waren riesige
Holzstöße, auf denen die Ketzerjäger
gleich zehn oder fünfzehn Mann auf
einmal den Flammen übergeben hatten.
Wem das noch immer nicht genügte,
der lief durch eines der Geisterdörfer,
trat vielleicht auch durch eine der
schwarz geränderten Türen. Vielleicht
fand er einen gedeckten Tisch vor,
vielleicht ein paar verkohlte Leichen,
die noch auf der Schlafbank neben dem
Herd lagen.
Später wüteten die außer Rand und
Band geratenen Heere auch in den
Grafschaften
Wildeshausen
und
Bruchhausen.
Die
Ritter
und
Waffenknechte taten sich dabei zu Banden zusammen. Die Cholera hätte kaum
weniger Schaden anrichten, kaum
weniger Schrecken verbreiten können.
Längst tat sogar der Erzbischof alles,
um die von ihm selbst herbeigeholten
Dämonen auszutreiben. Das gelang ihm
letztlich nur, indem er die Feldherren
und Hauptleute durch großzügige
Zuwendungen für sich gewann.
Erst nach dem Abzug der Holländer
konnten Pläne geschmiedet werden für
eine Ordnung nach dem Krieg. Erzbischof Gerhard II wusste, dass er mit der
Zerschlagung
der
Universitas
Stedingorum
die
unumschränkte
Herrschaft über den mittleren Teil der
Nordseeküste noch immer nicht erreicht
hatte, denn es gab da ja noch die
Oldenburger. Es war ihm (zu seinem
großen Bedauern) nicht gelungen, den
Grafen Otto in den Kreuzzug zu
verstricken. Da dessen einsatzbereite
Ritter seit dem Abzug der Holländer
eine Macht darstellten, konnte er ihn
schwerlich übergehen. Also bestellte er
ihn zu Verhandlungen in seinen Palast.
Bevor Otto aufbrach, beriet er sich
noch einmal mit seiner Frau Mechthild.
Er
fühlte
sich
keineswegs
uneingeschränkt im Recht. Gottes
Gedanken sind nun einmal nicht der
Menschen Gedanken. Woher wollte er
also wissen, dass er sich an jenem
Feldzug wider die ketzerischen Bauern
nicht doch hätte beteiligen müssen,
ungeachtet des Unglücks, welches
dadurch
über
seine
Grafschaft
hereingebrochen wäre? Das sind die
schwierigsten Entscheidungen, wenn
man in jedem Falle ein Gebot
missachten, ein Gesetz übertreten muss.
Welche Pflicht hat den Vorrang? Sogar
die Geistlichen widersprachen einander.
"Die Einladung sieht auf den ersten
Blick freundlich aus, aber an einigen
Formulierungen spürt man die wahre
Absicht. Er wird mich abkanzeln, wird
unter Androhung schwerer Kirchenstrafen seine Forderungen stellen.
Und leider bin ich nicht so abgebrüht
wie mein Vater. Ich würde eine
Exkommunikation nicht länger als eine
Woche aushalten, würde zu Kreuze
kriechen. Zu einem Helden bin ich nicht
geschaffen, auch wenn das neuerdings
einigen Leuten so vorkommen mag."
"Ich
verstehe
deine
Zweifel.
Andererseits müssen wir uns fragen,
welche Wahl uns eigentlich bleibt,
wenn wir wie bisher auch weiterhin
Schaden von unserer Grafschaft
abwenden wollen. Der Erzbischof wird
jede unserer Schwächen für seine
Politik ausnutzen. Denke nur daran, wie
er mit seinen Verbündeten, den
Wildeshausenern und Bruchhausenern
umspringt! Er hat sich ihrer bedient und
nun, da sie (nicht zuletzt durch seine
Schuld) schwer getroffen am Boden
liegen, nun lässt er sie im Stich.
Gerhard ist ein gefährlicher Mann."
"Was also empfiehlst du mir?"
"Ich kann für dich nichts entscheiden,
zumal ich nicht weiß, was er dir zu
sagen gedenkt. Ich kann dir nur raten,
dir keine Schuldgefühle anmerken zu
lassen. Du solltest hart bleiben, wie sehr
auch immer er dich bedrängt."
"Ich soll mich beteiligen an diesem
widerlichen Gerangel? Das kannst du
nicht wirklich wollen!"
"Wahrscheinlich geht es längst nicht
mehr nur um das Land der Stedinger.
Ich fürchte, Gerhard will die Schwäche
seiner Nachbarn ausnutzen, um sich
noch sehr viel mehr anzueignen.
Sicherlich streckt er die Hand auch nach
unserem Besitz aus."
Die Verhandlungen im Palast des
Erzbischofs zu Bremen begannen
sonderbar. Gerhard II hatte eine
Vorführung arrangiert, mit der er den
nach seiner Überzeugung hoffnungslos
weltfremden Otto ein für allemal
einschüchtern wollte. Er steckte ein paar
seiner Diener in prächtige Gewänder
und befahl ihnen, sich als Abgesandte
des Papstes auszugeben. Im Übrigen
hatten sie seine Worte möglichst
nachdrücklich zu bestätigen. Der Graf
von Oldenburg wurde dann vom Beginn
seiner Ankunft an mit ungewöhnlichen
Anweisungen
und
merkwürdigen
Gerüchten bedrängt. Ehe er über das
eine zu Ende nachgedacht hatte, ereilte
ihn schon das nächste. Tatsächlich
verunsicherte ihn das mit der Zeit. Als
er endlich Einlass ins Audienzzimmer
erhielt, war aus seinem Kopf alles verschwunden, was er sich als Widerrede
zurechtgelegt hatte.
"Der Heilige Vater ist ungehalten
über dein Verhalten", hörte er den
Erzbischof streng sagen.
"Äußerst ungehalten", echote einer
der vier Männer, die links und rechts
Aufstellung genommen hatten.
"Und er hat es mir anheim gestellt,
dich in angemessener Weise zur
Verantwortung zu ziehen." Gerhard ließ
eine längere Pause entstehen, während
der er seinen Gesprächspartner scharf
beobachtete.
"Ich
habe
lange
nachgedacht, um zu einer, alle
Umstände
berücksichtigenden,
Entscheidung zu gelangen. Um ehrlich
zu sein - ich erwog sogar, dir die
Grafenwürde
auf
Lebenszeit
abzuerkennen."
Eigenartiger Weise fand Otto trotz
dieser Drohungen seine Fassung wieder.
Etwas, das er nicht hätte benennen
242
können, beruhigte ihn, sagte ihm, dass
seine Zeit noch kommen würde an
diesem Tag. Vielleicht lag es daran,
dass der Kirchenfürst überzog. Das alles
erinnerte gar zu sehr an einen
Gauklerauftritt auf dem Jahrmarkt.
"... Ich habe mich aber an unseren
Herrn Jesus Christus erinnert, der in
seiner Güte selbst den ärgsten Sündern
verzieh, um ihnen die Gelegenheit zu
geben, sich zum Guten zu ändern.
Allerdings wird es von deinem
Verhalten in den nächsten Monaten
abhängen, wie mein endgültiges Urteil
lautet."
Beim letzten Satz stieg in Otto ein
Verdacht auf. In den nächsten Monaten
musste die Entscheidung über die
Aufteilung des von den Kreuzfahrern
eroberten Landes fallen. Der Graf sah
sich die angeblichen Abgesandten des
Papstes genauer an und fand seine
Vermutung bestätigt. Spontan entschloss er sich, den Erzbischof in
ähnlich plumper Weise in die Parade zu
fahre.
"Eure Eminenz täten gut daran, sich
nicht durch eine offenkundige Lüge
selbst herabzusetzen", sagte er mit
einem liebenswürdigen Lächeln.
Gerhard verstummte mitten im Satz.
Dabei beeindruckte ihn weniger die
Tatsache, ertappt worden zu sein, als die
Respektlosigkeit, mit welcher der Graf
sich gegen ihn auflehnte. Die
Bemerkung kam einer Kriegserklärung
gleich. Er brauchte Zeit, sich zu
beruhigen, und trat ans Fenster, wie es
seine Gewohnheit war, wenn er die
Beherrschung zu verlieren drohte. Dann
schickte er die Diener mit einer
Handbewegung hinaus.
"Bist du dir sicher, dass nicht morgen
sein kann, was heute noch nicht ist?"
"Ich bin mir sicher, dass regierende
Herren wie wir nicht reden sollten wie
junge Dorfpriester. Wir wissen beide,
worum es geht."
"Drücke dich deutlicher aus!"
"Gern! Der Kreuzzug hat nur zwei
wirklich mächtige Männer in der
Gegend übrig gelassen - Euch,
Eminenz, und mich. Wir sollten uns auf
Einflussgebiete einigen."
Gerhard lachte gekünstelt und rief
voller Entrüstung:
"Was gibt es da zu bereden? Willst du
beanspruchen, was du dir nicht in der
geringsten Weise verdient hast?!"
