Gottes unheimliche Macht

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Gottes unheimliche Macht
Glaube In Europa sind sie auf dem Rückzug, doch in vielen Teilen der Welt
entfalten Religionen gerade neue Kraft. Sie nehmen Einfluss auf die Politik – und
lassen sich von ihr missbrauchen. Oft mit furchtbaren Folgen.
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DER SPIEGEL 13 / 2016
Titel
n Ostern werden die christlichen
Kirchen auch diesmal wieder etwas
besser besucht sein. Das Fernsehen
wird den päpstlichen Segen Urbi et orbi
live übertragen, der Petersplatz wahrscheinlich voller Menschen sein. Auf dem
Rasen des Weißen Hauses werden Ostereier versteckt. Das christliche Osterfest
folgt jedes Jahr seinem ritualisierten Ablauf. Auch wenn nicht alle mehr wissen,
was genau eigentlich gefeiert wird. Der
wahre Star des Osterfestes ist für viele im
Westen heutzutage ein Hase, der Eier aus
Schokolade versteckt.
Die Folklore der Osterfeiertage kann
nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich
die Religion als Weltdeutungsressource,
auch als politisch agierende Macht zumindest in den säkularen Gesellschaften
Europas zurückzieht. Die Kirchen bleiben
leer, die Gemeinden überaltern. Christdemokrat Wolfgang Schäuble schrieb, bezogen auf die evangelische Kirche, von einem „Akzeptanzdefizit“, dem sie zu begegnen habe. Den Katholiken geht es nicht
besser.
So ist das Bild nicht nur in Europa, und
der Trend verstärkt sich: 70 Prozent der
jungen Briten glauben nicht mehr an Gott.
Ähnlich in den Vereinigten Staaten: Eine
Studie der Universität San Diego stellte
fest, dass noch nie eine Generation so wenig religiös war wie die der heute 18 bis 29
Jahre alten Amerikaner.
Sie gehen nicht nur seltener zur Kirche,
sie beten auch kaum noch. Nur wenige
von ihnen glauben. Und weil Religion etwas ist, das sich wie die Sprache im Kindesalter vermittelt, beobachten Forscher
einen veritablen Abbruch der religiösen
Traditionen.
Krankheiten werden heute ohne Fürbitten geheilt, und die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode tröstet längst nicht
mehr alle, ebenso wenig wie die Furcht
vor der Hölle noch jemanden von Missetaten abhält.
Das verführt zu dem vorschnellen
Schluss, Gott wäre vielleicht noch nicht
tot, läge aber sehr wohl im Sterben. Religion gehorcht jedoch keinem Verlaufsschema, nach dem es nur einen Modernisierungsschub von Wirtschaft und Gesellschaft braucht, dann hat es sich mit Gebeten, dem Glauben an Götter und Gebote.
Dass sich Schule, Wissenschaft und Industrie nur ordentlich bemühen müssten,
schon werde die ganze Welt und der Himmel auch entzaubert – mithin erreichten
alle eine postmoderne Abgeklärtheit.
Das ist in Europa so, aber in weiten Teilen der Welt nicht. Die Religionen haben
Kraft, leisten damit auch ohne den Osterhasen viel Gutes. Sie geben Menschen
Halt, Glück, ja Erfüllung. Und sie geben
ganzen Gesellschaften eine Basis der Gemeinsamkeit. Nicht umsonst beschwören
Passionsspiele im venezolanischen Caracas
RAMON ESPINOSA / AP / DPA
A
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CHIP SOMODEVILLA / GETTY IMAGES
Betende Zuhörer bei einer Trump-Wahlkampfveranstaltung in Virginia: 80 Millionen Amerikaner zählen zu den Evangelikalen
selbst Politiker im säkularer werdenden
Europa noch den Mythos des „christlichen
Abendlandes“, auch wenn ein Begriff wie
„Kontinent der Aufklärung“ längst besser
passen würde.
Aber die Macht des Glaubens hat auch
eine unheimliche Seite. Diese Seite wird
dort deutlich sichtbar, wo sich Religion
und Politik zu nahe kommen.
Weltweit wird Gottes Macht benutzt
von Politikern, die noch weiter nach oben
wollen, um jeden Preis. Sie wird missbraucht, um Autokraten oder Diktatoren
zu stützen und Kriege zu rechtfertigen.
Und sie dient dazu, aus Menschen lebende
Waffen zu machen.
Oft sind es Menschen an den Rändern
säkularer Gesellschaften, Verlierer der Moderne, deren Wut Extremisten durch die
dunkle Kraft der Religion lenken können.
Es sind Männer wie jene Terroristen des
„Islamischen Staates“ (IS), die am Dienstag in Brüssel mehr als 30 Menschen umbrachten.
In vielen Gegenden der Welt wächst der
politische, der unheilvolle Einfluss der Religionen. Eine große Studie der Bertelsmann Stiftung, die der SPIEGEL vor Kurzem vorgestellt hat, warnt vor dem zunehmenden Druck, den christliche und muslimische Gruppen ausüben können – in Afrika, in der arabischen Welt, aber auch in
Ländern wie der Türkei oder Russland.
Nur: Woher kommt die unheimliche
Kraft des Glaubens? Wie benutzen Mächtige die Religion für ihre Zwecke? Wann
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ist der Glaube bedenklich, wann wird er
gefährlich?
