Gerhard Springer: Der transaktionale Raum der therapeutischen

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JTTA
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Vol. 5 No. 2 (1999): 3-12
 Gerhard Springer
Der transaktionale Raum der therapeutischen Begegnung:
Ein Möglichkeitsraum*
Gerhard Springer
Die Tiefenpsychologische Transaktionsanalyse stellt eine Rückbesinnung
und Überarbeitung Eric Berns psychoanalytischer Wurzeln der
Transaktionsanalyse dar und war die Basis der Anerkennung der
Transaktionsanalyse als wissenschaftliche Psychotherapie in Österreich.
Wesentliche Elemente unseres Zugangs zum Menschen werden an Hand der
Bearbeitung des Falles zu erkennen sein.
 Der transaktionale Raum der therapeutischen Begegnung als
Handlungsraum und Möglichkeitsraum.
 Der Bericht über eine Supervisionssitzung und einzelne traumatische
Punkte.
 Was in dieser Supervisionssitzung war hilfreich und warum war das so.
 Die
grundlegenden
Instrumente
und
Sichtweisen
der
Tiefenpsychologischen Transaktionsanalyse.
1. Der transaktionale Raum der therapeutischen Begegnung:
Handlungsraum und Möglichkeitsraum
In der therapeutischen Begegnung entsteht ein gemeinsamer Raum ein
gemeinsam geteilter Raum in wechselseitigem Miteinander (Winnicott 1967/
1979). Wenn nicht nur Symptome behandelt werden (aber auch da), entsteht
der gemeinsame Raum der äußeren und inneren Welten, die miteinander geteilt
werden. Der Handlungsraum, nach Khan (1993) der konkrete Raum, ist der
äußere Raum, wo jemand zu spät kommen kann, im Wartezimmer immer eine
halbe Stunde zu früh da ist, etwas liegen lassen kann, immer wieder zum
falschen Zeitpunkt kommt und weggeschickt werden muss etc. Es ist der Raum
in dem sich die Patienten aufhalten können, etwas mitbringen oder nie etwas
mitbringen, so wie eine Patientin die mir zwei Jahre lang jede Stunde eine
Süßigkeit mitbrachte und nichts sehnlicher wünschte, dass ich das Süße esse,
*
Vortrag gehalten beim 2. Weltkongress für Psychotherapie in Wien am 7. Juli 1999
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Der transaktionale Raum der therapeutischen Begegnung: Ein Möglichkeitsraum
während sie mir zuschauen würde. Zum Handlungsraum im erweiterten Sinn
zähle ich auch Ziele und Absichten unserer Patienten sowie unsere
therapeutischen Instrumentarien, Techniken und das Gesamtsetting:
Transaktionen analysieren, Ich-Bilder und Ich-Zustände analysieren,
Introjektionen, Fixierungen und das Lebensskript analysieren etc.
Das alles sind Voraussetzungen einen zweiten Raum, den
Möglichkeitsraum (Kahn 1993) abzugrenzen und ihn zu definieren. Der
Möglichkeitsraum ist der Raum, in dem verborgene Stimmungen und
psychische Experimente zugelassen werden können, die das Ich noch nicht zu
realisieren vermag. Es ist ein gemeinsam geteilter Raum in wechselseitigem
Miteinander. Es ist ein Raum, der dann entstehen kann, wenn er durch
angemessene Technik und Abstinenz freigemacht wird. Es ist nicht des Raum
des Patienten allein, es ist ein gemeinsamer Raum, ein Raum des wir.
Verschiedene therapeutische Richtungen, auch innerhalb der
Transaktionsanalyse, geben dem jeweiligen Verhältnis von Handlungsraum
und Möglichkeitsraum unterschiedliche Gewichtung. Grundsätzlich sind in
jeder therapeutischen Richtung beide Seiten da. Die zielorientierten,
verhaltensmodifizierenden Richtungen, zu denen auch die weit verbreitete
übliche Transaktionsanalyse gehört, geben dem Handlungsraum Priorität,
manchmal scheinen sie so etwas wie den Möglichkeitsraum gar nicht zu
kennen. Es geht dann um Veränderungsverträge, Hausaufgaben und Ziele,
manchmal um Kontrolle.