Otto setzte an Stelle einer Antwort
wieder sein herausforderndes Lächeln
auf. Wohl war ihm nicht bei dem Spiel,
was er da trieb. Wenn es wirklich zum
Äußersten kam, hatte der Kirchenfürst
die besseren Aussichten auf den Sieg.
Dabei würde nicht nur die Zahl der
Ritter entscheiden. Andererseits konnte
der
Graf
nicht
plötzlich
zurückzuweichen.
"Nichts wirst du bekommen!"
schnaubte Gerhard. "Nicht ein einziges
Feld! Ich schwöre es! Und ich werde
Mittel finden, dich zu züchtigen."
Dann läutete er nach einem Diener
und ließ seinen Gast hinaus geleiten.
Der rüde Hinauswurf war allerdings
nicht das Ende der Verhandlungen
sondern in gewisser Weise deren
Anfang. Erzbischof Gerhard erwog die
verschiedenen Möglichkeiten, die ihm
offen standen, und gelangte dabei (so
schwer es ihm auch fiel) zu dem
Entschluss, sich mit den Oldenburgern
zu einigen. Er hätte die Verbündeten
aus dem Kreuzzug, allen voran die Wildeshausener und die Bruchhausener,
noch einmal aufbieten können. Doch
dazu hätte er sie wieder zu Kräften
kommen lassen müssen - was er
unbedingt vermeiden wollte. Das übersichtliche Kräfteverhältnis kam ihm
gelegen.
Zugleich verhielt Otto sich klug. Er
richtete ein Schreiben an den
Erzbischof, in welchem er diesem den
Anspruch auf die Vorherrschaft in der
243
Region zubilligte. Obwohl er jedes Eingeständnis von Schuld vermied, sowohl
was den Kreuzzug, als auch was den
Besuch in Bremen betraf, ebnete er
damit den Weg für neue Gespräche.
Gerhard konnte den Grafen, der sich
gedemütigt hatte, abermals einladen.
Auch bei den Verhandlungen selbst
vermied Otto alles, was die Stimmung
wieder hätte anspannen können. Im
Grunde feilschte er halbherzig. Als der
Erzbischof ihm das an seine Grafschaft
unmittelbar angrenzende Nordstedingen
als Abfindung anbot, stimmte er
beinahe hastig zu.
II
E
in prunkvoller Raum kann unter
gewissen
Umständen
sehr
trostlos wirken. Heinrich der
Bogener empfand das so, als er mit dem
Burgvogt in einer Ecke des Rittersaals
saß. Es war mit der Grafschaft in Folge
des Kreuzzugs so weit gekommen, dass
selbst Landadlige Not litten, weil die
Bauern sich (ihrer Verluste wegen)
weigerten, ihre Abgaben zu entrichten.
"Was sollen wir tun?" fragte der Graf.
"Wir könnten die Schulzen zur
Rechenschaft ziehen."
Der Burgvogt schüttelte den Kopf.
"Die Bevölkerung in den Dörfern ist
gereizt. Wenn wir Gewalt anwenden,
droht uns ein Aufstand."
"Aber
wenn
wir
die
Ungesetzlichkeiten durchgehen lassen,
werden sie mich als unfähig ansehen
und erst recht zum Teufel jagen."
"Ja. So ist es. Leider!"
Heinrich hatte den Burgvogt früher
nicht gemocht und wäre nie auf den
Einfall gekommen, eines Tages mit ihm
im selben Boot zu sitzen. Doch sie
hatten sich wohl auch beide verändert in
den zurückliegenden Monaten. Sie
waren gealtert.
"Nein, nein! Es ist unwürdig, sich so
treiben zu lassen. Ich werde noch heute
übers Land reiten und nach dem
Rechten sehen."
Er war tatsächlich entschlossen, noch
eine
äußerste
Anstrengung
zu
unternehmen, um seine Grafschaft zu
retten. Nicht zuletzt vor Agnes fühlte er
sich dazu verpflichtet. Ihr gegenüber
galt es, die Schande zu tilgen, die er
durch seine Flucht in den Geheimgang
auf sich geladen hatte - auch oder
gerade weil sie ihm das niemals
vorwarf.
"Ich
werde
die
Ordnung
wiederherstellen", bekräftigte er und
stand auf.
Als er aber sein Pferd aus dem Stall
holen wollte, hielt ihn der Diener
Boleke auf.
"Herr Graf, Eure Vettern sind soeben
eingetroffen. Sie wollen so bald als
möglich mit Euch sprechen."
Heinrich begriff zunächst nicht, wer
gemeint sein mochte. Dann jedoch
erkannte er am Zaumzeug eines
fremden Pferdes, das ein Knecht zur
Futterkrippe führte, das Wappen der
Bruchhausener.
"Gut! Ich gehe sofort wieder hinauf."
Heinrich der Jüngere und Ludolf
trugen als Zeichen ihrer Trauer
ausschließlich Kleidung aus grobem
Gewebe. Inwieweit sie tatsächlich
Kummer empfanden, wusste kaum
jemand so genau, doch waren die
meisten der boshaften Gerüchte, die das
mit Hinweis auf den Ehrgeiz der beiden
anzweifelten, sicherlich erfunden. Es
gab bessere Erbschaften. Der urwüchsige Landesvater fehlte überall. Die
Söhne waren nicht in gleichem Maße
244
fähig, für Frieden und Gerechtigkeit zu
sorgen.
"Wir grüßen dich, lieber Vetter",
sagte Heinrich der Jüngere.
Auch Ludolf entbot einen Gruß. Das
Lächeln allerdings geriet ein wenig
verzerrt. Der Weg zur Burg des
ehemaligen Erzfeindes war den beiden
nicht leicht gefallen. Umso mehr fragte
sich Heinrich der Bogener, was sie wohl
dazu getrieben haben mochte.
"Ihr seid mir willkommen! Was kann
ich für euch tun?"
"Das ist mit drei Worten nicht gesagt.
Wir sind müde vom Reiten."
Der Graf von Wildeshausen führte
die beiden persönlich in ein schönes
Zimmer im Palas und ließ sie dann
allein.
Am nächsten Tag fanden die
Verhandlungen statt. Die Stimmung war
am Anfang naturgemäß gespannt, löste
sich aber im weiteren Verlauf
allmählich. Die Farben des Sommers,
die lustigen Lieder, die ein paar
Musikanten
in
Schellenkostümen
vorspielten, und (nicht zuletzt) ein paar
Becher Wein hellten die düsteren
Mienen der Brüder aus Bruchhausen
auf. Sie begannen, von ihren
Erlebnissen während des Kreuzzugs zu
berichten und fanden willige Zuhörer.
Heinrich der Bogener hatte die sechs
einflussreichsten
Ritter
seiner
Grafschaft als Zeugen aufgeboten.
Außerdem saßen von seiner Seite her
noch der Burgvogt und weitere drei
Hofbeamten mit an der Tafel. Die
Gruppe der Gäste bestand aus insgesamt
sieben Personen.
Freilich brachte dieses Gelage wenig
im Hinblick auf das Ziel der
Verhandlungen. Über die wichtigen
Dinge mochten die drei maßgeblichen
Männer nur untereinander hinter verschlossenen Türen reden. Dabei zeigte
sich dann, dass die Feindschaft der
Väter in den Söhnen fortlebte. Immer
wieder drohten die Gespräche zu
scheitern. Nur die persönliche Achtung,
welche
die
beiden
Heinriche
voreinander hatten, glättete die Wogen
dann. Andererseits sprachen etliche
Vernunftgründe
für
ein
Zusammengehen der Betrogenen des
Kreuzzugs. Die Oldenburger waren
übermächtig geworden. Noch regierte
dort ein friedliebender Graf. Was aber
würde geschehen, wenn diesem ein
machtbesessener Mann von der Art des
im Kirchenbann gestorbenen Moritz
folgte?
Nach einer Woche wurde im
Rittersaal ein historischer Vertrag
abgeschlossen. Heinrich der Bogener
von Wildeshausen sowie die Brüder
Heinrich der Jüngere und Ludolf von
Bruchhausen
besiegelten
nichts
Geringeres als die Union, das heißt die
Verschmelzung
der
Grafschaften.
Schritt für Schritt sollten in der Zukunft
alle noch bestehenden Hindernisse und
Gegensätze abgebaut werden. Bewusst
offen gelassen war die Frage, wer das
am Ende dieses Weges entstandene
Gebilde regieren sollte. Schwarzseher
meinten, dass somit der Keim zum
Scheitern schon im Vertragstext selbst
enthalten sei.
Am Abend nach der Abreise der
Gäste traf sich Heinrich der Bogener
mit Agnes von Westerholt, und nach
langer Zeit tat er das wieder ohne ein
unterschwelliges Gefühl der Scham. Er
konnte immerhin von sich behaupten,
schon Monate zuvor den Vorschlag für
ein Bündnis unterbreitet zu haben. Nun
waren die seinerzeit so überheblichen
Bruchhausener
darauf
zurückgekommen, wohl nicht auf Knien aber
auch alles andere als triumphal.