Welche Kraft er hat, kann man zurzeit
gut in den Vereinigten Staaten sehen. Auch
wenn dort die allgemeine Religiosität abnimmt, fühlt sich zugleich oder gerade deswegen die große Gruppe der Evangelikalen
aufgefordert, wieder stark mitzumischen.
Das Thema Religion ist in diesem USWahlkampf omnipräsent, zumindest auf
der republikanischen Seite berufen sich
fast alle Bewerber auf Gott. Marco Rubio
hat seinen Ausstieg aus dem Rennen mit
einem öffentlichen Gebet verbunden. Ted
Teufelsaustreibungen und
Massenhypnose gehören
zum Spektakel, der Pastor
agiert als Entertainer.
Cruz steht regelmäßig auf der Bühne,
greift seine Unterstützer an den Händen
und schließt die Augen, um publikumswirksam zu beten.
Und selbst Donald Trump, der zwei
Scheidungen hinter sich hat, der viermal
Bankrott ging und auf Erden eine Sprache
pflegt, die im Himmel sicher auf dem Index stünde, hat sich vor Kurzem in Texas
das Gelübde abnehmen lassen, seinen
Wahlkampf nach christlichen Werten auszurichten. Zu beobachten ist ein Ringen
um das moderne Amerika, das maßgeblich
von wütenden weißen Christen getragen
wird. Jeder vierte Amerikaner zählt zu
den Evangelikalen, das sind etwa 80 Millionen Christen, ein machtvoller Wählerblock, den jeder Politiker gern hinter sich
wüsste.
Der Washingtoner Chefkorrespondent
des christlichen Fernsehsenders CBN, David Brody, spricht von einer Renaissance
des Religiösen in den USA. Dass die Beteiligung beim Vorwahlkampf der Republikaner jetzt Rekorde brechen konnte, hat
auch etwas damit zu tun, dass besonders
viele christliche Wähler ihre Stimme abgegeben haben.
Brody meint, die multireligiös geprägte
Gesellschaftsordnung provoziere den Widerspruch der Christen. „Wenn ich heute
aufstehe und laut sage, dass die Bibel recht
hat und eine Heirat nur zwischen Mann
und Frau stattfinden sollte, muss ich mich
auf heftige öffentliche Anfeindungen einstellen.“
Unter den extremen Christen gibt es Bäcker, die sich aus religiösen Gründen weigern, homosexuellen Paaren eine Hochzeitstorte zu backen; Eltern, die vor Gericht ziehen, weil ihre Kinder in der Schule
das islamische Glaubensbekenntnis lernen
müssen; Pfarrer, die den Satan für leibhaftig halten.
Lange Zeit hätten christliche Wähler
dem Wandel schweigend zugesehen, doch
bei dieser Wahl habe sich etwas verändert.
Diesmal gingen so viele Evangelikale in
die Wahllokale wie nie zuvor. Titel
Frauen wie Sue Stringer, eine Finanzbe- Massenhypnose gehören zum Spektakel,
raterin aus Texas, die im Wahlkampf Cruz der Pastor agiert als Entertainer.
unterstützt und ihm jetzt mit ihren FreunPolitiker dieser Freikirchen haben verdinnen Marianna und Muriel, einer Post- hindert, dass an Brasiliens Schulen Sexubeamtin und einer Chiropraktikerin, zu- alkunde gelehrt wird, sie blockieren eine
hört. „Unsere christliche Freiheit ist in Be- Lockerung des Abtreibungsverbots und hadrängnis“, sagt Stringer. „Das Christentum ben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der
wird angegriffen, dagegen müssen wir uns die berüchtigte „Schwulenheilung“ legaliwehren.“
sieren soll – bei der Ärzte versuchen, HoDer Einfluss konservativer Christen ist mosexuelle mit absurden Behandlungen
kein US-amerikanisches Phänomen, auch zu „therapieren“.
in Südamerika sorgen religiöse Kräfte für
Eduardo Cunha, Präsident des Abgeordeine brisante innenpolitische Situation im netenhauses, sorgte dafür, dass die wichfünftbevölkerungsreichsten Land der Erde. tigsten Verwaltungsposten mit EvangelikaUnd dort, in Brasilien, zeigt sich auch, wie len besetzt werden. Und stattete sie mit eider Glaube nicht nur von Politikern im nem fürstlichen Etat aus: Umgerechnet
Wahlkampf genutzt wird, sondern wie er rund eine Milliarde Euro steht ihnen allein
seinerseits die Politik prägt. Und wie die für „Personalausgaben“ zur Verfügung. Die
Anführer schräger christlicher Kulte Macht Leiterin der Personalabteilung des Parlaausüben.
ments, die von Cunha eingesetzt wurde,
In Brasilien sind Staat und Kirche offi- dankte ihm: Er sei ein „Instrument Gottes“.
ziell getrennt, tatsächlich mischen sich die
Politisch stehen die meisten Evangelikaevangelikalen Pfingstkirchen massiv in die len stramm rechts. Präsidentin Dilma RousPolitik ein. Sie beherrschen sogar mehrere seff sehen sie als Werkzeug des Teufels.