Die tiefenpsychologisch/psychoanalytischen Richtungen, zu denen sich
auch die Tiefenpsychologische Transaktionsanalyse zählt, vertrauen darauf,
dass die Modifizierung der inneren Welt, die strukturelle Veränderung der
Persönlichkeit auch zu äußeren Veränderungen der Lebenshaltung führt,
Symptome nicht mehr notwendig sind. Voraussetzung dafür ist die Errichtung
eines Möglichkeitsraumes, in dem Patient und Therapeut mit verborgenen,
dem Ich noch nicht zugänglichen Stimmungen, in Kontakt kommen.
2. Eine Supervisionssitzung
Eine Kollegin verlangt sehr dringend eine Supervisionssitzung. Sie weiß
nicht mehr weiter, steckt, zweifelt, ob sie überhaupt als Therapeutin
weiterarbeiten kann. "Ich sehe überhaupt keine Möglichkeit, ich habe keinen
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Raum mehr." Es bewegt sich überhaupt nichts bei der Patientin. Die depressive
Patientin sitzt in ihrem Zimmer am Sessel und kann nichts tun, wie gelähmt.
Frau "Grünner" ist seit 1 1/2 Jahren in einstündiger Psychotherapie bei der
erfahrenen Kollegin. Die Patientin kann nicht ICH sagen, sie sagt immer
MAN, beispielsweise "Wie fühlt MAN sich denn, wenn der 11 jährige Sohn in
die Psychiatrie kommt, wie soll es einem da gehen?", "Was soll MAN denn
machen, wenn MAN so depressiv ist?".
Die Patientin wurde 1946 in einem Lager im Ruhrgebiet geboren, wo die
Eltern während der Flucht, in den Kriegswirren gelandet sind, ortlos und ohne
Perspektive. Der 1 1/2 jähre jüngere Bruder, von dem die Patientin erst erfuhr,
als sie 13 Jahre alt war, wurde 1944 von russischen Soldaten mit dem
Gewehrkolben erschlagen - in den Armen der Mutter erschlagen - als diese auf
der Flucht war, irgendwo in Deutschland. Die Mutter fiel nach diesem Mord in
einen länger dauernden Zustand schweren Rückzugs, von dem sie sich auch
zur Zeit der Geburt der Patientin noch nicht völlig gelöst hatte.
Die Kollegin klagte dann, dass die Patientin alles nur auf der
Handlungsebene sehen und benennen kann, keine Gefühle hat, und was in
unserem Zusammenhang wichtig ist, außer der Erzählung vom Tod des
Bruders, im 13. Lj, nur eine einzige Erinnerung an die Kindheit hat:
Als die Patientin fünf Jahre alt war, ging sie neugierig zum Garten des
Nachbarn um die jungen, kleinen Kücken, die gerade geboren waren,
anzuschauen. Sie stieß an das alte Gartentor, es fiel auf die jungen Kücken und
erschlug im Fall alle Kücken. Die Patientin lief nach Hause, erzählte den
Vorfall, wurde beschimpft und geschlagen. Die Eltern mussten den Verlust der
Nachbarin ersetzen, obwohl sie wenig Geld hatten. Soweit die Erinnerung der
Patientin.
Nachdem mir die Kollegin diese Geschichte erzählt hatte, klagte sie, dass
in der Therapie nichts weitergehe, dass sie selbst schon ganz fertig sei. Die
Kollegin weiß nicht weiter, fühlt sich wie gelähmt und hat Zweifel, ob sie denn
überhaupt Therapeutin sein könne.
Nach längerem Schweigen sagte ich zur Kollegin: "Sie sitzen mit der
Patientin im Therapiezimmer und können sich nicht bewegen. Draußen ist der
Tod, der Mord. Es ist ein vierfacher Tod.
Der fürchterliche Mord am Bruder - in den Armen der Mutter ist Tod
Der Seelentod der Mutter, die tote Mutter, ihre schwere Depression
Der Tod der Kücken als Folge lustvollen Wünschens
Der Tod der Lebendigkeit der Patientin als sie fünf Jahre alt war.
