Katechese Bischof Kurt Koch

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18. Weltjugendtag 2003
Siehe, deine Mutter! (Joh 19,27)
13./14. September 2003 in Disentis
www.weltjugendtag.ch
„Siehe, deine Mutter“ (Joh 19.27)1
Katechese von Bischof Kurt Koch
am 14. September 2003 in Disentis/Mustér
Vielleicht seid Ihr schon einmal beim Sterben eines Euch nahen und lieben
Menschen dabeigewesen. Dann habt Ihr sicher die Erfahrung machen können,
dass ein Sterbender sich nicht mit Belanglosigkeiten abgibt, dass er vielmehr
ausspricht, was ihm zutiefst auf dem Herzen brennt und was er seiner Nachwelt
unbedingt hinterlassen möchte. Letzte Worte, die liebe und uns nahe Menschen
kurz vor ihrem Tod gesprochen haben, pflegen wir treu in unserem Gedächtnis
lebendig zu halten. Mit Recht schreiben wir ihnen ein besonderes Gewicht zu. In
ihnen wird gleichsam die ganze Lebensgeschichte eines Menschen wie in einem
letzten Vermächtnis verdichtet.
In derselben Grundhaltung und deshalb mit besonderer Aufmerksamkeit hören
wir auch die letzten Worte Jesu am Kreuz. Eines dieser letzten Worte Jesu ist das
Motto des heutigen Weltjugendtages in Disentis geworden. Als Jesus am Kreuz
seine Mutter und bei ihr den Lieblingsjünger sah, sagte er zu seiner Mutter:
„Frau, siehe dein Sohn“, und zum Jünger: „Siehe, deine Mutter“. Jesus vertraute
seinem Jünger das Kostbarste an, was er überhaupt geben kann, nämlich seine
eigene Mutter. „Siehe, deine Mutter“: diese Worte gelten freilich auch uns. Wie
dem Jünger damals vertraut Jesus uns auch heute seine eigene Mutter an, und
wir werden dadurch zu Söhnen und Töchtern dieser Mutter. Was Schöneres und
Kostbareres könnte Jesus uns denn geben als seine eigene Mutter?
Mit Maria unter dem Kreuz stehen
Warum aber vertraut er sie uns an? Wohl deshalb, weil Jesus weiss und darauf
vertraut, dass seine Mutter bei uns gut aufgehoben ist. Wie bei Verliebten die
Mutter der einen auch zur Mutter des anderen wird, so wird die Mutter Jesu auch
unsere Mutter, weil er uns liebt. Maria aber will nichts anderes, als uns zu Jesus
Christus, ihrem Sohn, hin zu führen. Hier entsteht im buchstäblichen Sinn Kirche,
nämlich dort, wo Jesus Johannes der Maria anvertraut und Maria dem Johannes
anheimgibt. Wenn es dann anschliessend im Johannesevangelium heisst, dass
der Jünger „von jener Stunde an“ Maria zu sich nahm, dann dürfen wir darin die
tiefste Wurzel der Kirche wahrnehmen.
1
Katechese beim 18. Weltjugendtag am 14. September 2003 in Disentis.
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Siehe, deine Mutter! (Joh 19,27)
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Diese schöne Szene aus dem Johannesevangelium zeigt freilich auch, dass die
Kirche nicht nur unter dem Kreuz entstanden ist, sondern immer Kirche unter
dem Kreuz ist. Wenn wir die Zeichen der heutigen Zeit und ihre
Herausforderungen an die Kirche ernstnehmen, dann müssen wir erkennen: Gott
weist uns gerade heute diesen Ort unter dem Kreuz unerbittlich zu. In unseren
säkularisierten Ländern Europas ist eine feindselige Haltung gegen das
Christentum vor allem in bestimmten Medien mit Händen zu greifen. In der
öffentlichen Meinung wird nicht selten die Behauptung vertreten, das
Christentum und speziell unsere römisch-katholische Kirche seien an beinahe
allen Übeln der Menschheit schuld. Wir Christen werden immer häufiger als
Fremdkörper und Störenfriede in einer neuheidnischen Gesellschaft empfunden,
wenn wir deren Konsense nicht mitzutragen bereit sind.