Parteien. Über 90 Parlamentarier gehören „Satan hat die Regierung unterwandert“,
mittlerweile der überparteilichen Glau- rief der damalige Anführer des evangelibensorganisation Bancada Evangélica an, kalen Abgeordnetenblocks, Marco Feliciafast 30 Prozent mehr als während der letz- no, zu ihrem Amtsantritt. Verunglimpfunten Legislaturperiode.
gen dieser Art haben Rousseff und ihren
Die Pfingstler sind die am schnellsten Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva jedoch
wachsende religiöse Gruppe Brasiliens, nicht davon abgehalten, die Evangelikalen
von 2000 bis 2010 stieg ihre Anzahl um zu umwerben – auch hier sind die als Wähüber 60 Prozent. Heute stellen sie etwa lerpotenzial viel zu wichtig. Die Partei PRB,
ein Viertel der brasilianischen Bevölke- die von der mächtigen Kirche „Igreja Unirung, die katholische Kirche ist auf dem versal“ des selbst ernannten Bischofs Edir
Rückzug.
Macedo kontrolliert wird, gehörte bis vor
Anders als traditionelle evangelische Kurzem sogar der Regierungskoalition an.
Kirchen wie die Lutherischen legen die
Macedo ist der reichste und bekannteste
Pfingstgemeinden den Akzent auf den Hei- aller evangelikalen Kirchenfürsten. In eiligen Geist, ihre Gottesdienste ähneln rie- nem Arbeiterviertel der Millionenmetrosigen Shows. Teufelsaustreibungen und pole São Paulo ließ Macedo eine neue Welt-
zentrale seiner Kirche bauen, für Hunderte
Millionen Euro. Es ist ein kitschiger Nachbau des Salomo-Tempels. Rousseff musste
zur Einweihung erscheinen.
Doch woher kommt diese Macht religiöser Zampanos? Warum folgen Millionen
solchen Leuten? Obwohl doch erkennbar
sein muss, dass sich viele am Geld der
Gläubigen bereichern und mit ihren Stimmen die eigene Macht vermehren wollen.
Es ist eine Frage der Psychologie – des
Einzelnen und der Massen. Viele brauchen
Trost, Hoffnung, einen Sinn, einen Rahmen für ihr Leben. Menschen werden geboren, ohne danach verlangt zu haben,
und müssen sterben, obwohl sie sich davor
fürchten. Das Religiöse ist für viele ein
Grundbedürfnis ihrer Existenz.
In den letzten 5000 oder 6000 Jahren haben die Menschen Tausenden Göttern gehuldigt. Es war alles dabei: Felsen, Tiere,
Himmelskörper und immer wieder auch andere Menschen. Religionen entstehen und
verschwinden wieder, selbst der einst die
Welt umspannende Supergott Zeus alias Jupiter fristet heute seine irdische Rente im
Museum und in Schulbüchern.
Doch erhalten bleibt das Bedürfnis nach
Geschichten, die von etwas Höherem künden, einen Sinn versprechen. Eine Gewissheit vermitteln, die keiner Begründung
bedarf. Und dieses Bedürfnis wird in Umbruchzeiten der Hypermobilität, der Digitalisierung, der Dynamisierung der Arbeitswelt und des Zwangs zur steten Selbstoptimierung nicht abnehmen.
In bestimmten Formen der Religion sehen viele die Möglichkeit, diese Welt wieder zu ordnen, aus Teilen eines Puzzles
wieder ein Ganzes zu machen, klarer zu
sehen. Diese wie verrückt um sich wirbeln-
Im Namen der Religion Staaten, in denen religiöse Dogmen spürbaren Einfluss auf die Politik haben
gering
33%
hoch
Russland
22%
Afghanistan
Türkei
Syrien
Libanon
Irak
Jordanien
Tunesien
Marokko
Iran
Bhutan
Nepal
Libyen
Mauretanien
Mali
Ägypten
SaudiArabien
Katar
Oman
Niger
Senegal
Sudan
Eritrea Jemen
Pakistan
Vereinigte
Arabische
Emirate
2006
Burma
Bangladesch
Thailand
2016
Anteil der Länder, in denen
religiöse Dogmen die Politik
beeinflussen
Philippinen
Nigeria
Elfenbeinküste
Zentralafrikanische
Kamerun Republik
Äthiopien
Sri Lanka
Malaysia
Somalia
Indonesien
Quelle: Bertelsmann Transformationsindex (BTI) 2016
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Dschihadisten vor dem Gebet bei Aleppo: Der Glaube als Treibstoff im Krieg
de Gegenwart, in der uns schon das Jahr
2001 vorkommt wie ältere Geschichte, fördert nicht bei allen die Lust, sich beherzt
in das fortschrittliche Getümmel zu stürzen, sondern eben auch den Wunsch nach
Klarheit, nach überschaubaren Verhältnissen – und danach, eine überlegene Position
einnehmen zu können, in all dem Chaos.
Dieses Bedürfnis setzt eine Energie frei,
die, unter passenden sozialen Bedingungen, auch politisch missbraucht werden
kann. Wer sich mit der multiethnischen
und multireligiösen Gesellschaft schwertut,
wird Formen des Religiösen finden, die
ihm die Gewissheit vermitteln, etwas Besonderes zu sein, sich über andere zu erheben. Das kann sich in Mitgefühl für andere äußern – aber auch in militanten Aktionen, einem neuen Gottessoldatentum.
Der Eifer der Frommen ist noch größer,
wenn deren Umgebung sich so gar nicht
darauf einlässt. Die Kraft einer unterdrückten Religion zu mobilisieren wie eine taktische Ressource, den Glauben zum Treibstoff im Krieg zu transformieren, diesen
Einfall hatten in moderner Zeit die Amerikaner. Sie glaubten, dass sich die von
den Sowjets gestützte Regierung in Afghanistan am ehesten durch eine islamisch motivierte Guerilla destabilisieren ließe.
