Schubser vom Rätselstoff

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Wissenschaft
Schubser vom Rätselstoff
Kosmologie Hat die sagenhafte Dunkle Materie den Dinos den Garaus gemacht? Das ist die Idee
einer Harvard-Forscherin. Nach ihrer Theorie wirken in der Galaxis bislang unbekannte Kräfte.
ür die Menschen in Tscheljabinsk war
es eine Heimsuchung, als am 15. Februar 2013 ein Jahrhundertmeteorit
über der Stadt im Ural niederging. Für Lisa
Randall war es ein Wink des Himmels.
Kurz bevor die Nachricht vom Einschlag
in Russland um die Welt ging, hatte sich
die Physikerin der Harvard University der
Frage zugewandt, wie häufig Kometen die
Erde treffen. Sie wollte einer ihrer Theorien auf den Grund gehen. Und diesmal
handelte es sich um einen wahrhaft tollkühnen Gedanken.
Zwar gehören verrückte Ideen für Randall, 53, zum Alltag. Als theoretische Physikerin hat sie viel über Superstrings und
versteckte Dimensionen nachgedacht –
allesamt Konzepte, die das menschliche
Vorstellungsvermögen bis aufs Äußerste
strapazieren. Doch ging es dabei um eher
weltfremde Phänomene, die selbst mit der
besten Messtechnik nicht nachweisbar sind.
Ganz anders dagegen verhielt es sich
mit Randalls neuer Idee. Im Zentrum stand
diesmal die sogenannte Dunkle Materie.
Den Berechnungen der Kosmologin zufolge könnte dieser rätselhafte Stoff durchaus
messbare Wirkungen auf Erden haben –
spektakuläre Wirkungen sogar. Die Dunkle Materie, so Randalls inzwischen auch
in Buchform veröffentlichte Hypothese,
sei möglicherweise verantwortlich für den
Untergang der Dinosaurier*.
Kein Zweifel: Der Dunkelstoff eignet sich
von jeher für Spekulationen. Es handelt sich
um eines der großen Mysterien der modernen Physik. Schon in den Dreißigerjahren
des 20. Jahrhunderts hatten Astronomen festgestellt, dass die Bewegungen der Sterne
durch den Schwerkrafteinfluss der sichtbaren
Materie allein nicht erklärlich sind. Wie ein
kosmischer Feuerwerkskörper würde unsere
Galaxis auseinanderspratzen, wenn nicht ein
unsichtbarer Bindestoff sie zusammenhielte.
Gut 80 Prozent aller Materie im Universum,
so wissen die Physiker inzwischen, müssen
aus Dunkler Materie bestehen.
Was aber genau sich dahinter verbirgt,
wissen die Forscher bis heute nicht. Fest
steht nur, dass Dunkle Materie vermittels
Schwerkraft auf die sichtbare Materie einwirkt. Über die elektromagnetische und
die Kernkraft dagegen verfügt sie nicht.
Gewaltigen Aufwand treiben die Forscher, um den unheimlichen Dunkelstoff
dingfest zu machen. In Bergwerken tief
* Lisa Randall: „Dark Matter and the Dinosaurs“. HarperCollins, New York; 432 Seiten; 29,99 Dollar.
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DER SPIEGEL 6 / 2016
MARK HALLETT
MALTE JAEGER / LAIF
F
Physikerin Randall, Dinosaurierdarstellung
Gedankenspiele über Dunkelwesen
unter der Erde und hoch oben an Bord der
Internationalen Raumstation ISS haben sie
sündteure Detektoren installiert, um seine
Spuren nachzuweisen. Viele Milliarden hat
die Suche verschlungen, doch blieb sie bislang vergebens.
Die Harvard-Physikerin Randall hat sich
dem Problem nun mithilfe von Gedankenspielen genähert. Wie, so fragte sie sich,
könnte die Dunkle Materie aussehen? Wabert sie in Form strukturloser Schwaden
durchs All? Oder ist sie womöglich weitaus
komplexer aufgebaut? Vielleicht wechsel-
wirken Dunkle-Materie-Teilchen ja untereinander und schließen sich zu immer komplexeren Gebilden zusammen. In diesem
Fall, so überlegte Randall, könnte es womöglich Dunkelatome, Dunkelplaneten
und Dunkelsterne geben – ja womöglich
sogar lebende Dunkelwesen.
