Gottes unheimliche Macht Glaube In Europa sind sie auf dem Rückzug, doch in vielen Teilen der Welt entfalten Religionen gerade neue Kraft. Sie nehmen Einfluss auf die Politik – und lassen sich von ihr missbrauchen. Oft mit furchtbaren Folgen. 12 DER SPIEGEL 13 / 2016 Titel n Ostern werden die christlichen Kirchen auch diesmal wieder etwas besser besucht sein. Das Fernsehen wird den päpstlichen Segen Urbi et orbi live übertragen, der Petersplatz wahrscheinlich voller Menschen sein. Auf dem Rasen des Weißen Hauses werden Ostereier versteckt. Das christliche Osterfest folgt jedes Jahr seinem ritualisierten Ablauf. Auch wenn nicht alle mehr wissen, was genau eigentlich gefeiert wird. Der wahre Star des Osterfestes ist für viele im Westen heutzutage ein Hase, der Eier aus Schokolade versteckt. Die Folklore der Osterfeiertage kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Religion als Weltdeutungsressource, auch als politisch agierende Macht zumindest in den säkularen Gesellschaften Europas zurückzieht. Die Kirchen bleiben leer, die Gemeinden überaltern. Christdemokrat Wolfgang Schäuble schrieb, bezogen auf die evangelische Kirche, von einem „Akzeptanzdefizit“, dem sie zu begegnen habe. Den Katholiken geht es nicht besser. So ist das Bild nicht nur in Europa, und der Trend verstärkt sich: 70 Prozent der jungen Briten glauben nicht mehr an Gott. Ähnlich in den Vereinigten Staaten: Eine Studie der Universität San Diego stellte fest, dass noch nie eine Generation so wenig religiös war wie die der heute 18 bis 29 Jahre alten Amerikaner. Sie gehen nicht nur seltener zur Kirche, sie beten auch kaum noch. Nur wenige von ihnen glauben. Und weil Religion etwas ist, das sich wie die Sprache im Kindesalter vermittelt, beobachten Forscher einen veritablen Abbruch der religiösen Traditionen. Krankheiten werden heute ohne Fürbitten geheilt, und die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode tröstet längst nicht mehr alle, ebenso wenig wie die Furcht vor der Hölle noch jemanden von Missetaten abhält. Das verführt zu dem vorschnellen Schluss, Gott wäre vielleicht noch nicht tot, läge aber sehr wohl im Sterben. Religion gehorcht jedoch keinem Verlaufsschema, nach dem es nur einen Modernisierungsschub von Wirtschaft und Gesellschaft braucht, dann hat es sich mit Gebeten, dem Glauben an Götter und Gebote. Dass sich Schule, Wissenschaft und Industrie nur ordentlich bemühen müssten, schon werde die ganze Welt und der Himmel auch entzaubert – mithin erreichten alle eine postmoderne Abgeklärtheit. Das ist in Europa so, aber in weiten Teilen der Welt nicht. Die Religionen haben Kraft, leisten damit auch ohne den Osterhasen viel Gutes. Sie geben Menschen Halt, Glück, ja Erfüllung. Und sie geben ganzen Gesellschaften eine Basis der Gemeinsamkeit. Nicht umsonst beschwören Passionsspiele im venezolanischen Caracas RAMON ESPINOSA / AP / DPA A DER SPIEGEL 13 / 2016 13 CHIP SOMODEVILLA / GETTY IMAGES Betende Zuhörer bei einer Trump-Wahlkampfveranstaltung in Virginia: 80 Millionen Amerikaner zählen zu den Evangelikalen selbst Politiker im säkularer werdenden Europa noch den Mythos des „christlichen Abendlandes“, auch wenn ein Begriff wie „Kontinent der Aufklärung“ längst besser passen würde. Aber die Macht des Glaubens hat auch eine unheimliche Seite. Diese Seite wird dort deutlich sichtbar, wo sich Religion und Politik zu nahe kommen. Weltweit wird Gottes Macht benutzt von Politikern, die noch weiter nach oben wollen, um jeden Preis. Sie wird missbraucht, um Autokraten oder Diktatoren zu stützen und Kriege zu rechtfertigen. Und sie dient dazu, aus Menschen lebende Waffen zu machen. Oft sind es Menschen an den Rändern säkularer Gesellschaften, Verlierer der Moderne, deren Wut Extremisten durch die dunkle Kraft der Religion lenken können. Es sind Männer wie jene Terroristen des „Islamischen Staates“ (IS), die am Dienstag in Brüssel mehr als 30 Menschen umbrachten. In vielen Gegenden der Welt wächst der politische, der unheilvolle Einfluss der Religionen. Eine große Studie der Bertelsmann Stiftung, die der SPIEGEL vor Kurzem vorgestellt hat, warnt vor dem zunehmenden Druck, den christliche und muslimische Gruppen ausüben können – in Afrika, in der arabischen Welt, aber auch in Ländern wie der Türkei oder Russland. Nur: Woher kommt die unheimliche Kraft des Glaubens? Wie benutzen Mächtige die Religion für ihre Zwecke? Wann 14 DER SPIEGEL 13 / 2016 ist der Glaube bedenklich, wann wird er gefährlich? Welche