Afghanistan ist nicht der einzige Fall, in
dem Religion gegen den Kommunismus
ins Feld geführt wurde: Auch der polnische
Papst trug entscheidend dazu bei, die Legitimität der kommunistischen Herrschaft
in seinem Land zu unterminieren. Und mit
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kaum einem anderen Thema lassen sich
die Machthaber in Peking so effizient ärgern wie mit dem Dalai Lama und der Religionsfreiheit in Tibet.
Die Amerikaner schmiedeten ein strategisches Bündnis: Fromme Muslime aus
Saudi-Arabien, ihre Glaubensbrüder aus
Pakistan und afghanische Mudschahidin
sollten zum gemeinsamen Kampf gegen
die gottlosen Sowjets antreten – ausgerüstet mit Dollars aus Amerika. Und das militärische Mittel der Wahl – kosteneffizient,
abschreckend – waren Terroranschläge gegen die Infrastruktur oder gegen die Familien russischer Offiziere.
Der Plan ging auf, aber die Kombination
aus religiösem Eifer und Terrorismus erwies sich danach als derart virulent, dass
sie zu einer von vielen genutzten und letztlich nicht mehr kontrollierbaren Plage der
Menschheit wurde.
Aus der Ferne betrachtet scheint fast
der ganze Nahe Osten Opfer eines sich
ausbreitenden religiösen Fanatismus geworden zu sein, der wie ein Flächenbrand
Syrien verschlingt, den Irak zerreißt, den
Jemen zerstört, Libyen und weitere Länder zu erfassen droht. Ein Feuersturm, der
vor Staatsgrenzen nicht mehr Halt macht,
aber der fast vollständig im Inneren der
islamischen Welt wütet. Sunniten gegen
Schiiten, die beiden großen Glaubensgruppen innerhalb des Islam, kämpfen
von Damaskus bis Bagdad bereits offen
gegeneinander, werden einander in anderen Ländern immer feindseliger, befeuert
von den beiden Mächten Saudi-Arabien
und Iran. Doch aus der Nähe gesehen zerfällt das
Bild der zunehmenden Religiosität in ganz
unterschiedliche Facetten. Denn überall,
wo vor ziemlich exakt fünf Jahren die Rebellionen losbrachen, hatten die Menschen
auf den Straßen dieselben Forderungen:
ein Ende von Machtwillkür, Unfreiheit,
Korruption – sowie mehr Jobs. Doch die
Reaktionen von außen fielen diametral unterschiedlich aus, je nach Glaubensverteilung: Saudi-Arabien unterstützte in Syrien
die vor allem sunnitische Opposition gegen
das alawitisch-schiitische Regime. In Bahrain wiederum, wo die Opposition aus der
schiitischen Bevölkerungsmehrheit gegen
das sunnitische Königshaus auf die Straße
ging, ließ Saudi-Arabien die Panzer einrollen, um jeden Widerstand gegen die Monarchie niederzuwalzen.
Iran machte es genau umgekehrt: in Syrien den Despoten mit allen Mitteln an der
Macht halten, in Bahrain bitterlich die Diktatur beklagen. So wurden die widerständigen Bevölkerungsteile nicht zu Geiseln
ihrer Feinde – sondern auch ihrer vorgeblichen Freunde. Denn der Westen kümmerte sich nur am Rande um den rasch eskalierenden Kampf in Syrien. Die dortigen
Rebellen nahmen an Unterstützung, was
sie bekommen konnten – und die kam vor
allem aus Saudi-Arabien, Katar und der
Türkei. Ebenso verfuhr das syrische Regime, das ohne Irans massive Hilfe schnell
vor dem Aus gestanden hätte. NIRANJAN SHRESTHA / AP / DPA
Muslim beim Koranstudium in Katmandu: Das Bedürfnis nach Geschichten von etwas Höherem
Dabei geht es in Riad und in Teheran
vor allem um eine Ausweitung oder zumindest Stabilisierung der eigenen Machtsphäre, definiert durch die religiöse Zugehörigkeit der Herrscher. Begonnen hatte alles, wie so oft, mit einer Machtfrage: Nach dem Tod des Propheten Mohammed entspann sich der
Streit, ob sein Nachfolger aus dem Kreis
der Gefährten kommen oder ein Verwandter Mohammeds sein sollte. Wie Ali Ibn
Abi Talib, Mohammeds Cousin. Dessen
Gefolgschaft hieß „Schiat Ali“, Partei Alis,
daher stammt der Name Schiiten. Über zwei Jahrzehnte zog sich dieses
erste Ringen um die Macht, bis etwas Seltsames geschah: In der Schlacht von Kerbela im Südirak wurden Alis Sohn Hussein
und dessen letzte Getreue vernichtet.
Doch statt in Vergessenheit zu versinken,
erstarkten die Schiiten: Durch Husseins
Untergang entstand eine Glaubensrichtung, die sich durch die Niederlage definierte, im Widerstand wuchs. Innerhalb des Islam etablierten sich so
zwei konkurrierende Konzepte: Die Sunniten sehen Macht und Glauben als Einheit. Die Schiiten folgten dem Mythos Alis
und Husseins, der sich für seinen Glauben
geopfert hatte.