Heinrich fühlte sich als Sieger. In der
Art, wie Agnes ihm entgegen kam,
spürte er, dass sie das genau so sah. Sie
konnte wieder stolz sein, zu ihm zu
gehören.
245
Ganz frei von abergläubischer Furcht
hatte ihn der Unionsvertrag aber nicht
werden lassen. Tief in seinem Unterbewusstsein blieb ein Stachel. Der ließ ihn
zum Beispiel zurückzucken, als Agnes
wieder einmal die Hochzeitsfrage berührte. Er war fest überzeugt, dadurch
die bösen Geister zurückzurufen. Andererseits konnte er auch nicht ablehnen,
ohne sein Gesicht zu verlieren. Er wand
sich lange und flüchtete sich schließlich
in Halbheiten. Die Verlobung sagte er
zu und bekannte sich auch wirklich
zwei
Wochen
später
in
aller
Öffentlichkeit zu der Ritterstochter. Die
eigentliche Hochzeit hingegen schob er
hinaus mit der Behauptung, es fehle
vorläufig an Mitteln, um sie standesgemäß feiern zu können.
III
R
amira saß etwa abseits des
Weges auf einem Stein und
starrten den Bauern nach, die
mit ihren geschulterten Arbeitsgeräten
zu ihren Feldern gingen. Gegen die
Sonne wirkten sie schwarz und
erinnerten an Schattenrisse. Die junge
Gauklerin fühlte in sich eine
vollkommene Leere. Sie hatte Hunger,
konnte sich aber nicht entschließen,
nach Essen Ausschau zu halten. Das
wäre ohnehin nur auf Betteln hinaus
gelaufen. Sie hatte in ihrem Leben
schon oft gebettelt. In einer großen
Stadt wie Köln war das freilich eine
andere Sache. Dort gab es viele Bettler und viele reiche Leute, die durch
Almosengeben ihr schlechtes Gewissen
beruhigten. In einem Dorf dagegen
hatten Bettler nichts verloren. Dort
durfte nur essen, wer auch arbeitete,
ausgenommen ganz kleine Kinder, sehr
alte Leute und sehr kranke Menschen.
Ramira kam mit den bäuerlichen
Arbeiten nicht zurecht und war zu stolz,
sich
bei
den
Kindern
und
Schwachsinnigen einordnen zu lassen.
Lieber hungerte sie. Auch das hatte sie
gelernt.
Christian war zwar auch nicht der
Geschickteste, biss sich aber leidlich
durch. Es hätte ihn nicht gestört, den
Lohn mit seiner Freundin zu teilen. Sie
wehrte sich aber verbissen dagegen und
allmählich musste er sich um sie sorgen.
Sie, die ohnehin zierlich war, magerte
noch weiter ab und bekam ein spitzes
Gesicht, aus dem die klarblauen Augen
stechend wie bei einem religiösen
Fanatiker heraus schauten. Christian
argwöhnte, dass sie den Tod nicht mehr
fürchtete, dass sie schon halb
entschlossen war, ihrer Freundin
Franziska in die andere Welt zu folgen.
Als er sie dort auf dem Stein sitzen
sah, verließ er kurz entschlossen die
Schlange der Bauern und ging zu ihr.
"So kann das nicht weiter gehen",
sagte er, mehr zu sich selbst.
Auf ein Gespräch konnte er nicht
hoffen. Ramira antwortete seit einigen
Tagen nur noch einsilbig und wirkte
abwesend dabei. Ihm blieb nur, einen
Monolog zu halten.
"Du willst dem allen ein Ende
machen und vielleicht hast du es ja
schon bald geschafft. Danach kommst
du sicherlich ins Paradies. Jesus liebt
die Leidenden und du musstest im
Leben genug ertragen. Aber weißt du
auch, dass ich allein deinetwegen die
Frauen nicht mehr hasse? Durch dich
bin ich ein anderer Mensch geworden.
Da gibt es plötzlich Träume und Pläne,
auf die ich vor ein paar Jahren bestimmt
nicht gekommen wäre. Du hast mich
manchmal ziemlich ungerecht behandelt. Aber ich habe es mir gefallen
246
lassen. Findest du das nicht auch
irgendwie sonderbar? Nun ja, ich bin
ganz verrückt vor Angst, dich zu
verlieren. Ich brauche dich."
Er seufzte und ließ sich rücklings ins
Gras fallen.
"Vielleicht bin ich selbstsüchtig. Ich
darf nicht über dich und dein Leben
bestimmen. Aber ich will trotzdem, dass
du weißt, was du da anrichtest."
Er konnte nicht sehen, wie Ramira
leicht zu zittern begann und wie sich
(was selten bei ihr vorkam) ihre Augen
mit Tränen füllten.
"Warum ist das nur alles so schwer",
flüsterte sie nach einer Weile.
Da fasste er sich ein Herz und nahm
sie fest in die Arme.
"Wir gehen weg aus Friesland. Wir
gehen irgendwohin, wo es dir besser
gefällt. Willst du das?"
Er spürte, wie sie nickte. Sie warteten
allerdings noch eine Woche, damit sie
ihren Hungerstreik aufgeben und wieder
zu Kräften kommen konnte. Außerdem
blieb ihnen dadurch Zeit, über ein
halbwegs sinnvolles Ziel nachzudenken.
Sie
entschieden
sich
für
die
Wardenburg. Dort wollten sie zwar
nicht bleiben, dort war ihnen aber eine
Unterkunft sicher. Und sie würden
Neuigkeiten erfahren. Wohin konnten
sie sich gefahrlos wenden? Wüteten die
Inquisitionsgerichte
noch
immer?
Schließlich gab es da eine traurige
Pflicht zu erfüllen. Der Ritter und seine
Frau wussten wahrscheinlich noch
nichts vom Tod ihrer Tochter.
Auf der Wiese vor der Zugbrücke
betreute Pentia gerade die kleine
Beatrice und ein paar andere Kinder.
Sie war sehr erfinderisch bei den
Spielen und die Kleinen dankten es ihr,
indem sie vor Vergnügen kreischten. So
dauerte es einige Zeit, bis jemand
Christian und Ramira überhaupt
bemerkte.
"He! Kennst du uns nicht mehr?"
Pentia blickte sich um und stutzte.
Dann fiel sie den Freunden stürmisch
um den Hals.
"Als ich von diesen schrecklichen
Schlachten hörte, hatte ich keine
Hoffnung mehr, euch jemals wieder zu
sehen. Und nun seid ihr da! Ich sage
Vater Bescheid, damit er euch willkommen heißt. Gebt für mich auf die
Kinder Acht!"
Christian und Ramira fanden keine
Gelegenheit, sie auf die schlimme
Botschaft vorzubereiten. Auch später,
als Wilhelm und Martha kamen und die
Gäste in den Wohnturm einluden,
mochten sie die Stimmung nicht
zerstören. Schließlich aber mussten sie
dann doch die Wahrheit sagen, denn
natürlich wollten die beiden vor allem
hören, wie es ihrer Tochter ergangen
war.
Christian sah Ramira an und fragte
wortlos, ob sie wirklich alles erzählen
sollten. Sie bat ihn (ebenso wortlos),
nicht zu beschönigen, denn sicher hätten
die aufmerksamen Eltern ihre frommen
Lügen durchschaut. So berichtete er
also, wie die Reiter plötzlich
aufgetaucht waren und wie er
gemeinsam mit seiner Freundin
versucht hatte, die verstörte Franziska
hinter einen umgestürzten Baum in
Sicherheit zu bringen.
"Leider entdeckte uns einer von
ihnen. Alles ging so schnell..."
Wilhelm fiel das Sprechen schwer.
Dennoch sagte er:
"Ihr braucht euch nicht zu
entschuldigen. Es war nicht eure
Schuld. Hatte sie wenigstens ... einen
leichten Tod?"
"Ich denke, sie begriff gar nicht recht,
was geschah", antwortete Ramira. "Das
Schwert traf sie am Kopf. Sie fiel um
und bewegte sich nicht mehr. Ich beugte
mich noch über sie, sah mir die Wunde
an."
247
"Sie schrie immer wieder 'Wach auf!
Wach auf!'", ergänzte Christian. "Aber
das Herz schlug nicht mehr."
"So ist sie also auf dem Schlachtfeld
geblieben?" fragte Wilhelm.
Das
junge
Mädchen
starrte
beklommen vor sich auf den Fußboden.
"Wir konnten ihr doch nicht mehr
helfen. Ich habe noch für sie gebetet.
Leider wollte der Allmächtige kein
Wunder für uns tun."
"Ich zerrte Ramira mit Gewalt bis zu
einem leeren Stall", beendete Christian
den Bericht. "Ich wollte sie nicht auch
noch verlieren."
Wilhelm beruhigte die beiden
abermals:
"Ich werfe euch nichts vor."
Er meinte das durchaus ehrlich.
Allerdings war er von der Nachricht so
erschüttert, dass er sich zurückzog und
erst am nächsten Tag wieder sehen ließ.