Wenn sich die Patientin ihnen zärtlich nähert, wenn sie sich der Patientin
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Der transaktionale Raum der therapeutischen Begegnung: Ein Möglichkeitsraum
zärtlich nähern, sie also in ihren Armen liegen würde, wird die Patientin
erschlagen wie der Bruder, dessen Stellvertreterin sie leibhaftig ist. Sie als
Therapeutin werden die todbringende Mutter sein. Wenn die Patientin sich
ihnen lustvoll nähert und auf sie neugierig ist, werden sie, die Therapeutin,
erschlagen werden wie die Küken - und die Patientin wird wieder eine
Mörderin sein. So erhält die Patientin sie, die Therapeutin, und sich selber am
Leben, indem sie nichts tut und verhindert, dass sie etwas tun können. Die
Patientin sitzt im Therapiezimmer am Sessel und kann den Raum nicht
verlassen und sie als Therapeutin haben keinen Raum, solange nicht
ausgesprochen ist, dass sie, die Therapeutin, eine todbringende Mutter sind
und die Patientin eine Mörderin ist."
Meine Überlegung hinter dieser deutlichen Sprache war folgende: Wenn
"das" aussprechbar wird, was noch nie gesagt wurde, dann wird ein
psychischer Raum gebildet, ein Möglichkeitsraum verborgener Stimmungen
und Gefühle. In diesem Möglichkeitsraum kann durchgespielt werden, was das
Ich noch nicht erträgt. Es scheint so, dass das Ich der Patientin noch nicht
erträgt, den Tod des Bruders und zugleich die Seelentod-Stelle der Mutter
übernommen zu haben, dass alles Leben, alle Lebendigkeit ein
Stellvertreterleben für den Bruder und ein Aufmunterungsleben für die Mutter
ist. Leben gegen den Tod und Lebendigkeit gegen die seelentote Mutter, ein
Auftragsleben, nicht ein Eigenleben. Es scheint so, dass die lustvolle,
neugierige Annäherung an die Kücken, der Persönlichkeitsanteil ist, in dem
sich die Patientin als eine (ödipale) Mörderin fühlt und in dem sie zugleich
ihre eigene Lust und Lebendigkeit töten musste. Es scheint so, dass dies vom
Ich noch nicht ertragen werden kann.
So kann die Patientin nicht "ich" sagen, weil sie sich noch gar nicht
gemeint weiß. Sie kann auch nicht "du" sagen, sich annähern und anvertrauen,
weil das Du den Tod bedeutet. Sie ist also noch gar nicht ich und doch schon
eine Mörderin. Wenn es nun gelingen könnte, das alles auszusprechen, diesen
verborgenen Stimmungen eine Sprache zu geben und damit einen
gemeinsamen Raum zu eröffnen, dann könnte das gemeinsame psychische
Experiment beginnen.
3. Was war in dieser Supervisionssitzung hilfreich?
Ausgehend davon, dass die Kollegin Veränderungen im Äußeren sehen
wollte, genau so wie die Patientin, dass beide also auf den Handlungsraum
fixiert waren, dass beide sich gelähmt fühlten, die Patientin in ihrem Zimmer
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sitzend, die Kollegin im Therapieraum, dass beide in einem parallelen Prozess
gestörten transaktionalen Austausches gefangen waren, richtete ich meine
Aufmerksamkeit auf das Wiederingangbringen des Möglichkeitsraumes bei der
Kollegin.
Benennen, was ist
Unsere größte Schwierigkeit als Therapeuten ist, dass wir, genauso wie die
Patienten, nicht ertragen, was wirklich ist. Jetzt ist diese doppelte, ja vierfache
Todesstelle fast nicht zu ertragen. Es geht ja nicht nur um den Mord am
Bruder. In den Armen der Mutter (Therapeutin) ist Tod, das heißt es. Das ist
eine Introjektion, die von Anfang an da war, obwohl sie 13 Jahre lang nicht
ausgesprochen wurde. Die Stellvertreterexistenz der Patientin, der tote Bruder
wird durch das Schwesterchen ersetzt, auch das 13 Jahre unausgesprochen,
muss ausgesprochen werden, bevor die Patientin "ich" sagen wird können. Das
Introjekt "toter Bruder" und "Ersatzschwesterchen" erhält seine psychische
Mächtigkeit gerade durch das Unaussprechlich-Unausgesprochene.
Der Seelentod der Mutter, ihre schwere Depression, das Introjekt "tote
Mutter" muss benannt werden können und von beiden, der Patientin und der
Therapeutin ertragen werden können. Der Tod der Kücken als Folge lustvollen
Wünschens und die damit verbundene Vorstellung eine Mörderin zu sein, wir
bezeichnen dies als eine ödipale Fixierung, braucht das Benannt-werden.