Die Linie ihrer Nachfahren erlosch nach
zwei Jahrhunderten, der Legende nach
verschwand der zwölfte Imam im Jahr 874
in der Entrückung. Als Vollstrecker der
göttlichen Ordnung werde er dermaleinst
wieder auftauchen. Doch wenn jede legitime Herrschaft auf
Erden warten muss bis zur Rückkehr des
Messias, was hieß das für alle realen Mächte? Wenig Gutes, denn die wahre Loyalität
der Schiiten war ja bereits anderweitig vergeben. Die Folge war ein immerwährendes
Misstrauen sunnitischer Herrscher gegenüber ihren schiitischen Untertanen. Bis
sich im 16. Jahrhundert eine schiitische Dynastie in Iran an die Macht kämpfte. Damals entstand die bis heute schwelende
Der Glaube schafft
Identität – deren
Kehrseite ist die Ablehnung
der anderen.
Konkurrenz zwischen dem schiitischen
Iran und dem mehrheitlich sunnitischen
Arabien.
Glaube schafft Identität, Zugehörigkeit.
Doch deren Kehrseite ist die Ablehnung
der anderen, und der Islam ist für die Nutzung als Allmachtsinstrument anfälliger
als andere Religionen. Deutlicher als ihr
Wertekanon trennt die Weltreligionen die
Biografie ihrer Stifter: Siddharta Gautama
erwarb seine Anhängerschaft durch Meditation, Jesus predigte und wurde gekreuzigt. Mohammed begann zwar als Prediger,
eroberte dann jedoch ein Reich und hinterließ ein perfektes Vorbild für die Machtergreifung im Namen Gottes. Ausgerechnet Syrien hat sich jetzt zum
Epizentrum innerislamischer Machtkämpfe verwandelt. Der Bürgerkrieg bekam zunehmend religiöse Züge. Zudem eilten
schon ab 2012 die ersten schiitischen Truppen der Hisbollah Baschar al-Assads ausgezehrter Armee gegen die zumeist sunnitischen Rebellen zu Hilfe, gefolgt von
Zehntausenden aus dem Irak, aus Iran, Pakistan, Afghanistan. Was heute an Assads
Seite in Syrien kämpft, ist der erste internationale schiitische Dschihad der Geschichte: Freiwillige oder Gezwungene aus
verschiedenen Ländern kommen in einem
fremden Staat zusammen, um dort zu
kämpfen. Umgekehrt lief es vor 30 Jahren
in Afghanistan während der saudisch-amerikanisch-pakistanischen Kooperation.
Zu jener Zeit entstand eine islamische
Propagandaindustrie, die, von Saudi-Arabien finanziert, Bücher, Videos und Fernsehsendungen in die Welt setzt, in denen
es nur um die reine Lehre geht, eine antagonistische und manichäistische Sicht auf
die Welt, in der allein der sunnitisch-wahhabitische Islam mit seiner Ablehnung der
Demokratie und harschen bis verächtlichen Sicht auf Frauen im Recht ist.
Die Prediger und Botschaften aus diesem theologisch-industriellen Komplex
schafften es lange Zeit, ohne jede Kontrolle in die Vorstädte Frankreichs und Belgiens vorzustoßen, auch in deutsche Hochhaussiedlungen. Unwidersprochen konnten sie vor gleichermaßen desorientierten
wie ambitionierten Jugendlichen ihre BeDER SPIEGEL 13 / 2016
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schwörung des Kampfes zwischen Rein
und Unrein verbreiten.
Natürlich erreichen diese extremen Lehren nicht alle Muslime. Und nicht alle, die
sie erreichen, folgen ihnen auch. Religionen brauchen aber kein Mehrheitsprinzip.
Oft ist es gerade eine aktive Minderheit,
die ihre zahlenmäßige Unterlegenheit
durch verstärkten Eifer, finanzielle Mittel
und vor allem politische Einflussnahme zu
kompensieren sucht. Dann allerdings können sie es schaffen, auch das Leben der
Nichtgläubigen aus der Bahn zu werfen
und offene Gesellschaften auf einen langen
Umweg zu zwingen.
Osama Bin Ladens Qaida hat die Welt
durch die Anschläge von New York und
Washington am 11. September 2001 verändert. Die islamistische Sekte Boko Haram
mordet im Norden Nigerias. Und die Glaubensbrüder der Schabab („Jugend“) töten
schon so lange in Somalia, dass der Krieg
fast Selbstzweck geworden ist, ein Perpetuum mobile des Grauens, das sich auch
ohne Religion weiterdrehen würde.
Wie wenig es Extremisten um den Glauben an sich geht, offenbart besonders zynisch der „Islamische Staat“, der sich seit
2013 in Syrien ausgebreitet hat. Am Reißbrett von einstigen Geheimdienstoffizieren
Saddam Husseins entworfen, haben die
Sunniten des IS den Islam auf pure Unterwerfung reduziert, auf die Hülle des Glaubens, seine Symbole, Riten, Regeln – was
so weit geht, dass selbst die sunnitischen
Muslime unter IS-Herrschaft einem Loyalitätstest unterzogen werden. Denn nur,
wer den Islamisten gehorsam sei, sei wahrhaft gläubig.
In Syrien und im Irak mordet der IS vor
allem in seiner eigenen, sunnitischen Glaubensgruppe – während die IS-Propaganda
fortwährend das Gegenteil behauptet. Reihenweise ließen die Kämpfer die Kommandeure islamistischer Rebellengruppen umbringen, gemäß der Maxime, Konkurrenten seien gefährlicher als erklärte Feinde.