Zwei Wochen lang fanden die
Flüchtlinge in der Wardenburg ein
Zuhause. Der Ritter und seine Frau
bestanden darauf, dass sie blieben.
Ramira fürchtete allerdings, bald wieder
in derselben demütigenden Lage zu sein
wie zuvor in Friesland. Deshalb kam
ihnen der erstaunliche Bericht eines
wandernden Kaufmanns gerade recht.
Seiner Darstellung nach gab es in
Bremen
einen
Mangel
an
Arbeitskräften. Die Bremer hatten sich
(in der trügerischen Hoffnung auf
reichen Lohn) mit vielen Freiwilligen
an den Kreuzzügen gegen die Stedinger
beteiligt. Weil es ihnen aber an
Geschick, guten Waffen und Rüstungen
mangelte, waren ungewöhnlich viele
von ihnen aus den blutigen Schlachten
nicht zurückgekehrt.
"Die Meister suchen händeringend
nach jungen Leuten, die ihnen zur Hand
gehen."
"Aber ein paar Fragen nach der
Vergangenheit werden sie doch wohl
trotzdem stellen?" warf Christian
misstrauisch ein.
"Sie werden sich hüten!" Der
Kaufmann lachte. "Ganz im Vertrauen:
Nach fünf verrückten Jahren hat in
Bremen jeder irgendwie Dreck am
Stecken. Die einen haben mit dem
Stadtherrn
finstere
Geschäfte
abgeschlossen, die anderen gegen ihn
Verschwörungen angezettelt. Die einen
haben ihre Nachbarn für eine fremde
Angelegenheit in den Tod gehetzt, die
anderen heimlich mit den Bauern
verhandelt. Wer kennt sich da noch aus?
Damit nicht alles zu Grunde geht, haben
sich die Bürger stillschweigend auf eine
Übereinkunft geeinigt: Niemand fragt
nach der Vergangenheit."
Christian war aber noch immer nicht
gänzlich beruhigt.
"Die Meister wollen Gesellen, die das
Handwerk
schon
einigermaßen
beherrschen."
"Wenn sie solche kriegen. Die
meisten sind bescheiden geworden. Wer
nicht gerade zwei linke Hände hat, lässt
sich immerhin ausbilden."
"Wir
sollten
es
wenigstens
versuchen", mischte Ramira sich ein.
Irgendetwas musste sie schließlich
tun, um ihren Lebensunterhalt zu
verdienen, und da erschien ihr die große
Stadt immer noch mehr Möglichkeiten
bereit zu halten als ein Dorf oder eine
abgelegene Burg. Christian ließ sich
leicht umstimmen. Am nächsten Tag
saßen die beiden schon auf dem Wagen
des Kaufmanns auf dem Wege nach
Bremen.
IV
248
E
iner der ersten Menschen, den
Christan bei seiner Rückkehr in
die Heimatstadt traf, war
Andreas, der Gesinnungsgenosse aus
den romantischen Tagen unbedarfter
Rebellion. Er ging erstaunlich gut
gekleidet und versuchte zunächst, die
Begegnung zu vermeiden. Sein Pech
war, dass ihm der Wagen des
Kaufmanns den Rückzug versperrte.
Nun stellte er lärmende Freude zur
Schau.
"Sei gegrüßt, du Herumtreiber!" rief
er. "Du hast dir eine gute Zeit fürs
Heimkehren ausgesucht."
Dabei bemühte er sich, den Anhänger
einer Halskette zu verbergen - bis ihm
klar wurde, dass er sich lächerlich
machte. Er gab den Anhänger frei,
während auf seinem Gesicht ein Ausdruck
herausfordernden
Trotzes
erschien. 'Sieh mal an!' dachte Christian
bei sich. 'Da hat also jemand das Lager
gewechselt!' Wirklich überrascht war er
eigentlich nicht darüber, den einstigen
Gefolgsmann Gottfrieds nun als einen
Beamten des Erzbischofs anzutreffen.
Er hatte Andreas schon immer als
Duckmäuser angesehen, als völlig
unzuverlässigen Gesellen ohne eigene
Meinung und ohne Gewissen. Es war
nur folgerichtig, dass er nun dem Sieger
des Kreuzzugs zu Munde redete. Aus
Boshaftigkeit stellte Christian sich aber
dumm und erkundigte sich mit feinem
Lächeln:
"Wie geht es Gottfried? Du kommst
doch sicherlich noch ab und an mit ihm
zusammen."
Andreas lief rot an. Um nicht sein
Gesicht zu verlieren, musste er sich auf
das Spiel einlassen.
"Ich denke, er hat keinen Grund, sich
zu beklagen. Letztlich bekommt jeder,
was er verdient. Natürlich laufen in
dieser schlechten Zeit auch bei ihm die
Geschäfte nicht mehr so gut. Seit dem
Kreuzzug muss er die Arbeit in der
Kanzlei allein erledigen. Das ist wohl
ein bisschen zuviel für ihn."
Endlich war der Kaufmannswagen
beiseite gerollt und er konnte sich
verabschieden. Christian nahm sich vor,
ihn bei der nächsten Begegnung einfach
zu übersehen. Viel mehr als dieser
schäbige Verräter beschäftigte ihn die
Bemerkung über Gottfried. Das war
nichts weniger als ein Fingerzeig
Gottes. Leider hatte sich Christian
seinerzeit auf eine nicht eben anständige
Weise davongeschlichen. Konnte er nun
einfach dort wieder auftauchen und tun,
als wäre nichts gewesen? Es fiel ihm
schwer, zu Kreuze zu kriechen. Für
Ramira aber rang er sich dazu durch.
Auch Gottfried hatte sich in den
zurückliegenden Monaten verändert,
freilich in anderer Weise als Andreas.
Ruhig und bedächtig war er auch früher
schon gewesen. Nunmehr aber drückte
sich
darin
nicht
mehr
die
Siegessicherheit eines von Erfolgen
verwöhnten Menschen aus sondern die
Weisheit
eines
von
schweren
Niederlagen gezeichneten. Dabei ließen
sich seine Verletzungen nicht genau
benennen. Dass er dem Rat nicht mehr
angehörte, bezeichnete er selbst als
Segen. Angesichts der Demütigungen,
die er hatte hinnehmen müssen, glaubte
ihm Christian das aufs Wort. Auch die
Geschäfte liefen nicht so schlecht wie
von Andreas angedeutet. Dank zäher
Arbeit brauchte er keinen Ruin zu
befürchten. Es war wohl vor allem der
Verrat, der ihn verbitterte. Nicht nur
Andreas hatte ihm den Rücken gekehrt,
als sich der Sieg des Erzbischofs abzeichnete. Und der hatte es nicht einmal
in der schäbigsten Art getan. Seit
Gottfried wusste, wie niederträchtig
Menschen sein können, fiel es ihm
schwer, überhaupt noch jemandem zu
vertrauen. Andererseits kannte er nun
den Wert der Schwärmer, mit denen
sich kaum große Siege erringen ließen,
die oft unbequem waren, die aber auch
in schlechten Zeiten nicht umfielen.
Christian wurde völlig anders
empfangen, als er erwartete hatte. Er
fand keine Gelegenheit, die vorher zu
Recht
gelegten
Entschuldigungen
vorzubringen. Gottfried bestand darauf,
dass er eine Schuld abtragen müsse.
Großzügig bot er den beiden seine Hilfe
an, damit sie in Bremen Fuß fassen
konnten. Dabei bestätigte er im
Wesentlichen, was der Kaufmann
gesagt hatte. Es gab genügend Arbeit in
der Stadt, sogar für ein junges Mädchen
wie Ramira, das noch nie mit einem
Handwerk in Berührung gekommen
war. Christian jedoch merkte, dass er sie
gern selbst behalten wollte und sagte:
"Warum sollen wir uns woanders
umschauen, wenn wir hier bei dir
gebraucht werden?"
Da lächelte Gottfried und holte einen
Krug guten Wein, um auf das
Wiedersehen anzustoßen.
Christian konnte Lesen, Schreiben
und Rechnen. Er hatte es seinerzeit
geradezu heimlich gelernt, aus Trotz
gegen
seinen
Stiefvater,
den
ungebildeten Tischlermeister. Für seine
Arbeit in der Kanzlei brauchte er dieses
Wissen nur wieder zu beleben. Er
spürte, wie er sich von Tag zu Tag
besser zu Recht fand, und war guter
Dinge.
Ramira hätte Gottfrieds Frau im Haus
unterstützen können. Das lehnte sie aber
ab. Noch hegte sie die Hoffnung, in der
Stadt etwas Besseres zu finden.
Möglichkeiten, den Lebensunterhalt zu
verdienen, gab es tatsächlich genug. Zu
ihrem Leidwesen war jedoch nichts
dabei, was ihr wirklich zusagte. Überall
hätte sie sich auf die unterste Sprosse
einer langen Stufenleiter verweisen
lassen müssen. Als sie nun eines Tages
wieder einmal schwer enttäuscht
heimkehrte, kam Christian auf einen
Ausweg.