Der Tod der Lebendigkeit der Patientin, als sie fünf Jahre alt war, das
Sterben des lustvollen Wünschens, der Neugierde und des ödipalen
Zupackens, als eine frühe, nicht von der Ratio, sondern von kindlichen
Emotionen getragenen Entscheidung, eine Fixierung die so lebensbestimmend
sein wird, muss benannt werden.
Das Benennen gibt dem Verborgenen eine Wirklichkeit, es ist eine
Erlaubnis zu wissen und zu spüren, was wahr ist. Dieses Benennen geschieht
zur Therapeutin hin und soll in der Therapeutin einen Möglichkeitsraum
eröffnen. Die Patientin könnte dieses Benennen wahrscheinlich noch nicht
ertragen.
Den unbewussten Wunsch der Kollegin, die gedeckte Transaktion,
beantworten
Es gibt eine Parallele zwischen Patientin und Therapeutin. Die Patientin ist
gelähmt, verwirrt und verweigernd. Sie zwingt ihre Therapeutin diese Gefühle
nicht nur zu hören, sondern gewissermaßen selbst zu fühlen, am eigen Leib
und in der eigenen Seele wiederzufinden, sich selber ganz und gar genau so zu
fühlen wie die Patientin, die das alles zum Teil noch gar nicht aussprechen
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Der transaktionale Raum der therapeutischen Begegnung: Ein Möglichkeitsraum
kann. In der Therapeutin wirkt dies wie eine projektive Identifizierung.
Irgend jemand Dritter muss kommen, der das gewissermaßen verdauen
kann - und vorverdaut an die Kollegin zurückgibt, die dann ihrerseits es an die
Patientin weitergeben kann. Vom Vater ist ja in der ganzen Geschichte nie die
Rede, er kommt nicht vor. Die Therapeutin führt den Vater als Dritten ein,
indem sie sich an mich als Supervisor wendet.
Die gedeckte Transaktion der Kollegin an mich heißt nicht einfach "Hilf
mir, wie kann ich es besser erkennen, was mich so lähmt, wie kann ich eine
bessere Therapeutin sein", sondern „Sei ein erlösender Dritter in dieser
tödlichen Frauengeschichte von Mutter, Patientin und Therapeutin“ Das ist
meiner Meinung der Kern der gedeckten Transaktion in der Supervision. Diese
Sichtweise deckt sich auch mit dem Wenigen, das ich über das Skript der
Kollegin weiß.
Die Konstruktion in der Destruktion herausarbeiten:
Die lebenserhaltende Kraft destruktiver Skriptentscheidungen
Sie erinnern sich, ich habe zur Kollegin gesagt, durch das Nichts-tun erhält
die Patientin die Therapeutin und sich selber am Leben. Die Patientin tut
nichts und verhindert, dass die Therapeutin etwas für sie tun kann. Sie sitzt am
Sessel, im Zimmer und kann den Raum nicht verlassen und sie, die
Therapeutin haben keinen Raum, solange nicht ausgesprochen ist, dass die
Therapeutin eine todbringende Mutter, und die Patientin eine potentielle
Mörderin ist.
Solange für die Patientin innerlich wahr ist, dass die Mutter todbringend ist
und sie selbst eine Mörderin, ist die Verweigerung der Patientin, ihre zentrale
Skriptentscheidung, lebenserhaltend und im höchsten Maße konstruktiv.
Anderenfalls würde das Ausmaß der eigenen Aggression der Patientin sie
massiv überschwemmen. Skriptentscheidungen, auch solche die heute
destruktiv wirken, wurden ursprünglich entwickelt um Leben und Beziehung
aufrecht zu erhalten.
4. Zugangsweisen der Tiefenpsychologischen Transaktionsanalyse
Analyse der Transaktionen
Wie das Wort Transaktionsanalyse schon sagt, beschäftigen wir uns primär
mit dem zwischenmenschlichen Austauschgeschehen, der Analyse der
Transaktionen. Wir gehen davon aus, dass im gemeinsamen Dialog alles
Weitere auffindbar ist, wie intrapsychische Determinanten (Ich-Zustände) und
Glaubensüberzeugungen (Skript).
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So setze auch ich in dieser Fallgeschichte zunächst bei den Transaktionen
zwischen der Patientin und der Therapeutin an und bei den Transaktionen
zwischen der Kollegin und mir als Supervisor. Der Übertragungsprozess steht
im Mittelpunkt der Tiefenpsychologischen Transaktionsanalyse. Ich
analysiere, auch dies gehört zur Analyse der Transaktionen, den
Parallelprozess der sich zwischen Patientin und Therapeutin einerseits und
Therapeutin und Supervisor andererseits, zeigt.