In dieser schwierig gewordenen Situation sind wir herausgefordert, wie Maria
und mit Maria unter dem Kreuz zu stehen und dabei in neuer Weise zu lernen,
zum Kreuz zu stehen. Dazu werden wir freilich nicht nur von der heutigen
Situation her gedrängt, sondern auch und vor allem aus dem Inneren unseres
Glaubens selbst. Wenn wir Maria, die unter dem Kreuz ihres Sohnes gestanden
ist, unter dem Kreuz als unsere Mutter erhalten haben, dann müssen wir wie
Maria diesen Ort unter dem Kreuz annehmen und aushalten.
Dieser Ort unter dem Kreuz stellt an uns vor allem Fragen: Welche
Konsequenzen nehmen wir für unser Christsein auf uns? Was lassen wir uns
unser Christsein kosten? Ist es ein kostbares Christsein oder ein Christentum
gleichsam zu herabgesetzten Preisen? Haben wir den Mut, uns dem manchmal
auch unbequemen Wort Gottes zu stellen, oder propagieren wir einfach ein
harmloses Anbiederungschristentum, das überall auf eine möglichst grenzenlose
Offenheit setzt und eine Kirche einer weitgehenden Unverbindlichkeit und
religiöser Billigstangebote will? Machen wir uns stark für eine glaubwürdige und
deshalb auch unbequeme Kirche, oder favorisieren wir bloss eine „church light“?
Dies sind die Fragen, die der Ort unter dem Kreuz an uns Christen heute stellt.
Diese Fragen kann ich freilich nicht allgemein beantworten. Vielmehr wird sie
jeder für sich ganz persönlich beantworten müssen. Denn das Kreuz, das wir in
der Nachfolge Mariens auf uns zu nehmen haben, kann verschiedene Namen
tragen: Das Kreuz kann eine schwere Krankheit sein, die ein Mensch im Glauben
durchleidet und gerade dadurch anderen Menschen zur Ermutigung wird. Das
Kreuz kann der Schmerz junger Menschen sein, die in ihrer Suche nach dem
Glauben von ihren Kollegen nicht ernst genommen, sondern belächelt werden.
Das Kreuz kann öffentliche Blamage für den heissen, der sich im Namen des
Evangeliums für mehr Gerechtigkeit unter den Menschen und Völkern und für die
Achtung der Würde des menschlichen Lebens von seinem Anfang bis zu seinem
natürlichen Ende einsetzt.
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Wie Maria zum Kreuz stehen
In diesem Sinne könnte ich lange fortfahren und eine eigentliche Litanei heutiger
Kreuze aufstellen. Von dieser Litanei aber kann sich kein Christ ausnehmen.
Dieses Stehen unter dem Kreuz Jesu bereitet heute freilich vielen Menschen und
selbst Christen Mühe. Sie haben grosse Probleme mit der Kreuzesbotschaft
unseres Glaubens. Sie haben ein regelrechtes „Kreuz“ mit dem Kreuz.
Das Leitwort des heutigen Tages ruft uns aber in die Erinnerung: Es ist kein
Zufall, dass Jesus dem Jünger und damit auch uns seine Mutter gerade unter
dem Kreuz anvertraut hat. Denn dieses grossartige Liebesgeschenk Jesu an uns
macht auch die innerste Mitte des Kreuzes Jesu sichtbar, wie sie der Evangelist
Johannes mit diesen tiefen Worten ausgedrückt hat: „Gott hat die Welt so
geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt,
nicht verlorengeht, sondern das ewige Leben hat“ (Joh 3. 16). Das Kreuz Jesu
enthält deshalb eindeutig eine Botschaft von Gottes Liebe und Rettung. Sie
verheisst uns, dass der Gute Hirte selbst dann nicht von seiner liebenswürdigen
Suche nach dem Verlorenen ablässt, wenn die bösen Kräfte in den Menschen voll
entbrennen und den Guten Hirten selbst treffen. Das Kreuz Jesu zeigt uns das
konsequente Handeln eines grenzenlos liebenden Gottes, der den Menschen
selbst bis in die tiefsten Abgründe und verborgensten Katakomben eines durchKreuz-ten Lebens nahe sein will. Das Kreuz ist „die Erscheinung der grössten
Liebe Gottes“2.
Diese frohe Botschaft erschliesst sich vor allem dann, wenn wir uns der
eigentlichen Tiefe des Kreuzes Jesu öffnen. Diese besteht in der Erfahrung der
Verlassenheit Jesu am Kreuz und in seinem Schrei: ”Mein Gott, mein Gott,
warum hast du mich verlassen?” (Mk 15. 34). Dies ist die Erfahrung der Hölle.