"Du bist ein kluges Mädchen. Ich
könnte dich in die Kanzleiarbeit
einweisen. Wenn die Geschäfte wieder
bessere gehen, sind hier zwei Leute gut
beschäftigt."
Sie stutzte und war sich einen
Moment lang nicht sicher, ob er sich
vielleicht einen Scherz mit ihr erlaubte.
"Ich meine das ernst", versicherte er
jedoch. "Wenn du einverstanden bist,
rede ich gleich morgen mit Gottfried."
Auch der Kaufherr wusste zunächst
nicht, ob er lachen oder nachdenken
sollte. Irgendwie fand er den Vorschlag
abwegig. Zwar gab es etliche Frauen in
Bremen, die sich mit der Buchhaltung
auskannten,
doch
das
waren
Bürgerstöchter
mit
einer
entsprechenden Erziehung von Kindheit
an, keine Gauklerinnen. Er traute
Ramira einfach nicht zu, die Kunst des
Lesens je zu erlernen, vom Schreiben
und Rechnen erst gar nicht zu reden.
Andererseits wollte er nicht im Wege
stehen und so gab er mit mildem
Lächeln seine Zustimmung.
Natürlich war sich auch Christian
seiner Sache nicht sicher. Insgeheim
fürchtete er, seine Schülerin würde nicht
recht vorankommen und ihm dann
Vorwürfe machen. Doch Ramira
widerlegte
alle
Vorurteile.
Sie
entwickelte gewaltigen Ehrgeiz und
erwies sich als begabt. Christian musste
sich eingestehen, vor Jahren nicht so
rasch begriffen zu haben. Der Unterricht
war für beide bald mehr Vergnügen als
Anstrengung. Das Lesen übten sie
anhand eines derb-lustigen Büchleins,
das vergessen in den Tiefen eines
Schubkastens herumlag.
Ohne, dass sie sich dessen bewusst
wurden, kamen sie einander immer
näher, nicht nur gefühlsmäßig sondern
auch körperlich. Wenn er ihr beim
Entziffern eines schwierigen Wortes
half und sich zu ihr herüber beugte,
spürte er ihren Atem auf der Wange.
250
Das Buch trieb sie einander in die Arme
und diente gleichzeitig als Ausrede. Das
Schreiben übte sie häufig allein. Zeigte
er ihr aber etwas Neues, ließ sie sich
auch mal von ihm die Hand führen.
Übrigens fühlte sie sich dabei niemals
bevormundet.
Die
unverhoffte
Möglichkeit, in die geheime Kunst der
Reichen einzudringen, hatte sie sichtlich
besänftigt. Sie war Christian dankbar
und bereute im Stillen ihre Angriffslust
in den zurückliegenden Monaten.
Die Kanzlei lag im Haus ein wenig
abseits. Jemand, der Ruhe brauchte, um
schwierige Berechnungen anzustellen,
hatte
dort
einen
vorzüglichen
Arbeitsplatz. Für Christian und Ramira
war er zugleich ein verschwiegener
Winkel. Gottfried kam nur zu
bestimmten Zeiten zu ihnen. Zudem
verriet ihn rechtzeitig eine knarrende
Treppe. Keiner von beiden bedrängte
den anderen. In ihrem Unterbewusstsein
war noch immer viel an Bedenken übrig
geblieben. Ihr Verstand hätte sich
vermutlich
niemals
für
ein
Zusammengehen entschieden. In einem
besonderen Moment aber regierten ganz
andere Kräfte in ihnen.
Als er ihr wieder einmal die Hand
beim Schreiben führte, berührte er
ungewollt ihre Brust. Dabei riss sich in
ihm etwas los. Sein Herz begann wie
wild zu schlagen. Er starrte Ramira mit
großen runden Augen an, sich jäh
wieder erinnernd, dass sie ein Mädchen
war - mit allem, was zu einem Mädchen
gehörte. Eine Kleinigkeit hätte den
Augenblick ohne Folgen vorübergehen
lassen, ein erschrockener Blick, eine
Abwehrbewegung. Es wäre leicht
gewesen, ihn abzukühlen. Und umgekehrt bildete sie sich bis zuletzt ein,
die Liebe nicht wirklich zu wollen.
Tatsächlich aber ließ sie bereitwillig zu,
was geschah. Er streifte ihr hastig die
Kleider über den Kopf und nahm sie auf
dem Fußboden.
Sicherlich hatten sich Paare schon
kunstvoller und vergnüglicher vereinigt
als Christian und Ramira an jenem
Nachmittag in der Kanzlei. Doch mit
dem einen mal war ein Bann gebrochen.
Von nun an küssten und umarmten sie
einander mit der Selbstverständlichkeit
Langverliebter. Es stand keine abergläubische Scheu mehr zwischen ihnen.
Sobald sie sich vor Störungen sicher
wähnten, entkleideten sie sich, um sich
zu liebkosen. Besonders reizvoll fanden
sie es, völlig nackt ein paar Seiten zu
lesen.
Ab wann Gottfried wusste, was sich
in seiner Abwesenheit in der Kanzlei
abspielte, blieb unklar. Vielleicht
verdächtigte er die beiden schon zu
einer Zeit, als sie dort noch keusch
nebeneinander lernten und arbeiteten.
Eines Tages jedenfalls konnte er beim
besten Willen nicht mehr die Augen
verschließen. Er fürchtete, ins Gerede
zu kommen, und bestellte das Pärchen
zu sich.
"So kann das nicht bleiben", sagte er
ungewohnt streng. "Entweder ihr trennt
euch zu dieser Stunde - oder ihr heiratet."
Sie blickten ein wenig erschrocken
drein. Über eine Hochzeit hatten sie
noch nicht nachgedacht. Aber sie
mussten Gottfried Recht geben. In
einem Handelshaus dürfen keine losen
Sitten einreißen. Die Geschäftspartner
argwöhnen sonst, man gehe dort auch
mit dem Geld leichtfertig um.
"Wir werden heiraten", erwiderten
beide fast gleichzeitig.
V
251
I
n
der
Wardenburg
zog
unterdessen wieder der Alltag ein.
Wilhelm und Martha trauerten um
ihre mittlere Tochter, doch sie redeten
nicht darüber. Wozu auch? Lautes Klagen und Jammern war doch im Grunde
nur eine Art Eitelkeit. Mochten andere
sich vor aller Welt mit geheuchelter
Elternliebe brüsten! Zudem versündigt
sich, wer nur an das Schlechte denkt
und Gottes Wohltaten übersieht.
Wilhelm und Martha hatten in den
Monaten des Krieges auch etwas
gewonnen - ihr erstes Enkelkind.
Beatrice war noch immer sehr auf
ihre Tante geprägt, kam aber allmählich
in ein Alter, wo sie von selbst mutiger
und auch vernünftiger wurde. Neugierig
wagte sie sich immer öfter, immer
länger und immer weiter von Pentia
weg. Mit einer gewissen Vorsicht
versuchte sie auch, erste Freundschaften
mit Kindern ähnlichen Alters zu
schließen. Von den Erwachsenen fasste
sie vor allem zu den Großeltern
Vertrauen. Sowohl Wilhelm als auch
Martha hatten jene Ruhe und Ausgeglichenheit, welche kleinen Kindern die
Scheu zu nehmen pflegt.
Trotz aller Empfindsamkeit besaß
Beatrice auch Durchsetzungsvermögen.
Sie begriff, dass sie als besonders
niedlich galt und mit einer bestimmten
Art zu lächeln eine Menge erreichen
konnte. Insofern trug sie auch ein paar
Züge ihrer zweiten Tante Agnes. Was
aus ihr einmal werden, wie sie sich
entwickeln würde, das wagte niemand
vorherzusagen. Wilhelm bemerkte
einmal:
"Es ist wohl Schicksal, dass meine
Nachkommen alle ein wenig verdreht
sind."
So neigte sich der August des Jahres
1234 dem Ende entgegen. Zu dieser
Jahreszeit gab es viel Arbeit auf den
Feldern. Auch Wilhelm stand auf, noch
ehe die Sonne am Horizont erschien.
Wenn er heimkehrte, kurz vor Einbruch
der Dunkelheit, war er müde und
erschöpft. Deshalb schenkte er dem Benediktiner, der ihm auf dem Burghof
begegnete, keine Beachtung (obwohl es
selten vorkam, dass sich in diese
Gegend ein Mönch verirrte). Was er
auch begehrte, es sollten sich diesmal
andere darum kümmern! Doch der
Geistliche ließ sich nicht abschütteln.
Kurz vor der Tür zum Turm holte er ihn
ein, vertrat ihm den Weg und schlug mit
einem Ruck die Kapuze zurück.
"Nein! Das kann nicht sein." Er trat
erschrocken zwei Schritte zurück. "Ich
bin zu lange in der Sonne gewesen."
"Ich dachte, Ihr freut Euch, Vater."
"Ja ... aber ... Wie kommt es, dass du
noch am Leben bist? Zwei deiner
Freunde haben berichtet, du seiest tot.
So etwas sagte doch niemand zum
Spaß!"