Kraft er hat, kann man zurzeit gut in den Vereinigten Staaten sehen. Auch wenn dort die allgemeine Religiosität abnimmt, fühlt sich zugleich oder gerade deswegen die große Gruppe der Evangelikalen aufgefordert, wieder stark mitzumischen. Das Thema Religion ist in diesem USWahlkampf omnipräsent, zumindest auf der republikanischen Seite berufen sich fast alle Bewerber auf Gott. Marco Rubio hat seinen Ausstieg aus dem Rennen mit einem öffentlichen Gebet verbunden. Ted Teufelsaustreibungen und Massenhypnose gehören zum Spektakel, der Pastor agiert als Entertainer. Cruz steht regelmäßig auf der Bühne, greift seine Unterstützer an den Händen und schließt die Augen, um publikumswirksam zu beten. Und selbst Donald Trump, der zwei Scheidungen hinter sich hat, der viermal Bankrott ging und auf Erden eine Sprache pflegt, die im Himmel sicher auf dem Index stünde, hat sich vor Kurzem in Texas das Gelübde abnehmen lassen, seinen Wahlkampf nach christlichen Werten auszurichten. Zu beobachten ist ein Ringen um das moderne Amerika, das maßgeblich von wütenden weißen Christen getragen wird. Jeder vierte Amerikaner zählt zu den Evangelikalen, das sind etwa 80 Millionen Christen, ein machtvoller Wählerblock, den jeder Politiker gern hinter sich wüsste. Der Washingtoner Chefkorrespondent des christlichen Fernsehsenders CBN, David Brody, spricht von einer Renaissance des Religiösen in den USA. Dass die Beteiligung beim Vorwahlkampf der Republikaner jetzt Rekorde brechen konnte, hat auch etwas damit zu tun, dass besonders viele christliche Wähler ihre Stimme abgegeben haben. Brody meint, die multireligiös geprägte Gesellschaftsordnung provoziere den Widerspruch der Christen. „Wenn ich heute aufstehe und laut sage, dass die Bibel recht hat und eine Heirat nur zwischen Mann und Frau stattfinden sollte, muss ich mich auf heftige öffentliche Anfeindungen einstellen.“ Unter den extremen Christen gibt es Bäcker, die sich aus religiösen Gründen weigern, homosexuellen Paaren eine Hochzeitstorte zu backen; Eltern, die vor Gericht ziehen, weil ihre Kinder in der Schule das islamische Glaubensbekenntnis lernen müssen; Pfarrer, die den Satan für leibhaftig halten. Lange Zeit hätten christliche Wähler dem Wandel schweigend zugesehen, doch bei dieser Wahl habe sich etwas verändert. Diesmal gingen so viele Evangelikale in die Wahllokale wie nie zuvor. Titel Frauen wie Sue Stringer, eine Finanzbe- Massenhypnose gehören zum Spektakel, raterin aus Texas, die im Wahlkampf Cruz der Pastor agiert als Entertainer. unterstützt und ihm jetzt mit ihren FreunPolitiker dieser Freikirchen haben verdinnen Marianna und Muriel, einer Post- hindert, dass an Brasiliens Schulen Sexubeamtin und einer Chiropraktikerin, zu- alkunde gelehrt wird, sie blockieren eine hört. „Unsere christliche Freiheit ist in Be- Lockerung des Abtreibungsverbots und hadrängnis“, sagt Stringer. „Das Christentum ben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der wird angegriffen, dagegen müssen wir uns die berüchtigte „Schwulenheilung“ legaliwehren.“ sieren soll – bei der Ärzte versuchen, HoDer Einfluss konservativer Christen ist mosexuelle mit absurden Behandlungen kein US-amerikanisches Phänomen, auch zu „therapieren“. in Südamerika sorgen religiöse Kräfte für Eduardo Cunha, Präsident des Abgeordeine brisante innenpolitische Situation im netenhauses, sorgte dafür, dass die wichfünftbevölkerungsreichsten Land der Erde. tigsten Verwaltungsposten mit EvangelikaUnd dort, in Brasilien, zeigt sich auch, wie len besetzt werden. Und stattete sie mit eider Glaube nicht nur von Politikern im nem fürstlichen Etat aus: Umgerechnet Wahlkampf genutzt wird, sondern wie er rund eine Milliarde Euro steht ihnen allein seinerseits die Politik prägt. Und wie die für „Personalausgaben“ zur Verfügung. Die Anführer schräger christlicher Kulte Macht Leiterin der Personalabteilung des Parlaausüben. ments, die von Cunha eingesetzt wurde, In Brasilien sind Staat und Kirche offi- dankte ihm: Er sei ein „Instrument Gottes“. ziell getrennt, tatsächlich mischen sich die Politisch stehen die meisten Evangelikaevangelikalen Pfingstkirchen massiv in die len stramm rechts. Präsidentin Dilma RousPolitik ein. Sie beherrschen sogar mehrere seff sehen sie als Werkzeug des Teufels. Parteien. Über 90 Parlamentarier gehören „Satan hat die Regierung unterwandert“, mittlerweile der überparteilichen Glau- rief der damalige Anführer des evangelibensorganisation Bancada Evangélica an, kalen