Denn im klaren Bewusstsein der Nähe Gottes sich von ihm verlassen zu erfahren,
dies ist im buchstäblichen Sinne die Hölle. Diese Erfahrung konnte eigentlich nur
Jesus machen, weil er sich wie kein anderer so sehr mit Gott, den er zärtlichintim “abba” nannte, verbunden wusste. Doch gerade in dieser Erfahrung des
Verlassenseins blieb der Blick Jesu auf den Vater gerichtet und überliess er sich
den Händen seines Vaters. Der Schrei des verlassenen Jesus am Kreuz bringt
insofern nicht nur die Angst eines Verzweifelten zum Ausdruck, sondern vor
allem das Gebet des Sohnes, der sein Leben dem Vater in Liebe darbringt, um
allen das Heil zu bringen.
Wenn wir die abgründige Tiefe dieser Erfahrung der Verlassenheit Jesu am Kreuz
bedenken, dann liegt darin der grösste Trost, den das Kreuz Jesu uns Menschen
2
Miloslav Kardinal Vlk im Gespräch mit Rudolf Kucera, Wird Europa heidnisch? (Augsburg 1999) 87.
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bereithält. Genau diesen Trost haben die grossen Heiligen unserer Kirche jeweils
beim Kreuz gesucht und auch gefunden. Diesen Trost dürfen auch in der
heutigen Welt vor allem jene zahllosen Menschen suchen und finden, sie sich
verlassen fühlen. Denn wenn sogar Jesus in der schrecklichen Passion seiner
Seele seinen Blick auf den Vater richtet, dann dürfen auch die verlassensten
Menschen darauf hoffen, dass Gott auch bei ihnen selbst in der Erfahrung seiner
Abwesenheit noch anwesend sein will.
Wir Christen und Christinnen sind eingeladen und herausgefordert, in den
Menschen, die sich verlassen fühlen, den verlassenen Jesus selbst
wahrzunehmen. Damit uns dies gelingen kann, legt Papst Johannes Paul II. in
seinem Pastoralprogramm für das begonnene Dritte Jahrtausend ”Novo Millennio
Ineunte” einen besonderen Akzent auf die Betrachtung des Antlitzes Jesu Christi
voller Schmerzen: ”Um dem Menschen das Angesicht des Vaters zurückzugeben,
musste Jesus nicht nur das Gesicht des Menschen annehmen, sondern sich sogar
das <Gesicht> der Sünde aufladen.” 3 In dieser Konzentration auf das “Antlitz
voller Schmerzen”, das es zu betrachten gilt, liegt die schöne Botschaft von der
ge-Kreuz-igten Liebe Gottes, die wir verkünden und in deren Licht wir leben
dürfen. Sie ist eine Botschaft, die auch und gerade der Mensch heute braucht
und die auch wir brauchen.
Marias Stolz auf Gott
Wenn wir mit Maria unter dem Kreuz Jesu stehen, werden wir auch solidarisch
mit den vielen Menschen, die heute ein schweres Kreuz zu tragen haben. Bitten
wir Maria, die selbst unter dem Kreuz gestanden hat, dass sie uns auch heute
hilft, glaubwürdig unter dem Kreuz und in der Welt überzeugt zum Kreuz Jesu
Christi zu stehen. Vor allem aber sind wir eingeladen, mit Maria immer wieder
Gottes Liebe zu uns Menschen zu betrachten. Maria möchte auch uns liebesfähig
machen, wie Gott sie liebesfähig und deshalb geniessbar gemacht hat.
Ein grosser Zeuge unseres Glaubens hat Gott einmal einen „Backofen voller
Liebe“ genannt. Wie der Backofen des Bäckers den noch nicht geniessbaren Teig
zum geniessbaren Brot werden lässt, so kann auch Gottes Liebe als der Backofen
unseres Lebens uns zu geniessbaren Menschen verwandeln. Geniessbar zu
werden für Gott und dadurch für die Menschen und zunächst wohl für sich selbst:
wie dies geschehen kann, können wir an Maria, der uns anvertrauten Mutter Jesu
Christi, ablesen. Ihre Geniessbarkeit wird sichtbar beim Gruss des Engels bei der
Verkündigung: „Sei gegrüsst, du Begnadete, der Herr ist mit dir“ (Lk 1. 28).