„Es ist reizvoll, sich all das vorzustellen“,
sagt Randall, „aber ich halte mich lieber
an das, was sich wirklich nachweisen lässt.“
Geisterhafte Schattenwesen zählen nicht
dazu. Selbst wenn sie mitten unter uns lebten, würden wir nichts von ihrer Existenz
spüren – und umgekehrt. Auf indirekte
Weise jedoch, so die Harvard-Physikern,
könnten die Dunkelkräfte durchaus Spuren
in der sichtbaren Welt hinterlassen.
Dies hängt mit Eigenheiten der verschiedenen Naturkräfte zusammen: Unter dem
Einfluss der Schwerkraft ballt sich die sichtbare Materie zu immer größeren kugelförmigen Gebilden zusammen. Die zusätzlich
wirkende elektromagnetische Kraft sorgt
dafür, dass diese Kugeln Energie abstrahlen, sich abkühlen und schließlich zu rotierenden Scheiben kollabieren. Dass Galaxien in unserem sichtbaren Universum
scheibenförmige Spiralen bilden, ist also
dem Einfluss der elektromagnetischen
Kraft zuzuschreiben.
Ganz anders verhält sich offenbar die
Dunkle Materie. Aus der Art, wie sie die
Sterne der Galaxis mit unsichtbarer Hand
lenkt, lässt sich schließen, dass sie die
Milchstraße in Gestalt einer mächtigen kugelförmigen Hülle umgibt – ein Indiz dafür,
dass in der Dunkelwelt eine unserer Elektrizität entsprechende Kraft fehlt.
Randall hat trotzdem einen Weg gefunden, die Welt der Dunklen Materie zu beseelen. Warum, so fragte sie sich, sollte die
Dunkle Materie nur aus einem Stoff bestehen? Die sichtbare, normale Materie besteht
ja schließlich auch aus Elektronen, Neutrinos
und Quarks, alles in allem zwölf verschiedene Elementarteilchen. „Warum sollte die
Natur bei der Ausgestaltung der Dunkelwelt
sparsamer gewesen sein?“, fragt Randall.
Die Physikerin beschloss, rechnerisch
die Gesetze einer hypothetischen Welt zu
erkunden, in der es mehrere verschiedenartige Dunkelteilchen gibt. Während die
einen nur über die Schwerkraft aufeinander (und auf die sichtbare Materie) wirken,
besteht zwischen den anderen eine bislang
unbekannte zusätzliche Kraft. „Eigentlich
ist das eine naheliegende Idee“, findet Randall. „Ich war selbst erstaunt, dass das niemand zuvor angenommen hatte.“
1
2
Kollisionspunkt des Sonnensystems und der Scheibe aus
Dunkler Materie.
3
Sonnensystem samt
Erdumlaufbahn und
Oortscher Wolke
(nicht proportional)
4
Dunkler Dino-Killer
Wie Dunkle Materie nach Lisa Randalls
Theorie die Dinosaurier vernichtete
1 Dunkle Materie umgibt die Galaxis kugelförmig und hält
sie zusammen.
3 Das Sonnensystem umkreist pendelförmig das Zentrum der
Galaxis. Auch die äußere Oortsche Wolke folgt dieser Bewegung.
Sie besteht aus zahllosen Eis- und Staubklumpen.
2 Eine zweite wechselwirkende Komponente der Dunklen Materie
liegt scheibenförmig inmitten der Galaxis.
4 Vor rund 66 Millionen Jahren könnte beim Passieren der Scheibe
aus Dunkler Materie ein Komet aus der Oortschen Wolke auf die
Erde gelenkt worden sein – eine Katastrophe, die die Dinosaurier
ausgelöscht haben könnte.
Anfangs schien Randall die Vorstellung
Befriedigt stellte die Forscherin fest, dass
sich ihre Modellwelt genau so verhielt, wie absurd, doch je länger sie darüber nachsie es erhofft hatte: Der nur über die dachte, desto bestechender schien ihr der
Schwerkraft wechselwirkende Teil der Gedanke: Die Sonne, das ist den AstronoDunklen Materie bildet ebenjene Halos, men seit Langem bekannt, vollzieht auf
die von den Astronomen tatsächlich nach- ihrer lang gestreckten Bahn um das Zengewiesen werden. Der andere dagegen fällt trum der Milchstraße eine pendelförmige
zu dünnen Scheiben zusammen, die in die Auf- und Abbewegung. Etwa alle 32 Milsichtbaren Galaxien eingebettet sind. Wenn lionen Jahre durchstößt sie dabei die EbeRandalls Modell zutrifft, rotiert also inmit- ne, die in der Mitte der Milchstraße liegt
ten der Milchstraße eine kompakte, bisher (siehe Grafik).