Abgeordnetenblocks, Marco Feliciafast 30 Prozent mehr als während der letz- no, zu ihrem Amtsantritt. Verunglimpfunten Legislaturperiode. gen dieser Art haben Rousseff und ihren Die Pfingstler sind die am schnellsten Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva jedoch wachsende religiöse Gruppe Brasiliens, nicht davon abgehalten, die Evangelikalen von 2000 bis 2010 stieg ihre Anzahl um zu umwerben – auch hier sind die als Wähüber 60 Prozent. Heute stellen sie etwa lerpotenzial viel zu wichtig. Die Partei PRB, ein Viertel der brasilianischen Bevölke- die von der mächtigen Kirche „Igreja Unirung, die katholische Kirche ist auf dem versal“ des selbst ernannten Bischofs Edir Rückzug. Macedo kontrolliert wird, gehörte bis vor Anders als traditionelle evangelische Kurzem sogar der Regierungskoalition an. Kirchen wie die Lutherischen legen die Macedo ist der reichste und bekannteste Pfingstgemeinden den Akzent auf den Hei- aller evangelikalen Kirchenfürsten. In eiligen Geist, ihre Gottesdienste ähneln rie- nem Arbeiterviertel der Millionenmetrosigen Shows. Teufelsaustreibungen und pole São Paulo ließ Macedo eine neue Welt- zentrale seiner Kirche bauen, für Hunderte Millionen Euro. Es ist ein kitschiger Nachbau des Salomo-Tempels. Rousseff musste zur Einweihung erscheinen. Doch woher kommt diese Macht religiöser Zampanos? Warum folgen Millionen solchen Leuten? Obwohl doch erkennbar sein muss, dass sich viele am Geld der Gläubigen bereichern und mit ihren Stimmen die eigene Macht vermehren wollen. Es ist eine Frage der Psychologie – des Einzelnen und der Massen. Viele brauchen Trost, Hoffnung, einen Sinn, einen Rahmen für ihr Leben. Menschen werden geboren, ohne danach verlangt zu haben, und müssen sterben, obwohl sie sich davor fürchten. Das Religiöse ist für viele ein Grundbedürfnis ihrer Existenz. In den letzten 5000 oder 6000 Jahren haben die Menschen Tausenden Göttern gehuldigt. Es war alles dabei: Felsen, Tiere, Himmelskörper und immer wieder auch andere Menschen. Religionen entstehen und verschwinden wieder, selbst der einst die Welt umspannende Supergott Zeus alias Jupiter fristet heute seine irdische Rente im Museum und in Schulbüchern. Doch erhalten bleibt das Bedürfnis nach Geschichten, die von etwas Höherem künden, einen Sinn versprechen. Eine Gewissheit vermitteln, die keiner Begründung bedarf. Und dieses Bedürfnis wird in Umbruchzeiten der Hypermobilität, der Digitalisierung, der Dynamisierung der Arbeitswelt und des Zwangs zur steten Selbstoptimierung nicht abnehmen. In bestimmten Formen der Religion sehen viele die Möglichkeit, diese Welt wieder zu ordnen, aus Teilen eines Puzzles wieder ein Ganzes zu machen, klarer zu sehen. Diese wie verrückt um sich wirbeln- Im Namen der Religion Staaten, in denen religiöse Dogmen spürbaren Einfluss auf die Politik haben gering 33% hoch Russland 22% Afghanistan Türkei Syrien Libanon Irak Jordanien Tunesien Marokko Iran Bhutan Nepal Libyen Mauretanien Mali Ägypten SaudiArabien Katar Oman Niger Senegal Sudan Eritrea Jemen Pakistan Vereinigte Arabische Emirate 2006 Burma Bangladesch Thailand 2016 Anteil der Länder, in denen religiöse Dogmen die Politik beeinflussen Philippinen Nigeria Elfenbeinküste Zentralafrikanische Kamerun Republik Äthiopien Sri Lanka Malaysia Somalia Indonesien Quelle: Bertelsmann Transformationsindex (BTI) 2016 DER SPIEGEL 13 / 2016 15 Dschihadisten vor dem Gebet bei Aleppo: Der Glaube als Treibstoff im Krieg de Gegenwart, in der uns schon das Jahr 2001 vorkommt wie ältere Geschichte, fördert nicht bei allen die Lust, sich beherzt in das fortschrittliche Getümmel zu stürzen, sondern eben auch den Wunsch nach Klarheit, nach überschaubaren Verhältnissen – und danach, eine überlegene Position einnehmen zu können, in all dem Chaos. Dieses Bedürfnis setzt eine Energie frei, die, unter passenden sozialen Bedingungen, auch politisch missbraucht werden kann. Wer sich mit der multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft schwertut, wird Formen des Religiösen finden, die ihm die Gewissheit vermitteln, etwas Besonderes zu sein, sich über andere zu erheben. Das kann sich in Mitgefühl für andere äußern – aber auch in militanten Aktionen, einem neuen Gottessoldatentum. Der Eifer der Frommen ist noch größer, wenn deren Umgebung sich so gar nicht darauf einlässt. Die Kraft einer unterdrückten Religion zu mobilisieren wie eine taktische Ressource, den Glauben zum Treibstoff im Krieg zu transformieren, diesen