Maria ist deshalb ein so geniessbarer Mensch, weil sie in radikaler Weise in und
aus der Gnade Gottes und seiner Liebe gelebt hat.
3
Johannes Paul II., Novo millennio ineunte, Nr. 25.
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In diesem Von-Gott-Geliebt-Sein ist Maria sogar ein sehr stolzer Mensch
gewesen. Stolz war sie freilich nicht auf irgendetwas und schon gar nicht auf sich
selbst und ihre eigenen Leistungen, sondern allein auf Gott. Dies zeigt ihr
schönes Loblied auf Gott, das Magnificat: „Meine Seele preist die Grösse des
Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.“ Dabei gedenkt Maria
auch der wunderbaren Taten Gottes in der Geschichte mit seinem Volk und
bebildert Gott mit einer ganzen Reihe von Tätigkeitswörtern, nämlich als einen
Gott, der die Mächtigen vom Throne stürzt und die Niedrigen erhöht, und als
einen Gott, der die Hungernden beschenkt und die Reichen leer ausgehen lässt
(Lk 1. 46-55). Denn Maria kennt den Urwunsch Gottes, dass er selbst ein
Tätigkeitswort in ihrem Leben, aber auch in unserem Leben werden möchte. Und
Maria weiss, dass Gott kein Abstraktum, kein „Gott ohne Eigenschaften“, sondern
ein „Gott mit Leidenschaften“ ist, und zwar mit sehr starken Leidenschaften für
uns Menschen.
Deshalb drängt es Maria, auch das Wunder, das alle Wunder übersteigt, zu
verkünden, nämlich das Wunder der Menschwerdung des Sohnes Gottes in ihr.
Hier hat Gott gezeigt, dass seine Grösse gerade darin besteht, dass er sich so
klein machen kann wie ein Kind und dass er für das Wirken dieses Wunders auf
die Mitwirkung Mariens angewiesen ist. Maria hat ihren Leib und damit sich selbst
zur Verfügung gestellt, auf dass er eine Wohnung für Gottes Sohn in der Welt
werden konnte. Maria war nicht nur ganz offen und empfänglich für Gott,
sondern sie hat auch so gelebt, dass sie für Gott ganz durchlässig und geradezu
„bewohnbar“ geworden ist. Wie Maria das menschliche Zelt für die Einwohnung
Jesu Christi in unserer Welt geworden ist, so sind auch wir berufen, zu einer
glaubwürdigen Wohnung für Jesus Christus zu werden. Wenn wir Christus in uns
Raum geben und ihn gleichsam in uns wohnen lassen, dann leben wir wahrhaft
im Geist jener Mutter, die uns Christus anvertraut hat.
Marianischer Geist des Gebetes
Der Geist Mariens ist vor allem ein Geist des Gebetes. Maria ist sogar die
Vorbeterin im Glauben, wie uns die Apostelgeschichte zeigt: Es war nach der
Himmelfahrt Jesu Christi, als sich die Apostel zusammen mit den Frauen, die
Jesus nachgefolgt waren, und Maria, der Mutter Jesu, im Abendmahlssaal
versammelten und dort einmütig im Gebet um das Kommen des Heiligen Geistes
verharrten. Pfingsten gab es damals ohne vorbereitendes Gebet ebensowenig,
wie es heute ein neues Pfingsten ohne Gebet geben kann. Maria erweist sich
dabei als Mutter der betenden Kirche. Jesus schenkt uns seine Mutter unter dem
Kreuz auch als Mitbeterin und als Fürbitterin, an die wir uns vertrauensvoll
wenden dürfen.