Zugleich hat der IS mehr als 20 000 Ausländer angeworben, mit einer kruden Mischung aus weltlichen Verheißungen –
Geld, Autos, Frauen – und Trost für gescheiterte Existenzen aus Europa. An diesem Schicksal, so die Rekruteure, seien
nicht sie selbst, sondern die Ungläubigen
schuld. Beim IS könnten sie eine neue, erfüllte Existenz finden und herrschen über
andere. Das ist der Lockruf.
Ihm folgt eine Auswahl von zumeist jungen Männern, von denen sich viele in den
Tod schicken lassen, andere kommen lieber zum Drangsalieren, Foltern, Morden.
Der deutsche Terrorexperte Peter Neumann beobachtet seit Mitte der Nullerjahre eine Art Proletarisierung in der Täterschaft. Jene, die sich heute beim IS beteiligen, so Neumann, seien nicht mehr die
jungen Menschen aus der Mittel- und Ober18
DER SPIEGEL 13 / 2016
METZEL MIKHAIL / ITAR-TASS PHOTO / CORBIS
Titel
Machthaber Putin, Verbündeter Kirill: Heilige Bombardements
schicht, wie man sie etwa aus der Hamburger Qaida-Zelle um Mohammed Atta
kenne: Intellektuelle, die sich für Ideologie
interessieren und sehr religiös sind.
„Die heutigen Attentäter kommen direkt
aus dem kriminellen Milieu und sind religiöse Analphabeten. Das erklärt auch ihre
zunehmende Brutalisierung. Und es erklärt, warum es ihnen leichter fällt, derartige Anschläge zu organisieren. Sie wissen
aus ihrer Vergangenheit bestens, wie man
sich Waffen und Geld besorgt. Diese Konvergenz zwischen kriminellem und dschihadistischem Milieu ist eine problematische Entwicklung. Sie hat nicht erst mit
dem IS angefangen, aber sie offenbart sich
nun sehr deutlich“, sagt Neumann.
Die Biografien jener europäischen Muslime, die der IS für seine Terrorattacken,
ob in Paris oder in Brüssel, nutzt, ähneln
sich. Es sind Migrantenkinder, gescheitert
in Europa, ohne Ausbildung, oft abgerutscht ins Milieu der Kleinkriminellen.
Sinnentleerte Bruchstücke der Religion,
wie der IS sie verbreitet, geben ihnen Halt
und jene Kraft, die sie dann nutzen, um
ihre Wut über ihr eigenes Scheitern in Terror zu verwandeln.
„Alle haben eine Vergangenheit, die mit
dem Islam nichts zu tun hat“, sagt der Autor
David Thomson, der mit vielen IS-Kämpfern aus Frankreich geredet hat. „Sie empfinden ihre Dschihadistenwerdung als eine
Art Reinigung, gerade jene, die aus der Kriminalität kommen. Wenn man sie fragt, ob
das nicht seltsam sei, antworten sie: Nein,
Video: Nils Minkmar über religiösen Einfluss auf die Politik
spiegel.de/sp132016minkmar
oder in der App DER SPIEGEL
die Gefährten des Propheten seien zuvor
auch die größten Sünder gewesen.“
Besonders gut eignen sich offenbar die
monotheistischen Religionen für Hasspropaganda und die Abgrenzung von Andersgläubigen. Sie stiften auch dadurch Identität. Es ist kein Wunder, dass auf der schwarzen Fahne des IS die Schahada prangt, das
Glaubensbekenntnis des Islam: „Es gibt keinen Gott außer Allah“, steht dort.
Und wenn IS-Kämpfer die abgeschnittenen Köpfe ihrer Feinde in die Kameras
halten, dann strecken sie oft den Zeigefinger ihrer rechten Hand aus – als Gruß. Es
gibt nur einen Gott, bedeutet das Zeichen.
Und Ungläubige sind Todfeinde. Christen
erheben sich gern über die Brutalität, mit
der dieser Absolutheitsanspruch durchgesetzt wird, weil ihre Religion durch die
Aufklärung gezähmt worden sei. Aber allzu leicht fällt das nicht: „Du sollst keine
anderen Götter haben neben mir“, heißt
es im ersten Gebot des Alten Testaments.
Auch das Christentum eignet sich also zur
Abgrenzung, wenn es missbraucht wird.
Und das wird es immer wieder, um Macht
oder sogar Gewalt zu rechtfertigen.
Das Religiöse kann dabei affirmativ sein,
den Wünschen der Machthaber entsprechen, Macht festigen. In Russland etwa
nutzt Wladimir Putin den Schulterschluss
zu religiösen Kräften, instrumentalisiert
Religion und Kirche.
In einer Zeit, da der Kreml die Wahrung
traditioneller Werte und die Abkehr vom
vermeintlich dekadenten Westen zu Maximen erhoben hat, braucht er die orthodoxe Kirche ganz besonders – sie soll die
Legitimität dieser Politik unterstreichen.
Die Kirche wiederum profitiert von dem
Bündnis.