Einfall hatten in moderner Zeit die Amerikaner. Sie glaubten, dass sich die von den Sowjets gestützte Regierung in Afghanistan am ehesten durch eine islamisch motivierte Guerilla destabilisieren ließe. Afghanistan ist nicht der einzige Fall, in dem Religion gegen den Kommunismus ins Feld geführt wurde: Auch der polnische Papst trug entscheidend dazu bei, die Legitimität der kommunistischen Herrschaft in seinem Land zu unterminieren. Und mit 16 DER SPIEGEL 13 / 2016 kaum einem anderen Thema lassen sich die Machthaber in Peking so effizient ärgern wie mit dem Dalai Lama und der Religionsfreiheit in Tibet. Die Amerikaner schmiedeten ein strategisches Bündnis: Fromme Muslime aus Saudi-Arabien, ihre Glaubensbrüder aus Pakistan und afghanische Mudschahidin sollten zum gemeinsamen Kampf gegen die gottlosen Sowjets antreten – ausgerüstet mit Dollars aus Amerika. Und das militärische Mittel der Wahl – kosteneffizient, abschreckend – waren Terroranschläge gegen die Infrastruktur oder gegen die Familien russischer Offiziere. Der Plan ging auf, aber die Kombination aus religiösem Eifer und Terrorismus erwies sich danach als derart virulent, dass sie zu einer von vielen genutzten und letztlich nicht mehr kontrollierbaren Plage der Menschheit wurde. Aus der Ferne betrachtet scheint fast der ganze Nahe Osten Opfer eines sich ausbreitenden religiösen Fanatismus geworden zu sein, der wie ein Flächenbrand Syrien verschlingt, den Irak zerreißt, den Jemen zerstört, Libyen und weitere Länder zu erfassen droht. Ein Feuersturm, der vor Staatsgrenzen nicht mehr Halt macht, aber der fast vollständig im Inneren der islamischen Welt wütet. Sunniten gegen Schiiten, die beiden großen Glaubensgruppen innerhalb des Islam, kämpfen von Damaskus bis Bagdad bereits offen gegeneinander, werden einander in anderen Ländern immer feindseliger, befeuert von den beiden Mächten Saudi-Arabien und Iran. Doch aus der Nähe gesehen zerfällt das Bild der zunehmenden Religiosität in ganz unterschiedliche Facetten. Denn überall, wo vor ziemlich exakt fünf Jahren die Rebellionen losbrachen, hatten die Menschen auf den Straßen dieselben Forderungen: ein Ende von Machtwillkür, Unfreiheit, Korruption – sowie mehr Jobs. Doch die Reaktionen von außen fielen diametral unterschiedlich aus, je nach Glaubensverteilung: Saudi-Arabien unterstützte in Syrien die vor allem sunnitische Opposition gegen das alawitisch-schiitische Regime. In Bahrain wiederum, wo die Opposition aus der schiitischen Bevölkerungsmehrheit gegen das sunnitische Königshaus auf die Straße ging, ließ Saudi-Arabien die Panzer einrollen, um jeden Widerstand gegen die Monarchie niederzuwalzen. Iran machte es genau umgekehrt: in Syrien den Despoten mit allen Mitteln an der Macht halten, in Bahrain bitterlich die Diktatur beklagen. So wurden die widerständigen Bevölkerungsteile nicht zu Geiseln ihrer Feinde – sondern auch ihrer vorgeblichen Freunde. Denn der Westen kümmerte sich nur am Rande um den rasch eskalierenden Kampf in Syrien. Die dortigen Rebellen nahmen an Unterstützung, was sie bekommen konnten – und die kam vor allem aus Saudi-Arabien, Katar und der Türkei. Ebenso verfuhr das syrische Regime, das ohne Irans massive Hilfe schnell vor dem Aus gestanden hätte. NIRANJAN SHRESTHA / AP / DPA Muslim beim Koranstudium in Katmandu: Das Bedürfnis nach Geschichten von etwas Höherem Dabei geht es in Riad und in Teheran vor allem um eine Ausweitung oder zumindest Stabilisierung der eigenen Machtsphäre, definiert durch die religiöse Zugehörigkeit der Herrscher. Begonnen hatte alles, wie so oft, mit einer Machtfrage: Nach dem Tod des Propheten Mohammed entspann sich der Streit, ob sein Nachfolger aus dem Kreis der Gefährten kommen oder ein Verwandter Mohammeds sein sollte. Wie Ali Ibn Abi Talib, Mohammeds Cousin. Dessen Gefolgschaft hieß „Schiat Ali“, Partei Alis, daher stammt der Name Schiiten. Über zwei Jahrzehnte zog sich dieses erste Ringen um die Macht, bis etwas Seltsames geschah: In der Schlacht von Kerbela im Südirak wurden Alis Sohn Hussein und dessen letzte Getreue vernichtet. Doch statt in Vergessenheit zu versinken, erstarkten die Schiiten: Durch Husseins Untergang entstand eine Glaubensrichtung, die sich durch die Niederlage definierte, im Widerstand wuchs. Innerhalb des Islam etablierten sich so zwei konkurrierende Konzepte: Die Sunniten sehen Macht und Glauben als Einheit. Die Schiiten folgten dem Mythos Alis und Husseins, der sich für seinen Glauben geopfert hatte. Die