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Dieses zweifellos schönste Bild für die heutige Situation des Glaubens sollten wir
uns immer wieder vergegenwärtigen und es auch selbst verwirklichen, indem wir
uns Zeit nehmen für das Gebet. Denn die Zeit des Gebetes ist die „für Gott
verlorene Zeit“. Dies ist freilich die schönste und reichste Zeit. Wer sich darauf
einlässt, wird erfahren, dass die für Gott verlorene Zeit sich wandelt zu der für
uns Menschen gewonnenen Zeit. Wie wir auf Wanderungen immer wieder
Rasthalte brauchen, um uns in der Landschaft neu zu orientieren, so brauchen
wir auch auf dem christlichen Lebensweg immer wieder das Gebet als Ort der
Ruhe und Besinnung, um uns vor Gottes Angesicht neu zu orientieren und den
Sinn unseres Lebens neu zu finden. Das tägliche Gebet ist gleichsam der
Kompass, mit dem wir uns auf der Landkarte unseres Lebens zurechtfinden
können. Maria selbst will uns dazu ermutigen, die persönliche Beziehung mit
Christus im Gebet jeden Tag zu pflegen – selbst dann, wenn wir den Eindruck
gewinnen sollten, dass das Beten nichts bringt. Dann wünsche ich uns allen jene
Erfahrung, die ein Schüler gemacht hat:
Er betet zwar, erhält aber im Gebet keine Antwort. Deshalb geht er zu seinem
weisen Rabbi und trägt ihm seine Not vor. Dieser jedoch antwortet ihm, ohne
scheinbar auf seine Frage einzugehen, er solle die vor ihm liegende geflochtene
Zeine, mit der üblicherweise die Kartoffeln vom Feld heimgetragen werden,
ergreifen, zum Brunnen gehen und Wasser holen. Der Schüler tut, was ihm der
Rabbi aufgetragen hat. Doch auf dem Rückweg vom Brunnen verliert er alles
Wasser, das durch die kleinen Öffnungen hindurchgeflossen ist. Enttäuscht
wendet sich der Schüler an den Rabbi und bemerkt, dass es sich mit dem Gebet
genauso verhalte. Der Rabbi hingegen ermuntert den Schüler, es nochmals zu
versuchen. Doch das Ergebnis ist dasselbe: Das Wasser hat die Zeine wieder
verlassen. Der Rabbi fordert den Schüler ein drittes Mal auf. Murrend versucht es
der Schüler nochmals. Da es ihm aber wiederum nicht gelungen ist, mit der
Kartoffelzeine vom Brunnen Wasser zurückzutragen, ruft der Schüler voller
Enttäuschung und Resignation aus: „Jetzt hast auch du den Beweis, dass das
Gebet überhaupt nichts nützt. Wie das Wasser nicht in der Zeine geblieben ist, so
rinnen auch meine Gebete gleichsam durch die Finger Gottes hindurch.“ Doch der
Rabbi antwortet: „Du Dummkopf, hast Du noch immer nicht bemerkt, dass
inzwischen die Zeine endlich sauber geworden ist?“
Verhält es sich mit unserem Gebet nicht oft auch so, dass es an uns etwas
bewirkt, dass es uns reinigt und sauber macht? Sind wir deshalb nicht gut
beraten, sensibel zuzusehen, was das Beten bei uns selbst auslöst, statt dort
nach seinen Wirkungen zu suchen, wo sie nicht zu finden sind? Auf jeden Fall
braucht auch unsere Beziehung zu Christus immer wieder die Vertiefung im
Gebet, wie jede menschliche Freundschaft mit der persönlichen Beziehungspflege
steht oder fällt.
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Maria als Urbild der glaubenden Antwort auf Gottes Ruf
Im Gebet treten wir vor Gott und fragen nach seinem Ruf in unserem Leben, mit
dem jede Geschichte mit Gott beginnt – wie bei Maria. Wie Gott Maria bei ihrem
Namen gerufen hat, die Mutter seines Sohnes zu werden, so ruft Gott auch jeden
einzelnen von uns bei seinem Namen. Einen solchen Ruf hält Gott für jeden
Christen und jede Christin bereit, und zwar in der Taufe. In ihr wird ein Mensch
aufgenommen in die Gemeinschaft der Kirche, und es wird ihm die
Grundsendung aufgetragen, seinen Beitrag zu leisten zum Aufbau der Kirche,
seinen Glauben glaubwürdig zu leben und das Evangelium in den alltäglichen
Lebensbereichen zu verkünden. Es ist die Taufe, die uns alle in der Kirche – ob
Laie, Diakon, Priester oder Bischof – am tiefsten miteinander verbindet, wie dies
Papst Johannes Paul II. in seinem persönlich verfassten Buch „Die Schwelle der
Hoffnung überschreiten“ eindrücklich betont hat: „Wenn man gut nachdenkt, so
bedeutet es wesentlich mehr, Christ zu sein als Bischof, selbst dann, wenn es