Die Ich-Zustandsthorie der Tiefenpsychologischen Transaktionsanalyse
Die Ich-Zustands-Theorie der Tiefenpsychologischen Transaktionsanalyse
bezieht sich auf Berns ursprünglichen Modell der Zustände des Ich. Die im
Eltern-Ich-Zustand zutage tretenden Inhalte nennen wir Introjektionen. Es sind
Verinnerlichungen problematischer Beziehungserfahrungen von bedeutsamen
Anderen, Manifestationen fremder Geschichte. Introjektionen sind auf
verschiedenen Alters- und Entwicklungsstadien organisiert.
Der Mord am Bruder, den die Mutter nie verarbeiten konnte, auch lange
Jahre nicht mitteilen konnte, ist eine Introjektion. Die tote Mutter ist eine
Introjektion genau so wie der Stellvertreterauftrag.
Die im Kindheits-Ich-Zustand zutage tretenden Inhalte nennen wir
Fixierungen. Es sind die Traumata der eigenen Lebensgeschichte, eingefrorene
Entwicklungsstrebungen verschiedener Alters- und Entwicklungsstadien. Am
Fallbeispiel ist es das lustvoll-wünschende Kind, das ödipale Kind der
verlängerten Wiederannäherungszeit, das sich in Folge des Unglücks mit den
Kücken als Mörderin schuldig fühlt. Es ist das Kind, das in Folge den
Ausdruck von Aggression stilllegen wird und später nicht mehr fühlen wird.
Die Skripttheorie der Tiefenpsychologischen Transaktionsanalyse
Berne folgend, sehen wir das Skript als "einen Versuch, in abgeleiteter
Form nicht eine Übertragungsreaktion oder ein Übertragungssituation zu
wiederholen, sondern ein Übertragungsdrama, welches oft in Akte unterteilt
ist, die genau wie die Textbücher im Theater intuitive Ableitungen dieser
Urdramen der Kindheit darstellen" (Berne 1991, S.188).
Was wir dem hinzufügen, ist dies: Wir verwenden eine
entwicklungspsychologische Matrix des Skripts, die uns ermöglicht die
Entstehungsgeschichte und den Verlauf der Skriptbildung Schritt für Schritt
nachzuvollziehen. Das Kernstück der Skriptentscheidung der Patientin dürfte
sein, dass sie sich als Mörderin sieht. Sie muss die Aggression unterdrücken,
mit der sie sich gegen diese Vorstellung wehren könnte und die Aggression in
der Verweigerung ausleben. Dies ist m. E. der Kern ihrer Depression. Das
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Der transaktionale Raum der therapeutischen Begegnung: Ein Möglichkeitsraum
Tragische dabei ist, dass diese Entscheidung auf dem Hintergrund der
unausgesprochenen Ermordung des Bruders und der "toten Mutter" getroffen
werden musste. So gesehen sieht sie sich als eine Mörderin, die einem Mord
ihr Leben verdankt. Sie ist eine Mörderin, die der todbringenden Mutter ihr
Leben verdankt und mit der depressiven Mutter, der "toten Mutter" das Leben
teilt.
Aus Sicht der Tiefenpsychologischen Transaktionsanalyse sind es nicht die
einzelnen Traumata, die die Skriptentscheidungen prägen, sondern das
Ineinander von Traumata, Introjektionen, Fixierungen und konflikthaften
Entscheidungen. Die Entwicklungsaufgaben des Kindes in einer bestimmten
Altersstufe, seine Bedürfnisse und Fähigkeiten treffen auf den transaktionalen
Entwicklungsraum, den die Eltern in ihrer jeweiligen Geschichte und Umwelt
mit dem Kind zusammen herzustellen imstande sind.
5. Wie könnte die Kollegin die Supervision nützen?
Das Ziel der Supervision war es einen Möglichkeitsraum in der Kollegin zu
schaffen um so den Raum für die Patientin wiederherzustellen.