Linie ihrer Nachfahren erlosch nach zwei Jahrhunderten, der Legende nach verschwand der zwölfte Imam im Jahr 874 in der Entrückung. Als Vollstrecker der göttlichen Ordnung werde er dermaleinst wieder auftauchen. Doch wenn jede legitime Herrschaft auf Erden warten muss bis zur Rückkehr des Messias, was hieß das für alle realen Mächte? Wenig Gutes, denn die wahre Loyalität der Schiiten war ja bereits anderweitig vergeben. Die Folge war ein immerwährendes Misstrauen sunnitischer Herrscher gegenüber ihren schiitischen Untertanen. Bis sich im 16. Jahrhundert eine schiitische Dynastie in Iran an die Macht kämpfte. Damals entstand die bis heute schwelende Der Glaube schafft Identität – deren Kehrseite ist die Ablehnung der anderen. Konkurrenz zwischen dem schiitischen Iran und dem mehrheitlich sunnitischen Arabien. Glaube schafft Identität, Zugehörigkeit. Doch deren Kehrseite ist die Ablehnung der anderen, und der Islam ist für die Nutzung als Allmachtsinstrument anfälliger als andere Religionen. Deutlicher als ihr Wertekanon trennt die Weltreligionen die Biografie ihrer Stifter: Siddharta Gautama erwarb seine Anhängerschaft durch Meditation, Jesus predigte und wurde gekreuzigt. Mohammed begann zwar als Prediger, eroberte dann jedoch ein Reich und hinterließ ein perfektes Vorbild für die Machtergreifung im Namen Gottes. Ausgerechnet Syrien hat sich jetzt zum Epizentrum innerislamischer Machtkämpfe verwandelt. Der Bürgerkrieg bekam zunehmend religiöse Züge. Zudem eilten schon ab 2012 die ersten schiitischen Truppen der Hisbollah Baschar al-Assads ausgezehrter Armee gegen die zumeist sunnitischen Rebellen zu Hilfe, gefolgt von Zehntausenden aus dem Irak, aus Iran, Pakistan, Afghanistan. Was heute an Assads Seite in Syrien kämpft, ist der erste internationale schiitische Dschihad der Geschichte: Freiwillige oder Gezwungene aus verschiedenen Ländern kommen in einem fremden Staat zusammen, um dort zu kämpfen. Umgekehrt lief es vor 30 Jahren in Afghanistan während der saudisch-amerikanisch-pakistanischen Kooperation. Zu jener Zeit entstand eine islamische Propagandaindustrie, die, von Saudi-Arabien finanziert, Bücher, Videos und Fernsehsendungen in die Welt setzt, in denen es nur um die reine Lehre geht, eine antagonistische und manichäistische Sicht auf die Welt, in der allein der sunnitisch-wahhabitische Islam mit seiner Ablehnung der Demokratie und harschen bis verächtlichen Sicht auf Frauen im Recht ist. Die Prediger und Botschaften aus diesem theologisch-industriellen Komplex schafften es lange Zeit, ohne jede Kontrolle in die Vorstädte Frankreichs und Belgiens vorzustoßen, auch in deutsche Hochhaussiedlungen. Unwidersprochen konnten sie vor gleichermaßen desorientierten wie ambitionierten Jugendlichen ihre BeDER SPIEGEL 13 / 2016 17 schwörung des Kampfes zwischen Rein und Unrein verbreiten. Natürlich erreichen diese extremen Lehren nicht alle Muslime. Und nicht alle, die sie erreichen, folgen ihnen auch. Religionen brauchen aber kein Mehrheitsprinzip. Oft ist es gerade eine aktive Minderheit, die ihre zahlenmäßige Unterlegenheit durch verstärkten Eifer, finanzielle Mittel und vor allem politische Einflussnahme zu kompensieren sucht. Dann allerdings können sie es schaffen, auch das Leben der Nichtgläubigen aus der Bahn zu werfen und offene Gesellschaften auf einen langen Umweg zu zwingen. Osama Bin Ladens Qaida hat die Welt durch die Anschläge von New York und Washington am 11. September 2001 verändert. Die islamistische Sekte Boko Haram mordet im Norden Nigerias. Und die Glaubensbrüder der Schabab („Jugend“) töten schon so lange in Somalia, dass der Krieg fast Selbstzweck geworden ist, ein Perpetuum mobile des Grauens, das sich auch ohne Religion weiterdrehen würde. Wie wenig es Extremisten um den Glauben an sich geht, offenbart besonders zynisch der „Islamische Staat“, der sich seit 2013 in Syrien ausgebreitet hat. Am Reißbrett von einstigen Geheimdienstoffizieren Saddam Husseins entworfen, haben die Sunniten des IS den Islam auf pure Unterwerfung reduziert, auf die Hülle des Glaubens, seine Symbole, Riten, Regeln – was so weit geht, dass selbst die sunnitischen Muslime unter IS-Herrschaft einem Loyalitätstest unterzogen werden. Denn nur, wer den Islamisten gehorsam sei, sei wahrhaft gläubig. In Syrien und im Irak mordet der IS vor allem in seiner eigenen, sunnitischen Glaubensgruppe – während die IS-Propaganda fortwährend das Gegenteil behauptet. Reihenweise ließen die Kämpfer die