sich um den Bischof in Rom handelt.“4
Ebenso entscheidend wie der Ruf Gottes an uns Menschen ist unsere Antwort auf
seinen Ruf. Dies zeigt sich wiederum bei Maria mit ihrer schönen Antwort auf den
Ruf Gottes: „Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt
hast“ (Lk 1. 38). Mit diesem „Fiat“ erweist sich Maria als die exemplarisch
Glaubende: Sie lässt sich von Gott mit einem äusserst ungewöhnlichen Anruf
interpellieren. Gewiss provoziert dieser Ruf Gottes auch bei ihr Fragen und
Zweifel: „Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?“ Doch auf die
Zusage des Wirkens des Heiligen Geistes durch den Engel gibt sie ihre
Bereitschaft und spricht ihr „Fiat“: „Es soll geschehen!“
Dieses ist freilich nur in einem tiefen Vertrauen auf Gott möglich. Denn Vertrauen
heisst, sich aus dem Gefängnis des eigenen Ich befreien zu lassen, sich selbst zu
verlassen und sich ganz auf Den zu verlassen, der wirklich vertrauenswürdig ist,
nämlich auf den lebendigen Gott. Solches Vertrauen ist der innerste Kern des
Glaubens. Dies sieht man freilich dem in der alltäglichen Sprache
vorherrschenden Umgang mit dem menschlichen Urwort „glauben“ kaum mehr
an. Sehr oft reden wir vom „Glauben“ in jenem blassen Sinn, der die größte
Wahrscheinlichkeit einer Meinung zum Ausdruck bringt: „Ich bin zwar nicht
sicher, ob morgen wieder die Sonne scheinen wird, aber ich glaube es.“ Oder
dieses Wort wird gebraucht, um auszudrücken, dass man etwas für wahr hält,
wiewohl man davon nicht überzeugt ist, sei es aus Bequemlichkeit des eigenen
Denkens oder sei es aufgrund mangelnder Beweise: „Ich vermag die Sache zwar
nicht zu durchschauen, ich muss sie eben glauben.“
4
Johannes Paul II., Die Schwelle der Hoffnung überschreiten (Hamburg 1994) 42.
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Dieser blasse und entleerte Sinn kann unmöglich gemeint sein, wenn von
Glauben im christlichen Sinn als Beziehung des Menschen zu Gott die Rede ist.
Die alltagssprachliche Bedeutung versachlicht, was ursprünglich in personalen
Erfahrungen beheimatet ist: Das deutsche Wort „glauben“ und das englische „to
believe“ meinen eigentlich „lieben“ und „loben“, sich einem anderen in liebender
Zuneigung und herzlicher Hingabe vertraut machen. In einen ähnlich personalen
Lebenszusammenhang verweist auch das lateinische Wort „credere“, das
zusammengesetzt ist aus „cor“ (Herz) und „dare“ (geben) und damit bedeutet,
sein Herz und sein ganzes Vertrauen schenken. Glauben meint den Kredit, den
ein Mensch einem anderen schenkend anvertraut, auf den er sich voll und ganz
verlässt und an den er gleichsam sein Herz hängt. Denn menschliches Vertrauen
bedarf eines Kontos, auf dessen Inhaber es bauen kann. Vollends im christlichen
Sinn heisst glauben, dass der Mensch sein Lebenszentrum nicht in sich selbst
findet, sondern dass er sich selbst verlässt und sich festmacht in der Tiefe seines
Lebens, die nur Gott sein kann.
Berufung zur Heiligkeit
Die Lebensart des Glaubens ist deshalb die Gelassenheit. Sie unterscheidet sich
um eine ganze Welt von der angestrengten Borniertheit der Sünde. Denn Sünde
kommt von „absondern“ und bezeichnet die Negierung und Zerstörung der
menschlichen Verhältnisse. Die Sünde ist die Zerstörung der für das menschliche
Leben notwendigen und es tragenden Verhältnisse und Beziehungen: der
Beziehung des Menschen zu sich selbst, der Beziehung zu den Mitmenschen, der
Beziehung zur Gemeinschaft, der Beziehung zur ganzen Schöpfung und - in
diesen vier Beziehungen - der Beziehung des Menschen zu Gott. Sünde ist genau
das Phänomen, das in der heutigen Sprache der Jugendlichen als
„Beziehungskiste“ treffend beim Namen genannt wird. Sehr präzis hat der
Reformator Martin Luther den Sünder als „homo incurvatus in se
ipsum“ bezeichnet: als den in sich selbst verkrümmten Menschen, und dies ist
wörtlich zu verstehen: Der in sich selbst verkrümmte Mensch vermag von der
ganzen Welt nichts mehr wahrzunehmen ausser seinen eigenen Bauchnabel, den
er denn auch prompt zum Hochaltar seiner Privatreligion erhebt, die zumeist
auch eine Religion des Bauches ist.