Wenn die Kollegin mit der Patientin arbeitet, wird sie, aus Sicht der
Tiefenpsychologischen Transaktionsanalyse, vor allem auf die Transaktionen
achten, das zwischenmenschliche Austauschgeschehen. Sie wird die
verweigernde Aggression der Patientin besser verstehen können und sich selbst
weniger als ungenügend erleben. Die massive projektive Identifizierung wird
die Kollegin im Sinn der Tiefenpsychologischen Transaktionsanalyse als
psychologisches "Spiel" verstehen können und wissen, dass die Patientin
dieses "Spiel" über einen längeren Zeitraum brauchen wird um so die
Aggression im Beziehungsgeschehen vorverarbeitet zu bekommen anstatt,
alleine damit, von der Aggression überschwemmt zu werden.
In der Tiefenpsychologischen Transaktionsanalyse beginnen wir meist mit
den Themen, die dem Erwachsenen-Ich-Zustand am leichtesten zugänglich
sind. Wir arbeiten gewissermaßen von oben nach unten. Die Kollegin wird
daher das am meisten bewusstseinsfähige Material zuerst bearbeiten. Die
Erinnerung an die Kücken ist das einzige zur Zeit von der Patientin erinnerte
Material, daher wird die ödipale Fixierung zunächst im Zentrum der
Aufmerksamkeit der Kollegin stehen. Während die Kollegin mit der Patientin
an der Lähmung arbeitet, die die Folge der ödipalen Fixierung ist, wird der
Erwachsenen-Ich-Zustand der Patientin gestärkt. Durch Zuwendung, Interesse,
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Verstehen und Verlässlichkeit wird die Patientin registrieren, dass sie, im
Unterschied zu früher, nicht mehr allein ist. Diese wird ihr im Lauf der Zeit
ermöglichen, die schweren tödlichen Introjektionen anzuspüren und zu
modifizieren.
6. Noch einmal zurück zum Möglichkeitsraum
Theorien und Techniken sind notwendig Hilfen um immer wieder neu zu
verstehen, was so unverständlich erscheint. Denn letztlich verstehen wir das
nicht, wovon wir ahnen, dass wir es nicht ertragen werden. Theorie und
Technik sind wie der notwendige Hausputz. Es ist notwendig, dass wir eine
gewisse Ordnung und Sauberkeit herstellen, wenn wir ein Haus bewohnen
wollen. So verstehe ich den Gebrauch von Theorie und Technik: Als
notwendige Voraussetzung, das Haus der Seele zu bewohnen. Theorie und
Technik sind Voraussetzung, damit das, was dann geschehen kann, nicht der
Beliebigkeit, der Esoterik, der Therapeutenmacht zum Opfer fällt.
Das psychische Experiment, dieses leidenschaftliche gemeinsame
Experiment des Möglichkeitsraumes geht weit über den Hausputz hinaus. Es
ist ein Raum für verborgene Stimmung, versagte Wünsche, verurteilte
Phantasien, für Dinge, die das Ich noch nicht erträgt. In diesem
Möglichkeitsraum sitzt der Patient nicht alleine. Da sitzt nicht ein Patient mit
Verborgenem einem gegenüber der weiß, wo es lang zu gehen hat. In diesem
gemeinsam geteilten Raum, im wechselseitigen Miteinander, sitzen zwei
zusammen, jeder mit seinen eigenen Wünschen, Phantasien, Ängsten. Und sie
machen beide ein Experiment.
Diese therapeutische Haltung ist es, die ich an der Tiefenpsychologischen
Transaktionsanalyse so liebe.
Literatur
Berne, E. (1991): Transaktionsanalyse der Intuition: ein Beitrag zur Ich- Psychologie. Junfermann
Verlag, Paderborn
Khan, M. (1993) Erfahrungen im Möglichkeitsraum: psychoanalytische Wege zum verborgenen
Selbst. Suhrkamp, Frankfurt
Winnicott, D. (1979) Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Fischer, Frankfurt
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Der transaktionale Raum der therapeutischen Begegnung: Ein Möglichkeitsraum
Zusammenfassung
Am Beispiel einer Supervisionssitzung wird der Möglichkeisraum der
therapeutischen Begegnung, in dem verborgene Stimmungen und psychische
Experimente zugelassen werden können, die das Ich noch nicht realisieren
kann, dargestellt und beschrieben. Weiters werden Zugangsweisen, die die
therapeutische Arbeit der Tiefenpsychologischen Transaktionsanalyse,
kennzeichnen, sichtbar gemacht.
Anschrift des Verfassers:
Dipl. Theol. Gerhard Springer
Mühlstr. 10
A-5023 Salzburg
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