"Ihr meint Christian und Ramira. Sie
haben im Grunde nicht gelogen."
"Das verstehe ich nicht."
"Ich muss Euch eine sonderbare
Geschichte erzählen, Vater, eine, die Ihr
mir vielleicht gar nicht glauben werdet.
Aber das will ich nicht hier unten auf
dem Hof tun."
Wilhelm
hatte
sich
wieder
einigermaßen gefasst und führte
Franziska
hinauf
in
die
Burgherrenwohnung. Da Martha sich
noch im Wirtschaftshof aufhielt, war er
mit seiner Tochter allein.
"Wie also kannst du für deine
Freunde tot gewesen sein, wenn du
doch in Wahrheit jetzt vor mir sitzt?"
Franziska suchte nach einem Anfang
und spielte verlegen mit dem Seil der
Kutte, mit der sie sich tarnte.
"Vielleicht sollte ich Euch damit gar
nicht behelligen ..."
"Ich hatte für immer von dir
Abschied genommen. Was soll mich
jetzt noch erschüttern?"
"Ich habe alles gesehen. Ich lag auf
der Erde, über meine Stirn rann Blut.
Ramira beugte sich über mich und
versuchte, mir zu helfen. Als ich
trotzdem nicht wieder zu mir kam,
schrie sie: 'Wach auf! Wach auf!' Ich
wollte sie beruhigen, wollte ihr sagen,
dass sie sich um sich selbst kümmern
soll, da es mir doch gut ging. Aber sie
verstand mich nicht."
Franziska wurde sichtlich erregt. Ihr
Vater indes fand ihre Rede so
widersprüchlich, dass er um ihren
Verstand fürchtete. Trotzdem hörte er
weiter aufmerksam zu. Eigenartiger
Weise sagte sie haargenau dasselbe wie
zuvor Christian und Ramira. Woher
wusste sie das alles? Franziska fuhr fort:
"Christian legte mir später sein Ohr
an die Brust, um zu hören, ob mein
Herz noch schlägt. Ramira kniete mitten
auf dem Feld nieder, um für mich zu
beten. Welch ein Leichtsinn! Das hätte
ihr das Leben kosten können! Dann
endlich haben sie sich in diesen Stall
gerettet."
Franziska rang nach Atem, so sehr litt
sie noch im Nachhinein unter dem
dramatischen Geschehen. Für Wilhelm
aber gab es keinen Zweifel mehr, dass
sie wirklich Bescheid wusste. Allein,
wie das möglich war, das konnte er sich
noch immer nicht vorstellen.
"Du lagst mit geschlossenen Augen
auf der Erde und dein Herz schlug nicht
mehr. Trotzdem hast du alles gesehen?"
"Ich wünschte, ich könnte Euch eine
einleuchtende Erklärung dafür geben,
Vater, aber leider bin ich selber ratlos.
Ich schwebte über meinem eigenen
Leib. Gewissermaßen hatte ich einen ...
neuen Körper." Sie suchte nach Worten.
"Dieser Körper war eigenartig ... Ich
hatte keine richtigen Hände mehr, keine
Hände zum Zufassen. Das merkte ich,
als
ich
Ramira
hinter
diesen
Baumstamm ziehen wollte. Es ging
nicht. Ich griff durch sie hindurch."
"Das muss schrecklich gewesen
sein!"
"Nein, nein! Ich war unsagbar
glücklich.
Trotz
der
schweren
Verletzungen
fühlte
ich
keinen
Schmerz."
"Und was geschah dann? Wann bist
du in deinen richtigen Körper ...
zurückgekehrt?"
"Erst später. Nachdem sich Christian
und Ramira gerettet hatten, geriet ich in
einen Sturm, der mich in einen riesigen
Schlauch hinein zog." Misstrauisch
blickte sie kurz zu ihrem Vater auf, ob
der ihr noch zuhörte. Sie mutete ihm
immerhin eine Menge zu. "Ich kam in
ein Land aus einem wunderbaren Licht
und sah viele Leute, die ich kannte,
auch meinen Bruder Arnold ... und
Raimund, einen Freund aus Köln." Sie
wurde wieder ganz aufgeregt. Das
Erlebnis packte sie mit aller Macht. "Ich
konnte mich mit ihnen verständigen,
ohne zu reden. Und ich sah auch so ein
... Wesen, das mich durch mein Leben
führte. Das heißt: Mir passierten
bestimmte Sachen noch einmal und ich
spürte dabei zugleich, was die anderen
fühlten." Für einen Moment grub sich
eine Falte in ihre Stirn. Es war ihr
unangenehm, mehr darüber zu erzählen.
Deshalb sagte sie lediglich: "Ich weiß
jetzt, dass ich vieles anders machen
muss."
"Du hast mit Jesus Christus
gesprochen?" fragte Wilhelm erschrocken.
Franziska hob unsicher die Schultern.
"Ich weiß nicht, wer das war. Er sagte
seinen Namen nicht. Und er drohte mir
auch nicht mit der Hölle, sondern führte
mir das alles einfach nur vor, ohne ein
Wort. Ich will mich nicht deshalb
ändern, weil ich Angst habe, sondern
weil ich mich schäme. Eigentlich
fürchte ich mich überhaupt vor nichts
mehr - nicht vor dem Sterben, nicht vor
den Menschen, nicht einmal vor dem
253
Elend. Ich weiß ja, dass ich am Ende
meines Lebens in dieses wunderschöne
Land komme."
Franziska war in ihren Gefühlen hin
und her gerissen. Wenn sie sich in die
Lage ihres Vaters versetzte, erschien ihr
der Bericht albern und unglaubwürdig.
Er ähnelte nicht einmal den frommen
Heiligenlegenden. Vielleicht hätte sie
ihn für sich behalten sollen, um nicht
übergeschnappt zu wirken. Doch genau
das konnte sie nicht. Sie mussten
jemandem von ihrem Erlebnis erzählen,
sogar auf die Gefahr hin, nicht ernst
genommen zu werden. Das Erlebnis
hatte ihr Leben schlagartig von Grund
auf verändert. Und es war wirklich,
auch wenn es sich nicht vernünftig
erklären ließ.
"Und warum bist du nicht dort
geblieben?"
Franziska zuckte zusammen. Ach, ja sie war noch nicht am Ende ihrer
Geschichte.
"Ich wollte nicht, wegen Arnold und
Raimund. Wir konnten dort oben, wie
gesagt, nicht richtig miteinander
sprechen. Ich fühlte aber, dass sie mich
zurück schickten. Sie selbst haben
seinerzeit vieles unerledigt gelassen und
bereuen ihren Tod deshalb. Sie meinten,
dass ich auf der Erde noch gebraucht
werde. So flog ich dann eben durch den
Schlauch hindurch zu meinem richtigen
Körper zurück. Ich schlug die Augen
auf und sah mich auf diesem Feld
liegen."
Sie holte tief Luft. Alles Weitere
konnte sie berichten, ohne die Zweifel
ihres Vaters befürchten zu müssen.
"Die Reiter waren fort, aber der Kopf
tat mir furchtbar weh und ich musste
mich ständig erbrechen. Zum Glück bin
ich zäh wie eine Katze. Ich schleppte
mich vorwärts, immer weiter. Ein
Zeitgefühl hatte ich nicht mehr. In
einem verlassenen Bauernhaus fand ich
Brot und Käse. Einmal gab mir jemand
Wasser. Fragt mich nicht, wie ich zu
unserer Waldhütte-Burg kam! Am Ende
war ich jedenfalls dort. Ich hoffte, ein
paar Gefährten zu finden, aber leider
traf ich niemanden an. Allerdings
konnte ich mich ein paar Wochen lang
erholen. Es gab alles, was ich zum
Leben brauchte."
Wilhelm schwieg lange. Was seine
Tochter ihm da alles erzählt hatte,
überstieg sein Vorstellungsvermögen.
Letztlich begriff er nur, dass sie auf
wunderbare Weise aus einer sehr
großen Gefahr gerettet worden war.
Dafür dankte er Gott in einem stillen
Gebet. Um überhaupt etwas zu sagen,
erkundigte
er
sich
nach
der
ungewöhnlichen Verkleidung.
"Ich wusste nicht, dass die
Kreuzfahrer
schon
wieder
verschwunden sind, und dachte, dass sie
einen Geistlichen nicht behelligen
würden. Die Kutte fand ich in der
Waldhütte-Burg. Sie stammt wohl aus
einem von den Stedingern überfallenen
Kloster."
Der Ritter sah sie scharf an.
"Hast du einen besonderen Grund,
dich zu verstecken?"
"Ich war Fähnleinführer..."
Er bereute bereits seine Worte.
"Ich verstehe. Sie haben die Leute im
Dutzend auf den Scheiterhaufen
gebracht, ohne nach ihrer Schuld zu
fragen."
Franziska ahnte, was ihrem Vater
durch den Kopf ging. Er suchte nach
dem besten Weg, sie zu beschützen. Sie
hatte aber längst eine Entscheidung
getroffen, die ihm diese Last abnahm.