Titel
Keiner symbolisiert die Ehe von Orthodoxie und Staat so sehr wie Kirill. Als der
damals 62-jährige Metropolit 2008 zum
Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche gewählt wurde, verstanden viele das
als Zeichen neuer Offenheit. Kirill galt als
gebildeter und weltgewandter Mann. Für
die russische Kirche, die bekannt ist für
ihre strengen Dogmen, ihre nationalistische Ausrichtung und die starren liturgischen Zeremonien, beginne eine neue Ära,
hieß es damals. Das Gegenteil trat ein.
Patriarch und Staatsoberhaupt wirken
wie ein Zwillingspaar. Gemeinsam legen
sie an staatlichen Feiertagen Blumen nieder oder weihen Denkmäler ein.
Kirill ist zum wichtigsten Wegbereiter
der nationalistischen Rhetorik unter Putin
geworden. Er treibt die Idee von der besonderen „russischen Welt“ voran, welche
dem Westen überlegen sei, und er warnt
vor der Gefahr der Verwestlichung – denn
die führe zur völligen Zerstörung der zivilisatorischen Grundlagen Russlands. Wenn
das nicht nur Putin behaupte, sondern sogar das Kirchenoberhaupt, dann müsse es
wohl stimmen, sagen sich viele Russen.
Auch rechtfertigt die Orthodoxie die immer aggressivere Außenpolitik des Kreml.
Den Krieg in der Ostukraine – also das Töten anderer Christen – bezeichnete die Kirche als „heilig“, die Bombardements in Syrien setzte sie mit der „Verteidigung des
Vaterlandes“ gleich.
Kirill und sein gewaltiger Apparat plädieren für eine noch stärkere Variante der
konservativen Staatsideologie, als es der
„Geistliche
Kriegsführung“
fundamentalistischer
Christen in Afrika
Kreml selbst schon tut. Die Kirchendevise
„Glaube, Macht, Gerechtigkeit, Würde“ erinnert an die Staatsideologie in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Auch in Israel haben die Rabbiner in
den letzten Jahren an Einfluss gewonnen.
Ohne die religiösen Parteien ist kaum eine
Regierungsbildung möglich. Inzwischen
mehren sich die Stimmen, die sich mehr
Einfluss des halachischen, also des jüdischen, Rechts in der Rechtsprechung wünschen. Dazu gehört auch Justizministerin
Ayelet Shaked. Der jüdische Charakter Israels soll unter anderem in einem geplanten Nationalstaatsgesetz betont werden.
Der Forscher Tomer Persico vom Shalom Hartman Institut in Jerusalem beobachtet eine Art „romantische Gegenrevolution“ zur säkularen Revolution der
Gründungsväter Israels. 79 Prozent aller
jüdischen Bürger sagen nach einer Umfra-
ge, Juden sollten in Israel bevorzugt behandelt werden. 22 Prozent verstehen sich
als „religiöse Zionisten“, dies sei ein „dramatischer Anstieg“ in den letzten Jahren,
so Persico. Auch die Politik operiert stärker als früher mit religiösen Symbolen und Narrativen. Die 2008 gegründete Partei „Jüdisches
Heim“ hat den religiösen Zionismus salonfähig gemacht. Die Partei zieht auch säkulare Israelis an, die sich mit der kompromisslosen Haltung gegenüber den Palästinensern identifizieren können.
Am deutlichsten wird diese Entwicklung
wohl rund um den Konflikt am Tempelberg: War es früher nur eine extreme Splittergruppe, die die heilige Stätte für die
Juden zurückerobern wollte, ist dieser Anspruch unter den religiösen Zionisten inzwischen weit verbreitet. Und die Ultrarechten befördern das Anliegen.
Die derzeitige stellvertretende Außenministerin Tzipi Hotovely erklärte: „Der
Bau des Tempels auf dem dafür vorgesehenen Tempelberg symbolisiert die Erneuerung der Souveränität des jüdischen
Volkes auf seinem Land.“
Radikale Sunniten und Schiiten, Evangelikale, orthodoxe Juden, Orthodoxe,
russische katholische Extremisten – die
politische Ambition, auch die politische
Instrumentalisierung ist in allen Glaubensrichtungen möglich. Denn das System der
Religion lebt nicht vom freien Diskurs, von
Beweisen und Abstimmungen. Das Besondere an dieser Sphäre ist ja gerade, dass
sie Gewissheiten bietet, die keine Begründung mehr brauchen. Das macht ihre einzigartige Anziehungskraft aus, darin liegt
ihr Potenzial zu gütigen, aber auch menschenfeindlichen Handlungen.
Gerade in den demografisch dynamischen Ländern in Afrika wird die unheilvolle Verbindung zwischen Religion und
Politik deutlich. Ein Protagonist einer solchen Strategie ist der ugandische Präsident
Yoweri Museveni.
Der Autokrat regiert in Uganda seit drei
Jahrzehnten, er hat es in all den Jahren
verstanden, viele Kirchenführer für seine
Machtinteressen einzuspannen. Er braucht
die Seelenfischer, nahezu die Hälfte der
35 Millionen Ugander sollen Mitglieder einer Freikirche sein. Umgekehrt tragen Gottesmänner und selbst ernannte Apostel
wie Joseph Serwadda ihren Kulturkampf
in die Politik.
Die christlichen Fundamentalisten propagieren einen streng bibeltreuen Glauben,
verteufeln die Evolutionslehre als blasphemisch, hetzen gegen Schwule und Lesben,
verdammen Geburtenkontrolle, Abtreibung, künstliche Verhütung; selbst Kondome sind tabu – und das auf dem Kontinent
mit der höchsten Aids-Rate.