Kommandeure islamistischer Rebellengruppen umbringen, gemäß der Maxime, Konkurrenten seien gefährlicher als erklärte Feinde. Zugleich hat der IS mehr als 20 000 Ausländer angeworben, mit einer kruden Mischung aus weltlichen Verheißungen – Geld, Autos, Frauen – und Trost für gescheiterte Existenzen aus Europa. An diesem Schicksal, so die Rekruteure, seien nicht sie selbst, sondern die Ungläubigen schuld. Beim IS könnten sie eine neue, erfüllte Existenz finden und herrschen über andere. Das ist der Lockruf. Ihm folgt eine Auswahl von zumeist jungen Männern, von denen sich viele in den Tod schicken lassen, andere kommen lieber zum Drangsalieren, Foltern, Morden. Der deutsche Terrorexperte Peter Neumann beobachtet seit Mitte der Nullerjahre eine Art Proletarisierung in der Täterschaft. Jene, die sich heute beim IS beteiligen, so Neumann, seien nicht mehr die jungen Menschen aus der Mittel- und Ober18 DER SPIEGEL 13 / 2016 METZEL MIKHAIL / ITAR-TASS PHOTO / CORBIS Titel Machthaber Putin, Verbündeter Kirill: Heilige Bombardements schicht, wie man sie etwa aus der Hamburger Qaida-Zelle um Mohammed Atta kenne: Intellektuelle, die sich für Ideologie interessieren und sehr religiös sind. „Die heutigen Attentäter kommen direkt aus dem kriminellen Milieu und sind religiöse Analphabeten. Das erklärt auch ihre zunehmende Brutalisierung. Und es erklärt, warum es ihnen leichter fällt, derartige Anschläge zu organisieren. Sie wissen aus ihrer Vergangenheit bestens, wie man sich Waffen und Geld besorgt. Diese Konvergenz zwischen kriminellem und dschihadistischem Milieu ist eine problematische Entwicklung. Sie hat nicht erst mit dem IS angefangen, aber sie offenbart sich nun sehr deutlich“, sagt Neumann. Die Biografien jener europäischen Muslime, die der IS für seine Terrorattacken, ob in Paris oder in Brüssel, nutzt, ähneln sich. Es sind Migrantenkinder, gescheitert in Europa, ohne Ausbildung, oft abgerutscht ins Milieu der Kleinkriminellen. Sinnentleerte Bruchstücke der Religion, wie der IS sie verbreitet, geben ihnen Halt und jene Kraft, die sie dann nutzen, um ihre Wut über ihr eigenes Scheitern in Terror zu verwandeln. „Alle haben eine Vergangenheit, die mit dem Islam nichts zu tun hat“, sagt der Autor David Thomson, der mit vielen IS-Kämpfern aus Frankreich geredet hat. „Sie empfinden ihre Dschihadistenwerdung als eine Art Reinigung, gerade jene, die aus der Kriminalität kommen. Wenn man sie fragt, ob das nicht seltsam sei, antworten sie: Nein, Video: Nils Minkmar über religiösen Einfluss auf die Politik spiegel.de/sp132016minkmar oder in der App DER SPIEGEL die Gefährten des Propheten seien zuvor auch die größten Sünder gewesen.“ Besonders gut eignen sich offenbar die monotheistischen Religionen für Hasspropaganda und die Abgrenzung von Andersgläubigen. Sie stiften auch dadurch Identität. Es ist kein Wunder, dass auf der schwarzen Fahne des IS die Schahada prangt, das Glaubensbekenntnis des Islam: „Es gibt keinen Gott außer Allah“, steht dort. Und wenn IS-Kämpfer die abgeschnittenen Köpfe ihrer Feinde in die Kameras halten, dann strecken sie oft den Zeigefinger ihrer rechten Hand aus – als Gruß. Es gibt nur einen Gott, bedeutet das Zeichen. Und Ungläubige sind Todfeinde. Christen erheben sich gern über die Brutalität, mit der dieser Absolutheitsanspruch durchgesetzt wird, weil ihre Religion durch die Aufklärung gezähmt worden sei. Aber allzu leicht fällt das nicht: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“, heißt es im ersten Gebot des Alten Testaments. Auch das Christentum eignet sich also zur Abgrenzung, wenn es missbraucht wird. Und das wird es immer wieder, um Macht oder sogar Gewalt zu rechtfertigen. Das Religiöse kann dabei affirmativ sein, den Wünschen der Machthaber entsprechen, Macht festigen. In Russland etwa nutzt Wladimir Putin den Schulterschluss zu religiösen Kräften, instrumentalisiert Religion und Kirche. In einer Zeit, da der Kreml die Wahrung traditioneller Werte und die Abkehr vom vermeintlich dekadenten Westen zu Maximen erhoben hat, braucht er die orthodoxe Kirche ganz besonders – sie soll die Legitimität dieser Politik unterstreichen. Die Kirche wiederum profitiert von dem Bündnis. Titel Keiner symbolisiert die Ehe von Orthodoxie und Staat so sehr wie Kirill. Als der damals 62-jährige Metropolit 2008 zum Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche gewählt wurde, verstanden viele das als Zeichen neuer Offenheit. Kirill galt als gebildeter und weltgewandter