Die böhmische Zensur im Kontext der vormärzlichen

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FF UK – ÚČL AV ČR
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Betreuerin: Doc. PhDr. Magdalena Pokorná, CSc.
Die böhmische Zensur im Kontext der
vormärzlichen Habsburgermonarchie
Beschreibung des Dissertationsprojekts
Die Zeit zwischen dem Ende der Napoleonischen Kriege und dem Ausbruch der Revolutionen im Jahre 1848 wird im historischen Gedächtnis als Epoche der Vorbereitung der großen historischen Prozesse (Nationalismus, Industrialisierung, Auflösung der vormodernen
Wirtschaftsverhältnisse) verstanden, die jedoch von den staatlichen Restaurationsbemühungen gehemmt oder gehindert wurden. Als eines der wichtigsten Merkmale der Periode wird
traditionell die rigide Zensur betrachtet, die das literarische Leben in der Habsburgermonarchie wesentlich beeinflusst hat, indem sie die Autoren entweder zur politischen Emigration drängte, oder zur Flucht in entpolitisierte biedermeierliche Themen nötigte. Inwieweit
entsprechen diese traditionellen Meinungen den Ergebnissen der modernen historischen
und literaturgeschichtlichen Forschung?
Das vorliegende Dissertationsprojekt entsteht am Institut für die tschechische Geschichte
der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität Prag (Betreuerin doc. Magdaléna Pokorná, CSc.), in enger Zusammenarbeit mit dem Projekt Česká literární cenzura v obrysech
(Die tschechische literarische Zensur im Aufriss) des Instituts für tschechische Literatur der
tschechischen Akademie der Wissenschaften. Methodologisch knüpft das Dissertationsprojekt an die Theorie des sog. new censorship (R. C. Post, R. Burt) sowie an kritische Auseinandersetzungen mit dieser Theorie (B. Müller) an. Die Zensur wird demnach als administrative Regulierung und soziale Kontrolle der literarischen Kommunikation zwischen
dem Autor und dem Leser verstanden, die von einer oder mehreren Autoritäten im sozialen
Feld ausgeübt wird und die zu Eliminierung der mit den ideologischen, moralischen oder
ästhetischen Normen kollidierenden Texte (oder Bedeutungen, Lesearten, ästhetischer Kriterien) führt. Dabei kommt es zu ständigen „Verhandlungen“ zwischen den Autoren (bzw.
Distributoren) einerseits und den Vertretern der Zensurinstanzen anderseits, zugleich aber
zur Verlegung der Zensur in andere Bereiche des literarischen Prozesses als Folge der Antizipation von Zensureingriffen (z. B. Selbstzensur, „Vorzensur“ durch Redakteure der Zeitschriften, durch Verleger etc.). Auch die eventuelle Dissonanz einzelner Autoritäten im Be-
15. Münchner Bohemisten-Treffen, 4. März 2011 — Exposé Nr. 38
Mgr. Petr Píša
Petr Píša: Die böhmische Zensur
reich der Zensur oder einzelner Institutionen innerhalb des Zensursystems muss in Betracht
gezogen werden.
Für den Kontext der vormärzlichen Habsburgermonarchie ist die detaillierte Erforschung
der Zensurverhältnisse im Königreich Böhmen in vielerlei Hinsichten nützlich. Als Provinz
des österreichischen Kaiserstaates war die böhmische Zensur dem böhmischen Landespräsidium und der Wiener Obersten Polizei- und Zensurhofstelle untergeordnet, was die Frage
nach den Unterschieden zwischen den provinzialen und zentralen Stufen der Zensurhierarchie mit sich zieht. Böhmen lag an der Verbindung zwischen dem Buchhandelszentrum
Leipzig und den übrigen Ländern der Habsburgermonarchie. Die literarische Kommunikation zwischen Prag und Leipzig spielte dabei eine spezifische Rolle – vor allem in den
1840er Jahren wurde Leipzig zum Zentrum der Emigranten aus der Habsburgermonarchie
(insbesondere aus Böhmen), die sich dem österreichischen System gegenüber polemisch
äußerten. Solche Texte wurden von der habsburgischen Zensur prinzipiell verboten, fanden
aber durch Einschmuggelung Leser und wurden durch die publizistischen Schriften böhmischer Autoren beantwortet. Die Rolle der Zensur in dieser Polemik zwischen den böhmischen und den Leipziger Autoren1 bleibt bisher unerforscht.