Die Freikirchen sind in vielen Staaten
Afrikas zu einem Machtfaktor geworden;
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NATAN DVIR / POLARIS
Ultraorthodoxe Juden in Bnei Brak: Die Partei hat den religiösen Zionismus salonfähig gemacht
wer Wahlen gewinnen will, muss sich ihren
Segen holen. Nirgendwo breitet sich die
evangelikale Bewegung so schnell aus wie
in Nigeria, und kein zweites Land Afrikas
produziert mehr neue Glaubensgemeinschaften und Propheten.
Um sich eine Vorstellung vom Ausmaß
der christlichen Missionsoffensive zu machen, muss man den Expressway von der
Wirtschaftsmetropole Lagos hinauf nach
Ibadan nehmen. Die Einheimischen haben
ihn „Autobahn der Kirchen“ getauft. Man
fährt vorbei an unzähligen Riesenschildern
und kunstvoll gemalten Reklametafeln. Es
sind gleichsam die Feldzeichen in der
Schlacht um die Seelen. Sie weisen nach
rechts und links zu gewaltigen Hallen, manche so groß wie Hangars. Über den Eingängen prangen die Namen der Freikirchen: „Berg des Feuers und der Wunder“,
„Botschaft Christi“ oder „Lager der Erlösung“. An Sonn- und Feiertagen ziehen sie
Hunderttausende Gläubige an.
Das Phänomen der „Megakirchen“
hängt mit der Armut und Perspektivlosigkeit im Lande zusammen: Weil die evangelikalen Pastoren Gesundheit und Wohlstand versprechen und hin und wieder ein
Wunder vorgaukeln, bekehren sie die verarmten Massen in einem Tempo, von dem
die christlichen Missionare der alten Schule nur träumen können.
Seit der Jahrtausendwende verstärken
fundamentalistische Christen ihre Bekehrungskampagnen in Afrika – der Hamburger Religionswissenschaftler Erhard Kamphausen spricht von „geistlicher Kriegsfüh20
DER SPIEGEL 13 / 2016
rung“. Der Krieg wird besonders intensiv liche Worte Mohammeds oder religiöse Leim sogenannten 10/40-Fenster ausgetragen, genden.
Anfang 2014 überrollte eine Armee
in der Zone zwischen dem 10. und 40. Breitengrad. Dort liegen die Kerngebiete des schwarz maskierter Männer das Dorf DaIslam in Afrika – und damit die maximal biq etwa 40 Kilometer nordöstlich von
denkbare Menge Konfliktstoff. In einem Aleppo. Die Krieger des „Islamischen StaaStrategiepapier christlicher Fanatiker, das tes“ erklärten jenen Bewohnern, die sie
unter dem Titel „AD 2000 and Beyond“ nicht sofort umbrachten, dass ihr Dorf ein
erschien, wurde diese Region zum „spiri- Ort himmlischer Vorsehung sei. Der Protuellen Schlachtfeld des 21. Jahrhunderts“ phet habe erklärt, in Dabiq werde die Endzeitschlacht zwischen den Heeren der Undeklariert.
Viele Kampagnen im fernen Afrika wer- gläubigen und der wahren Muslime stattden von rabiaten Fundamentalisten aus finden. „Dabiq“ nennt der IS seither sein
dem Bibelgürtel der USA gesteuert und fi- mehrsprachiges Propagandamagazin, das
nanziert, sie treten auf als Glaubenskrieger Morde und Vergewaltigungen als gottgeder evangelikalen Rechten, die sich im glo- fälliges Tun preist.
Inzwischen sind fast alle Bewohner aus
balen Endkampf gegen den Antichristen
Dabiq geflohen, sie harren in einem Flüchtwähnen, den Islam.
Dieser Kampf hat auch den Bürgerkrieg lingslager nahe der türkischen Grenze aus:
in der Elfenbeinküste befeuert, wo sich „Gottes Vorsehung, pfff“, sagt einer der Geder überwiegend islamische Norden und flohenen, „die können uns mal am Arsch
der von Christen dominierte Süden gegen- lecken mit ihrer Endzeitschlacht!“ Aber der
überstanden. Und er schürt den Konflikt IS hebe Gräben aus rund um Dabiq, erzähin Nigeria, wo Islam und Christentum auf- len die Geflohenen, die Islamisten würden
diesen Ort um jeden Preis halten wollen.
einanderprallen.
Ein verwüstetes Geisterdorf in ErwarDie eigentlichen Ursachen des Konflikts
sind politischer, ethnischer und sozioöko- tung der Apokalypse – so kann das Ende
nomischer Natur, es ist ein Verteilungs- aussehen, wenn Mächtige oder Extremiskampf um knappe Ressourcen, um Acker- ten den Glauben missbrauchen. land, Weideflächen, Wasser. Aber die
Nicola Abé, Jens Glüsing, Bartholomäus Grill,
Scharfmacher in beiden Lagern ziehen imNils Minkmar, Christian Neef, Jan Puhl,
mer wieder die religiöse Karte – ein verChristoph Reuter, Holger Stark
meintlicher Kampf der Glaubenssysteme,
den die Politik instrumentalisiert hat.
Lesen Sie auch Die Anschläge von
Natürlich putschen nicht nur durchgeBrüssel und die neue Vorgehensweise des
knallte Christen ihre Anhänger auf. MusIS in Europa, Seite 88
limische Extremisten nutzen dafür angeb-
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