Glauben im Sinne des Vertrauens auf Gott ist demgegenüber die Befreiung des
Menschen aus dem Gefängnis des Kreisens um sich selbst und Befreiung zu
menschlichen Beziehungen und menschengerechten Verhältnissen. Wer glaubt
und vertraut, vollzieht damit das eine Notwendige, das Kardinal Joseph Ratzinger
die „kopernikanische Wende des eigenen Lebens“ genannt hat, nämlich dass wir
uns selbst nicht mehr als den Weltmittelpunkt betrachten, um den sich die
anderen zu drehen haben, sondern dass wir stattdessen beginnen, mit vollem
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Ernst zu bejahen, „dass wir eins von vielen Geschöpfen Gottes sind, die
gemeinsam sich um Gott als die Mitte bewegen“5.
Wenn wir diesen Anspruch des Glaubens in seiner ganzen Tragweite ernst
nehmen, spüren wir erst recht, wie resistent die Sünde, genauerhin die
vorkopernikanische Illusion, in uns lebt und wirkt. Nicht nur meinen wir noch
immer dem Augenschein nach, dass die Sonne auf- und untergeht und sich um
die Erde dreht, sondern auch in einem viel tieferen Sinn leben wir noch immer
existenziell vor Kopernikus, wenn wir illusionär meinen, das eigene Ich für den
Mittelpunkt halten zu dürfen und zu sollen, um den herum sich die Menschen und
die ganze Welt zu drehen haben. Demgegenüber mutet uns der christliche
Glaube zu, dass wir die kopernikanische Wende auch in unserem Leben
vollziehen und den Egoismus, die Selbstzufriedenheit und das Zurückschauen auf
uns selbst überschreiten, indem wir uns im lebendigen Gott verwurzeln.
Glauben heisst, in den alltäglichen Lebensbeziehungen ein heiliges und
heiligendes Leben zu führen. Auf die wohl elementarste Frage des christlichen
Glaubens, worin der Wille Gottes besteht, gibt Paulus im ersten Brief an die
Thessalonicher diese ebenso elementare Antwort: „Das ist es, was Gott will: eure
Heiligung“ (4. 3). Paulus sagt damit, dass der Wille Gottes im Letzten ganz
einfach ist, nämlich Heiligkeit. Solche christliche Heiligkeit besteht nicht in
irgendwelchen unnachahmbaren Heroismen, sondern im gewöhnlichen Leben des
Christen von Gott her, mit Gott und auf Gott hin, um dieses Leben im Geist des
Glaubens zu durchformen. Christliche Heiligkeit verwirklicht sich deshalb in
unzählbaren Gestalten und kann in jedem Beruf und in jeder Lebensform gelebt
werden. Heilig ist nicht das Ungewöhnliche, sondern das Gewöhnliche, das
Normale für jeden Getauften.
Diese gemeinsame Berufung zur Heiligkeit ruft uns Papst Johannes Paul II. als
erste Priorität unter den Zukunftsperspektiven „Neu anfangen bei Christus“ in
Erinnerung: „Ohne Umschweife sage ich vor allen anderen Dingen: Die
Perspektive, in die der pastorale Weg eingebettet ist, heisst Heiligkeit.“ 6 Denn
heilig ist der Mensch, der in seinem Leben den Willen Gottes sucht und gewillt ist,
in ihn einzuwilligen, wie es Maria mit ihrem ganzen Leben getan hat - bis unter
dem Kreuz ihres Sohnes, wo uns Christus seine Mutter als unsere Mutter
anvertraut hat: „Siehe, deine Mutter“. Nehmen wir dieses grosse und grossartige
Geschenk Jesu Christi dankbar an und versuchen wir immer wieder neu, wie
Maria und mit Maria zu leben.
5
6
J. Ratzinger, Vom Sinn des Christseins. Drei Predigten (München 1966) 58.
Johannes Paul II., Novo Millennio ineunte, Nr. 30.
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