Mann. Für die russische Kirche, die bekannt ist für ihre strengen Dogmen, ihre nationalistische Ausrichtung und die starren liturgischen Zeremonien, beginne eine neue Ära, hieß es damals. Das Gegenteil trat ein. Patriarch und Staatsoberhaupt wirken wie ein Zwillingspaar. Gemeinsam legen sie an staatlichen Feiertagen Blumen nieder oder weihen Denkmäler ein. Kirill ist zum wichtigsten Wegbereiter der nationalistischen Rhetorik unter Putin geworden. Er treibt die Idee von der besonderen „russischen Welt“ voran, welche dem Westen überlegen sei, und er warnt vor der Gefahr der Verwestlichung – denn die führe zur völligen Zerstörung der zivilisatorischen Grundlagen Russlands. Wenn das nicht nur Putin behaupte, sondern sogar das Kirchenoberhaupt, dann müsse es wohl stimmen, sagen sich viele Russen. Auch rechtfertigt die Orthodoxie die immer aggressivere Außenpolitik des Kreml. Den Krieg in der Ostukraine – also das Töten anderer Christen – bezeichnete die Kirche als „heilig“, die Bombardements in Syrien setzte sie mit der „Verteidigung des Vaterlandes“ gleich. Kirill und sein gewaltiger Apparat plädieren für eine noch stärkere Variante der konservativen Staatsideologie, als es der „Geistliche Kriegsführung“ fundamentalistischer Christen in Afrika Kreml selbst schon tut. Die Kirchendevise „Glaube, Macht, Gerechtigkeit, Würde“ erinnert an die Staatsideologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auch in Israel haben die Rabbiner in den letzten Jahren an Einfluss gewonnen. Ohne die religiösen Parteien ist kaum eine Regierungsbildung möglich. Inzwischen mehren sich die Stimmen, die sich mehr Einfluss des halachischen, also des jüdischen, Rechts in der Rechtsprechung wünschen. Dazu gehört auch Justizministerin Ayelet Shaked. Der jüdische Charakter Israels soll unter anderem in einem geplanten Nationalstaatsgesetz betont werden. Der Forscher Tomer Persico vom Shalom Hartman Institut in Jerusalem beobachtet eine Art „romantische Gegenrevolution“ zur säkularen Revolution der Gründungsväter Israels. 79 Prozent aller jüdischen Bürger sagen nach einer Umfra- ge, Juden sollten in Israel bevorzugt behandelt werden. 22 Prozent verstehen sich als „religiöse Zionisten“, dies sei ein „dramatischer Anstieg“ in den letzten Jahren, so Persico. Auch die Politik operiert stärker als früher mit religiösen Symbolen und Narrativen. Die 2008 gegründete Partei „Jüdisches Heim“ hat den religiösen Zionismus salonfähig gemacht. Die Partei zieht auch säkulare Israelis an, die sich mit der kompromisslosen Haltung gegenüber den Palästinensern identifizieren können. Am deutlichsten wird diese Entwicklung wohl rund um den Konflikt am Tempelberg: War es früher nur eine extreme Splittergruppe, die die heilige Stätte für die Juden zurückerobern wollte, ist dieser Anspruch unter den religiösen Zionisten inzwischen weit verbreitet. Und die Ultrarechten befördern das Anliegen. Die derzeitige stellvertretende Außenministerin Tzipi Hotovely erklärte: „Der Bau des Tempels auf dem dafür vorgesehenen Tempelberg symbolisiert die Erneuerung der Souveränität des jüdischen Volkes auf seinem Land.“ Radikale Sunniten und Schiiten, Evangelikale, orthodoxe Juden, Orthodoxe, russische katholische Extremisten – die politische Ambition, auch die politische Instrumentalisierung ist in allen Glaubensrichtungen möglich. Denn das System der Religion lebt nicht vom freien Diskurs, von Beweisen und Abstimmungen. Das Besondere an dieser Sphäre ist ja gerade, dass sie Gewissheiten bietet, die keine Begründung mehr brauchen. Das macht ihre einzigartige Anziehungskraft aus, darin liegt ihr Potenzial zu gütigen, aber auch menschenfeindlichen Handlungen. Gerade in den demografisch dynamischen Ländern in Afrika wird die unheilvolle Verbindung zwischen Religion und Politik deutlich. Ein Protagonist einer solchen Strategie ist der ugandische Präsident Yoweri Museveni. Der Autokrat regiert in Uganda seit drei Jahrzehnten, er hat es in all den Jahren verstanden, viele Kirchenführer für seine Machtinteressen einzuspannen. Er braucht die Seelenfischer, nahezu die Hälfte der 35 Millionen Ugander sollen Mitglieder einer Freikirche sein. Umgekehrt tragen Gottesmänner und selbst ernannte Apostel wie Joseph Serwadda ihren Kulturkampf in die Politik. Die christlichen Fundamentalisten propagieren einen streng bibeltreuen Glauben, verteufeln die Evolutionslehre als blasphemisch, hetzen gegen Schwule und Lesben, verdammen Geburtenkontrolle, Abtreibung, künstliche