"Ich weiß nicht, ob mich jemand
behelligen wird, aber ich möchte auf
keinen Fall, dass die Familie unter dem
leidet, was ich allein verantworten
muss. Nur für ein paar Tage möchte ich
in der Burg bleiben. Dann ziehe ich
weiter."
254
"Das erlaube ich dir nicht!" brauste
Wilhelm auf.
Franziska lächelte geheimnisvoll.
"Dieses eine Mal muss ich Euch
widersprechen, Vater."
"Wohin willst du denn gehen?"
"Um ehrlich zu sein: Ich weiß es
selbst noch nicht. Ich weiß aber, dass
meine Wanderung letztlich ein Ziel
haben wird."
"Du redest schon wieder so ...
sonderbar."
"Verzeiht mir, Vater!"
"Geh jetzt schlafen! In deinem
Zimmer im Herrenhaus wohnt jetzt
Pentia mit der Kleinen, aber ich denke,
dass auch für dich noch Platz ist."
Pentia und Martha ging es ähnlich
wie Wilhelm, als Franziska ihnen von
ihren Erlebnissen berichtete. Auch sie
konnten wenig damit anfangen und
hätten eine Wahnvorstellung auf Grund
der schweren Verletzung angenommen wenn da nicht jenes unerklärbare
Wissen über Christian und Ramira
gewesen wäre. Das schuf Momente
peinlichen Schweigens. Franziska aber
sammelte eine noch schmerzlichere
Erfahrung als dieses unterschwellige
Misstrauen.
Wenn sie sich mit ihrer Schwester
unterhielt (und das tat sie sehr häufig in
diesen Tagen) dann fühlte sie manchmal
unvermittelt einen langen, fragenden
Blick auf sich ruhen. Anfangs wunderte
sie sich einfach nur darüber und wollte
sich bei passender Gelegenheit danach
erkundigen. Später begriff sie, dass sie
sich wohl verändert hatte, und zwar so
sehr, dass die anderen damit nicht
umgehen konnten. Das wiederum
stimmte sie traurig. Sie erinnerte sich an
die Wochen der Genesung in der
Waldhütte-Burg. Wie oft hatte sie da
hellwach auf dem Stroh gelegen und
sich das Wiedersehen mit ihren
Angehörigen vorgestellt. Es gab da so
viel, was sie bereinigen wollte. Zum
Beispiel wusste sie nun, wie viel Schuld
sie selbst trug, dass Pentia der Kindheit
so langsam entwachsen war.
Niemand vermochte das Unbehagen
in Worte zu fassen. Franziska hatte sich
nicht zum Schlechten verändert. Sie war
verständnisvoller als früher. Manchmal
schien es, als könne sie sogar Gedanken
lesen. Und sie lehnte neuerdings jede
Form von Gewalt ab. Ihr Schwert, das
Geschenk des Stefanus aus Köln, hatte
sie in der Waldhütte-Burg geradezu
feierlich vergraben. Das alles war
lobenswert, aber es passte in den Augen
der anderen nicht zu ihr.
Nur einem einzigen Menschen schien
zu gefallen, was der Hieb des Ritters
aus ihr hatte werden lassen. Das war
Beatrice. Das übersensible kleine
Mädchen schien zu spüren, dass ihre
Mutter von einer Reise in eine
wunderbare Welt zurückgekehrt war.
Anstatt ihr scheu aus dem Wege zu
gehen, schlich sie sich wie unter einem
Bann immer wieder in ihre Nähe und
starrte sie aus großen runden Augen an.
Sie setzte sich auch zu ihr auf den
Schoß und schmiegte sich mit inbrünstigem Seufzen an. Doch gerade
das führte schließlich dazu, dass
Franziska ihren Aufbruch vorverlegte,
dass sie regelrecht flüchtete.
Es war nicht zu übersehen, wie sehr
Pentia unter dieser Versöhnung
zwischen Mutter und Tochter litt.
Höchstens eine Woche hätte noch
gefehlt bis zu einem ernsten Zerwürfnis
zwischen den Schwestern. Dabei wollte
Franziska nichts weniger, als ihr
wehtun. Sie musste fort. Das Schicksal
hatte sie gezwungen, ein neues Leben
zu beginnen, und das war offenbar nicht
möglich an den Orten des alten.
Beim Abschied versicherten alle, dass
sie ruhig noch eine Weile bleiben
könne. In einem Monat sei es immer
noch früh genug für die Wanderschaft.
Sie habe gewiss ihre Verletzung noch
255
nicht richtig auskuriert. Das schlechte
Gewissen regte sich. Doch Franziska
zerstreute alle Bedenken mit einer Art
zuversichtlichen Lächelns, das keinen
Widerspruch zuließ. Sie folgte einem
inneren Drang und es war sinnlos, sie
aufhalten zu wollen.
Bevor
sie
wirklich
aufbrach,
befriedigte sie aber noch ein kindliches
Bedürfnis. Sie wollte noch einmal den
alten Westerholthof sehen, auf den sich
unzählig viele ihrer Erinnerungen
bezogen. Dort war sie auch zur Welt
gekommen. Sie trug bereits ihre
Wanderkleidung - einen langen Mantel
aus derbem Stoff mit einer direkt am
Kragen fest genähten Kapuze, in
welchem sie sich notfalls ebenso
verbergen
konnte
wie
in
der
Mönchskutte. Sie hatte freilich nicht
erwartet, dass sie die wetterfeste
Kleidung während ihres kurzen
Umweges bereits brauchen würde.
Das Wetter in dieser Gegend war
manchmal launisch. Urplötzlich zogen
sich dicke Wolken zusammen und
türmten sich zu bleigrauen Blöcken,
gewaltigen Felstrümmern gleich. Aus
ihnen heraus ergoss sich der Regen in
solcher Menge über das weite, flache
Land, dass man meinen konnte, eine
neue Sintflut wolle Mensch und Tier
ersäufen. Doch wenn Franziska es sich
genau bedachte, konnte sie dem
Unwetter durchaus eine gute Seite
abgewinnen. Die karge Landschaft
zwischen den Sümpfen, ihre Heimat,
zeigte sich ihr als Abschiedsgruß von
ihrer typischen Seite. Fremde mochten
erschrecken vor den Sumpflöchern, in
denen
es
brodelte,
vor
den
tintenschwarzen Mooren, mochten
meinen, dies sei der Vorhof zur Hölle!
Die junge Ritterstochter klatschte in die
Hände vor Vergnügen. Und lediglich,
um sich nicht zu erkälten, zog sie sich
die Kapuze über den Kopf, bis nur noch
Mund, Nase und Augen zu sehen waren.
256
Nachtrag
Das Reich
I
n der Mitte des Jahres 1234 fand
in Boppard am Rhein eine
geheime Zusammenkunft mit weit
reichenden Folgen statt. Vielleicht
hätten die Beteiligten durch ausgewogene Entscheidungen der weiteren
Geschichte des staufischen Kaisergeschlechts und des Reiches einen
anderen Verlauf gegeben. König
Heinrich VII jedoch war finster entschlossen, die Auseinandersetzung mit
seinem Vater, Kaiser Friedrich II zu suchen. Es ist nicht mehr bekannt, wer im
Einzelnen seinerzeit erschien. Sicher
kamen die schwäbischen Ministerialen,
die den jungen, ungestümen Herrscher
schon
seit
Jahren
zu
immer
waghalsigeren Abenteuern drängten.
Sicher hatten einige Städte ihre
Abgesandten geschickt. Auch der
Wortlaut der Beschlüsse liegt im
Dunkeln. Waren Heinrich und die
Unversöhnlichen in seiner Umgebung
wirklich ermächtigt worden zu ihren
späteren Taten? Hatten gar kaiserliche
Agenten den König in eine Falle
gelockt?
Vom September an führte Heinrich
Verhandlungen mit den Todfeinden
seines Vaters, den Städten des
Lombardischen Bundes in Norditalien.
Er bemühte sich sogar um ein Zusammengehen mit Papst Gregor IX (worauf
dieser sich allerdings nicht einließ).
Friedrich trafen diese Feindseligkeiten
in
einem
ungünstigen Moment.
Kriegsmüde strebte er seit Monaten eine
friedliche
Beilegung
der
Lombardenfrage an. Die unerwartete
Hilfe aus Deutschland gab nun aber den
auf Kampf eingeschworenen Parteien
neuen Auftrieb.
Als der Kaiser im Frühjahr des
Folgejahres nach Deutschland aufbrach,
um der Rebellion die Stirn zu bieten,
konnte er nur wenige Ritter aus
Norditalien abziehen und mitnehmen.
Er musste (wie schon einmal 23 Jahre
zuvor als Otto IV aus dem Geschlecht
der Welfen sein Gegner gewesen war)
vor allem seine Persönlichkeit, seine
geradezu mystische Ausstrahlung in die
Waagschale werfen. Und abermals
wechselten die Ritter in Scharen das
Lager. Ohne ein einziges ernsthaftes
Gefecht erreichte Friedrich im Sommer
die Stadt Regensburg, wo er Hoftag
hielt und die Fürsten beruhigte, indem
er seine fürstenfreundlichen Gesetze der
zurückliegenden Jahre bekräftigte und
zugleich
die
fürstenfeindlichen
Neuerungen seines Sohnes verwarf.