Falls sich dort tatsächlich unsichtbare
unentdeckt gebliebene Dunkelscheibe.
Anders als viele andere Kopfgeburten Dunkelmaterie in Form einer Scheibe balheutiger Theoretiker lässt sich ihre Hypo- len sollte, müsste die Sonne bei jedem
these vergleichsweise leicht überprüfen: Durchlauf mit dieser kollidieren. Jedes
Am 19. Dezember 2013, ein Dreivierteljahr Mal würden leichte Beben durch das
nachdem Randall ihre Rechnungen veröf- Gefüge des Sonnensystems laufen. Zwar
fentlicht hatte, startete der europäische wären diese viel zu schwach, um Einfluss
„Gaia“-Satellit ins All. Das Ziel dieses Welt- auf die Bahnen der Planeten oder deren
raumobservatoriums ist die dreidimensio- Monde zu nehmen. Doch weit draußen,
nale Präzisionsvermessung der Milchstra- viele Milliarden Kilometer jenseits der
ße. Wenn die Forscher Mitte dieses Jahres Bahn des Pluto, gibt es noch weitere
ihre ersten Daten veröffentlichen, könnten Himmelskörper. Extrem schwach an die
sich darin bereits die Spuren der Dunkel- Sonne gebunden, schwirren dort vermutlich Myriaden von Klumpen aus Staub und
scheibe erkennen lassen.
Es gibt allerdings noch eine zweite, fan- Eis umher – Kometen.
Selbst der kleinste Schubser kann austastisch anmutende Art, Randalls Theorie
zu testen. Auf die Idee kam die Harvard- reichen, um solche Brocken aus ihrer Bahn
Physikerin, als sie ihre Rechnungen zur zu werfen. Die Schockwelle einer DunkelDunkelscheibe auf einer Konferenz in Ari- scheibe wäre stark genug, um die Kometen
zona vorstellte. Im Publikum saß der bri- durcheinanderzuwirbeln: Einige würde sie
tische Astrophysiker Paul Davies, der sie in Richtung der Sonne und ihrer Planeten
mit einem Einwurf verblüffte: „Kann das katapultieren.
Auch auf der Erde wäre dieser Komenicht auch den Untergang der Dinosaurier
tenregen zu spüren: Etwa alle 32 Millionen
erklären?“, fragte er.
Jahre müsste die Zahl der Einschläge merklich steigen.
Einige Erdgeschichtler glauben, genau
solch eine Periodizität tatsächlich erkennen
zu können. Vor etwa 35 Millionen Jahren
jedenfalls – etwa zu der Zeit, als die Sonne
die Milchstraßenebene durchflog – stürzten
auffällig viele kosmische Geschosse auf die
Erde nieder: Riesenkrater in Sibirien, Nordamerika und Australien zeugen davon.
Noch weitaus verheerender war das Projektil, das den Erdball vor 66 Millionen Jahren traf: Ein zehn Kilometer großer Himmelskörper krachte in Yucatán nieder und
rottete die Dinosaurier aus. Wieder fiel das
Ereignis ungefähr mit der Passage durch
die Milchstraßenscheibe zusammen.
Vor rund zwei Millionen Jahren hat das
Sonnensystem die Gefahrenzone ein weiteres Mal durchlaufen. Diesmal scheint es
glimpflich abgelaufen zu sein. Katastrophale Einschläge sind ausgeblieben. Noch
allerdings sei es zu früh, sich in Sicherheit
zu wiegen, meint Randall: „Je nachdem
wie dick die Dunkelscheibe ist, könnte es
sein, dass wir sie noch nicht verlassen haben“, sagt sie. „In diesem Fall könnten
weitere Kometen auf dem Weg zu uns
Johann Grolle
sein.“
Mail: [email protected]
Video: Was ist Dunkle
Materie?
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