Verhütung; selbst Kondome sind tabu – und das auf dem Kontinent mit der höchsten Aids-Rate. Die Freikirchen sind in vielen Staaten Afrikas zu einem Machtfaktor geworden; DER SPIEGEL 13 / 2016 19 NATAN DVIR / POLARIS Ultraorthodoxe Juden in Bnei Brak: Die Partei hat den religiösen Zionismus salonfähig gemacht wer Wahlen gewinnen will, muss sich ihren Segen holen. Nirgendwo breitet sich die evangelikale Bewegung so schnell aus wie in Nigeria, und kein zweites Land Afrikas produziert mehr neue Glaubensgemeinschaften und Propheten. Um sich eine Vorstellung vom Ausmaß der christlichen Missionsoffensive zu machen, muss man den Expressway von der Wirtschaftsmetropole Lagos hinauf nach Ibadan nehmen. Die Einheimischen haben ihn „Autobahn der Kirchen“ getauft. Man fährt vorbei an unzähligen Riesenschildern und kunstvoll gemalten Reklametafeln. Es sind gleichsam die Feldzeichen in der Schlacht um die Seelen. Sie weisen nach rechts und links zu gewaltigen Hallen, manche so groß wie Hangars. Über den Eingängen prangen die Namen der Freikirchen: „Berg des Feuers und der Wunder“, „Botschaft Christi“ oder „Lager der Erlösung“. An Sonn- und Feiertagen ziehen sie Hunderttausende Gläubige an. Das Phänomen der „Megakirchen“ hängt mit der Armut und Perspektivlosigkeit im Lande zusammen: Weil die evangelikalen Pastoren Gesundheit und Wohlstand versprechen und hin und wieder ein Wunder vorgaukeln, bekehren sie die verarmten Massen in einem Tempo, von dem die christlichen Missionare der alten Schule nur träumen können. Seit der Jahrtausendwende verstärken fundamentalistische Christen ihre Bekehrungskampagnen in Afrika – der Hamburger Religionswissenschaftler Erhard Kamphausen spricht von „geistlicher Kriegsfüh20 DER SPIEGEL 13 / 2016 rung“. Der Krieg wird besonders intensiv liche Worte Mohammeds oder religiöse Leim sogenannten 10/40-Fenster ausgetragen, genden. Anfang 2014 überrollte eine Armee in der Zone zwischen dem 10. und 40. Breitengrad. Dort liegen die Kerngebiete des schwarz maskierter Männer das Dorf DaIslam in Afrika – und damit die maximal biq etwa 40 Kilometer nordöstlich von denkbare Menge Konfliktstoff. In einem Aleppo. Die Krieger des „Islamischen StaaStrategiepapier christlicher Fanatiker, das tes“ erklärten jenen Bewohnern, die sie unter dem Titel „AD 2000 and Beyond“ nicht sofort umbrachten, dass ihr Dorf ein erschien, wurde diese Region zum „spiri- Ort himmlischer Vorsehung sei. Der Protuellen Schlachtfeld des 21. Jahrhunderts“ phet habe erklärt, in Dabiq werde die Endzeitschlacht zwischen den Heeren der Undeklariert. Viele Kampagnen im fernen Afrika wer- gläubigen und der wahren Muslime stattden von rabiaten Fundamentalisten aus finden. „Dabiq“ nennt der IS seither sein dem Bibelgürtel der USA gesteuert und fi- mehrsprachiges Propagandamagazin, das nanziert, sie treten auf als Glaubenskrieger Morde und Vergewaltigungen als gottgeder evangelikalen Rechten, die sich im glo- fälliges Tun preist. Inzwischen sind fast alle Bewohner aus balen Endkampf gegen den Antichristen Dabiq geflohen, sie harren in einem Flüchtwähnen, den Islam. Dieser Kampf hat auch den Bürgerkrieg lingslager nahe der türkischen Grenze aus: in der Elfenbeinküste befeuert, wo sich „Gottes Vorsehung, pfff“, sagt einer der Geder überwiegend islamische Norden und flohenen, „die können uns mal am Arsch der von Christen dominierte Süden gegen- lecken mit ihrer Endzeitschlacht!“ Aber der überstanden. Und er schürt den Konflikt IS hebe Gräben aus rund um Dabiq, erzähin Nigeria, wo Islam und Christentum auf- len die Geflohenen, die Islamisten würden diesen Ort um jeden Preis halten wollen. einanderprallen. Ein verwüstetes Geisterdorf in ErwarDie eigentlichen Ursachen des Konflikts sind politischer, ethnischer und sozioöko- tung der Apokalypse – so kann das Ende nomischer Natur, es ist ein Verteilungs- aussehen, wenn Mächtige oder Extremiskampf um knappe Ressourcen, um Acker- ten den Glauben missbrauchen. land, Weideflächen, Wasser. Aber die Nicola Abé, Jens Glüsing, Bartholomäus Grill, Scharfmacher in beiden Lagern ziehen imNils Minkmar, Christian Neef, Jan Puhl, mer wieder die religiöse Karte – ein verChristoph Reuter, Holger Stark meintlicher Kampf der Glaubenssysteme, den die Politik instrumentalisiert hat. Lesen Sie auch Die Anschläge von Natürlich putschen nicht nur durchgeBrüssel und die neue Vorgehensweise des knallte Christen ihre Anhänger auf. MusIS in Europa, Seite 88 limische Extremisten nutzen dafür angeb-