Anschließend zog der Kaiser weiter
zur Pfalz Wimpfen. Dorthin befahl er
auch den jungen König, der sich in der
Burg Trifels verschanzt hatte. Heinrich
begriff, dass er Gefahr lief, wie ein
gewöhnlicher Verbrecher gejagt zu
werden, und unterwarf sich. Im Juli
1235 setzte ihn ein Fürstengericht als
deutschen Herrscher ab. Als Gefangener
wurde er nach Apulien geführt und dort
unter Arrest gestellt.
Als er sich später das Leben nahm,
kümmerte das
kaum
jemanden.
Dennoch war sein Untergang mehr als
die Tragödie eines einzelnen Menschen.
Heinrich blieb für lange Zeit der letzte
deutsche Herrscher, der sich ernsthaft
um die Zügelung der Fürsten bemühte.
Vielleicht hätte er mit mehr Unterstützung den Untergang der Staufer und das
Interregnum
verhindern
können.
Friedrich hatte das jedoch (von seinem
über allem geliebten Apulien aus)
niemals verstanden.
Bremen und seine Umgebung
I
m
Jahre
1236
bestimmte
Erzbischof Gerhard II, dass fortan
in Bremen an jedem Sonnabend
vor Himmelfahrt mit einer Prozession
an die Schlacht bei Altensch zu erinnern
sei. Daraus entwickelte sich eine
Tradition, die bis zur Reformation
lebendig blieb. Dem Gedenktag hatte
aber von Anfang an Zwiespältigkeit
angehaftet. Der Sieg über die Ketzer
und der Triumph des rechten Glaubens
war mit Tausenden Toten erkauft
worden und es hatte sich vieles ereignet,
was Gott schwerlich wohlgefällig sein
konnte. Die Bremer Bürger fühlten sich
ohnehin als Verlierer. Der Stadtherr
hatte sie mit großen Versprechungen für
den Kreuzzug begeistert, erinnerte sich
seit seinem Triumph jedoch nur noch
widerwillig daran.
Zugleich tat der Erzbischof alles, um
das Marschland wieder zu besiedeln.
Auf sein Betreiben hin nahm der Papst
schon bald den Bann von den
überlebenden Stedingern. Rückkehrwillige Bauern lockte er mit guten
Verträgen. So kam es, dass selbst
Familien, die unter dem Krieg schwer
gelitten hatten, letztlich doch die zur
Versöhnung ausgestreckte Hand ergriffen. Sie konnte nicht auf Dauer als
Gäste in fremder Leute Dörfer leben.
Nach und nach verschwanden die
Ruinen.
Im Jahr 1236 regelte der Erzbischof
die Besitzverhältnisse für das eroberte
Marschland neu und erklärte die
bestehenden Verträge für nichtig. Dabei
ging es ihm weniger um eigenen
Gewinn als um Berücksichtigung
veränderter Machtverhältnisse. Die
Bürger Bremens verloren auch noch
jene kleinen Geschenke, die er ihnen
kurz nach Kriegsende noch zugebilligt
hatte. Die friesischen Rüstringen
(stolze, den Stedingern durchaus
ähnliche Bauern) erhielten überraschend
das Stadland - wohl aus politischen
Erwägungen heraus. Den Löwenanteil
heimsten einmal mehr die Oldenburger
ein, die Gerhard als Verbündete
brauchte gegen die Welfen, die ihn von
Braunschweig aus bedrängten. Otto
hielt sich übrigens an seinen Vorsatz,
die Grafschaft nur zu bewahren für
seinen Neffen Johann. 1252, als dieser
volljährig war, zog er sich zurück und
widmete sich bis zu seinem Tode
wieder mit ganzer Kraft dem, was ihm
am nächsten stand, den Büchern.
Der Union zwischen Wildeshausen
und
Bruchhausen,
dieser
Zweckgemeinschaft zweier ungleicher
Partnern, war erwartungsgemäß kein
langes Leben vergönnt. Bereits im Jahre
1237 brach sie auseinander. Allerdings
kam es nicht wieder zu blutigen
Feindseligkeiten wie zu den Zeiten
Burchards. Die einen wie die anderen
hatten genügend eigene Sorgen.
Heinrich der Bogener (nunmehr
Heinrich IV) setzte alles daran, seiner
ruinierten Grafschaft wieder den Glanz
früherer Jahre zu geben. Heinrich der
Jüngere, der (als Heinrich V) in
Bruchhausen die Herrschaft übernahm,
musste sich der immer dreisteren Anfeindungen seines raubeinigen Bruders
erwehren.
Im Jahre 1241 zettelte Ludolf eine
Verschwörung an. Mit großzügigen
Versprechungen hatte er einen Teil der
Ritterschaft für sich gewonnen. Der
Nachteil Heinrichs bestand vielleicht
gerade in seiner größeren Redlichkeit.
Er kämpfte tapfer, ging aber nicht bis
258
zum Äußersten, setzte gewisse Mittel
aus Überzeugung nicht ein. Die
Grafschaft, die ohnehin nur ein Splitter
der alten Herrschaft Ammerland-Oldenburg war, wurde noch einmal geteilt.
Der bisherige Stammsitz hieß fortan
Altbruchhausen und war nun Residenz
Ludolfs, Heinrich V baute sich eine
eigene Burg und nannte sie Neubruchhausen. Letztlich schadete das
beiden. Die beiden neuen Grafschaften
waren schwach. Am Anfang des
14.Jahrhunds erloschen sie von selbst.
Heute erinnern nur noch die Namen
zweier Dörfer an sie.
Nachdem Gerhard II im Jahre 1258
gestorben war, wählte das Domkapitel
mit Hildebold von Wunsdorf einen
Vetter des Grafen Johann von
Oldenburg zum neuen Erzbischof. Die
beiden verstanden sich so gut, dass
andere Fürsten eine Gefahr darin sahen.
Bischof Simon von Paderborn focht die
Wahl an und versuchte, das Amt seinem
eigenen Bruder zuzuschanzen. Dabei
schreckte er nicht davor zurück, die
wieder
erstarkten
Stedinger
als
Parteigänger
zu
werben
und
auszurüsten. Deren erster Schlag
richtete sich aber weder gegen Bremen
noch gegen Oldenburg sondern gegen
Wildeshausen. 24 Jahre nach Altenesch
erlebten die Bauern noch einmal einen
eindrucksvollen Sieg. Sie eroberten
Schloss und Stadt. Heinrich IV musste
fliehen. Mit Hildebolds Hilfe konnte er
allerdings rasch ein neues Heer
aufbieten, mit dem er dann nahe der
Ortschaft Hatten die Streitmacht des
Paderborner Bischofs entscheidend
besiegte.
Jetzt zeigte sich, dass der neue
Erzbischof aus anderem Holz geschnitzt
war als sein Vorgänger. Anstatt die alte
Feindschaft neu aufleben zu lassen und
womöglich einen weiteren Krieg vom
Zaun zu brechen, stieg er in
Verhandlungen ein, anfangs vermittelt
durch die Rüstringer. Unter klar festgelegten Bedingungen verzieh er den
Bauern aus dem Marschland und
gewann sie für sich. Die später
ausgehandelte Einigung sicherte den
Frieden dauerhaft.
Heinrich IV allerdings war von seiner
Niederlage und seiner Vertreibung tiefer
beeindruckt als von seinem Sieg und
seiner Rückkehr. Er hatte zwar
jahrelang durchaus erfolgreich regiert,
jedoch niemals seine Anfälle von
Schwermut völlig überwunden. Immer
wieder geschah es, dass er sich tagelang
zurückziehen musste. In der Hoffnung,
dass Gott ihn von seinem Leiden
befreie, stiftete er einen beträchtlichen
Teil seines Besitzes dem Kloster
Segenthal und zog sich zunehmend in
die Religion zurück. Die Grafschaft
entglitt ihm derweil.
1270, nach immerhin 37-jähriger
Herrschaft, gab er endgültig auf. Er
verfügte, dass sein Lehen nach seinem
Tode vollständig in die Verwaltung des
Bremer Erzbistums übergehe. Als
Gegenleistung
ermöglichte
ihm
Hildebold eine Pilgerfahrt nach
Jerusalem und erfüllt ihm damit seinen
sehnlichsten, seit früher Jugend
gehegten Wunsch. Über den Verlauf der
Reise ist wenig bekannt. Fest steht nur,
dass der Graf nicht zurückkehrte, das
Testament
gültig
wurde
und
Wildeshausen seine Selbständigkeit für
immer verlor. Von der einst stolzen
Burg ist nicht mehr als der Rest eines
Grabens geblieben. Auf dem Hügel über
der Hunte steht heute ein protziges
Kriegerdenkmal,
welches
die
Katastrophen jüngerer Vergangenheit
verherrlicht.
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