Nicht zuletzt bedeutet die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts für Böhmen die Blütezeit der
sog. tschechischen nationalen Wiedergeburt, die zur Etablierung der tschechischen Literatur
und zu ihrer Auseinandersetzung mit der deutschböhmischen Literatur führte. Traditionell
wird die vormärzliche Zensur als Feind der tschechischen nationalen Bestrebungen geschildert; diese Behauptung muss aber grundlegend überprüft und modifiziert werden. Das Dissertationsprojekt setzt die Analyse der Zensurverhältnisse für die Produktion in beiden
Landessprachen (mit Berücksichtigung der lateinischen oder hebräischen Produktion) voraus. Vorläufige Forschungsergebnisse zeigen, dass die Skala der möglichen Standpunkte
der Zensur gegenüber der tschechischsprachigen Literatur sehr breit war. Sie erstreckte sich
zwischen der impliziten Behandlung des Tschechischen als Sprache der ungebildeten Volksschichten, die um so mehr vor den schädlichen Einflüssen der Lektüre geschützt werden
müssen, einerseits, und der bewussten Schonung der tschechischen nationalen Bewegung
vor den potenziell negativen Konsequenzen des Zensurverbots eines tschechischen Textes
auf die nationalen Bestrebungen andererseits. Die Standpunkte unterschieden sich im Laufe
der untersuchten Periode sowie auf verschiedenen Stufen der Zensurhierarchie. Umgekehrt
versuchten die tschechischen nationalen Aktivisten, das Bild der Zensur als einer fremden,
national feindlichen Instanz zu prägen, was zur Stärkung der nationalen Agitation beigetragen hat.
Die Erforschung der Stellungnahme der Zensur zu den nationalen Fragen sollte jedoch die
anderen Aspekte der Zensur nicht in Hintergrund drängen. Das Dissertationsprojekt thematisiert auch die Standpunkte der Zensur zu den sich von den überwiegenden ästhetischen
Prinzipien abweichenden Literaturströmungen (Romantismus und „Byronismus“) und Gattungen (Ritter- und Gespensterromane), sowie auch zu negativ empfundenen medizinischen
Methoden (Wasserkur) oder zu religiösen Minderheiten (etwa die Behandlung der protestantischen Schriften).
1
Zu ihr vgl. Heidler, Jan: Čechy a Rakousko v politických brožurách předbřeznových, Praha 1920,
Lenghauer, Hubert: Ästhetik und liberale Opposition. Zur Rollenproblematik des Schriftstellers in der österreichischen Literatur um 1848, Wien - Köln 1989.
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Petr Píša: Die böhmische Zensur
Übersicht der Quellenlage
Das Dissertationsprojekt setzt die Erforschung des Bestandes des Landespräsidiums in Prag
(Presidium českého gubernia) im Prager Nationalarchiv voraus, das bisher hinsichtlich der
Zensur lediglich zu Einzelstudien über konkrete literarische Persönlichkeiten und ihre
Werke benutzt wurde. Der fast lückenlos erhaltene Archivbestand enthält Informationen
über die Gegenstände, die auf der höchsten Ebene der Landesverwaltung erledigt wurden.
Die Materialien über die Behandlung der damals als weniger wichtig betrachteten Werke
sind nur zum Teil erhalten, am häufigsten in Akten der Prager Erzdiözese und im Nachlass
des theologischen Zensors H. J. Zeidler. Für die Erforschung der Zensur auf niedrigeren
Ebenen der Verwaltung sind die Bestände der Prager Stadthauptmannschaft und der Kreisämter (voraussichtlich Budweis, Jungbunzlau) zu nutzen.
Einen wichtigen Einblick in die Zensur der böhmischen Werke auf der höchsten Staatsebene sowie Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Provinzen des österreichischen Kaiserstaats bieten die Wiener Archive, v. a. der durch Brandschäden leider nur teilweise erhaltene Bestand der Polizeihofstelle im Allgemeinen Verwaltungsarchiv, die Materialien der
Studienhofkommission daselbst und die amtliche Korrespondenz zwischen der Polizeihofstelle und Staatskanzlei im Haus- Hof- und Staatsarchiv.
Die zeitgenössischen Memoiren (z. J. B. Pichl, M. Mikšíček, K. Kübeck von Kübau) und
die Korrespondenz der böhmischen Literaten bilden eine wichtige Grundlage zur Erforschung des damaligen Verhältnisses der Autoren zu Zensur und der Strategien für die erfolgreiche Zensurierung ihrer Texte bzw. die Umgehung der Zensur. Erst die Konfrontation
dieser Ego-Dokumente mit den institutionellen Quellen erlaubt es, die Frage der wechselseitigen Verhandlungen im Laufe des Zensurprozesses oder die Rolle der einzelnen Zensoren bei der Behandlung der Werke (z. B. der im tschechischen Literaturkreis berüchtigt
empfundene Zensor J. W. N. Zimmermann vs. sein positiv bewerteter Nachfolger P. J. Šafařík) näher zu beleuchten.
Die leider nur fragmentarisch erhaltenen Archivmaterialien des Prager Buchhändlergremiums oder Archivbestände des Prager Guberniums bieten die Möglichkeit, die ökonomischen Bedingungen des vormärzlichen Buchhandels und Maßnahmen im Feld der strukturellen Zensur zu analysieren.
Mgr. Petr Píša
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Ústav pro českou literaturu AV ČR, v.v.i.
Na Florenci 3/1420
CZ - 110 00 Praha 1
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